Die Nachtstille von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 1: Die Nachtstille --------------------------   Es war eine Hoffnung Youmas, dass er alleine war, als er an diesem verschneiten Nachmittag in das Appartement 667 zurückkehrte. Er war genervt. Was war nur in dieser Stadt los?! Diese Stadt, die Nocturn so liebend besang und die wahrlich gut zu diesem Chaoten passte… machte Youmas Eindruck von ihr mal wieder alle Ehre. Von überall ertönte plötzlich kitschig klingende Musik, die Gebäude waren mit künstlichen Lichtern geschmückt, blinkend, irritierend und aufdringlich in verschiedene Farben, als ob sie sich alle um seine Aufmerksamkeit konkurrierten. Die gesamte letzte Woche war ihm das schon nervend ins Auge gestochen, wenn sie abends essen waren – er hatte eigentlich geglaubt, diese Stadt konnte nicht lauter und irritierender werden, aber er hatte sich geirrt. Was war nur los? Und was hatte diese eigenartig gekleideten Menschen dazu gebracht, ihn anzusprechen? Youma hatte immer noch keine Ahnung, was sie eigentlich von ihm gewollt hatten… verflucht seien die 20 Meter, die er zurücklegen musste, wenn er sich aus der Dämonenwelt zurück teleportierte und zum Hochhaus ging, nur weil Nocturn es nicht billigte, dass man sich direkt in das Appartement teleportierte. Das gehöre sich doch nicht; es gäbe eine Klingel und die gäbe es nicht umsonst – außerdem hatte Youma doch einen Schlüssel und er wisse ja wohl schon, zu was diese benutzt wurden? Wie oft hatten sie sich darüber nicht schon gestritten…? Ausgerechnet an diesem Tag – natürlich, weil ja alles Nervige auf einmal kommen musste – musterte die junge Rezeptionistin ihn besonders skeptisch, während sie an einem blinkenden, bunten Tannenbaum nestelte – ja, sie schien schon pro Forma auf ihn zugehen zu wollen, ihn um einen Beweis seiner Zugehörigkeit bittend, wie sie es schon so oft getan hatte, als wäre das eine Mal nicht ausreichend gewesen! Aber nein, heute unterließ sie es, sie hatte seinen Blick wohl richtig gedeutet, dennoch mussten ihre kleinen, braunen Stieraugen ihn vom Eingang bis hin zum Fahrstuhl beäugen. Und im Fahrstuhl hörte er dann auch noch dieselbe schwerfällige Musik wie überall sonst. Diese Stadt. Diese verdammte Stadt und alle ihre nervigen Bewohner.   Als er die Tür mit der Nummer 667 aufschloss, beruhigten sich seine Nerven ein wenig. Es war keine Aura zu spüren – und noch viel wichtiger; er hörte keine Musik und das bedeutete, dass seine Hoffnung erhört worden war; Nocturn war nicht Zuhause. Youma atmete erleichtert auf und er spürte, wie seine Lippen sich zu einem leichten Lächeln formten. Was für eine Erleichterung. Es hätte ihm auch gerade noch gefehlt, dass der nervigste Bewohner dieser Stadt ihn nun auch plagte. Ja, dachte Youma, er hatte natürlich Lacrimosas Worte nicht vergessen und er sah auch ein, dass sie recht hatte und dass es für sie alle besser war, wenn Nocturn und Youma besser zusammen arbeiten könnten, aber das Aufeinanderzugehen war so… unglaublich mühsam. Sie waren wie zwei Igel, die einander abstießen.   Auch wenn Youma Nocturn wiederbelebt hatte und diese Tat noch nicht gänzlich bereute – nur manchmal, teilweise – so war er doch glücklich für jede Sekunde, die er alleine hatte. Dass er das mal denken würde. Eigentlich war er nie jemand gewesen, der gerne alleine war. Aber jetzt… Youma seufzte. Und sein Seufzen nahm zu, verwandelte sich zu einem Stöhnen, als er leider feststellen musste, dass er doch nicht alleine war – und dass es natürlich ausgerechnet Nocturn war, der ihn in seiner Ruhe stören musste. Natürlich; Youma trug auch den einzigen Ingnix, den sie besaßen, um den Hals; es musste also Nocturn sein… es musste ohnehin er sein, denn der Tag schien einfach darauf aus zu sein, ihn größtmöglich zu nerven.   