Arbeitstitel: Skalpell und Falling von Lelu ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Hände in den Hosentaschen vergraben stand Valeriu da und ließ seinen Blick über die Menschen wandern, welche geschäftig durch die Straßen liefen. Immer mal wieder glitt sein Blick zu der Uhr an seinem Handgelenk und er schüttelte den Kopf. Er mochte es nicht zu warten, erst recht nicht, wenn er keine Ahnung hatte, wo Li gerade steckte. „Da bin ich. Hab alles, können wir?“, erklang urplötzlich ihre Stimme hinter ihm. Ein Zusammenzucken unterdrückend wandte er sich zu ihr um und musterte sie zweifelnd. In jeder Hand trug sie mindestens drei Einkaufstaschen, die alles andere als Leer aussahen. Zuerst wollte er nach den Taschen greifen, ließ es dann aber. Er wusste dass sie die Hilfe zwar nicht ausschlagen, sie aber auch nur ungern annehmen würde. Sie wollte nicht wie das schwache Mädchen wirken, für welches man sie schnell halten konnte wenn man sie nicht kannte. Also schüttelte er einfach nur den Kopf. „Was hast du alles gekauft?“, wollte er stattdessen wissen. „Na alles. Warme Kleidung, Mützen, Schals, Handschuhe, Winterschuhe. Man kann nie wissen. Komm, lass uns gehen. Ich hätte jetzt Lust auf einen warmen Kakao und du?“ Valeriu nickte einfach nur und wandte sich zum Gehen. Li hatte das Talent immer genau zu wissen, was er brauchte oder wollte und das meistens auch noch, bevor er selbst es wusste. Nebeneinander herlaufend machten sie sich auf den Weg zu dem Motel, in welchem sie untergekommen waren. Vor drei Tagen waren sie nach London gekommen, um sich hier etwas auszuruhen. Der plötzliche Wintereinbruch hatte ihnen da jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da sie vor ihrer Ankunft hier nur in warmen Ländern unterwegs gewesen waren, hatten sie keine passenden Kleider und mussten sich nun welche besorgen. Zum Glück lag das Motel nicht so weit von der Einkaufsmeile entfernt. So konnten sie gemütlich laufen. „Wie lange bleiben wir hier?“, wollte Lilith ungewohnt ernst wissen. „Bis sie uns finden. Schätze eine Woche, oder so.“ Er zuckte mit den Schultern, als würde es ihm nichts ausmachen. Aber Lilith sah ganz deutlich die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen. Es machte ihm doch mehr aus, als er zugeben wollte. Dabei drückte die Situation auch ihre Stimmung runter. Seit sie, vor ein paar Jahren, im wahrsten Sinne zusammengestoßen waren, befanden sie sich auf der Flucht. Auf Dauer gesehen war das kein Leben, dass sie beide leben wollten. Kurz dachte Lilith noch an ihre Probleme, dann wanderten ihre Gedanken zu ihrem ersten Treffen mit Valeriu. Damals war sie vierzehn gewesen und schon vier Jahre alleine durch die Welt gereist. Durch ihre Mutation, sich von egal welchem Ort, zu einem anderen zu teleportieren, war das Reisen kein Problem. An diesem einen Tag hatte sie beschlossen nach Moskau zu reisen, warum wusste sie nicht mehr. Jedenfalls war sie in einer Seitenstraße aufgetaucht und saß im nächsten Moment auf dem Boden. Ihr gegenüber ein junger Mann mit weiß-silbernen Haaren und faszinierenden grauen Augen. Ungläubig hatte er sie angesehen. Ihr fröhliches und dennoch etwas schüchternes „Hi“ war der Beginn einer Freundschaft gewesen, die eigentlich weit über diese hinausging. Lächelnd sah Lilith zu Valeriu hinüber, der die ganze Zeit die Umgebung beobachtete. „Mach dir keine Sorgen. Als wir das letzte