Arbeitstitel: Skalpell und Falling von Lelu ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Hände in den Hosentaschen vergraben stand Valeriu da und ließ seinen Blick über die Menschen wandern, welche geschäftig durch die Straßen liefen. Immer mal wieder glitt sein Blick zu der Uhr an seinem Handgelenk und er schüttelte den Kopf. Er mochte es nicht zu warten, erst recht nicht, wenn er keine Ahnung hatte, wo Li gerade steckte. „Da bin ich. Hab alles, können wir?“, erklang urplötzlich ihre Stimme hinter ihm. Ein Zusammenzucken unterdrückend wandte er sich zu ihr um und musterte sie zweifelnd. In jeder Hand trug sie mindestens drei Einkaufstaschen, die alles andere als Leer aussahen. Zuerst wollte er nach den Taschen greifen, ließ es dann aber. Er wusste dass sie die Hilfe zwar nicht ausschlagen, sie aber auch nur ungern annehmen würde. Sie wollte nicht wie das schwache Mädchen wirken, für welches man sie schnell halten konnte wenn man sie nicht kannte. Also schüttelte er einfach nur den Kopf. „Was hast du alles gekauft?“, wollte er stattdessen wissen. „Na alles. Warme Kleidung, Mützen, Schals, Handschuhe, Winterschuhe. Man kann nie wissen. Komm, lass uns gehen. Ich hätte jetzt Lust auf einen warmen Kakao und du?“ Valeriu nickte einfach nur und wandte sich zum Gehen. Li hatte das Talent immer genau zu wissen, was er brauchte oder wollte und das meistens auch noch, bevor er selbst es wusste. Nebeneinander herlaufend machten sie sich auf den Weg zu dem Motel, in welchem sie untergekommen waren. Vor drei Tagen waren sie nach London gekommen, um sich hier etwas auszuruhen. Der plötzliche Wintereinbruch hatte ihnen da jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da sie vor ihrer Ankunft hier nur in warmen Ländern unterwegs gewesen waren, hatten sie keine passenden Kleider und mussten sich nun welche besorgen. Zum Glück lag das Motel nicht so weit von der Einkaufsmeile entfernt. So konnten sie gemütlich laufen. „Wie lange bleiben wir hier?“, wollte Lilith ungewohnt ernst wissen. „Bis sie uns finden. Schätze eine Woche, oder so.“ Er zuckte mit den Schultern, als würde es ihm nichts ausmachen. Aber Lilith sah ganz deutlich die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen. Es machte ihm doch mehr aus, als er zugeben wollte. Dabei drückte die Situation auch ihre Stimmung runter. Seit sie, vor ein paar Jahren, im wahrsten Sinne zusammengestoßen waren, befanden sie sich auf der Flucht. Auf Dauer gesehen war das kein Leben, dass sie beide leben wollten. Kurz dachte Lilith noch an ihre Probleme, dann wanderten ihre Gedanken zu ihrem ersten Treffen mit Valeriu. Damals war sie vierzehn gewesen und schon vier Jahre alleine durch die Welt gereist. Durch ihre Mutation, sich von egal welchem Ort, zu einem anderen zu teleportieren, war das Reisen kein Problem. An diesem einen Tag hatte sie beschlossen nach Moskau zu reisen, warum wusste sie nicht mehr. Jedenfalls war sie in einer Seitenstraße aufgetaucht und saß im nächsten Moment auf dem Boden. Ihr gegenüber ein junger Mann mit weiß-silbernen Haaren und faszinierenden grauen Augen. Ungläubig hatte er sie angesehen. Ihr fröhliches und dennoch etwas schüchternes „Hi“ war der Beginn einer Freundschaft gewesen, die eigentlich weit über diese hinausging. Lächelnd sah Lilith zu Valeriu hinüber, der die ganze Zeit die Umgebung beobachtete. „Mach dir keine Sorgen. Als wir das letzte Mal hier waren, gab es hier die Abteilung der Sucher noch nicht. Vielleicht haben wir ja Glück“, meinte sie und lächelte erneut. Doch Valeriu schüttelte den Kopf. Er hatte ja recht. Das wäre schon eine enorme Portion Glück. Seit vor zehn Jahren diese Mutantenidentifikationsgerät, kurz MIG, auf den Markt gekommen waren, hatte die Polizei eine neue Abteilung eröffnet. Sie nannte sich die Sucher. Jeder von ihnen trug so ein Identifikationsgerät bei sich und es schlug sofort an, wenn auch nur der Hauch einer Mutation in der Luft lag. Nach und nach wurde jede Polizeistation der Welt mit dieser Abteilung ausgestattet. „Mittlerweile sind sie überall. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Sein Gesicht blieb wie versteinert. Lilith seufzte und lehnte kurz den Kopf gegen seine Schulter. Dann bogen sie um eine Ecke und standen vor dem Motel. Ein weiteres Seufzen entkam Lilith, als sie die Streifenwagen sah, welche vor dem Haus standen. „So viel zum Thema Glück“, brummte Valeriu und sah zu ihr hinüber. Sie nickte, ließ die Taschen fallen und wandte sich auf dem Absatz um. „Was machst du?“, wollte Valeriu wissen und sah sie fragend an…als ob er das nicht wüsste. „Bin gleich wieder da?“ „Li, wart…verdammt…“ Sie verschwand vor seinen Augen. Das einzige, was zurück blieb, waren silberne Wölkchen die sich fast augenblicklich ebenso in Luft auflösten. Er holte tief Luft und sah zu dem Motel. Nichts geschah. Vielleicht wurde sie ja gar nicht bemerkt. Wenn es hier wirklich noch keine Sucherabteilung gab, mussten sie noch nicht mal die Stadt verlassen. Ein kleines Fünkchen Hoffnung machte sin in ihm breit, was jedoch sofort wieder erlosch. Rufe wurden laut und etliche Polizisten stürmten in das Motel. Zwei Schüsse erklangen. Unruhe brach aus. Er gab Li noch dreißig Sekunden, dann war ihm egal, ob Sucher unter den Polizisten waren. Ein weiterer Schuss fiel. Noch zehn Sekunden. „Wir müssen los“, erklang Lis Stimme hinter ihm, zweigleich mit einem nervigen Piepsen. Erschrocken und sichtlich erleichtert fuhr er zu ihr herum. Sofort entdeckte Valeriu den Ursprung des Piepsens. Li hielt ein MIG in der Hand. Mit einem verächtlichen Blick warf sie den MIG auf den Boden und trat darauf. Sofort verstummte das Piepsen. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du das lassen sollst?“, knurrte Valeriu, schnappte sich Lis Einkaufstaschen und packte sie am Arm, um sie hinter sich her zu ziehen. „Au…was denn?“, fragte sie und hängte sich die schwarze Reisetasche richtig um, die sie aus dem Motelzimmer geholt hatte. Auf ihre Frage erntete sie erst nur einen bösen Blick. Valeriu dachte gar nicht daran ihrer Gegenwehr, gegen seinen Griff, nachzugeben. Sie mussten weg und zwar schnell. „Du tust mir weh…“, kam es von Li, aber er reagierte nicht darauf. Erst als er sie in eine Seitengasse gezogen hatte, ließ er ihren Arm los, welchen Lilith auch gleich massierte. Sofort tat es ihm leid, sie so fest gepackt zu haben. Aber er machte sich nun mal Sorgen, wenn sie einfach verschwand und in solchen Momenten konnte er das nicht anders ausdrücken. „Du sollst nicht so leichtsinnig sein. Was hättest du gemacht, wenn sie dich erwischt hätten? Was hätte ich tun sollen, wenn sie…“ „Tut mir leid.