Weihnachtsfoto von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 1: Neun Jahre später ---------------------------- Als er den Umschlag vier Wochen vor Weihnachten, pünktlich vor dem ersten Adventswochenende, in die Hand nahm, hielt er inne und verdrehte die Augen. Weihnachtsengel flogen neben einem Weihnachtsbaum auf dem Briefpapier. Für seinen Geschmack zu viel. Zu viel von allem. In dem Umschlag steckten zwei Papiere. Ein Brief von Mokuba und ein Bild mit Wachsmalstifte gezeichnet. (Letzteres nicht von seinem kleinen Bruder – der gar nicht mehr klein war.) Zu viel Farbe, zu viel Engel, Gold und Silber, schnulzige Grüße auf der Vorderseite – einfach zu viel Weihnachten. Auf der anderen Seite verdeutlichte Mokuba – beziehungsweise dessen Tochter – ohne viel Worte (und das schätzte Seto trotz allem), was von ihm verlangte wurde. Ein Weihnachtsfest. Persönliches Erscheinen. Und einen Aufenthalt auf der Feier unter den anderen geladenen Gästen von mindestens zwei Stunden. Seto Kaiba lehnte sich in seinem breiten Bürostuhl zurück und legte die Finger aneinander. Seine Computer sirrten um ihn herum, draußen war es bereits spät und dunkel, aber hier in seinem Büro störte das nicht. Er verließ sich auf seine Arbeit, er konnte sich in ihr vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihm und diesen Zahlen vor sich. Zahlen voller Macht und ihn, der ihnen diese Macht entlockte. Aber Mokuba verstand das nicht. Er glaubte ihm nicht, wenn er sagte, dass er zufrieden mit seinem Leben war – genau so, wie es momentan lief, so wie es all die vergangenen Jahre verlaufen war und so wie es, hoffentlich, auch in Zukunft verlaufen würde. Stattdessen versuchte er Zeit seines Lebens, ihm ein Leben mit sozialen Kontakten näher zu bringen. (Seto wusste, dass diese Umschreibung für Freunde von Mokuba eigens für ihn war, weil Seto jedes Mal bei dem eigentlichen Wort, seine Augen verdrehen musste.) Aber er hatte keine Freunde und er brauchte auch keine. Er hatte einen Haufen Vertragspartner, viele Angestellte, ein paar Kollegen, wenige Bekannte – genug soziale Kontakte, seiner Meinung nach. Mokuba sah das anders. Und wenn Seto auch sonst seine Meinung ohne Kompromisse durchzusetzen wusste – es gab diese verdammten Tage, da konnte er Mokuba sogar ein Fest mit sozialen Kontakten – mit Freunden – nicht abschlagen. Früher hatte er angenommen, dass diese Weihnachtssache irgendwann im Sand verlaufen würde oder – passend zu der Problematik – im Schnee, in der Zukunft, die sich – seiner Meinung nach – schon lange in Gegenwart gewandelt hatte (nämlich seitdem Mokuba erwachsen war). Sein kleiner Bruder war bereits viele Jahre selbstständig, lebte in einem eigenen Haus und ging mit seiner – inzwischen – Ehefrau dem unglaublich traditionellen Wunsch nach, eine eigene Familie aufzubauen – beziehungsweise war dem bereits nachgegangen. Die Erwachsenseinsache war eingetroffen – und trotzdem hatte sich kein Stück an Mokubas Weihnachtswahnsinn verändert. Jedes Jahr bekam er diese Einladung, pünktlich auf den Tag. „Hey, großer Bruder“, stand dort in Mokubas krakeliger Schrift. Seto verzog seinen Mund. Schon jetzt wusste er, dass er den Kampf um die Anwesenheit dieses Jahr verloren hatte. Wie jedes Jahr, wenn dieser Brief bei ihm auf dem Schreibtisch landete. Es war immerhin sein kleiner Bruder – egal, wie erwachsen der inzwischen auch war. Er las den Brief erneut und blieb an den letzten Zeilen wieder einmal hängen. Engste Freunde. Dieses Jahr, galt die Einladung nicht nur ihm, es sollte nicht nur eine intime, familiäre Runde werden. Nein – Freunde. Das verpönte Wort. „PS. Zeiten, in denen Du Dich nicht innerhalb der für das Fest vorgesehenen Örtlichkeiten aufhältst (Spaziergänge vor dem Haus mit oder ohne Handy, Arbeiten auf dem Laptop o.Ä. im Bad, …), werden nicht von dem Zeitkontingent abgezogenen. Wir erwarten eine kleine Runde engster Freunde.