Youma stutzte allerdings über den Ort, wo er Nocturn vorfand. Dort saß er doch normalerweise nie? Wenn er denn zur Abwechslung mal einfach nur ruhig irgendwo saß, dann tat er das eigentlich in den Sesseln – warum saß er auf der Bank vor dem Flügel, die doch nicht einmal sonderlich bequem wirkte, wenn er keine Intention zu haben schien, auf dem Instrument spielen zu wollen? Der Deckel war jedenfalls zugeklappt. Nocturns Hände lagen auf seinem Schoß – hatte er überhaupt schon einmal darauf gespielt? Youma erinnerte sich nicht daran, dass er ihn jemals dort hatte sitzen sehen… er hatte eigentlich immer das Gefühl gehabt, dass Nocturn einen Bogen um das Instrument schlug. Eine Tatsache, die Youma immer irritiert hatte – wozu stand dieses riesige, schwarze Monstrum denn in der Stube, wenn es nicht benutzt wurde? Es sammelte nur Staub. Und dekorativ konnte man es bei weitem nicht nennen.   Auch jetzt saß Nocturn einfach nur da und tat nichts; er hatte auch Youmas Dasein nicht bemerkt. Ein lautes Räuspern erreichte ihn ebenfalls nicht. Erst als Youma mit pochender Falte der Wut mittels seiner Stimme auf sich aufmerksam machte, schreckte Nocturn hoch: „Nocturn“, ertönte seine ungeduldige Stimme und der Angesprochene wirbelte auch zu ihm herum, aufgeregt, wie es Youma vorkam, als wäre er bei etwas ertappt worden. „Ich bin wieder da – und ich habe Arbeit zu erledigen. Wenn du also spielen willst, wäre ich dir verbunden, wenn du das nicht jetzt tun würdest.“ Eigentlich war Youma schon auf einen Streit vorbereitet, aber Nocturn antwortete nicht. Er ließ ihn absolut kommentarlos in sein Zimmer gehen – und tatsächlich hörte Youma nichts von ihm. Keinen einzigen Ton.   Nur kurz war Youma dankbar dafür gewesen; dann hatte er schon über nichts anderes mehr nachgedacht als über seine Arbeit, hatte alle Gedanken um Nocturn verdrängt und sich daher auch nicht weiter über sein Verhalten gewundert. „Nocturn-sama verhält sich momentan ausgesprochen ruhig.“ Nickend stimmte Feullé Blues Worten zu, ehe sie ihm das eben von ihr abgewaschene Geschirr reichte, was er umgehend zu trocknen begann. „Ich… ich… mache mir… S-Sorgen… früher mochte Pere Weih…nachten so.“ Youma leerte sein Glas Traubensaft und federte sich von der Küchentheke ab, um sich nach dem Abendessen wieder seiner Arbeit zuzuwenden. „Seien wir einfach dankbar für den Moment der Ruhe.“ Er war es auf jeden Fall; er wäre es sicherlich auch, wenn er wie Blue Feullés betrübten Blick bemerkt hätte. Normalerweise nahm er wenigstens Rücksicht auf Feullés Gefühle, aber jetzt bemerkte er sie nicht. Er war schon wieder in seine Arbeit vertieft; das Handy schon am Ohr, ehe er sein Zimmer überhaupt erreicht hatte. Es war ein Thema, das ihn nichts anging und für das er sich auch nicht verantwortlich fühlte – warum sollte er sich auch für die Gründe interessieren, warum Nocturn beim Abendbrot immer wieder zum Flügel gelinst hatte, warum er sein Essen kaum anrührte, weil er zu beschäftigt damit war, irgendeinen Takt sachte mit den Fingern auf den Tisch zu pochen? Er war einfach nur sein eigenartiges Selbst. Und wenn diese Eigenartigkeit sich zur Abwechslung mal ruhig abspielte, dann war Youma in der Tat dankbar dafür.   