“ Lilith warme Hände legten sich auf seine kühlen Wangen und er spürte sofort, wie Ruhe seine aufgewühlten Gedanken durchzog. Valeriu schloss die Augen und konzentrierte sich auf dieses Gefühl. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, wie es war ohne Lilith zu leben. Sie waren schon so sehr Teil des Lebens, des jeweils anderen. Keiner von ihnen wollte diesen besonderen Teil auf irgendeine Weise verlieren. Ein angenehmes Kribbeln lief durch Valerius Körper und als er die Augen wieder öffnete, standen sie nicht mehr in einer Londoner Seitenstraße, sondern auf einer weitläufigen Wiese. Valeriu sah Li fragend an. „Wo sind wir?“ Einen Moment dachte sie nach und sah sich um. Dann zuckte sie grinsend mit den Schultern. „Irgendwo in Irland.“ Leise lachend schüttelte Valeriu den Kopf und zog Li in eine sanfte Umarmung. „Du hast uns wirklich mitten ins Nirgendwo gebracht, oder?“, wollte Valeriu wissen. Sie waren schon knapp eine Stunde gelaufen und hatten noch keine Stadt, kein Dorf oder sonst irgendein Zeichen von Leben entdeckt. Kopfschüttelnd blieb Li stehen und schüttete den Inhalt einer Einkaufstasche auf den Boden. Zum Vorschein kam eine große isolierte Decke, welche sie auch gleich ausbreitete. „Ich habe mir gedacht, es wäre mal schön unser nächstes Vorgehen in normaler Lautstärke und einer Umgebung zu besprechen, in der wir nicht Gefahr laufen, jede Sekunde entdeckt zu werden.“ „Stimmt. Aber ein wärmerer Ort ist dir nicht eingefallen?“ Valeriu verschränkte die Arme vor der Brust, um sich so wenigstens etwas der vorherrschenden Kälte zu schützen. „Wenn der Herr friert“, meinte Lilith grinsend. „Dann sollte der Herr die hier anziehen und sich setzten.“ Damit warf sie ihm eine dicke Jacke zu und zog selbst eine an. Dann setzten sie sich auf die Decke und schwiegen einen Moment. Beide wussten, wenn es unnötig war, etwas zu sagen. Es gab Momente, da war Schweigen viel wertvoller. Allerdings mussten sie wirklich besprechen, wie sie als nächstes vorgehen wollten. „Was machen wir jetzt?“, fragte Lilith und unterbrach so das Schweigen. Die Planung für ihr weiteres Vorgehen überließ sie größtenteils Valeriu. Ihre Stärken lagen dafür in anderen Bereichen. „Hier können wir nicht bleiben“, meinte dieser scherzhaft und zeigte eines seiner seltenen Lächeln. „Ach nein? Hätte ich nicht gedacht. Dabei ist es so schön hier. Tolles Essen, bequeme Bette, nettes Personal“, sprang Lilith darauf an und lachte. Auch Valeriu musste lachen, wurde aber schnell wieder ernst. Eigentlich war ihre Situation nicht lustig. Aber Lilith brachte ihn immer wieder dazu, dies kurzzeitig zu vergessen. „Nein, ich meine es ernst. Wir müssen uns überlegen, wo wir als nächstes hingehen und zwar sehr gut. Ich will nicht schon wieder nach drei Tagen die Stadt verlassen müssen. Gibt es nicht irgendein Dorf, das keine Sucherabteilung hat?“ „Wenn du willst, seh ich in den Dörfern hier in der Nähe nach. Vielleicht ist ja eins dabei“, schlug Li zögernd vor. Valeriu seufzte. „Hab ich eine Wahl?“, wollte er wissen. „Ja, wir entscheiden uns für eine Stadt oder ein Dorf und ich bringe uns da hin. Dann haben wir allerdings keine Garantie, dass wir unsere Ruhe haben.“ Wieder schwiegen sie einen Moment und Lilith konnte sehen, wie es hinter Valerius Stirn arbeitete. Sie mochte es auch nicht, wenn sie getrennt waren. Aber das kam nun Mal vor und außerdem ging es hier höchstens um eine viertel Stunde. Mittlerweile war sie wirklich schnell, was das Teleportieren anging. Fragend sah sie Valeriu an, der immer noch vor sich hin starrte. Kurz überlegte sie, einen Blick in seine Gedanken zu werfen, entschied sich aber dagegen. Sie empfand es immer noch als einen zu großen Eingriff in die Privatsphäre eines anderen, wenn sie ungefragt auf die Gedanken lauschte. „Und?“ „Tu mir den Gefallen und geh nicht in mehr als sechs oder sieben Dörfer, damit du nicht wieder so geschwächt bist“, meinte Valeriu widerwillig. Lächelnd nickte Lilith und sprang auf. Mit einem „Bis gleich“ hatte sie sich wieder einmal in silbernen Wolken aufgelöst. Valeriu stieß den Atem aus und sah zu, wie er kleine gefrorene Wölkchen vor seinem Mund bildete. Er hoffte, dass Li sich auch an ihr stummes Versprechen halten würde. Als sie das letzte Mal die Städte auskundschaften war, hatte sie sich überanstrengt und konnte ihre Mutation einen ganzen Tag lang nicht benutzten, was ihr sehr zugesetzt hatte. Wenn man sich überlegte, wie viel Angst sie vor ihrer Gabe hatte, als sie sich das erste Mal trafen, war es schon fast unheimlich, wie sehr sie jetzt davon abhängig war. Valeriu dagegen hatte manchmal immer noch Angst vor seiner Mutation, auch wenn er das nicht zugeben würde. Vor allem, wenn er seine Gefühle nicht im Griff. Eine falsche Handbewegung wenn er wütend war und es gab Tote. Manchmal war die Gabe, mit Gesten organisches Material zerschneiden zu können, mehr Fluch als Segen. Dass er seine Haut härten konnte, war hingegen eine Mutation, die er nicht mehr hergeben wollte. Zu oft hatte sie ihn schon gerettet. Im Gegensatz zu dem kleinen Nebeneffekt seiner Mutation. Er wusste nämlich nicht, ob er ein Mann oder eine Frau war. An seinem Körper gab es keinerlei Anhaltspunkte, um das festzustellen. Oft war er deswegen Ziel des Spottes anderer gewesen. Dass er sich jetzt als Mann ausgab, hatte er Li zu verdanken die schon immer eine Art großen Bruder in ihm gesehen hatte. Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt nur Valeriu gerufen zu werden und sprach von sich selbst auch als Mann. Es machte auch vieles einfacher. Wenn ein Mann mit einer jungen Frau unterwegs war, wurden sie nicht so oft dumm angemacht, als wenn zwei Frauen unterwegs waren. Zwar hatte er mehr mit einem Mann gemeinsam, wenn es um sein Äußeres ging, doch zog man ihm Frauenkleider an, konnte man genau das weibliche in ihm erkennen. Außerdem fühlte er sich neben Li als Mann einfach wohler. Auch wenn sie ihn als Frau ebenso akzeptiert hätte. Er wollte nicht ihre Freundin, sondern ihr Freund sein. So saß er da, dachte weiter darüber nach und hoffte sich so von seiner Sorge abzulenken. Aber so ganz wollte es ihm nicht gelingen. Zu sehr beunruhigte es ihn, wenn Li alleine unterwegs war und noch dazu, wenn sie allein Polizeistationen auskundschaftete. Er wusste einfach nicht, was er tun würde, wenn sie nicht zurückkam. Immerhin war Li die einzige Freundin, die er hatte. Sie war die einzige, der er vorbehaltlos vertraute. Eine Sekunde nachdem Lilith vor Valeriu verschwunden war, tauchte sie in der ersten Polizeistation wieder auf. Zuerst passierte nichts, dann