“ Sein Bruder wusste, wie man Verträge aufsetzte. Seto verfluchte in diesen Momenten, dass er Mokuba zu einem so gründlichen Geschäftsmann erzogen hatte. Er würde keine Ausrede, kein Schlupfloch, keine Nebenbeiarbeiterei auf dem Fest durchgehen lassen. Es gäbe keinen Fluchtort. Die eigentliche Problematik bestand nicht lokal – nein, Mokubas Haus und dessen Zimmer waren sehr gepflegt und stilvoll – sondern sozial. Freunde an Weihnachten waren schwer zu ertragen – noch schwerer als ohnehin schon Weihnachten zu ertragen war. Es würde ein langer, langweiliger Abend werden. Aber wenigstens würde er Lin mit der kritischen Frage konfrontieren können, warum sie ihn in ihrem Wachsmalstifegemälde mit blauem Gesicht dargestellt hatte. Vielleicht würde also doch ein interessantes Gespräch entstehen. Lin hatte ihn schon mehr als einmal positiv überrascht – obwohl ihr der Makel des Kindseins anhaftete. Andere Kinder hatte er noch nie gemocht, selbst nicht, als er selbst ein Kind gewesen war. Nur Mokuba hatte er Zeit seines Lebens geliebt, egal welchen Alters – vielleicht war das die Macht der Gene. Vielleicht erinnerte ihn Lin schlicht an Mokuba. Mit missmutig verzogenem Gesicht setzte er ein Antwortschreiben auf. Gut vier Wochen später schritt er mit Mantel und hochgestelltem Kragen zur Tür. Schneeflocken tanzten vom Himmel herab. Er verabscheute Schnee, dieses Wetter, doch vor allem den Anlass, hierher zu gehen. Weihnachten. Noch mehr würgte ihn nur die Abscheu, anderen Leuten hier begegnen zu müssen. Menschen außer Mokuba, dessen Tochter und höchstens noch seiner Frau. Er machte das nur für Mokuba, das wusste der und er selbst und hoffentlich auch alle, die anwesend sein würden. Seto kam sich vor, als gäbe er sich der Lächerlichkeit preis, wie er da im Eingang stand und zögerte zu klingeln. Schon länger war er nicht hier gewesen. Ein paar Monate auf jeden Fall. Er überlegte, ob es bereits ein halbes Jahr überschritten haben mochte. Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen, genau jenes, das ihn immer bezüglich der Arbeit und seinem kleinen Bruder beschlichen hatte. Niemals hatte er beidem gerecht werden können, nicht zur selben Zeit. Wahrscheinlich war auch dieses Gefühl ein Motor seiner Anwesenheit heute. Der Versuch, etwas gut zu machen, was er sonst verpasste und aufschob, wofür er sich entschuldigen ließ und über der Arbeit verdrängte. Er war ein miserabler Bruder – die meiste Zeit. Heute sollte nicht dazu gehören. Er ließ seinen Blick schweifen. Mokubas Haus zeugte nicht von der Dekadenz wie die Villa, in der er ihn großgezogen hatte, aber zeigte den finanziellen Wohlstand seines kleinen Bruders auf subtile Art und Weise. Mokuba war nie ein protzendes Gör gewesen – nicht so wie er selbst. Verträumt dekorierende Lichterketten, wie Eiskristalle und Kerzen. Weihnachtsmusik wehte durch die Tür. Lachen drang an seine Ohren. Am liebsten hätte er die Geschenke vor der Tür gelassen und wäre umgekehrt. Das hier war nicht seine Welt, war es noch nie gewesen. Er würde sich den Abend über verklemmt vorkommen und unwohl fühlen zwischen all den Leuten und ihrem einfältigen Geschwätz. Und er würde sich langweilen, während sich in seinem Büro die Akten stapelten. Nur die Aussicht, seinen kleinen Bruder zu sehen, ließen seine Mundwinkel von ganz unten ein wenig hinauf wandern. Naiv genug, um zu glauben, sie hätten eine ruhige Minute, um zwischen dem dummen Geplapper der Anwesenden ein vernünftiges Gespräch zu führen, war er nicht. Er gab sich einen Ruck und drückte die Klingel. Zuerst glaubte er, dass das Geräusch durch den ganzen Krach, der die Geschmacklosigkeit von Weihnachten bewies, überhört wurde, doch dann zog jemand die Tür auf. „Hallo! Mokuba ist gerade –“ Die Worte verwehten in der Luft, die Sprachlosigkeit hinterließ eine – in seinen Augen – dümmliche Mimik. „Seto“, begrüßte Joey Wheeler ihn mit seinem Namen, als wollte er sich versichern, dass das noch immer