☾ Mikadzuki-ko von Mimiteh (Fortsetzung zu "☾ Mikadzuki") ================================================================================ Prolog: Fünf Jahre zuvor... --------------------------- Zerfledderte Wolkenfetzen jagten über den verblassenden Mond, von der aufgehenden Sonne in ein rotes Licht getaucht, das sie wie Blutschlieren wirken ließ. Es war ein stürmischer Morgen, in der Nacht noch hatte es ein Gewitter gegeben. Eine Gestalt, die mit gesenktem Kopf an einem Baumstamm lehnte, wusste das nur zu gut, triefte doch ihr langes Haar noch vor Nässe. Das Nass auf ihren blassen Wangen aber waren Tränen, bittere, salzige Tränen. Die schmalen Schultern der Gestalt zitterten, als sie ein wenig hochblickte, zum Himmel schielte. Das Gesicht wirkte jung, man hätte es einer Vierzehn-, Fünfzehnjährigen zugeordnet. Ihre Gedanken kehrten zurück in die Nacht. Die Dunkelheit war gerade hereingebrochen, da hatte es sie eingeholt. Das, was sie vor Monden aus ihrem Heim fortgetrieben hatte, was sie sich hatte verstecken lassen, hatte sie eingeholt. Als die ersten Blitze des Gewitters über ihrem Kopf gezuckt hatten, war sie von den Schmerzen niedergerungen worden. Sie war auf sich allein gestellt, auf das, was ihr instinktiv gegeben war. Und sie hatte es geschafft. Es ruhte nun in ihrem Arm, klein und hilflos – das Baby, das sie heute Nacht geboren hatte. Wieder rannen Tränen über ihr Gesicht, als sie mit zitternden Fingern durch das Haar ihres Neugeborenen strich. Schwarzes Haar, Menschenhaar. Und doch zeigten die kleinen, tierisch anmutenden Ohren oben auf dem Kopf, dass es sich keineswegs um einen Menschen handelte. Wie auch, sie war schließlich eine Dämonin – und doch die Mutter dieses kleinen Wesens. Dieses Wesen war ein Hanyô. Ein kleines, hilfloses Hanyômädchen. Und sie, die Mutter, wäre niemals in der Lage, es aufzuziehen. Es war schon ein Wunder, dass sie es die letzten Monate geschafft hatte, sich zu verstecken, dass ihre Familie sie nicht aufgespürt hatte. Im Aufgabeln etwaiger Vermisster war ihre Familie gut. Und selbst allein, ohne das Kind, konnte sie nicht einfach zurück. Man würde von ihr eine Erklärung für ihr Fernbleiben verlangen. Sie wusste nur ein Familienmitglied, das sich eventuell mit einer Halbwahrheit abspeisen ließ, wenn es ihr gelingen würde, den richtigen Ton zu treffen. Zuvor aber musste sie so oder so das Kind loswerden. Während der vergangenen Monate hatte sie mehr als einmal damit geliebäugelt, es nach der Geburt einfach umzubringen, aber dazu wäre sie nicht fähig gewesen. Nicht, nachdem sie auch nur einen Blick auf ihr Neugeborenes erhascht hatte. Stattdessen barg sie es nun schon seit Stunden, notdürftig in ihren Haori gewickelt, in ihrem Arm und überlegte, was sie tun könnte. Ihr dünner Unterkimono war vom getrockneten Schweiß bretthart. Aber sie beachtete es nicht. Ihre Gedanken suchten verzweifelt nach einer Lösung. Eigentlich gab es nur eine einzige Möglichkeit. Der Vater. Sie musste es dem Vater bringen. Aber ob der wirklich für die Kleine sorgen würde, das konnte die junge Mutter nicht abschätzen. Ein bitterer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie an ihn dachte. Ihn, der ihr noch vor ein paar Monaten in jugendlicher Unvernunft alles bedeutet hatte. Sie hatten sich nicht lange gekannt. Und das war wohl der Fehler