Aber schneller als es ihm lieb war, wurde es zu einem Thema, das ihn sehr wohl etwas anging. Eine Woche später, beim nächsten Kampf, musste Youma erfahren, dass sich Nocturns Zerstreutheit und Gedankenlosigkeit auch auf den Kampf ausbreitete. Lacrimosa hatte sie zu sich gerufen, damit die beiden zusammen mit ihrer Horde gegen ihren westlichen Nachbarn kämpfen könnte – er bräuchte ein paar Arschritte, wie sie es so charmant genannt hatte. Und nebenbei betonte sie auch noch, dass jeder Kampf für die beiden gut wäre und dass sie ja auch gespannt darauf war, deren Fortschritte zu sehen. Sie trainierten doch zusammen. Das müsste doch langsam Früchte tragen.   Youmas Lächeln war ein wenig steif geworden bei dieser Aussage. Ja, sie trainierten zusammen, das entsprach der Richtigkeit, ja… sie hatten es nur ein wenig… nun ja, vernachlässigt. In der letzten Woche besonders. Youma war zu beschäftigt gewesen und Nocturn… hatte getan was auch immer er nun einmal tat. Dennoch hatte Youma Lacrimosa deren Hilfe zugesichert. Ein normaler Kampf gegen ein paar Dämonen, das sollte kein Problem sein… dabei könnten sie sich gut profilieren. Sie mussten Sichtbarkeit zeigen und das tat man in der Dämonenwelt am besten, indem man sich an den Kämpfen beteiligte; da stimmte Youma Lacrimosa ganz zu und drückte auch seine Dankbarkeit dafür aus, dass sie an ihn und seinen Partner gedacht hatte. Sein Partner, der zu alledem gar nichts gesagt hatte. „Was ist denn los, Nocturn-kun? Wieder mal eine Abfuhr von White?“, fragte Lacrimosa mit gerunzelter Stirn, als sie bemerkte, dass Nocturn bis jetzt kaum etwas gesagt hatte; anstatt sich an der Besprechung Youmas und Lacrimosas zu beteiligen, hatte er in eine andere Richtung geschaut – aus dem Fenster, wie es Youma schien, wo gerade ein heftiger Schneesturm wütete. „Qua?“ Die Fürstin runzelte überrascht die Stirn, als Nocturn ihr mit diesem eigenartigen Laut verwirrt antwortete – aber sie sagte nichts; aus irgendeinem Grund schien ihr das Antwort genug zu sein und Nocturn pochte nicht nach. Er versank wieder in seine Gedanken. Erst als er zusammen mit Cilan und Klariette von dannen zog, erklärte Lacrimosa sich, die Arme über ihre Brust verschränkend. „Er hat mir auf Französisch geantwortet…“ „Und? Das ist doch nichts Ungewöhnliches. Das macht er doch öfter.“ „Eigentlich tut er das bei mir nicht. Immerhin blockiert er damit die Möglichkeit, ein Gespräch zu führen und er redet doch so gerne.“ Stimmt, so hatte Youma das noch gar nicht gesehen – warte, war das der Grund, weshalb er so oft eine französische Antwort bekam?! „Er ist momentan eigenartiger als sonst.“ „Stimmt“, pflichtete Lacrimosa ihm nachdenklich bei und als Youma ihrem Blick folgte, bemerkte er, dass sie Nocturns Hände ansah, die auf seinem Rücken lagen. Genau wie sie, musste er auch er die Stirn runzeln; in eigentümlicher Manier bewegten sich Nocturns Finger.   Aber dann gab es andere Dinge über die Youma nachdenken musste anstatt von Nocturns sich bewegenden Fingern. Nämlich eine Schlacht, in der es darum ging, so gut auszusehen wie möglich – und, er musste sich stolz auf die Schulter klopfen, es gelang ihm obendrein auch noch sehr gut. Das Training schien sich, trotz Pause, doch langsam auszuzahlen – endlich hatte Youma das Gefühl, dass seine Macht sich ihm öffnete, dass er endlich Zugriff auf diese erhielt, wie eine Tür, die sich ihm langsam, aber stetig öffnete. Was er wohl noch alles hinter dieser