erklang ein hohes nervendes Piepsen und sie verdrehte die Augen. Sucher brachten in der gesamten Polizeistation MIG´s an, damit sofort Alarm geschlagen wurde, wenn ein Mutant diese betrat. Im nächsten Moment und bevor jemand reagieren konnte, war sie auch schon wieder verschwunden und tauchte in der nächsten Station auf. Aber hier war es auch nicht anderes. Genauso wie in den nächsten sieben Dörfern. Genervt beschloss sie noch ein weiteres Dorf zu überprüfen, bevor sie zu Valeriu zurückkehren würde. Seufzend überließ sie ihrer Mutation die Oberhand und gab die Richtung vor, in der sie das nächste Dorf, die nächstes Polizeistation spürte. Das angenehme Kribbeln des Teleportierens durchlief ihren Körper, was allerdings einen Lidschlag später schon wieder verschwand. Liltih öffnete die Augen und sah sich um. Die Polizisten starrten sie etwas verwirrt und verwundert an. Eine Minute verging und nichts geschah. Lächelnd warf Lilith einen Blick auf das Schild über dem Eingang und merkte sich den Namen des Dorfes. Dann zwinkerte sie den Beamten zu und löste sich vor ihren Augen auf. Im nächsten Moment stand sie wieder vor Valeriu, dessen Gesichtszüge sich sichtlich entspannten, als er sie sah. „Und?“, fragte er und musterte sie. Ihr schien nichts zu fehlen, wenn man mal von ihrem leicht erschöpften Blick absah. Also hatte sie sich doch mehr angesehen, als sie versprochen hatte. Ein weiterer Beweis dafür war die Tatsache, dass sie sich gleich hinsetzte, als sie neben ihm erschien. „Ich hab eines gefunden, in der Grafschaft Laois. Dort scheint noch keine Sucherabteilung zu existieren. Zumindest ging kein Alarm los, als ich dort in der Polizeizentrale aufgetaucht bin.“ „Wie viele?“ Lilith wusste genau, was er wissen wollte, beschloss aber sich etwas dumm zu stellen. Wenn sie ihm sagte, wie viele Dörfer sie wirklich besucht hatte, konnte sie sich wieder eine Standpauke anhören. „Keine Ahnung, schätze da waren so um die dreißig, vierzig Polizisten. Ich habe sie nicht gezählt“, antwortete sie. Ein Knurren erklang und sie sah Valeriu unschuldig an. Dieser kniff die Augen etwas zusammen und erwiderte ihren Blick. Kurz lieferten sie sich ein stummes Duell, welches Lilith schließlich verlor. Seufzend zog sie die Beine an den Körper und legten den Kopf auf die Knie. „Zehn“, murmelte sie kaum hörbar und wartete auf eine Reaktion. Lilith wusste, was kommen würde und stellte sich darauf ein, die nächste halbe Stunde einen Vortrag zu hören wie gefährlich es war, sich zu überanstrengen, dass sie leichtsinnig war ihre Grenzen immer wieder in solchen Situationen auszutesten und das er sie irgendwann noch mal aus irgendeinem Gefängnis befreien werden müsse, wenn sie einen Schwächeanfall in einer Polizeizentrale bekam. Sie verstand seine Sorge ja. Es war etwas anderes sich innerhalb eines kleinen Gebietes dauernd zu teleportieren, so konnte sie locker flockig eine Stunde am Stück ihre Gabe einsetzten. Aber sich immer wieder über mehrere Kilometer zu teleportieren, dass gelang ihr in sehr seltenen Fällen nur öfter als zehn Mal in einer Stunde und danach musste sie sich eine ganze Weile ausruhen. Aber wie sollte sie sich auch weiterentwickeln, wenn sie ihre Grenzen nicht in Frage stellte? Das sah Valeriu allerdings nicht wirklich ein. Er hatte einfach zu große Angst, dass sie sich irgendwann mal zu sehr anstrengte und daran zerbrach. Umso erstaunter war Lilith, das dieser Vortrag ausfiel. Stattdessen schüttelte Valeriu ein weiteres Mal den Kopf und sah sie einfach eine Zeitlang durchdringend an. Ihr wäre es fast lieber gewesen, wenn er rumgemeckert hätte. Schließlich wurde sein Blick weicher und er schloss kurz die Augen. „Wie heißt es?“, fragte er nur. „Durrow. Sieht aus wie ein nettes, kleines Städtchen oder Dorf. Auf jeden Fall wurde ein Alarm ausgelöst, als ich in der Zentrale erschien. Dadurch schätze ich mal, dass es dort noch keine Sucher gibt.“ „Welche Richtung? Du kannst uns ja schließlich nicht hin teleportieren.“ War da Vorwurf in seiner Stimme? Wenn ja, beschloss sie diesen Unterton zu ignorieren. Er hatte ja recht. Wenn sie langsam gemacht hätte, wären sie jetzt schon in Durrow und hätten nicht laufen müssen. Aber wenn sie es nicht gewagt hätte, hätte sie das kleine Städtchen nicht gefunden. Insofern konnte er ihr auch nichts vorwerfen. „Hier lang.“ Lilith deutete in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen waren, schnappte sich die schwarze Umhängetasche und lief los. Sie spürte Valerius Blick im Rücken, ging aber einfach weiter. „Bist du mir jetzt böse?“, fragte dieser und schloss zu ihr auf. Er konnte sich zwar nicht vorstellen warum, aber er schien Li verärgert zu haben. Dabei hatte er sich eben extra zurückgehalten. Eigentlich hätte er ihr am liebsten gesagt, dass sie immer noch so leichtsinnig war, wie das vierzehnjährige Mädchen, als welches er sie kennengelernt hatte. Auch wenn er wusste, dass sie das nicht gerne hörte. „Nein, bin ich nicht…Ich bin einfach etwas müde“, meinte Li und sah ihn entschuldigend an. Tatsächlich sah sie so aus, als würde sie jeden Moment unterm Laufen einschlafen. Valeriu seufzte. Warum hatte er das geahnt? Genau, weil es immer passierte, wenn sie nicht auf ihn hören wollte. Schnell überholte er sie und ging, den Rücken zu ihr gewandt in die Hocke. „Na komm.“ „Du musst mich nicht tragen. Ich kann laufen…“ „Keine wiederrede.“ Einen Moment sah sie nur unschlüssig aus, dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und sie schlang Valeriu die Arme um den Hals. Dieser stand auf und spürte, wie sich ihre Beine um seine Taillie schlangen, damit sie sich irgendwie festhalten konnte. In ein paar Augenblicken würde sie das eh nicht mehr machen, denn dann war sie eingeschlafen. Kaum dass Valeriu das gedacht hatte, spürte er wie jegliche Spannung aus Li`s Körper wich. Ihr Kopf sank gegen seinen Nacken und er spürte ihren warmen, gleichmäßigen Atem auf seiner Haut. Lächelnd schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, damit er sie etwas halten konnte. Er wusste nicht genau, wo sie hin mussten, aber wenn er stehen blieb, brachte ihm das auch nichts. Er konnte genauso gut durch die Gegend laufen, wie einfach irgendwo sitzen zu bleiben. Außerdem hockte er einfach nicht gerne tatenlos rum. Sein Blick wanderte über die Landschaft und er lächelte etwas. Es war schön hier. Er genoss es, wenn er keine Menschen sehen musste. Diese hatten ihn schon zu oft enttäuscht. Am liebsten hätte er sich mit Li irgendwo hin zurückgezogen und wäre nie wieder in die Welt der Menschen zurückgekehrt. Einmal hatten sie das sogar versucht. Sie hatten