gewesen. Jenseits des Bannkreises war das ein Fehler gewesen. Wieder glitten ihre Gedanken weg, kehrten in jene Tage zurück, als sie ihn kennenlernte. An der Nordostspitze von Hokkaidō, entfernt von den größeren Siedlungen, wo öfter Dämonen unterwegs waren, um sich die neusten ‚Errungenschaften‘ der Menschen anzuschauen, sie zu billigen oder darüber zu spotten, da war es gewesen. Er war mit einer Menschengruppe dort draußen gewesen, die ‚historischen‘ Urlaub versprach. Für die Urlauber bedeutete dass, dass sie unter freiem Himmel schliefen, über dem offenen Lagerfeuer kochten und sich von der meisten Technik fernhielten. Er war der Sohn desjenigen, der dieserart Abenteuer-Führungen organisierte. Obwohl auch die junge Dämonin sich normalerweise von Menschen fernhielt, wenn sie schon hier, jenseits des Bannkreises herumstreunte, so war sie diesmal angelockt worden. Sie hatte eine Biwa gehört und eine Melodie, die wunderschön klang. Jemand spielte das traditionelle, japanische Musikinstrument mit höchster Perfektion. Natürlich war das er gewesen. Die junge Dämonin war näher gekommen, hatte zugehört. Und hatte ihn gesehen. Fasziniert nun, das hatte zuerst eher sein Spiel und erst in zweiter Linie er selbst. Schließlich hatte sie sich dazugesellt, unauffällig. Zum Glück war sie gerade noch geistesgegenwärtig genug gewesen, zu verbergen, was sie war. Sie hatte ihre Ryūteki hervor geholt und mitgespielt. Anscheinend hatte niemand sich gewundert, wo sie herkam. Nun, die meisten Abenteuerurlauber waren auch schon leicht angescheikert gewesen. Der gute alte Sake wurde von diesen Truppen gerne mal unterschätzt. Er dagegen war noch völlig nüchtern gewesen. Als die anderen längst schliefen, waren sie beiden rund um das Schlaflager spazieren gegangen. Es war Spätsommer gewesen. Er hatte sie gefragt, wo sie auf einmal her kam und sie hatte gelogen, sie käme aus einer der kleineren Siedlungen in der Nähe. Sie wusste nicht, ob er ihr das geglaubt hatte, denn im nächsten Augenblick waren sie von einem scheinbar streunenden Wolf aufgespürt worden. Ihr war klar gewesen, dass der zu den Grenzwachen gehörte, kein ‚normaler‘ Wolf war. Unwillkürlich hatte sie ihn mit einem leisen Knurren verscheucht – und sich damit verraten. Er hatte erraten, was sie wirklich war. Eine Youkai. Nach seinen Worten war ihm ihresgleichen schon öfter begegnet, hier draußen. Es war ihr nicht schwer gefallen, das zu glauben. Nicht jeder tarnte sich. Die nächsten zwei Tage war sie mit der Gruppe weitergezogen, sie hatte des Abends seine Lieder mit der Drachenflöte begleitet und nachts waren sie um das Lager gestrolcht. Sie hatte ihre Tarnung fallen gelassen, sobald sie allein waren. Schon am zweiten Tag war eine Vertrautheit zwischen ihnen gewesen, die sie nicht hatte erklären können. Am vierten Tag hatten sie sich geküsst. Verliebt war sie da längst gewesen. Als er am nächsten Mittag in die Stadt zurückkehrte, seine Reisegruppe abzuliefern und die nächste abzuholen, war sie in den Wäldern geblieben. Als er zwei Tage später zurückehrte, hatte sie sich wie selbstverständlich wieder angeschlossen. So auch bei der dritten Reisegruppe. Als sie wieder einmal ihre Runde machten, hatte er ihr eröffnet, dass das die letzte Reisegruppe für dieses Jahr gewesen war. Den Herbst und Winter über würde er in der Stadt bleiben. Fünf