sich langsam öffnenden Tür entdecken würde? Er war gespannt, das musste er zugeben; wo waren seine Grenzen? Was konnte er wirklich, wie weit konnte er gehen? Wo würde ihn sein Potenzial noch hinführen? Nach dem Kampf musste er unbedingt mit Nocturn sprechen; sie mussten eine Regelmäßigkeit finden, was deren Training anbelangte… ohja! Das klang nach einem Plan, einem sehr guten, hoffentlich bald florierenden Pla-   Natürlich machte ihm sein sogenannter Partner einen Strich durch diesen wunderschönen Plan, an dem Youma schon so viel Gefallen gefunden hatte – besonders an den Früchten, die dieser Plan tragen würde – indem er nämlich gerade im Begriff war, sich umbringen zu lassen. Ein gerader Schnitt seiner treuen Sense teilte den mutigen Angreifer, der es auf den einfach nur dastehenden Nocturn abgesehen hatte; trennte seinen Kopf von seinem Körper, der zu Boden stürzte, sich aber, bevor er sich in Funken auflöste, in einer blutigen Fontäne über Youma ergoss. Angewidert knirschte der Halbdämon mit den Zähnen. Aber anstatt sich lautstark darüber zu pikieren, dass er in blutiges Rot getaucht war, durchquerte er die funkenden Überreste des Dämons, um vor Nocturn stehen zu bleiben – um ihn zurecht zu stutzen, ganz gleich, ob sie auf einem Schlachtfeld waren oder nicht. Das hatte er scheinbar ohnehin nicht bemerkt! Warum stand er nur da und tat nichts?! „Was ist mit dir los, Nocturn?! Seit wann bin ich dein Aufpasser?! Kämpfen kannst du doch eigentlich alleine!? Ich habe dich nicht wiederbelebt, damit du mir ein Klotz am Bein bist!“ Nocturn antwortete nicht; er stand einfach nur da, mitten im Getümmel und blinzelte ihn verwundert an – und genau das machte Youma noch wütender: „Hörst du mir überhaupt zu?!“ „Ich glaube…“ Und da sah Youma es wieder, mit einem genervten, wütenden Zucken seiner Augen; Nocturn machte wieder diese eigenartigen Bewegungen mit den Fingern, als würde er in der Luft spielen. „… ich kann sie noch spielen. Ich glaube, ich habe die Melodie nicht verlernt.“ Zornig über diese Antwort schlug Youma die Hände über dem Kopf zusammen und wirbelte wütend herum: „Gut, von mir aus! Wenn du dich hier umbringen lassen willst, tu das! Ich werde dich garantiert nicht wiederbeleben!“   Im Gegensatz zu diesen schier ausgespienen Worten standen Youmas Taten: er blieb nämlich in Nocturns Nähe und tatsächlich… er musste ihn nochmal retten. Und nochmal. Ganze drei Mal.   „Na, das würde ich ja wohl mal ein glorreiches Fiasko nennen. Youma-kun, du hast wirklich gut gekämpft, aber was war mit dir heute los war, Nocturn-kun… hörst du mir zu?“   Youma stöhnte erschöpft, versuchend, sich auf das heiße Wasser zu konzentrieren, um damit Lacrimosas tadelnde Worte aus dem Kopf zu schieben. Er wusste, sie hatte recht und dass das dreimalige Retten von Nocturn alles andere als Vorzeigematerial war für die Dämonen, die es gesehen hatten, aber… argh, nicht darüber nachdenken.   Das heiße Wasser der Dusche tat gut; es war entspannend und auf mehreren Ebenen bereinigend – und wie froh war er nicht, als das Wasser ihn endlich von dem Blut befreite. Er liebte seine Sense und den Umgang mit ihr; ihre saubere Tötungsarbeit, aber… Enthaupten war doch eine sehr blutige Angelegenheit, auf dessen Nebeneffekt er gerne verzichten konnte. Eigenartig, dass Nocturn das unkommentiert gelassen hatte. Eigentlich nutzte er doch jede Gelegenheit, um ihm anhängen zu können, wie un-dämonisch er sei. Aber nein, er hatte nichts dazu gesagt, dass Youma sich über das Blut pikiert hatte. Aber warum wunderte es ihn? Nocturn stand ohnehin neben sich. Ja, das war es – er stand neben sich.   