sich einen Unterschlupf in einem abgelegenen Tal eines Gebirges eingerichtet. Das war auch ungefähr drei Monate gut gegangen. Dann hatte ein Helikopter das Tal überflogen und genau zwei Tage später hatte ein ganzer Trupp Sucher ihr Versteck ausfindig gemacht und wollte sie festnehmen. Damals war Li noch nicht so gut auf ihre Gabe zu sprechen, weshalb sie sie beide auch nicht weit weg teleportieren konnte, zumindest nicht auf einmal. Sie hatte sich selbst und Valeriu in fünf Etappen aus dem Gebirge nach Italien gebracht. Dann war sie zusammengebrochen und hatte fünf Stunden geschlafen. Es war das erste Mal, dass Valeriu sie in diesem Zustand gesehen hatte und er machte sich riesige Sorgen. Sie war damals immer erschöpft, wenn sie auch ihn teleportierte. Das lag einfach daran, dass sie noch nicht so viel Übung darin hatte. Was sich aber schnell änderte, genauso wie ihre schüchterne Art. Das wiederum machte Valeriu nichts aus. Er mochte sie, genau sowie sie war. Aber dieses schüchterne Mädchen… mit dem hatte er nicht wirklich viel hatte anfangen können. Oder besser gesagt: Er hatte das Gefühl sie immer und überall beschützen zu müssen. Dieses Gefühl hatte er zwar immer noch, aber er konnte es kontrollieren. Er wusste, wann er diesen Beschützerinstinkt besser in den Hintergrund drängte, was aber nicht hieß, dass er das auch tat. Als sie noch so schüchtern gewesen war, hatte er das nicht tun können. Er hatte sie damals noch nicht mal alleine durch den Wald gehen lassen, der an ihr Versteckt angegrenzt hatte. Ein leises Murmeln ließ ihn nach hinten sehen, doch Li schien nur zu träumen. Kurz ruckte sie mit dem Kopf und blieb dann wieder vollkommen still liegen. Valeriu versuchte vorsichtiger aufzutreten, um sie nicht zu wecken und ging weiter. Auf seinem Weg dachte er noch über einiges nach. Meist hatte es etwas mit den Sucher zu tun, die er so verabscheute. Warum konnten die Menschen sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie alle hatten gehofft, dass es nach dem Vorfall vorm weißen Haus, vor drei Jahren, in den etliche Mutanten, darunter ein gewisser Charles Xavier und einer der sich Magneto nannte, verwickelt waren, alles besser werden würde. Stattdessen hatte dieser Auftritt nur dafür gesorgt, dass jetzt wirklich allen Mutanten eine gewisse Aufmerksamkeit zukam. Da war es egal, ob man zu diesen Friedenssüchtigen X-Men gehörte oder zu der Bruderschaft, wie Magneto seine Organisation nannte. Sie wollten einfach nur ihre Ruhe. Doch nachdem Trask Selbstmord begangen hatte, war dies nicht mehr denkbar. Seine Familie gab den Mutanten die Schuld daran und tat alles, um diese zu bekämpfen. Allen voran sein Sohn, den er gut versteckt gehalten hatte. Doch das Schlimme an der Sache war, dass dieser – Gregory hieß er – die Untersuchungen seines Vaters wieder aufgenommen hatte und sie sogar der Regierung unterbreitete. Aus welchem Grund auch immer hatte der Präsident zugestimmt, die Sucher einzusetzen und diese mit den MIG‘s auszustatten. Ebenso wie jede Polizeizentrale, jeden Streifen- und Einsatzwagen, ja sogar die Flugzeuge, Helikopter und Hubschrauber hatten eingebaute MIG’s zum aufspüren von Mutanten. Es dauerte zwei Stunde, bis am Horizont die Silhouette von Häusern auftauchten. Valeriu beschloss zu dieser Stadt oder dem Dorf zu gehen und zu schauen, ob er gefahrlos ein Zimmer mieten konnte, während Li sich mal ordentlich ausschlief. Das Glück schien wenigstens einmal auf ihrer Seite zu sein, denn schon von Weitem konnte man ein Schild erkennen, auf dem der Name Durrow zu lesen war. Die schlafende Lilith auf dem Rücken betrat er das Städtchen und suchte auch gleich nach einem Motel oder ähnlichem. Was er fand war eine Art Jugendherberge, die etwas abgelegen von den anderen Häusern stand. Perfekt, wenn man in der kleinen Stadt keine Aufmerksamkeit wollte. Der Herbergsbesitzer schaute zwar misstrauisch, als Valeriu ein Zimmer mietete und warf Li einen unsicheren Blick zu. Aber als Valeriu erklärte, dass seine Schwester von der langen Busfahrt bis nach Durrow müde sei, nickte der Mann nur und gab ihm den Zimmerschlüssel. „Ihr beide seid nicht von hier“, stellte er fest. „Du hast einen Akzent, den ich hier noch nie gehört habe.“ „Wir sind auf einer Weltreise. Kommen ursprünglich aus Russland, daher der Akzent“, meinte Valeriu und rang sich ein unechtes Lächeln ab. Der Mann nickte ein weiteres Mal und erklärte, wie er zu ihrem Zimmer kam. Die Treppe hinauf, vierte Tür auf der linken Seite. Valeriu bedankte sich und folgte der Wegbeschreibung. Das Zimmer war so, wie man es sich bei einer Jugendherberge vorstellte. Rustikal eingerichtet, wenig möbliert und so kalt, als hätte die letzten vier Wochen das Fenster aufgestanden. Als erstes legte er Li auf das Bett, dann drehte er die Heizung auf, welche mit einem lauten Knacken ansprang. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie auch wirklich lief, wandte er sich wieder Li zu. Sie hatte sich auf der Seite zusammen gerollt und schlief tief und fest. Ein warmes Gefühl überkam Valeriu, als er sie so friedlich da liegen sah. Umso mehr tat es ihm leid, sie jetzt vielleicht zu wecken, denn er musste ihr die dicke Winterjacke ausziehen. Wenn sie in dem Ding schlief und nachher vielleicht noch einmal raus wollte, würde sie sich höchst wahrscheinlich den Tod holen. Vorsichtig, darauf bedacht, sie nicht unnötig zu bewegen, machte Valeriu den Reisverschluss der Jacke auf und streifte sie ihr langsam ab. Das ganze gestaltete sich einfacher, als gedacht, da Li sich kein bisschen dagegen wehrte. Sie drehte sich noch nicht einmal auf die andere Seite. Valeriu vermutete, dass sie sich nicht bedroht fühlte. Wenn dem so wäre, würde er schon lange entweder auf dem Boden liegen und hätte ein Messer am Hals oder, und das war wahrscheinlicher, er würde gerade in diesem Moment ungefähr siebzig bis achtzig Meter in die Tiefe fallen. Valeriu betrachtete sie noch kurz, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ die Hand auf ihrem Kopf liegen. Drei, vier Minuten saß er so auf der Bettkante und strich gedankenversunken mit dem Daumen immer wieder über ihre Haare. Irgendwie beruhigte es ihn, diese kleine Geste zu widerholen. Überhaupt ihre Nähe beruhigte ihn, wenn er sich auch immer noch etwas gegen diese sträubte. Er war einfach schon zu oft weggestoßen worden, um sich mehr auf andere einzulassen. Auch wenn er es bei Li gerne versuchen würde. Das jedoch lag nicht nur alleine in seinen Händen. Seufzend nahm er die Hand von ihrem Kopf und wollte aufstehen, als sich eine Hand auf seinen Arm legte. „Nicht aufhören“, nuschelte Li neben ihm. „Beruhigt so schön.