Monate sollte sie ihn nicht sehen. Es war Verzweiflung dabei gewesen, dass sie es in diesen Nächten weiter getrieben hatten, über das Küssen hinaus. Und dann war er weg gewesen. Tage später hatte sie gemerkt, dass diese Nächte nicht spurlos an ihr vorbei gegangen waren. Von da an hatte sie sich niemandem mehr gezeigt, war nicht hinter die Bannkreise zurückgekehrt. Als im Frühling die ersten Gruppen kamen, hatte sie auf ihn gewartet. Endlich war da wieder das Spiel der Biwa gewesen. Seine unverkennbaren Melodien, seine sicheren Griffe. Voller Hoffnung hatte sie sich des Abends angeschlichen und wie so oft dazugesetzt. Doch diesmal war noch jemand anders wenig betrunken gewesen, eine junge Frau, etwa in seinem Alter, also an die zwanzig, die er offenbar näher kannte. ‚Ach, da ist ja unsere Waldläuferin‘ An seine Worte erinnerte die junge Dämonin sich noch ganz genau. ‚Schau, Ayano, ich sagte doch, sie wird wieder auftauchen‘ Die junge Dämonin hatte nicht so recht gewusst, was sie von dieser Reaktion halten sollte. Aber sie hatte es hingenommen, hatte wieder ihre Flöte herausgeholt und mitgespielt. Irgendwann war auch die Ayano genannte in ihrem Schlafsack verschwunden und die junge Dämonin schloss sich ungefragt seiner Lagerrunde an. Als sie ihm erzählte, was geschehen war, wollte er ihr zuerst nicht glauben. Einer Dämonin sah man es im fünften Monat nunmal noch nicht so wirklich an. Die Ratlosigkeit, der Kummer der vergangenen Monate war über sie hinein gebrochen, sie hatte ihn angebettelt, ihr beizustehen, an ihrer Seite zu bleiben. Mensch hin oder her. Sie hatte ihn geliebt, hatte nichts anderes als seine Hilfe, seinen Beistand verlangt. Da war er plötzlich reserviert geworden. Sie hatte die Nerven verloren, hatte ihn mit den Klauen an einen Baumstamm gedrängt, bedroht. Immerhin war es sein Kind, mit dem sie gestraft war. Und da war er endlich ehrlich gewesen. Ayano und er gehörten zusammen, sie waren verheiratet, seit dem Winter. Schon davor hatten sie sich jahrelang gekannt. Die junge Dämonin hatte all ihre Felle davonschwimmen sehen. In diesem Moment hätte sie ihn umbringen mögen. Ihre Klauen hatten sich schon in seine Haut gegraben, da hatte sie sich doch noch zurückgehalten. Zurückgejagt hatte sie ihn und war verschwunden. Und jetzt saß sie hier. Mit dem Kind im Arm. Es war Abend geworden. Die Tränen waren versiegt. Sie spürte nur Leere. Mit bekümmerter Miene sah sie auf das kleine Wesen hinab, das sie aus grünlichen Augen anblinzelte. „Musume…“, hauchte die junge Dämonin unwillkürlich und strich der Kleinen mit dem Finger über die Stirn. Dann bohrte sie kurzerhand eine Klaue in ihre eigene Handfläche, nahm mit der Fingerspitze das hervorquellende Blut auf, strich es rund um das eine, schmale Handgelenk der Kleinen. „Kakushi…“, murmelte sie leise und die Blutspur begann leicht zu glimmen, materialisierte sich zu einem schmalen, roten Armband. Gleichzeitig verschwanden die tierischen Ohren des kleinen Hanyômädchens, ging ihre noch recht schwache Ausstrahlung verloren. „So bist du geschützt meine Kleine. Mehr kann ich nicht für dich tun, wenn du überleben sollst…“, flüsterte sie und nun flossen die Tränen doch wieder. Das Baby gähnte und begann leise zu quengeln. Erstickt begann die junge Dämonin zu summen, schließlich zu singen. „Lay down your head and