Mal hier waren, gab es hier die Abteilung der Sucher noch nicht. Vielleicht haben wir ja Glück“, meinte sie und lächelte erneut. Doch Valeriu schüttelte den Kopf. Er hatte ja recht. Das wäre schon eine enorme Portion Glück. Seit vor zehn Jahren diese Mutantenidentifikationsgerät, kurz MIG, auf den Markt gekommen waren, hatte die Polizei eine neue Abteilung eröffnet. Sie nannte sich die Sucher. Jeder von ihnen trug so ein Identifikationsgerät bei sich und es schlug sofort an, wenn auch nur der Hauch einer Mutation in der Luft lag. Nach und nach wurde jede Polizeistation der Welt mit dieser Abteilung ausgestattet. „Mittlerweile sind sie überall. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Sein Gesicht blieb wie versteinert. Lilith seufzte und lehnte kurz den Kopf gegen seine Schulter. Dann bogen sie um eine Ecke und standen vor dem Motel. Ein weiteres Seufzen entkam Lilith, als sie die Streifenwagen sah, welche vor dem Haus standen. „So viel zum Thema Glück“, brummte Valeriu und sah zu ihr hinüber. Sie nickte, ließ die Taschen fallen und wandte sich auf dem Absatz um. „Was machst du?“, wollte Valeriu wissen und sah sie fragend an…als ob er das nicht wüsste. „Bin gleich wieder da?“ „Li, wart…verdammt…“ Sie verschwand vor seinen Augen. Das einzige, was zurück blieb, waren silberne Wölkchen die sich fast augenblicklich ebenso in Luft auflösten. Er holte tief Luft und sah zu dem Motel. Nichts geschah. Vielleicht wurde sie ja gar nicht bemerkt. Wenn es hier wirklich noch keine Sucherabteilung gab, mussten sie noch nicht mal die Stadt verlassen. Ein kleines Fünkchen Hoffnung machte sin in ihm breit, was jedoch sofort wieder erlosch. Rufe wurden laut und etliche Polizisten stürmten in das Motel. Zwei Schüsse erklangen. Unruhe brach aus. Er gab Li noch dreißig Sekunden, dann war ihm egal, ob Sucher unter den Polizisten waren. Ein weiterer Schuss fiel. Noch zehn Sekunden. „Wir müssen los“, erklang Lis Stimme hinter ihm, zweigleich mit einem nervigen Piepsen. Erschrocken und sichtlich erleichtert fuhr er zu ihr herum. Sofort entdeckte Valeriu den Ursprung des Piepsens. Li hielt ein MIG in der Hand. Mit einem verächtlichen Blick warf sie den MIG auf den Boden und trat darauf. Sofort verstummte das Piepsen. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du das lassen sollst?“, knurrte Valeriu, schnappte sich Lis Einkaufstaschen und packte sie am Arm, um sie hinter sich her zu ziehen. „Au…was denn?“, fragte sie und hängte sich die schwarze Reisetasche richtig um, die sie aus dem Motelzimmer geholt hatte. Auf ihre Frage erntete sie erst nur einen bösen Blick. Valeriu dachte gar nicht daran ihrer Gegenwehr, gegen seinen Griff, nachzugeben. Sie mussten weg und zwar schnell. „Du tust mir weh…“, kam es von Li, aber er reagierte nicht darauf. Erst als er sie in eine Seitengasse gezogen hatte, ließ er ihren Arm los, welchen Lilith auch gleich massierte. Sofort tat es ihm leid, sie so fest gepackt zu haben. Aber er machte sich nun mal Sorgen, wenn sie einfach verschwand und in solchen Momenten konnte er das nicht anders ausdrücken. „Du sollst nicht so leichtsinnig sein. Was hättest du gemacht, wenn sie dich erwischt hätten? Was hätte ich tun sollen, wenn sie…“ „Tut mir leid.“ Lilith warme Hände legten sich auf seine kühlen Wangen und er spürte sofort, wie Ruhe seine aufgewühlten Gedanken durchzog. Valeriu schloss die Augen und konzentrierte sich auf dieses Gefühl. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, wie es war ohne Lilith zu leben. Sie waren schon so sehr Teil des Lebens, des jeweils anderen. Keiner von ihnen wollte diesen besonderen Teil auf irgendeine Weise verlieren. Ein angenehmes Kribbeln lief durch Valerius Körper und als er die Augen wieder öffnete, standen sie nicht mehr in einer Londoner Seitenstraße, sondern auf einer weitläufigen Wiese. Valeriu sah Li fragend an. „Wo sind wir?“ Einen Moment dachte sie nach und sah sich um. Dann zuckte sie grinsend mit den Schultern. „Irgendwo in Irland.“ Leise lachend schüttelte Valeriu den Kopf und zog Li in eine sanfte Umarmung. „Du hast uns wirklich mitten ins Nirgendwo gebracht, oder?“, wollte Valeriu wissen. Sie waren schon knapp eine Stunde gelaufen und hatten noch keine Stadt, kein Dorf oder sonst irgendein Zeichen von Leben entdeckt. Kopfschüttelnd blieb Li stehen und schüttete den Inhalt einer Einkaufstasche auf den Boden. Zum Vorschein kam eine große isolierte Decke, welche sie auch gleich ausbreitete. „Ich habe mir gedacht, es wäre mal schön unser nächstes Vorgehen in normaler Lautstärke und einer Umgebung zu besprechen, in der wir nicht Gefahr laufen, jede Sekunde entdeckt zu werden.“ „Stimmt. Aber ein wärmerer Ort ist dir nicht eingefallen?“ Valeriu verschränkte die Arme vor der Brust, um sich so wenigstens etwas der vorherrschenden Kälte zu schützen. „Wenn der Herr friert“, meinte Lilith grinsend. „Dann sollte der Herr die hier anziehen und sich setzten.“ Damit warf sie ihm eine dicke Jacke zu und zog selbst eine an. Dann setzten sie sich auf die Decke und schwiegen einen Moment. Beide wussten, wenn es unnötig war, etwas zu sagen. Es gab Momente, da war Schweigen viel wertvoller. Allerdings mussten sie wirklich besprechen, wie sie als nächstes vorgehen wollten. „Was machen wir jetzt?“, fragte Lilith und unterbrach so das Schweigen. Die Planung für ihr weiteres Vorgehen überließ sie größtenteils Valeriu. Ihre Stärken lagen dafür in anderen Bereichen. „Hier können wir nicht bleiben“, meinte dieser scherzhaft und zeigte eines seiner seltenen Lächeln. „Ach nein? Hätte ich nicht gedacht. Dabei ist es so schön hier. Tolles Essen, bequeme Bette, nettes Personal“, sprang Lilith darauf an und lachte. Auch Valeriu musste lachen, wurde aber schnell wieder ernst. Eigentlich war ihre Situation nicht lustig. Aber Lilith brachte ihn immer wieder dazu, dies kurzzeitig zu vergessen. „Nein, ich meine es ernst. Wir müssen uns überlegen, wo wir als nächstes hingehen und zwar sehr gut. Ich will nicht schon wieder nach drei Tagen die Stadt verlassen müssen. Gibt es nicht irgendein Dorf, das keine Sucherabteilung hat?“ „Wenn du willst, seh ich in den Dörfern hier in der Nähe nach. Vielleicht ist ja eins dabei“, schlug Li zögernd vor. Valeriu seufzte. „Hab ich eine Wahl?“, wollte er wissen. „Ja, wir entscheiden uns für eine Stadt oder ein Dorf und ich bringe uns da hin. Dann haben wir allerdings keine Garantie, dass wir unsere Ruhe haben.“ Wieder schwiegen sie einen Moment und Lilith konnte sehen, wie es hinter Valerius Stirn arbeitete. Sie mochte es auch nicht, wenn sie getrennt waren. Aber das kam nun Mal vor und außerdem ging es hier höchstens um eine viertel Stunde. Mittlerweile war sie wirklich schnell, was das Teleportieren anging. Fragend sah sie Valeriu an, der immer noch vor sich hin starrte. Kurz überlegte sie, einen Blick in seine Gedanken zu werfen, entschied sich aber dagegen. Sie empfand es immer noch als einen zu großen Eingriff in die Privatsphäre eines anderen, wenn sie ungefragt auf die Gedanken lauschte. „Und?