“ „Ich wollte dich nicht wecken, tut mir leid“, murmelte Valeriu und strich ihr weiter über das Haar. Zufrieden kuschelten Li sich in die Kissen und schnurrte leise. Das wiederum ließ ihn etwas verwirrt drein schauen. Solche Geräusche hatte sie noch nie gemacht. Es musste wohl ein angenehmes Gefühl sein, wenn er ihr über den Kopf strich. Ihm selbst gefiel es auch irgendwie, aber er konnte nicht ewig so weiter machen. Sie brauchten schließlich auch etwas zu essen. Als er sicher war das Li wieder schief, stand er auf und holte etwas Geld aus der schwarzen Tasche. Dann verließ er leise das Zimmer, um sich etwas die Stadt anzusehen und etwas zu Essen zu besorgen. Kapitel 2: ----------- Gähnend streckte Lilith sich auf dem Bett und drehte sich auf die andere Seite. Blinzelnd sah sie zum Fenster hinüber und stellte fest, dass die Sonne gerade auf ging. Wie spät war es? Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es erst kurz vor neun Uhr morgens war. Sie gähnte ein weiteres Mal und schloss dann wieder die Augen. Gerade als sie zurück in ihren leichten Schlaf gleiten wollte, bemerkte sie, was sie geweckt hatte. Schnell setzte sie sich auf und sah vor das Bett auf den Boden. Dort lag Valeriu, auf der isolierten Decke, mit Kopfkissen und zugedeckt mit einer anderen warmen Decke. Naja, das hieß, dort müsste er eigentlich liegen. Doch das provisorische Bett war ordentlich gemacht und von ihm keine Spur. Was Lilith also geweckt hatte, war die Abwesenheit seiner Gedanken. Aber wo war er hin? Sie sprang aus dem Bett und zog sich schnell an, um nur wenige Minuten später, die Treppe hinunter in den Speisesaal zu gehen. Auf dem Weg zog sie sich das Haargummi aus den Haaren und zerwuschelte sie etwas. Eigentlich mochte sie es nicht, ihre Haare zu einem Zopf zu binden. Aber über Nacht machte sie es trotzdem. Das war sie so von klein auf gewöhnt. Als sie den Speisesaal betrat, streifte ihr Blick automatisch durch den Raum. Valeriu war schnell gefunden, da neben ihm nur zwei weitere Personen an den Tischen saßen. Er saß in der hintersten Ecke, hatte sich auf dem Stuhl zurückgelehnt die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick hin ausdruckslos auf dem nicht angeführten Frühstück, auf dem Tisch. Sofort wusste Lilith, dass etwas nicht stimmte und setzte sich zu ihm. Stumm wartete sie, dass er anfing zu reden. Sie wusste nämlich auch, dass er nachdachte und, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, versuchte ein Problem zu lösen. Dabei wollte sie ihn nicht stören. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er den Blick hob uns sie ansah. Lilith zog fragend die Augenbrauen hoch. Er schüttelte den Kopf und schob ihr das Frühstück zu. „Iss“, war das Einzige, was zu ihr sagte. Ja, etwas stimmte ganz und gar nicht und sie wollte endlich wissen was. Aber sie würde sich gedulden müssen bis sie wieder in ihrem Zimmer waren. „Wie hast du geschlafen?“, fragte Lilith, um keine allzu große Aufmerksamkeit auf sie beide zu lenken. „Wie man eben auf einem Holzboden schläft.“ Valeriu verzog das Gesicht und streckte sich. Lilith schüttelte den Kopf. „Ich hab dir schon vor drei Tagen angeboten, mit im Bett zu schlafen. Groß genug ist es.“ Wieder verzog er das Gesicht, allerdings vor Unsicherheit und Zweifel. „Ich…der Boden ist schon okay. Macht mir nichts.“ Lilith zog vielsagend eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Sie wusste dass er nie mit ihn in einem Bett schlafen würde und auch warum das so war. Er ließ diese Nähe einfach nicht zu, konnte sich nicht darauf einlassen, weil er Angst hatte weggestoßen zu werden. Das war schon immer so gewesen, auch wenn es sich über die Jahre etwas gebessert hatte. Immerhin ließ er jetzt zu, dass sie ihn anfasste, was zu Beginn nur der Fall gewesen war, wenn Lilith sie beide teleportierte. „Iss“, holte Valerius Stimme sie aus ihren Gedanken. Sie schnaubte. „Und du?“ „Hab schon, vor gut einer Stunde.“ „So lange sitzt du schon hier?“ Er nichts nur und sie fragte nicht weiter. Valeriu hatte bestimmt einen Grund, warum er sich so verhielt. Schweigend aß Lilith und als sie fertig war, standen sie, wie auf ein geheimes Zeichen hin, auf und gingen in ihr Zimmer. „Also“, meinte Lilith und ließ sich auf das Bett fallen. „Was ist los?“ Valeriu stand am Fenster und sah, mit ernster Miene, zur Straße hinunter. Dann winkte er sie zu sich und deutete auf einen Mann, der an ein parkendes Auto gelehnt da stand und telefonierte. „Ja und?“ Valeriu schüttelte den Kopf und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe. Lilith verstand und legte Zeige- und Mittelfinger beider Hände an Valerius Schläfen. Warum auch immer er das verlangte, langsam wurde sie unruhig und nervös. Was zum Teufel war los? Der steht schon da, seit ich aufgestanden bin und sieht immer wieder zu diesem Fenster, wenn er glaubt es fällt keinem auf. Außerdem…kommt er dir nicht bekannt vor?, wollte Valerius Gedankenstimme wissen. Lilith sah sich den Mann genauer an. Er trug eine schwarze Winterjacke, hatte sich einen grauen Schal um den Hals geschlungen und eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, unter der dunkelbraune Haare hervorschauten. Sie schätze ihn auf eine normale Größe, allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, wie alt er war, da sie sein Gesicht nicht sah. Alles in allem machte er einen wenig Aufsehen erregenden Eindruck. Aber wenn Valerius Verdacht richtig war, dann hatte er viel darauf verwendet, nicht aufzufallen. Nein, kommt er nicht. Wie auch, ich kann ja kaum etwas von ihm erkennen, antwortete Lilith und sah Valeriu an. Warte einen Moment. Sie wusste zwar nicht, was das bringen sollte, nickte jedoch und richtete den Blick wieder nach unten. Sie standen sie drei, vier Minuten und sahen den Mann an. Dann bewegte sich dieser plötzlich. Er sah sich nach links und rechts um und als ihn niemand zu beobachten schien, warf er einen Blick zu ihrem Fenster. Zum Glück stehen wir so weit hinten, dass er uns nicht erkennen kann, schoss es Lilith durch den Kopf. Nach kurzem hinsehen wusste sie, was Valeriu meinte. Der Kerl hatte sie gestern Abend auf der Straße angerempelt. Es waren nur Sekunden gewesen und sie hatte ihn gleich wieder vergessen. Doch jetzt erkannte sie ihn wieder. Ein misstrauisches Blitzen erschien in ihren Augen. Abrupt wandte sie sich von dem Fenster ab und lief durch den Raum auf den Schrank zu. Valeriu sah ihr einfach nur hinterher. Auf ihrer Unterlippe kauend holte sie die Jacke hervor, welche sie am Abend zuvor getragen hatte und begann damit ihre Taschen zu