Mit mühsam gekämmten Haaren und einem Handtuch über den Schultern, verließ Youma das dampfende Badezimmer, entschlossen, das Thema jetzt endlich anzusprechen und vor allen Dingen – es abzuhaken. Er würde es ruhig angehen. Ihn einfach fragen. Mit halbem Ohr hatte er zwar mitbekommen, dass Feullé es bereits mehrere Male versucht und keine konkrete Antwort erhalten hatte… aber sie war ja bekanntlich nicht sonderlich… hartnäckig. Aber das würde Youma sein. Er würde sich nicht von Nocturn abspeisen lassen. Mit Empathie und Ruh-   Mit der Ruhe war es schnell dahin, denn kaum, dass Youma den kleinen, schmalen Gang durchquert hatte und wieder in der Stube stand, überkam ihn die eben erst bekämpfte Wut, als er Nocturn sah. Er hatte sich nicht umgezogen; stand immer noch in seiner blutigen Uniform genau dort, wo Youma ihn zurückgelassen hatte – und das, obwohl er sicherlich mehr als 40 Minuten unter der Dusche – seine Haare benötigten sehr viel Pflege – verbracht hatte. Und wieder, schon wieder, war er in Gedanken verloren und schon wieder starrte er mit leeren Augen den Flügel an.   Jetzt war aber genug!   Nocturn schreckte überrascht auf, als er spürte, wie Youma seinen Arm an dessen Armbeuge packte und ihn durch die Stube zerrte. „Es reicht jetzt langsam, Nocturn!“ Ohne von dem überrumpelten Flötenspieler aufgehalten zu werden, bugsierte Youma Nocturn zum Flügel und mit Nachdruck platzierte er ihn regelrecht auf der niedrigen Bank vor dem Instrument. „Wenn du so unbedingt spielen willst…“ Mit einer ruckartigen Bewegung riss Youma den Deckel des Flügels auf: „…Dann tu es doch endlich!“      Um dem Ganzen endlich ein Ende zu setzen, hatte Youma sogar Nocturns Hände gepackt und sie auf die Tasten gezogen. Aber kaum dass Youma sie losließ, zog Nocturn sie mit einem rasselnden Atemzug schockiert zurück, als hätte er sich an den Tasten verbrannt. Erst diese recht eindeutige Abwehrreaktion brachte Youma dazu zu stutzen: „Was ist? Du willst doch spielen? Warum tust du es nicht einfach?“ Aus seiner Position sah Youma es nicht; sah Nocturns angstvolle Augen nicht, die über die Tastatur des Flügels liefen, ehe sie sich fest schlossen und er sich mit zugekniffenen Augen abwandte. „… ich kann nicht.“ Youma runzelte die Stirn: „Du kannst es nicht? Wozu steht denn das Instrument hier, wenn du nicht darauf spielen kannst?“ Kurz schwieg Nocturn, die Augen nun wieder öffnend, aber mit fliehenden Augen, als wäre das Instrument eine Person, dessen Blick er ausweichen wollte. „Ich beherrsche das Klavierspielen. Ich tue es nur… nicht oft.“ Das schien wohl eine Untertreibung zu sein – „nie“ war wohl passender. „Aber es gibt da so ein Lied, das mir nicht aus dem Kopf gehen will.“ „Und daher willst du es gerne spielen?“ „Ja.“              „Warum spielst du es dann nicht auf deiner Flöte?“ „Hengdi. Es ist eine Hengdi.“ Youma wusste nicht warum, aber er musste unwillkürlich lächeln. Er stand also nicht ganz neben sich – oder kehrte Nocturn langsam wieder zurück? „Feullé-san hat mir erzählt, dass du eigentlich nur für dich alleine spielst.“ Erst da wandte Nocturn sich zu ihm herum, sah verwundert auf – über so etwas sprach ausgerechnet Youma mit Feullé? Über solche Dinge, die absolut nichts mit seinen Plänen zu tun hatten?   „Willst du, dass ich spazieren gehe und dich kurz alleine lasse?