“ „Tu mir den Gefallen und geh nicht in mehr als sechs oder sieben Dörfer, damit du nicht wieder so geschwächt bist“, meinte Valeriu widerwillig. Lächelnd nickte Lilith und sprang auf. Mit einem „Bis gleich“ hatte sie sich wieder einmal in silbernen Wolken aufgelöst. Valeriu stieß den Atem aus und sah zu, wie er kleine gefrorene Wölkchen vor seinem Mund bildete. Er hoffte, dass Li sich auch an ihr stummes Versprechen halten würde. Als sie das letzte Mal die Städte auskundschaften war, hatte sie sich überanstrengt und konnte ihre Mutation einen ganzen Tag lang nicht benutzten, was ihr sehr zugesetzt hatte. Wenn man sich überlegte, wie viel Angst sie vor ihrer Gabe hatte, als sie sich das erste Mal trafen, war es schon fast unheimlich, wie sehr sie jetzt davon abhängig war. Valeriu dagegen hatte manchmal immer noch Angst vor seiner Mutation, auch wenn er das nicht zugeben würde. Vor allem, wenn er seine Gefühle nicht im Griff. Eine falsche Handbewegung wenn er wütend war und es gab Tote. Manchmal war die Gabe, mit Gesten organisches Material zerschneiden zu können, mehr Fluch als Segen. Dass er seine Haut härten konnte, war hingegen eine Mutation, die er nicht mehr hergeben wollte. Zu oft hatte sie ihn schon gerettet. Im Gegensatz zu dem kleinen Nebeneffekt seiner Mutation. Er wusste nämlich nicht, ob er ein Mann oder eine Frau war. An seinem Körper gab es keinerlei Anhaltspunkte, um das festzustellen. Oft war er deswegen Ziel des Spottes anderer gewesen. Dass er sich jetzt als Mann ausgab, hatte er Li zu verdanken die schon immer eine Art großen Bruder in ihm gesehen hatte. Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt nur Valeriu gerufen zu werden und sprach von sich selbst auch als Mann. Es machte auch vieles einfacher. Wenn ein Mann mit einer jungen Frau unterwegs war, wurden sie nicht so oft dumm angemacht, als wenn zwei Frauen unterwegs waren. Zwar hatte er mehr mit einem Mann gemeinsam, wenn es um sein Äußeres ging, doch zog man ihm Frauenkleider an, konnte man genau das weibliche in ihm erkennen. Außerdem fühlte er sich neben Li als Mann einfach wohler. Auch wenn sie ihn als Frau ebenso akzeptiert hätte. Er wollte nicht ihre Freundin, sondern ihr Freund sein. So saß er da, dachte weiter darüber nach und hoffte sich so von seiner Sorge abzulenken. Aber so ganz wollte es ihm nicht gelingen. Zu sehr beunruhigte es ihn, wenn Li alleine unterwegs war und noch dazu, wenn sie allein Polizeistationen auskundschaftete. Er wusste einfach nicht, was er tun würde, wenn sie nicht zurückkam. Immerhin war Li die einzige Freundin, die er hatte. Sie war die einzige, der er vorbehaltlos vertraute. Eine Sekunde nachdem Lilith vor Valeriu verschwunden war, tauchte sie in der ersten Polizeistation wieder auf. Zuerst passierte nichts, dann erklang ein hohes nervendes Piepsen und sie verdrehte die Augen. Sucher brachten in der gesamten Polizeistation MIG´s an, damit sofort Alarm geschlagen wurde, wenn ein Mutant diese betrat. Im nächsten Moment und bevor jemand reagieren konnte, war sie auch schon wieder verschwunden und tauchte in der nächsten Station auf. Aber hier war es auch nicht anderes. Genauso wie in