durchsuchen…ohne Erfolg. Wurden sie jetzt schon paranoid? Der Mann telefonierte nur. Warum er das vor der Herberge? Vielleicht wollte er einfach nicht fahren, solange er telefonierte…wenigstens einer, der sich an dieses Gesetz hielt. Es konnte doch auch sein, dass er hier auf jemanden wartete und immer wieder zum Fenster hoch sah, weil er glaubte, dass das das Zimmer der Person war, die ihn warten ließ. Warum sollte er wegen ihnen hier sein?... Lilith seufzte und zog einen kleinen Gegenstand aus der Brusttasche ihrer Jacke, der da nicht hingehörte. Schweigend zeigte sie ihn Valeriu. Dieser nickte vielsagend. In ihrer Hand lag eine Wanze. Also war dieser Typ wirklich wegen ihnen hier. Lilith machte eine fragende Geste mit dem Kopf, doch Valeriu verneinte stumm und nahm ihr die Wanze aus der Hand. Vorsichtig legte er sie auf den Boden des Schrankes und schloss die Tür. Dann wandte er sich zu Lilith um, welche ein weiteres Mal die Hände an seine Schläfen legte. Also hören sie uns ab, stellte sie fest. Wäre auch zu schön gewesen. Sie haben gerade mal drei Tage gebraucht. Das wird immer schlimmer. Wir müssen hier weg. Aber jetzt müssen wir uns erst einmal wieder normal unterhalten, damit sie keinen Verdacht schöpfen. Lilith nickte und zog ihre Hände zurück. „Wie lange bleiben wir noch hier?“, fragte sie laut. „Noch drei, vier Tage, dann geht`s weiter“, erwiderte Valeriu, hielt allerdings einen Finger hoch. Lilith nickte, sie hatte verstanden. Sie würden sich noch ausreichend Proviant besorgen und vielleicht noch etwas Geld. Dann würden sie verschwinden. Vielleicht fanden sie ja irgendwo ein Plätzchen, an dem sie sich ausruhen und wenn sie Glück hatten, sogar länger bleiben konnten. Sie hoffte nur, dass dieser Typ, für wen auch immer er arbeitete, ihnen keine allzu großen Probleme machen würde. Langsam ging Lilith zu der schwarzen Tasche und holte etwas Geld heraus. „Ich geh uns was zu essen holen. Willst du was Bestimmtes?“, fragte sie, als wäre alles wie immer. „Nein, ich brauch nichts. Aber ich werd mich noch etwas hinlegen. Weck mich, wenn du wieder da bist“, entgegnete Valeriu. Lilith wusste, dass er sich nicht hinlegen würde, sondern weiter diesen Typen vor der Herberge beobachtete. Es wunderte sie fast, dass er sie alleine einkaufen gehen ließ. Aber das hatte er die Tage zuvor auch gemacht und sie jetzt plötzlich zu begleiten, würde Aufsehen erregen. Sie wussten schließlich nicht, wie lange sie schon beobachtet wurden. „Dann bis gleich“, verabschiedete sie sich. Lilith zog sich ihre Jacke und ihren Schal an und verließ die Herberge Richtung Stadtmitte. Weder ihr noch Valeriu, der ihr von Fenster aus nachsah, viel der Mann auf, welcher ihr langsam folgte. Valeriu ließ sich tatsächlich kurz auf das Bett fallen und schloss die Augen, allerdings erst, als er Li nicht mehr vom Fenster aus sehen konnte. Sofort wanderten seine Gedanken zu dem Mann bei dem Auto. Was war das jetzt schon wieder? Setzte die Regierung mittlerweile Agenten auf Mutanten an, um sie auszuspionieren, anstatt sie festzunehmen? Das machte doch keinen Sinn! Warum sollte die Regierung das machen? Sie wollte doch alle Mutanten auslöschen, wie sie in den letzten Jahren bewiesen hatte. Also was sollte das? Ruckartig setzte Valeriu sich auf und starrte zu dem Fenster. Was wenn diese Männer nicht von der Regierung waren? Es war unter den Mutanten bekannt, dass Trasks Sohn seine Männer auf Mutanten ansetzte, die er als nützlich für seine Experimente erachtete. Aber wie sollte dieser Arsch gerade auf sie beide kommen? Sie hatten sich immer darum bemüht nicht aufzufallen. Klar klappte das nicht immer, aber da waren andere Mutanten doch wesentlich auffälliger. Außerdem sprach noch ein Punkt dagegen. Trasks Männer machten sich nicht die Mühe, sich zu verkleiden. Sie setzten auf die Angst der Mutanten und das diese dadurch Fehler machten. Also zu wem gehörte der Kerl da unten? Valeriu sah aus dem Fenster und beobachtete den Braunhaarigen weiter. Dieser telefonierte nun nicht mehr, sondern lief, mit gemächlichen Schritten, auf die Herberge zu. Sollte er doch kommen. Valeriu hatte keine Angst, egal für wen dieser Typ arbeitete. So sicher wie das Amen in der Kirche würde er in dieses Zimmer kommen. Aber Valeriu hatte eine kleine Überraschung für ihn. So leicht war er nicht zu fangen. Mit einem fiesen Grinsen legte er sich wieder hin und schloss die Augen. Auch vor dem Risiko erschossen zu werden hatte er keine Angst. Noch bevor der Agent abdrücken könnte, hätte Valeriu ihm die Hand abgeschnitten. Tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, bis er hörte wie die Zimmertür geöffnet wurde. Vollkommen still blieb er liegen, hielt seine Augen geschlossen und sein Atem gleichmäßig. Er lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch, welches ihm verriet, was der Mann machte. Verwundert stellte er fest, dass dieser zum Bett gelaufen kam. Die Schritte verstummten genau neben seinem Kopf und Valeriu musste sich beherrschen, nicht einfach die Augen aufzuschlagen, um zu sehen wen er in den nächsten Minuten töten würde. Er blieb einfach weiter reglos liegen. „Du kannst dich gut verstellen, dass muss man dir lassen“, erklang eine raue Stimme. Mist, also wusste dieser Kerl, dass er nicht schlief. Na schön, dann konnte er seine Täuschung auch aufgeben. Valeriu öffnete die Augen und wich vor dem Mann zurück, der ihn aus braunen Augen ansah als wäre er ein Wolf und wartete auf seine Beute. Valeriu ließ sich davon nicht beeindrucken. Dieser Idiot wusste ja nicht, mit wem er sich hier anlegte, zu was Valeriu fähig war. Aber bevor er ihm den Gar ausmachte, würde er noch ein paar Informationen aus ihm herausquetschen. „Wer bist du, für wen arbeitest du?“ „Wer ich bin muss dich nicht interessieren und meinen Arbeitgeber lernst du noch früh genug kennen. Aber jetzt zur Sache“, antwortete der Mann und richtete eine Pistole auf Valeriu. Dieser sah ihn fast schon ungläubig an. Das konnte doch nur ein Scherz sein. Informierten die ihre Leute überhaupt, mit welcher Art Mutant sie es zu tun hatten oder war ihnen egal ob sie leben oder sterben würden? Naja, ihm konnte es ja wirklich egal sein. „Kommst du freiwillig mit oder muss ich dich zwingen?“, drang die Stimme des Mannes an Valerius Ohr. Augenblicklich erklang sein Lachen. Was glaubte dieser Kerl, mit was er ihn erpressen konnte? Mit der Pistole? Eine Geste von Valeriu und sie würde auf dem Boden liegen, mitsamt der Hand, welche sie gehalten hatte. „Das würde ich nur zu gerne sehen“, knurrte er und sah sein Gegenüber angriffslustig an. „Ja?