“ Kurz sahen sich die beiden Dämonen an, ehe Nocturn sich abwandte und Youma bemerkte, dass Nocturn seine Finger nun doch auf die weißen Tasten legte; allerdings sehr sanft und vorsichtig – und noch etwas anderes blieb ihm nicht unbemerkt; die Bedächtigkeit in seinem Tonfall, als er Youma antwortete: „Danke, für das Angebot, aber… es ist ein Lied, das sich nicht für meine Hengdi eignet. Ich könnte es auf ihr spielen… ja… aber ich habe das Gefühl, als wäre das nicht richtig… als wäre das nicht so, wie es vorgesehen war… ich muss das Lied auf dem Flügel spielen.“ „Warum tust du es nicht einfach?“ Diese Antwort ließ Nocturn kurz zusammenzucken, was Youma wunderte, denn seine Worte waren alles andere als hart gewesen – und warum griff Nocturn sich kurz an den Kopf? „Mein Angebot steht. Wenn du alleine sein willst, um zu spielen…“ „Nein.“ Nocturn löste seine zitternde Hand wieder von seinem Kopf: „Ich will nicht alleine sein.“   Diese doch sehr inständig wirkenden Worte brachten Youma zum verblüfften Schweigen. Zur Abwechslung wusste er nicht, was er darauf antworten sollte, weshalb er auch froh war, dass Nocturn selbst das Schweigen brach. Wieder wandte er sich zu ihm herum, sah zu dem die Arme über der Brust verschränkt haltenden Youma empor und sagte: „Du könntest mir einen anderen Gefallen tun. Wenn du mir also helfen willst.“ Der Angesprochene schlug die Augen nieder. „Wenn das dafür sorgt, dass du wieder einsatzbereit bi…“ „“Einsatzbereit““, unterbrach ihn Nocturn mit schneidender Stimme: „Einsatzbereit – hört der Herr Kronprinz sich eigentlich selbst reden? Ich bin nicht deine Maschine, die auf Knopfdruck das tut, was du von ihr verlangst.“   Nocturn runzelte die Stirn – natürlich tat er das, denn er konnte genauso wenig mit dem eigentümlichen Schmunzeln auf Youmas Gesicht anfangen wie Youma es selbst konnte. Eigentlich brachte es ihn immer auf die Palme, wenn er ihn Kronprinz nannte – er wusste immerhin nicht, wie viel Wahrheit diesem Wort innewohnte und benutzte diese Betitelung, um ihn und seine Pläne zu verspotten – aber in diesem Moment… freute es ihn. Warum freute es ihn? Warum fühlte er sich nicht von den Worten angegriffen, wie er es sonst immer tat? „Warum schmunzelst du darüber?“ „Weil du endlich wieder nach dir selbst klingst.“ Wieder schwiegen sie kurz, dann steckte das Schmunzeln Youmas aber doch an und auch, wenn Nocturn sich sofort wieder herumdrehte, sah Youma es auf seinem Gesicht.   „Was ist denn das jetzt für ein Gefallen?“, fragte Youma und die Verwunderung nahm zu, als er Nocturns tonloser Aufforderung folgte, sich zu ihm zu setzen. Er tat es, aber warum er es tat oder was er hier sollte, das…. wusste er nicht – und so schnell gab Nocturn ihm auch keine Aufklärung. Es war ihm wohl plötzlich peinlich, es zu fragen: es dauerte eine kleine Weile, ehe er zu Youma sah und die Frage stellte. „Ich nehme an, dass du singen kannst.“ Der Angesprochene wurde ein wenig rot, aber seine Skepsis ließ die Röte wieder verblassen. „Ja, das kann ich – aber wie kommst du darauf?“ „Ich bin Musiker. Ich höre so etwas. Kannst du Noten lesen?“ „Nein.“ „Dachte ich mir“, seufzte Nocturn und klang dabei wirklich so, als wäre es etwas sehr Gravierendes, dass er es nicht konnte, fast so, als hätte er Mitleid mit ihm. „Du möchtest also, dass ich etwas singe. Warum tust du es nicht selbst?“ „Weil ich nicht singe. Ich kann nicht singen, also tue ich es auch nicht. Ich werde…“ Seine Stimme zitterte kurz, gewann aber wieder an Stärke. „… spielen, deine Stimme begleiten. d’Accord?