den nächsten sieben Dörfern. Genervt beschloss sie noch ein weiteres Dorf zu überprüfen, bevor sie zu Valeriu zurückkehren würde. Seufzend überließ sie ihrer Mutation die Oberhand und gab die Richtung vor, in der sie das nächste Dorf, die nächstes Polizeistation spürte. Das angenehme Kribbeln des Teleportierens durchlief ihren Körper, was allerdings einen Lidschlag später schon wieder verschwand. Liltih öffnete die Augen und sah sich um. Die Polizisten starrten sie etwas verwirrt und verwundert an. Eine Minute verging und nichts geschah. Lächelnd warf Lilith einen Blick auf das Schild über dem Eingang und merkte sich den Namen des Dorfes. Dann zwinkerte sie den Beamten zu und löste sich vor ihren Augen auf. Im nächsten Moment stand sie wieder vor Valeriu, dessen Gesichtszüge sich sichtlich entspannten, als er sie sah. „Und?“, fragte er und musterte sie. Ihr schien nichts zu fehlen, wenn man mal von ihrem leicht erschöpften Blick absah. Also hatte sie sich doch mehr angesehen, als sie versprochen hatte. Ein weiterer Beweis dafür war die Tatsache, dass sie sich gleich hinsetzte, als sie neben ihm erschien. „Ich hab eines gefunden, in der Grafschaft Laois. Dort scheint noch keine Sucherabteilung zu existieren. Zumindest ging kein Alarm los, als ich dort in der Polizeizentrale aufgetaucht bin.“ „Wie viele?“ Lilith wusste genau, was er wissen wollte, beschloss aber sich etwas dumm zu stellen. Wenn sie ihm sagte, wie viele Dörfer sie wirklich besucht hatte, konnte sie sich wieder eine Standpauke anhören. „Keine Ahnung, schätze da waren so um die dreißig, vierzig Polizisten. Ich habe sie nicht gezählt“, antwortete sie. Ein Knurren erklang und sie sah Valeriu unschuldig an. Dieser kniff die Augen etwas zusammen und erwiderte ihren Blick. Kurz lieferten sie sich ein stummes Duell, welches Lilith schließlich verlor. Seufzend zog sie die Beine an den Körper und legten den Kopf auf die Knie. „Zehn“, murmelte sie kaum hörbar und wartete auf eine Reaktion. Lilith wusste, was kommen würde und stellte sich darauf ein, die nächste halbe Stunde einen Vortrag zu hören wie gefährlich es war, sich zu überanstrengen, dass sie leichtsinnig war ihre Grenzen immer wieder in solchen Situationen auszutesten und das er sie irgendwann noch mal aus irgendeinem Gefängnis befreien werden müsse, wenn sie einen Schwächeanfall in einer Polizeizentrale bekam. Sie verstand seine Sorge ja. Es war etwas anderes sich innerhalb eines kleinen Gebietes dauernd zu teleportieren, so konnte sie locker flockig eine Stunde am Stück ihre Gabe einsetzten. Aber sich immer wieder über mehrere Kilometer zu teleportieren, dass gelang ihr in sehr seltenen Fällen nur öfter als zehn Mal in einer Stunde und danach musste sie sich eine ganze Weile ausruhen. Aber wie sollte sie sich auch weiterentwickeln, wenn sie ihre Grenzen nicht in Frage stellte? Das sah Valeriu allerdings nicht wirklich ein. Er hatte einfach zu große Angst, dass sie sich irgendwann mal zu sehr anstrengte und daran zerbrach. Umso erstaunter war Lilith, das dieser Vortrag ausfiel. Stattdessen schüttelte Valeriu ein weiteres Mal den Kopf und sah sie einfach eine Zeitlang durchdringend an. Ihr wäre es fast lieber gewesen, wenn er rumgemeckert hätte. Schließlich wurde sein Blick weicher und er schloss kurz die Augen. „Wie heißt es?