“, erwiderte dieser und holte in Handy aus seiner Jackentasche. Valeriu beobachtete ihn genau und kniff misstrauisch die Augen zu Schlitzen zusammen. Der Braunhaarige wählte eine Nummer und hob das Handy an sein Ohr. Es dauerte keine vier Sekunden, bis jemand am anderen Ende abnahm. „Ja, ich bin`s…Habt ihr sie?...Gut…Habt ihr diesem Wildfang auch das Halsband angelegt?...Hervorragend!...Mach mal laut…“ Mit diesen Worten nahm er das Handy herunter und schaltete den Lautsprecher ein. Schon bei seinen Worten war es Valeriu schlecht geworden. Als er jetzt aber Li‘s Stimme aus dem Telefon kommen hörte, die Beschimpfungen in den schillerndsten Variationen um sich warf, brannte eine Sicherung bei ihm durch. Jedes Gefühl, jede Emotion wich aus seinem Körper, bis auf abgrundtiefe Wut und Hass. Eine schnelle Geste mit der rechten Hand und der Aufschrei seines Gegenübers hallte durch den Raum. Genau so plötzlich wie er angehoben hatte, verstummte der Schrei wieder. Der Mann stand da, starrte entsetzt auf seine Hände, welche, die Pistole und das Handy umklammernd, auf dem Boden lagen. Mit jedem Herzschlag wurde Blut aus seinen Armstümpfen gepumpt, welches in roten Fontänen zu Boden spritzte. Ein Liedschlag später brach er schreiend am Boden zusammen. Mit zwei Schritten war Valeriu bei ihm und zog ihn am Kragen zu sich hoch, gleichzeitig trat er auf das Handy, um es so zu zerstören. „He! Sieh mich an!“, knurrte er den Braunhaarigen an. Dieser starrte nur weiter auf seine Armstümpfe und wimmerte gequält. Zu mehr fehlte ihm anscheinend die Kraft. Valeriu schlug ihm hart ins Gesicht. „Du sollst mich ansehen! Wo ist sie?! Wo haltet ihr sie fest?!“ Keine Antwort. Eiskalte Wut erfasste Valeriu und er drückte den Mann am Hals gegen die nächste Wand. Seine Faust krachte direkt neben dem Kopf des Mannes gegen die Wand und ließ den Verputz reißen und abbröckeln. „Du hast zwei Möglichkeiten“, meinte Valeriu drohend. „Entweder du sagst mir, wo ihr sie festhaltet und stirbst schnell oder ich schneide dich in Scheibchen. Keine Sorge, ich weiß wie ich deinen Tod lange genug hinauszögern kann, damit du vor Schmerzen erst verrückt wirst, bevor du stirbst.“ Um seine Worte zu unterstreichen, schnitt er vom linken Arm des Mannes ein Stück ab, das nicht dicker war als ein Finger. Ein weiterer, grässlicher Schrei erklang und der Mann bäumte sich in Valerius Griff auf. Der kam nicht darum, diesem Mann etwas Respekt entgegen zu bringen. Er hatte schon Männer wegen weit weniger schlimmem in Ohnmacht fallen oder wenigstens heulen sehen. „Rede!“, blaffte dieser und hob ein weiteres Mal die Hand. Diese Geste schien auch diesem Möchtegern den Rest zu geben. „Liefer…wagen…Apo…theke“, presste er hervor und schloss dann die Augen. Ein weiteres, wütendes Knurren kam Valeriu über die Lippen. Mit einer mehr als wütenden Geste, durchtrennte er die Kehle des Mannes und ließ ihn zu Boden fallen. Im nächsten Moment war Valeriu auch schon aus der Herberge gestürmt und rannte zur einzigen Apotheke im ganzen Ort. Dass er von oben bis unten mit Blut verspritzt war, interessierte ihn gerade genauso wenige, wie die ganzen Leute, die ihm entsetzt hinterher starrten. Der Lieferwagen war schnell gefunden. Valeriu vermutete, dass er Schalldicht war, da er von weitem schon deutlich sah, dass er wackelte, aber weder Geschrei noch sonst etwas in der Richtung hörte. Mit festem Griff packte er den Griff der Ladetür und riss diese auf. Das Bild, welches sich ihm bot, fachte seine Wut und sein Hass nur noch mehr an, machte ihn aber auch etwas stolz. Li machte es ihren Entführern nicht gerade leicht. Im Inneren des Lieferwagens sah man sechs Männer. Zwei von ihnen hielten Li, an Armen und Schultern, zu Boden gedrückt. Einer saß auf ihren Beinen und hatte deutlich schmerzhaft das Gesicht verzogen. Ein vierter stand über ihr und drückte ihr eine Pistole gegen die Stirn. Nummer fünf und sechs saßen, gegen die Wand gelehnt da und hielten sich entweder eine aufgeplatzte Wange oder eine gebrochene Hand. Beides waren Verletzungen von Tritten. „Halt jetzt still, du kleines Miststück!“, brüllte der Mann mit der Pistole. Keiner der Anwesenden schien Valeriu bemerkt zu haben. Sie waren alle zu beschäftigt damit Li zu fixieren, welche es den vieren gar nicht so leicht machte. „Leck mich doch, du Arsch!“, fauchte sie und spuckte dem Kerl ins Gesicht, der dies unbeeindruckt hinnahm. „Zu gerne, aber erst später. Jetzt ist dafür keine Zeit“, gab er zurück. „Bleib endlich liegen!“ Er entsicherte die Pistole, was wiederrum Li nicht im Geringsten beeindruckte. Er würde sie nicht erschießen, dass wusste sie genau. Doch Valeriu blieb nicht so ruhig. Mit diesen Wichsern würde er kurzen Prozess machen. Schlimm genug, dass sie mit einer jungen Frau so umgingen. Aber das hier war Li und die Bemerkung des Typen über ihr, hatte dessen Schicksal noch zusätzlich besiegelt. Ein paar schnelle Gesten von Valeriu und es wurde augenblicklich still im Inneren des Lieferwagens. Im nächsten Moment war ein dumpfer Aufprall zu hören und zuerst fiel die Hand mit der Pistole zu Boden, dann folgte der Kopf des Mannes und zu Letzt der Rest des Körpers. Von den fünf anderen hörte man vereinzelt gurgelnde Laute und einer schlug die Hände an die Kehle. Zwischen seinen Finger sickerte Blut hervor. Dann brachen alle am Boden zusammen und unter ihren Körpern breiteten sich Blutlachen, wie kleine, rote Seen aus. Lilith Blick glitt über ihre Kleider. Alles war mit Blut verspritzt. Sie spürte sogar wie ihr welches über das Gesicht lief. Ihr Blick wanderte zu Valeriu. Sie sah ihn fast schon erschrocken an, da er nicht minder mit Blut verschmiert war als sie und stand auf. Dann machte sich Dankbarkeit und Freude in ihren Augen breit. Er hatte sie gerettet. Valeriu stieg in den Lieferwagen und musterte sie. „Alles okay?“, fragte er, da ihm erst jetzt der blaue Fleck an ihrer Wange und die tiefen Kratzer auf ihrem Handrücken aufzufallen schienen. „Jetzt ja, dan…“ „Du Monster!“, zerriss ein Schrei hinter ihnen die vorherrschende Stille. Um den Lieferwagen hatte sich eine entsetzte Menschenmenge gescharrt und von fern konnten Lilith und Valeriu Sirenen hören. Einen Moment sahen sie beide die Frau an, welche so geschrien hatte. Dann wandte Valeriu ihr den Rücken zu und stellte sich so, dass auch Lilith sie nicht mehr ansehen konnte. „Du musst uns hier weg bringen!