“ „Ich kenne das Lied doch gar nicht. Wie soll ich ein Lied singen, das ich nicht kenne?“ „Ich habe den Liedtext schon übersetzt.“ „Ach?“ „Und gestimmt ist der Flügel auch.“ „Was auch immer das heißen soll… du scheinst dich ja gut vorbereitet zu haben, dafür dass du eigentlich gar nicht spielen willst.“ „Ich will ja eigentlich spielen… aber zur gleichen Zeit…“ „Dann lass uns anfangen. Ist das der Text?“   Nocturn  nickte und reichte Youma die Notenblätter, die, seitdem er sie übersetzt hatte, auf dem Flügel gelegen hatten.  Sofort begann er damit, das Blatt zu überfliegen, sich nebenbei das Handtuch von den Schultern schiebend. „Ich würde sagen, du spielst es mir einmal so vor, damit ich die Melodie kenne und ich singe beim zweiten Mal mit. Der Text ist ja auch relativ simpel, das müsste kein Problem sein…“ „Nein, ich möchte es nur einmal spielen. Einmal ist genug.“ „Ich kann unmöglich…“ „Ah, ich glaube schon, dass du das kannst.“ Nocturn grinste ihn neckend und eine Spur schelmisch von der Seite her an – erst da bemerkte Youma, wie lange er dieses Grinsen nicht mehr gesehen hatte. „Ich bin das Instrument. Ich werde mich deiner Stimme beugen und anpassen.“ Er legte seine dünnen Finger auf die Tasten, sein Grinsen wurde eine Spur breiter, Youma immer noch ansehend: „Aber vergiss nicht; das Instrument gibt im Endeffekt den Ton an.“ Youma wusste nicht wieso, aber auch er musste plötzlich grinsen: „Ich hab dieses Sinnbild durchaus verstanden.“ „Glückwunsch, Herr Kronprinz, ich habe es auch sehr einfach gemacht, damit selbst ein Kulturbanause, wie Ihr es seid, es verstehen kann.“   Youma atmete tief durch – was tat er hier eigentlich? Wie lange war es her, dass er gesungen hatte? Gut, ab und zu erwischte er sich dabei, wie er etwas vor sich hin summte, was ja auch kaum verwunderlich war, wenn man bedachte, dass es eigentlich nie einen Augenblick Stille in diesen vier Wänden gab. Musik erklang immer aus der teuren Stereoanlage, die Nocturn hatte einrichten lassen. Zu Beginn hatte es Youma gestört, aber eigentlich… er hatte kein sonderlich großes Interesse an Musik, aber wenigstens waren Nocturns Musikpräferenzen nicht störend. Im Gegenteil; er hörte Musik, die Youma als sehr angenehm empfand. Aber nur weil er ab und zu mal ein wenig vor sich hin summte, bedeutete das ja noch lange nicht, dass er sich danach sehnte, zu singen. Das konnte man so wirklich nicht sagen. Aber dennoch hatte er sich sehr schnell dazu überreden lassen mit Nocturn zu musizieren… warte, er hatte ihn gar nicht überreden müssen? Nun ja, was war schon dabei. Wenn er ein wenig singen musste, um Nocturn eine Freude zu machen, dann… Es schien ihm ja wirklich sehr wichtig zu sein. Warum hatte er ihn nicht einfach gefragt?   Nocturn wartete nicht bis Youma ausgeatmet hatte und so blickte Youma ihn überrumpelt an, als dieser plötzlich und ohne Vorwarnung begann. Sanfte, ruhige Töne erfüllten den Raum, die so gar nicht zu Nocturns neckischem Grinsen passen wollten, welches er ihm sandte – fast so, als wolle er sagen „Guck, ich hab dir doch gesagt, dass ich den Ton angebe!“. Was für eine sanfte Melodie, besinnlich würde Youma sie eigentlich eher nennen, diese Töne, die Nocturn diesem großen Instrument entlocken konnte. Obwohl er nach eigener Aussage lange nicht mehr gespielt hatte, spielte er gekonnt – um das beurteilen zu können, brauchte Youma kein großes Musikwissen. Es genügte, seine geübten Finger zu beobachten… wie sie sich sanft über die weißen Tasten bewegten, ab und zu an Youma vorbei, ihn dabei streifend, weshalb er sich zurücklehnte, um Nocturn nicht bei seinem Spiel zu behindern. Eine eigenartige Wärme, eine ruhige, zärtliche Wärme hüllte ihn jäh aus – und als hätte Nocturn ihn mit Worten dazu aufgefordert, wusste Youma auf einmal, dass er nun mit seinem Part beginnen müsse.   