“, fragte er nur. „Durrow. Sieht aus wie ein nettes, kleines Städtchen oder Dorf. Auf jeden Fall wurde ein Alarm ausgelöst, als ich in der Zentrale erschien. Dadurch schätze ich mal, dass es dort noch keine Sucher gibt.“ „Welche Richtung? Du kannst uns ja schließlich nicht hin teleportieren.“ War da Vorwurf in seiner Stimme? Wenn ja, beschloss sie diesen Unterton zu ignorieren. Er hatte ja recht. Wenn sie langsam gemacht hätte, wären sie jetzt schon in Durrow und hätten nicht laufen müssen. Aber wenn sie es nicht gewagt hätte, hätte sie das kleine Städtchen nicht gefunden. Insofern konnte er ihr auch nichts vorwerfen. „Hier lang.“ Lilith deutete in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen waren, schnappte sich die schwarze Umhängetasche und lief los. Sie spürte Valerius Blick im Rücken, ging aber einfach weiter. „Bist du mir jetzt böse?“, fragte dieser und schloss zu ihr auf. Er konnte sich zwar nicht vorstellen warum, aber er schien Li verärgert zu haben. Dabei hatte er sich eben extra zurückgehalten. Eigentlich hätte er ihr am liebsten gesagt, dass sie immer noch so leichtsinnig war, wie das vierzehnjährige Mädchen, als welches er sie kennengelernt hatte. Auch wenn er wusste, dass sie das nicht gerne hörte. „Nein, bin ich nicht…Ich bin einfach etwas müde“, meinte Li und sah ihn entschuldigend an. Tatsächlich sah sie so aus, als würde sie jeden Moment unterm Laufen einschlafen. Valeriu seufzte. Warum hatte er das geahnt? Genau, weil es immer passierte, wenn sie nicht auf ihn hören wollte. Schnell überholte er sie und ging, den Rücken zu ihr gewandt in die Hocke. „Na komm.“ „Du musst mich nicht tragen. Ich kann laufen…“ „Keine wiederrede.“ Einen Moment sah sie nur unschlüssig aus, dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und sie schlang Valeriu die Arme um den Hals. Dieser stand auf und spürte, wie sich ihre Beine um seine Taillie schlangen, damit sie sich irgendwie festhalten konnte. In ein paar Augenblicken würde sie das eh nicht mehr machen, denn dann war sie eingeschlafen. Kaum dass Valeriu das gedacht hatte, spürte er wie jegliche Spannung aus Li`s Körper wich. Ihr Kopf sank gegen seinen Nacken und er spürte ihren warmen, gleichmäßigen Atem auf seiner Haut. Lächelnd schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, damit er sie etwas halten konnte. Er wusste nicht genau, wo sie hin mussten, aber wenn er stehen blieb, brachte ihm das auch nichts. Er konnte genauso gut durch die Gegend laufen, wie einfach irgendwo sitzen zu bleiben. Außerdem hockte er einfach nicht gerne tatenlos rum. Sein Blick wanderte über die Landschaft und er lächelte etwas. Es war schön hier. Er genoss es, wenn er keine Menschen sehen musste. Diese hatten ihn schon zu oft enttäuscht. Am liebsten hätte er sich mit Li irgendwo hin zurückgezogen und wäre nie wieder in die Welt der Menschen zurückgekehrt. Einmal hatten sie das sogar versucht. Sie hatten sich einen Unterschlupf in einem abgelegenen Tal eines Gebirges eingerichtet. Das war auch ungefähr drei Monate gut gegangen. Dann hatte ein Helikopter das Tal überflogen und genau zwei Tage später hatte ein ganzer Trupp Sucher ihr Versteck ausfindig gemacht und wollte sie festnehmen. Damals war Li noch nicht so gut auf ihre Gabe zu sprechen, weshalb sie sie beide auch nicht weit weg teleportieren konnte, zumindest nicht auf einmal. Sie hatte sich selbst und Valeriu in fünf Etappen aus dem Gebirge nach Italien gebracht. Dann war sie zusammengebrochen und