“, meinte er und in seiner Stimme schwang immer noch leichte Wut mit. Lilith schüttelte entschuldigend den Kopf. „Tut mir leid, ich kann nicht“, erklärte sie und als er sie nur ungläubig ansah, deutete sie auf ein feines Metallband, welches sich um ihren Hals schlang. „Das Ding haben mir diese Ärsche angelegt. Es unterdrückt irgendwie meine Gabe. Ich kann uns nirgends hin teleportieren, wenn ich es trage. Aber hier muss irgendwo das Werkzeug liegen, mit dem wir…“ „Keine Zeit. Setzt dich auf den Beifahrersitz!“, rief Valeriu und sprang aus dem Wagen. Lilith tat wie ihr geheißen, setzte sich auf den Beifahrersitz und machte Valeriu die Tür auf. Dieser hatte die Ladeflächentür zugeschlagen und rannte jetzt um den Lieferwagen herum, um sich auf den Fahrersitz zu schwingen. Zu ihrem Glück steckte der Schlüssel und er konnte sofort den Wagen starten. Ohne seine Gedanken wahr zu nehmen, wusste Lilith was in seinem Kopf vorging, denn bei ihr war es nicht anders. Ihre Gedanken wurden auch nur von vier Wörtern beherrscht: Nichts wie weg hier! „Anschnallen“, knurrte er und trat ohne Vorwarnung auf das Gas. Schnell legte Lilith den Sicherheitsgurt an und schloss die Augen, als Valeriu, ohne Rücksicht auf Verluste, durch die Menschenmenge fuhr. Wer nicht schnell genug auswich kam unter die Räder. So schnell es die Geschwindigkeitsbegrenzung des Lieferwagens zuließ raste Valeriu aus dem Ort und die Landstraße entlang. „Sie waren unschuldig“, kam es plötzlich von Lilith. „Was? Wer?“ „Die Menschen, die du umgefahren hast…Sie waren unschuldig. Die hatten uns nichts getan.“ Valeriu warf ihr einen vielsagenden Blick zu und sah dann schnell wieder auf die Straße. Sie wusste, was als nächstes kam. „Meinst du wirklich, die hätten uns gehen lassen? Glaubst du sie wären unschuldig geblieben, wenn wir versucht hätten zu Fuß zu fliehen? Du weißt genau, dass sie versucht hätten uns aufzuhalten.“ Lilith öffnete den Mund, schoss ihn dann wieder und schüttelte den Kopf. Er hatte ja recht. Wie oft hatten sie dieses Szenario schon erlebt? Oft genug, um zu wissen, dass es immer wieder passierte. Aber vielleicht wäre es diesmal anders gekommen…Lilith schüttelte den Kopf über sich selbst. Als ob! „Du hast ja recht. Entschuldige“, sagte sie. „Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist nun mal jemand, der versucht in jedem etwas Gutes zu sehen“, entgegnete Valeriu. Wieder brach Schweigen über sie herein. Lilith wusste, dass er überlegte, wie sie am besten fliehen konnten. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre Kräfte nicht einsetzten konnte. Aber es war unsagbar lästig. Sie musste diesen Metallring loswerden. Dann wären sie in Sekundenschnelle wo anders. Mit einem Schnauben schnallte sie sich ab und kletterte in den Laderaum. Irgendwo musste doch dieses Mäppchen mit dem Werkzeug liegen. „Was machst du?“, wollte Valeriu wissen. Er sah sie durch den Rückspiegel fragend an. „Ich such das Werkzeug. Ich will dieses Halsband nicht länger als nötig anhaben. Wer weiß, wie die es schaffen dadurch die Mutationen zu unterdrücken.“ Suchend sah sie sich um, drehte die toten Leiber der Agenten, schob sie weg, durchsuchte ihre Taschen. In der des Mannes mit der Pistole fand sie das Werkzeug endlich. Sie kletterte wieder auf den Beifahrersitz und legte den Gurt an. Dann klappte sie die Sonnenblende herunter und betrachtete den Metallring im Spiegel. Fluchend schlug sie die Sonnenblende wieder hoch. „Der Verschluss ist hinten“, erklärte sie, noch bevor Valeriu zu einer Frage ansetzten konnte. „Wenn wir halten, musst du es aufmachen.“ „Okay, ich wollte so oder so zu Fuß weiter. Jetzt sind sie noch nicht so nahe, dass sie uns gefährlich werden könnten. Außerdem haben sie in der nächsten Stadt bestimmt schon Polizeisperren errichtet“, erklärte er und brachte den Wagen zum Stehen. „Lass uns erst ein Stück laufen, dass wir von der Straße wegkommen.“ Sie steigen aus, Valeriu sah kurz die Straße hinunter, dann rannten sie los. Wie lange genau sie rannten konnte später keiner von ihnen mehr sagen. Irgendwann kamen sie in einen kleinen Wald und gönnten sich eine Pause. Als sie wieder zu Atem gekommen waren, zog Lilith das Werkzeugmäppchen aus ihrer Jackentasche und gab es Valeriu. „Umdrehen“, meinte dieser nur. Lilith wandte ihm den Rücken zu und nahm ihre Haare nach vorne, sodass sie nicht im Weg waren. Valeriu betrachtete den Verschluss einen Moment. Er war ziemlich simpel. Sechs Schrauben, welche eine kleine Metallplatte über der Naht des Halsbandes festhielten und dieses so verschloss. Aus dem Mäppchen holte er einen kleinen Schraubenzieher heraus und begann damit die Schrauben zu lösen. Als er die dritte herausdrehen wollte, rutschte ihm der Schraubenzieher ab und kratzte über Lilith Nacken. Sie zuckte zusammen und machte einen kleinen Schritt nach vorne. Sofort sammelte sich ein dünner Strich Blut an dem Kratzer. „Tut mir leid!“, sagte Valeriu schnell und drückte vorsichtig den Ärmel seines Pullovers auf die kleine Wunde. „Ich zittere ein wenig.“ „Du hast kalt, das ist normal. Warum hast du dir keine Jacke mitgenommen?“ Lilith spürte wie Valeriu mit dem Finger über den Kratzer strich, um das Blut wegzuwischen. Sie war immer wieder überrascht, wie vorsichtig und sanft er sein konnte. Wenn man sich überlegte, dass er mit denselben Händen, mit denen er jetzt das Blut wegwischte, so viel zum Fließen bringen konnte. Dann war sein Finger verschwunden und er löste die restlichen Schrauben. „Ich hab dich durch das Handy fluchen hören und bin losgerannt. Da war keine Zeit mehr, um mir eine Jacke zu schnappen.“ Er nahm ihr das Halsband ab und drehte es nachdenklich in den Händen. Auf der Innenseite waren weiße Striche und Kreise zu sehen, die aussahen, wie auf einem Mikrochip. Was zum Teufel war das für ein Ding? „Werf ihn weg, bitte. Ich will das Ding nicht bei uns haben. Vielleicht haben sie ja einen Sender darin versteckt, mit dem sie uns orten können.“ „Ich weiß. Aber wenn wir sie herlocken würden, dann…“ „Nein! Valeriu, das hatten wir schon mal! Wir werden keinen Kampf anfangen, das haben wir uns versprochen!“ Valeriu nickte und warf das Halsband achtlos weg. Lilith hatte recht. Sie hatten sich schon vor Jahren versprochen keinen Kampf anzufangen. Sie wollten schließlich ihre Ruhe und nicht noch öfter davonlaufen müssen. Was unweigerlich der Fall war, wenn sie anfangen würden die Menschen zu bekämpfen. „Hast ja recht. Lass uns gehen“, meinte er. Lilith griff nach seiner Hand und überlegte einen Moment, wo sie hin könnten. Dann lächelte sie und nickte Valeriu zu. In der nächsten Sekunde wirbelten silberne Wolken durch die Luft. Der Knall, welcher erklungen war, kurz bevor sie sich aufgelöst hatten, hing noch eine Sekunden in der Luft und durch die Stille, welche folgte, drang ein lautes Fluchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)