I'll sing you a lullaby, back to the years of loo-li, lai-ley. And I'll sing you to sleep, and I'll sing you tomorrow, bless you with love for the road that you go… May you sail fair to the far fields of fortune, with diamonds and pearls at your head and your feet. And may you need never to banish misfortune, may you find kindness in all that you meet… May there always be angels to watch over you, to guard you each step of the way, to guard you and keep you safe from all harm - Loo-li, loo-li, lai-ley… May you bring love and may you bring happiness, be loved in return to the end of your days. Now fall off to sleep, I'm not meaning to keep you - I'll just sit for a while, and sing Loo-li, lai-ley… May there always be angels to watch over you, to guard you each step of the way, to guard you and keep you safe from all harm - Loo-li, loo-li, lai-ley. Loo-li, loo-li, lai-ley…” Tatsächlich war das Kind gleich darauf eingeschlafen. Die junge Dämonin erhob sich, presste das Kleine fest an sich. Dann machte sie sich auf den Weg in die einzige, große Siedlung in der Nähe. Nemuro. Seine Heimatstadt. Sie kam schnell voran, die Stunden des Nachdenkens hatten gereicht, ihre Kräfte genug wiederherzustellen, dass sie deutlich schneller als ein Mensch war. Und das getrocknete Blut auf ihrer Kleidung würde höchstens den Straßenhunden auffallen, die es wittern konnten. Es war bereits zu dunkel, als dass Menschen es gesehen hätten und sie erinnerte sich gut genug an das Logo auf seiner Kleidung um den Hinweisschildern am Stadtrand folgen zu können. So kam sie schnell voran. In den Schatten eines Hauseingangs gelehnt wartete sie, mühsam ihre Ungeduld bezähmend. Es waren nicht mehr viele unterwegs. Da ging auch im Büro das Licht aus. Die junge Dämonin wusste, wie solcherart ‚Zauber‘ funktionierten, sie kümmerte sich darum genau so wenig, wie um die luftverpestenden, selbstfahrenden Fuhrwerke überall. Da ging die Tür auf, er trat heraus. In der neumodischen Kleidung hätte sie ihn kaum erkannt, zumal sein jetziger Aufzug sie wieder leicht aus der Fassung brachte. Die blaue Hakama und der zerschlissene, graue Haori, den er während seiner Touri-Reisen immer trug, verbargen seine Gestalt nun einmal weit mehr. Weit mehr als das weiße Hemd, über dem er – dem warmen Wetter geschuldet – nur eine helle Weste trug. Auch die Stoffhose war nicht so bauschig wie eine Hakama. Einmal mehr wurde ihr bewusst, was sie schlussendlich angezogen hatte, an ihm. Er war eindeutig gut gebaut – natürlich, ein Youkai war vollkommener, aber… für einen Menschen… – Wie dem auch sei. Sie konnte, nein, sie durfte sich jetzt nicht damit aufhalten. Mühsam rang sie um Fassung. Der ganze Hass, den sie ob ihrer Erniedrigung empfand, er kämpfte in ihr mit den Gefühlen, die sie immer noch für diesen Idioten hegte. Es war ja nicht so, als sei er ihr plötzlich egal. Aber er hatte ihr mehr als klar gemacht, dass sie ihm keineswegs etwas bedeutete. Und außerdem… die klare, jugendliche Liebe, die sie für ihn empfunden hatte, die war auch nicht mehr da. Sie verkrampfte die Finger um eine Falte des Haoristoffes, in den ihre Tochter gehüllt war und atmete tief durch, um sich endlich wieder im Griff zu haben. Es gelang ihr halbwegs. Kurz wartete sie ab um herauszufinden, in welche Richtung er sich wenden würde. Er kam genau in ihre