hatte fünf Stunden geschlafen. Es war das erste Mal, dass Valeriu sie in diesem Zustand gesehen hatte und er machte sich riesige Sorgen. Sie war damals immer erschöpft, wenn sie auch ihn teleportierte. Das lag einfach daran, dass sie noch nicht so viel Übung darin hatte. Was sich aber schnell änderte, genauso wie ihre schüchterne Art. Das wiederum machte Valeriu nichts aus. Er mochte sie, genau sowie sie war. Aber dieses schüchterne Mädchen… mit dem hatte er nicht wirklich viel hatte anfangen können. Oder besser gesagt: Er hatte das Gefühl sie immer und überall beschützen zu müssen. Dieses Gefühl hatte er zwar immer noch, aber er konnte es kontrollieren. Er wusste, wann er diesen Beschützerinstinkt besser in den Hintergrund drängte, was aber nicht hieß, dass er das auch tat. Als sie noch so schüchtern gewesen war, hatte er das nicht tun können. Er hatte sie damals noch nicht mal alleine durch den Wald gehen lassen, der an ihr Versteckt angegrenzt hatte. Ein leises Murmeln ließ ihn nach hinten sehen, doch Li schien nur zu träumen. Kurz ruckte sie mit dem Kopf und blieb dann wieder vollkommen still liegen. Valeriu versuchte vorsichtiger aufzutreten, um sie nicht zu wecken und ging weiter. Auf seinem Weg dachte er noch über einiges nach. Meist hatte es etwas mit den Sucher zu tun, die er so verabscheute. Warum konnten die Menschen sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie alle hatten gehofft, dass es nach dem Vorfall vorm weißen Haus, vor drei Jahren, in den etliche Mutanten, darunter ein gewisser Charles Xavier und einer der sich Magneto nannte, verwickelt waren, alles besser werden würde. Stattdessen hatte dieser Auftritt nur dafür gesorgt, dass jetzt wirklich allen Mutanten eine gewisse Aufmerksamkeit zukam. Da war es egal, ob man zu diesen Friedenssüchtigen X-Men gehörte oder zu der Bruderschaft, wie Magneto seine Organisation nannte. Sie wollten einfach nur ihre Ruhe. Doch nachdem Trask Selbstmord begangen hatte, war dies nicht mehr denkbar. Seine Familie gab den Mutanten die Schuld daran und tat alles, um diese zu bekämpfen. Allen voran sein Sohn, den er gut versteckt gehalten hatte. Doch das Schlimme an der Sache war, dass dieser – Gregory hieß er – die Untersuchungen seines Vaters wieder aufgenommen hatte und sie sogar der Regierung unterbreitete. Aus welchem Grund auch immer hatte der Präsident zugestimmt, die Sucher einzusetzen und diese mit den MIG‘s auszustatten. Ebenso wie jede Polizeizentrale, jeden Streifen- und Einsatzwagen, ja sogar die Flugzeuge, Helikopter und Hubschrauber hatten eingebaute MIG’s zum aufspüren von Mutanten. Es dauerte zwei Stunde, bis am Horizont die Silhouette von Häusern auftauchten. Valeriu beschloss zu dieser Stadt oder dem Dorf zu gehen und zu schauen, ob er gefahrlos ein Zimmer mieten konnte, während Li sich mal ordentlich ausschlief. Das Glück schien wenigstens einmal auf ihrer Seite zu sein, denn schon von Weitem konnte man ein Schild erkennen, auf dem der Name Durrow zu lesen war. Die schlafende Lilith auf dem Rücken betrat er das Städtchen und suchte auch gleich nach einem Motel oder ähnlichem. Was er fand war eine Art Jugendherberge, die etwas abgelegen von den anderen Häusern stand. Perfekt, wenn man in der kleinen Stadt keine Aufmerksamkeit wollte. Der Herbergsbesitzer schaute zwar misstrauisch, als Valeriu ein Zimmer mietete und warf Li einen unsicheren Blick zu. Aber als Valeriu erklärte, dass seine Schwester von der langen Busfahrt bis nach Durrow müde sei, nickte der Mann nur und gab ihm den Zimmerschlüssel. „Ihr beide seid nicht von hier“, stellte er fest. „Du hast einen Akzent, den ich hier noch nie gehört habe.