Nocturns Grinsen war zuerst einem konzentriertem Gesichtsausdruck gewichen – jetzt aber, als er Youmas Stimme hörte, da musste er unwillkürlich lächeln. Er hatte gewusst, dass seine melodische Stimme, weder hoch noch wirklich tief, dem Singen mächtig war – mehr als das, er hatte gewusst, dass seine Stimme perfekt für dieses Lied geeignet war. Natürlich hatte Nocturn das erkannt; er spürte so etwas, hörte es… er war in der Lage, sich anzupassen, besaß Taktgefühl… seine Stimme passte zu Nocturns Spielen. Sie passte so sehr, war so schön, dass Nocturn tatsächlich das Gefühl hatte, ihm würde vor Freude und Glückseligkeit das Herz aufgehen.     Eigentlich war das Lied recht kurz, aber Nocturn setzte ein weiteres Mal an und Youma folgte dieser stummen Aufforderung des Nicht-Abbrechens und begann das Lied ebenfalls von vorne, denn in diesem Moment, als sich Youmas Stimme und Nocturns Spielen vereinigten und die beiden angeblich so ungleichen Seelen zum ersten Mal in Balance erklangen, empfanden sie zum ersten Mal dasselbe. Es gefiel ihnen. Sie fanden Gefallen daran. Sie wollten nicht, dass es aufhörte.   Ein plötzliches Stechen im Kopf brachte Nocturns Lächeln dazu, ein wenig stumpf zu werden; aber er brach nicht ab, er konnte es nicht, er wollte es nicht. Aber was waren das für Bilder, die sich ihm plötzlich aufdrängten? War das er… selbst? Ja, das musste er selbst sein, als Kind… elf oder zwölf Jahre alt… die Hengdi in der Hand, an sich gedrückt, wie groß sie wirkte, im Vergleich zu seinem kleinen Körper… er hatte gerade ein Lied beendet, ja… es war dasselbe Lied wie das, was er jetzt spielte… aber damals hatte niemand dazu gesungen… er hatte es so gerne hören wollen, dieses Lied. Er hatte sich angestrengt, war artig gewesen, aber man hatte es nicht mit ihm spielen wollen, er hatte irgendetwas getan, weshalb es ihm verwehrt geblieben war… aber man hatte sich anders entschieden, hatte sich erweichen lassen… er spürte, dass er angelächelt wurde, dort… vor dem… Flügel… auf dem sie… immer gespielt… hatte… dieses Lied, sie hatte es ihm gespielt… er hatte ihr Spielen mit seiner Hengdi begleitet… es war so schön gewesen, so schön, so schön… Er war dort eingeschlafen. Auf der Bank am Flügel, mit dem Kopf in ihrem Schoss gebettet. Sie hatte weiter gespielt, weiter… und weiter….   Nocturn spürte kaum, wie er die Finger hob, sie vom Flügel zurück zog, in einer langsamen, bedächtigen Bewegung, genauso wenig wie er spürte, wie sein Kopf auf Youmas Schulter sank.   Youmas Stimme verstummte sofort; er blickte Nocturn an, der ihn nicht ansah, da er die Augen geschlossen hielt. Zuerst war sein Körper angespannt gewesen, aber langsam, als er bemerkte, dass Youma ihn nicht wegstieß oder ihn anherrschte, schien er sich zu entspannen, zu beruhigen.   Leicht kräuselten sich Youmas Mundwinkel, ehe er die Notenblätter auf den Flügel legte und sachte wieder zu singen begann, womit sich ein Lächeln auf Nocturns Gesicht ausbreitete.   Auf den Notenblättern stand der Titel geschrieben, mit schwarzer, zierlicher Schönschrift:   Stille Nacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)