Richtung. Für einen Moment musterte sie sein Gesicht, die Lippen die so oft auf ihren gelegen hatten. Ein schmerzhaftes Brennen zuckte durch ihre Brust, aber sie ignorierte es mühsam. Als ob sie nicht die letzten Monate genug Zeit gehabt hatte, sich mit den Gedanken vertraut zu machen, dass sie ihm nunmal nicht mehr bedeutete, als ein Abenteuer. Rasch legte sie das Kind auf den Boden ab, etwas unsanft, damit es erwachte und zog sich tiefer in den Schatten zurück. Wie erwartet begann das Baby zu quengeln – und er wurde aufmerksam. Verwundert blickte er sich um, entdeckte das Bündel und kniete sich fassungslos hin. „Hat man dich etwa ausgesetzt? Eine Schande…“, murmelte er vor sich hin. Seine Stimme versetzte ihr einen erneuten Stich. Seine Stimme, die so viele zärtliche Worte für sie geformt hatte – und die schuldbewusst und ernst mit wenigen Worten ihr ganzes Weltbild zerstört hatte, damals, vor gerade vier Monaten. „Ebenso eine Schande, wie jemanden sitzenzulassen, der dein Kind austrägt“, zischte die junge Dämonin aus heiterem Himmel, ohne sich zu rühren. Sie hielt die Augen geschlossen. Er zuckte zusammen, sichtlich lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Erinnerte er sich an ihr letztes Treffen? Jetzt sah er hoch, wollte aufstehen. „Bleib, rühr‘ dich nicht. Ich tue dir nichts“, verlangte die junge Dämonin. Sie wusste nicht, woher ihre Stimme so viel Kalkül nahm, wie es in dem kühlen Ton lag. Vielleicht war es das Bewusstsein, sonst nichts für ihre Tochter tun zu können. Wenn er sie nicht aufnahm, was das das Todesurteil der Kleinen. Hanyô waren nicht gerade beliebt und uneheliche schon gleich garnicht, insbesondere wenn eines oder beide Elternteile aus den gehobenen Kreisen kamen. „Wenn…“, wollte er da wissen, der durchaus herausgehört hatte, dass sie etwas dafür verlangte, ihn zu verschonen. Seine Stimme zitterte ein wenig, ob vor Furcht oder vielleicht doch vor Schuldbewusstsein wusste sie nicht. Aber er verharrte still. „Sie ist ebenso deine Tochter. Ich kann nicht für sie sorgen. Nimm‘ sie mit dir. Sorge für sie“ „Das… das kann ich nicht. Ayano…“ Die junge Dämonin zog eine Augenbraue hoch, ohne die Augen zu öffnen, wohlwissend, dass er das sowieso nicht sehen konnte. Innerlich zitterte sie in einer Mischung aus Abscheu und Furcht. Es war riskant, was sie hier tat. „Hast du sie nicht eben selbst noch für ein Findelkind gehalten?“ Zögernd nickte er. „Siehst du. – Es ist eine Schande, dass du mich allein gelassen hast. Aber nun ist es vielleicht die einzige Chance für unsere Tochter, zu überleben. Nun nimm‘ sie schon“ Offensichtlich eingeschüchtert nahm er das Baby auf, das sich angesichts der Körperwärme gleich beruhigte, legte es an seine Schulter. Seine Stimme war diesmal tonlos, als könnte er selbst nicht glauben, in welcher Situation er sich gerade befand. „Yuri…“ Yuri. Der Name, den sie ihm genannt hatte. Der nicht der ihre war. Aber der einzige, den er kannte. Sie lachte trocken auf. „Du hast mir viel bedeutet, weißt du? Ich hätte dafür gekämpft, dass du als Vater meines Kindes akzeptiert wirst. Aber du hast mich weggestoßen, als ich dich gebraucht hätte, hast mich mir selbst überlassen… An diesem Tag vor vier Monaten… ich hätte dich töten können…“ „Ich weiß…“, murmelte er rau, aber sie fuhr scheinbar ungerührt fort: „… aber ich habe es