“ „Wir sind auf einer Weltreise. Kommen ursprünglich aus Russland, daher der Akzent“, meinte Valeriu und rang sich ein unechtes Lächeln ab. Der Mann nickte ein weiteres Mal und erklärte, wie er zu ihrem Zimmer kam. Die Treppe hinauf, vierte Tür auf der linken Seite. Valeriu bedankte sich und folgte der Wegbeschreibung. Das Zimmer war so, wie man es sich bei einer Jugendherberge vorstellte. Rustikal eingerichtet, wenig möbliert und so kalt, als hätte die letzten vier Wochen das Fenster aufgestanden. Als erstes legte er Li auf das Bett, dann drehte er die Heizung auf, welche mit einem lauten Knacken ansprang. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie auch wirklich lief, wandte er sich wieder Li zu. Sie hatte sich auf der Seite zusammen gerollt und schlief tief und fest. Ein warmes Gefühl überkam Valeriu, als er sie so friedlich da liegen sah. Umso mehr tat es ihm leid, sie jetzt vielleicht zu wecken, denn er musste ihr die dicke Winterjacke ausziehen. Wenn sie in dem Ding schlief und nachher vielleicht noch einmal raus wollte, würde sie sich höchst wahrscheinlich den Tod holen. Vorsichtig, darauf bedacht, sie nicht unnötig zu bewegen, machte Valeriu den Reisverschluss der Jacke auf und streifte sie ihr langsam ab. Das ganze gestaltete sich einfacher, als gedacht, da Li sich kein bisschen dagegen wehrte. Sie drehte sich noch nicht einmal auf die andere Seite. Valeriu vermutete, dass sie sich nicht bedroht fühlte. Wenn dem so wäre, würde er schon lange entweder auf dem Boden liegen und hätte ein Messer am Hals oder, und das war wahrscheinlicher, er würde gerade in diesem Moment ungefähr siebzig bis achtzig Meter in die Tiefe fallen. Valeriu betrachtete sie noch kurz, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ die Hand auf ihrem Kopf liegen. Drei, vier Minuten saß er so auf der Bettkante und strich gedankenversunken mit dem Daumen immer wieder über ihre Haare. Irgendwie beruhigte es ihn, diese kleine Geste zu widerholen. Überhaupt ihre Nähe beruhigte ihn, wenn er sich auch immer noch etwas gegen diese sträubte. Er war einfach schon zu oft weggestoßen worden, um sich mehr auf andere einzulassen. Auch wenn er es bei Li gerne versuchen würde. Das jedoch lag nicht nur alleine in seinen Händen. Seufzend nahm er die Hand von ihrem Kopf und wollte aufstehen, als sich eine Hand auf seinen Arm legte. „Nicht aufhören“, nuschelte Li neben ihm. „Beruhigt so schön.“ „Ich wollte dich nicht wecken, tut mir leid“, murmelte Valeriu und strich ihr weiter über das Haar. Zufrieden kuschelten Li sich in die Kissen und schnurrte leise. Das wiederum ließ ihn etwas verwirrt drein schauen. Solche Geräusche hatte sie noch nie gemacht. Es musste wohl ein angenehmes Gefühl sein, wenn er ihr über den Kopf strich. Ihm selbst gefiel es auch irgendwie, aber er konnte nicht ewig so weiter machen. Sie brauchten schließlich auch etwas zu essen. Als er sicher war das Li wieder schief, stand er auf und holte etwas Geld aus der schwarzen Tasche. Dann verließ er leise das Zimmer, um sich etwas die Stadt anzusehen und etwas zu Essen zu besorgen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)