Sylvester-Schach von FreeWolf ================================================================================ Kapitel 1: Tradition -------------------- "Schach!" Robert verkniff sich ein leises Seufzen, während er das Spielfeld aus 64 gleichmäßigen, farblich zwischen hellem und dunklem Holz wechselnden Quadraten beäugte. Tatsächlich, der verrückte Italiener mit dem Hand zum Flirten hatte es geschafft, durch seine Verteidigung zu brechen. Es war das erste Mal, dass Enrico Giancarlo Tornatore es geschafft hatte, nicht innerhalb von drei Zügen zu verlieren. In diesem vierten Zug hatte er seinen Läufer durch die schwarze Aufstellung zu manövrieren verstanden, die Robert beinah an Johnny erinnert hatte - an den zwölfjährigen Johnny mit Dickschädel und aufbrausendem Temperament, der nicht anders konnte, als unbedacht zu handeln, wohl bemerkt. Enrico hatte sich wagemutig aus der Defensive begeben, sich einen Bauern Roberts einverleibt und stand nun vor dem frei stehenden, schwarzen König. Robert setzte seinen Zeigefinger auf die Spitze der bedrohten Spielfigur und kippte sie leicht nach links, nach rechts, im Kreis. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen? Oh, ja, richtig: er war kurz in Gedanken abgeschweift. Johnny saß in Schottland fest, im zugigen Familienanwesen mit allen bis auf dem Gärtner auf Urlaub und hatte eigentlich versprochen, sich zumindest im Laufe des Abends zu melden, sofern die Telefonleitungen, die Satellitenverbindung oder welches Kommunikationsmittel auch immer - in Roberts Augen konnte es sich hierbei auch um die Briefeulen aus Hogwarts oder Todesser handeln, er hatte in den Weihnachtstagen, um seiner schrecklich netten Familie zu entkommen, die Harry-Potter-Reihe, die sich unter seinem Bett versteckt hatte, nochmals mehrmals durchgebracht - minimale Signalstärke vermitteln sollten. Nun war es kurz vor Mitternacht. Oliver hatte sich in diesem Jahr eine üble Erkältung eingefangen, weshalb Enrico, der sein Sylvester nicht alleine feiern oder gar mit den Damen der Schöpfung verbringen wollte, sondern mit mindestens einem des europäischen Adligen-Teams, sich schlichtweg bei Robert Jürgens eingeladen hatte. Kurzum, die Welt stand Kopf. Zumindest für Robert Jürgens, zumal sich auch der treue Diener Gustov für dieses Jahr Urlaubstage erbeten hatte. "Das glaube ich kaum, mein Freund.", Robert bewegte den König schräg nach hinten, der sich nun wieder in vager Sicherheit wiegen konnte. Der Deutsche versuchte dabei sehenden Blickes die vielen anderen Optionen, die ihm offenstanden, nicht zu erkennen. Er scheiterte zumindest an dieser Aufgabe kläglich: diese Art von Opfer war notwendig, wenn er mit Enrico noch eine weitere Partie spielen wollte. Dieser ließ ein Schnauben hören. "So macht das aber keinen Spaß!", beschwerte er sich, "Ich verliere nur und du bist auch in Gedanken wo anders! Hören wir auf!" Robert seufzte, rieb sich die Stirn. "Aber das ist Tradition!", grummelte er vor sich hin, während Enrico nur die Augen verdrehte und aufstand, um seine vom Sitzen steif gewordenen Beine zu strecken. Er machte ein paar Schritte zum Fenster, blickte kurz hinaus und grinste schief, während unten im Dorf bereits erste Vorfreudige den Start ins neue Jahr mit knallenden, bunten Lichtern um fünf Minuten vorzuverlegen versuchten. "Sylvester-Schach ist deine Johnny-Tradition!", verkündete Enrico mit breitem Grinsen auf seinen Lippen. "Wo in eurem Anwesen versteckt Gustov die Raketen und den Glühwein? Es wird Zeit, dass wir beim Krawall mitmischen!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)