nicht getan. Damals konnte ich es noch nicht. Seit dem ist Zeit vergangen. Du bist nur ein Mensch. Was immer geschieht, ich bin dir meilenweit überlegen. Wenn der Kleinen etwas geschieht, wenn du dich nicht um sie kümmerst… sei sicher, ich werde es erfahren. Irgendwie“, fuhr sie fort, trat einen Schritt vor. Ehe er sie berühren konnte, war sie an ihm vorbei und mit einem Sprung aus dem Stand auf dem nächsten Hausdach. Zu oft schon hatten diese warmen Hände sie berührt. Wenn sie es noch einmal täten, lief sie Gefahr, ihre Maske endgültig zu verlieren. Innerlich schmerzte es sie doch, ihn so eisig zu behandeln. Er war ihr Liebhaber gewesen, derjenige, dem sie ihre Unschuld geschenkt hatte. Andererseits hatte er sie verraten, hatte es nicht ernst mit ihr gemeint. Dafür würde sie ihn am Liebsten sonst wo schmoren lassen. Wenn er es jetzt wieder nicht ernst meinte, würde sie keine Gnade mehr kennen. So ungewollt das kleine Wesen, dass er nun auf dem Arm trug, gewesen war, sie empfand dennoch eine Bindung zu ihm. Sie konnte es nicht recht erklären, aber sie würde nicht zulassen, dass diesem kleinen Wesen, ihrer Tochter, nur ein Härchen gekrümmt wurde. Aber momentan war sie sicher. Sie sah aus wie ein Mensch, würde leben wie ein Mensch, solange… Eines musste dieser Verräter noch wissen: „Ach, Hibiko?“ Sofort blickte er auf. „Sieh‘ zu, dass sie das Armband niemals verliert“, gab sie ihm mit auf den Weg, ehe sie ihre Gestalt auflöste, in Energieform davonjagte. Wer es sah, erkannte nur einen Lichtblitz. Minuten später war sie zurück in dem Waldstück, in dem sie die letzten Monate verbracht hatte. Auf der schäbigen Lichtung, auf der sie niedergekommen war. Mit einem verzweifelten Schlag grub sie die Klauen in den nächsten Baumstamm, unterdrückte nur mühsam einen vergrämten Schrei, riss die Rinde auf einer breiten Stelle mühelos herunter und sank dann auf den Boden. Sie wusste nicht, woher sie schon wieder die Tränen nahm. Dämonen weinten nur äußerst selten und sie hatte in den letzten Stunden vermutlich mehr Tränen vergossen als andere Dämonen in ihrem ganzen Leben. Da berührte sie plötzlich eine Schnauze an der Wange. Die junge Dämonin zuckte kurz zusammen, dann nahm sie die Witterung wahr. Das war einer der Grenzgänger, der gemischten Grenzwächter, zusammengesetzt aus Mitgliedern aller Dämonenvölker, die unter den Bannkreisen lebten. Vermutlich hatte ihr Blutgeruch ihn angezogen. „Wo kommst du denn her?“, fragte sie erstickt und ließ zu, dass der Fuchs, der dort stand, ihr die Tränen von der Wange leckte. Das Tier fiepte leicht. Unwillkürlich musste die junge Dämonin etwas lächeln. „Du willst wohl, dass ich wieder mitkomme, nicht? Jetzt hat mich endlich jemand aufgespürt. Dein dämonischer Begleiter ist ganz in der Nähe, nicht wahr?“ Während sie leise vor sich hin brabbelte, stand die junge Dämonin auf. Für einen Moment starrte sie auf die abgeschlagene Rinde, die anklagend hell leuchtende Wunde im Baumstamm. Dann seufzte sie abgrundtief. „Also gut. Versuche ich mich wohl mal in Schadensbegrenzung…“, murmelte sie, dann folgte sie dem Fuchs nach Norden, dorthin, wo die Bannkreise lagen, ihre Heimat lag. Es war ein Fehler zu vertrauen, ein Fehler zu lieben… langsam verstehe ich, warum der Inu no Taishou beides nicht tut… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)