sein aktueller war. Distanz und Kälte standen zwischen ihnen. Ein Umstand, der nicht auf räumliche Trennung oder das Wetter zurückzuführen war. „Wheeler“, entgegnete er und in seinem Ton lag genug Spott, um Besagtem ein Stirnrunzeln zu bescheren. So viel zur weihnachtlichen Bescherung, dachte er ironisch. Er musterte ihn aufmerksam. Aufmerksamer, als er es offen zugegeben hätte, denn seine desinteressierte Miene sollte dem Ausdruck genug verleihen, was er von dessen Anwesenheit hielt. Wheelers blondes Haar chaotisch wie eh und je, etwas kürzer, als er es in Erinnerung hatte, seine Augen so durchschnittlich braun wie gewohnt, seine Kleidung ließ auf einen festlichen Anlass schließen – zumindest teilweise, denn zu dem schwarzen Jackett trug er verwaschene Jeans. Um seinen Hals hing eine Kamera, was er als unwichtiges Detail einstufte. Sein Blick traf auf Wheelers, der – das sah er sofort – ihn nicht weniger desinteressiert musterte. „Inzwischen sollte selbst Ihr Gehirn in der Lage gewesen sein, die Information zu verarbeiten, dass ich hier stehe, um eingelassen – und nicht um mit dümmlichem Gesichtsausdruck angegafft zu werden.“ „Na, und? Inzwischen solltest du auch kapiert haben, dass wir uns schon vor Jahren geduzt haben – oder hat das so etwas wie Verjährung?“, fragte er ihn scharfzüngig, machte aber eine vage Geste und ließ ihn herein. „Inzwischen sind viele Jahre vergangen, seitdem wir die Ehre“, er dehnte das Wort höhnisch, „hatten“, entgegnete Seto trocken und ließ keinen Zweifel daran, dass ihm das völlig gleichgültig war. Wheeler zuckte die Schultern. „Manche Sachen ändern sich trotzdem nicht“, murmelte der und ging durch den Gang zurück ins Wohnzimmer. Seto schaute ihm hinterher, ohne die Geringschätzigkeit zu verbergen, während er sich seines durch den Schnee feuchten Mantels entledigte. Er betrachtete kritisch die drei Geschenke in seinen Händen, allesamt in Geschenkpapier verpackt, keine Engel, keine Weihnachtsbäume. Kein Weihnachten. Nur Geschenke. Vielleicht hätte er doch lieber Geld in einen Umschlag stecken sollen. Mit Geld lag man nicht falsch. Aber bei seinem kleinen Bruder, er musste bei dem Gedanken innerlich seufzten. Es war seiner Meinung nach nicht zielführend, einem reichen Mann Geld zu schenken. Allerdings empfand er es insgesamt nicht als zielführend, überhaupt etwas zu schenken. Ginge es nach ihm, säße er jetzt in seinem Büro – allein und mit Zahlen, die anderen das Fürchten lehren konnten. Mit Daten und Namen und Fakten und potenziellen Entwicklungen. Mit Ideen und Aktien und – Mokubas Grinsen riss ihn aus seinen Gedanken. Er trug seine kleine Tochter auf dem Arm und steuerte auf ihn zu. „Seto!“, begrüßte er ihn frotzelnd, „schau mal, Lin. Dein Onkel ist endlich da“, Mokuba schaute von seiner Tochter, die lächelte und Seto ihre Ärmchen entgegen streckte, zurück zu seinem Bruder, „ich hab schon gedacht, ich müsste dich persönlich abholen kommen.“ „Die wichtigen Leute kommen immer etwas später, nicht?“, erwiderte er trocken, musterte das Mädchen mit den dunklen Locken und wusste nicht, was es von ihm wollte. „Dementsprechend müsste Wheeler viel zu früh hier gewesen sein“, murmelte er und gestand sich nicht ein, dass dieser Kommentar lediglich seine Unsicherheit bezogen auf das Kind überspielen sollte – zumindest zu 70 Prozent, denn ganz inhaltslos war seine Aussage nicht. „Er war pünktlich. Na, schön.“ Noch ehe Seto etwas hätte kontern können, nahm ihm Mokuba die Geschenke aus der Hand und drückte ihm Lin in die Arme. „Was – soll das, Mokuba?“ Er wollte es nicht als Panik bezeichnen, das ihn gerade durchflutete, als ihn große, blaue Augen entgegenblickten und er seine Nichte in den Armen hielt. Den Geschenken beraubt, die er wie ein Schild vor der Brust gehalten hatte, fühlte er sich eigenartig ausgeliefert. „Du hast sie schon zwei Wochen nicht mehr gesehen und ich weiß, dass du gerne mit ihr - diskutierst“, Mokuba ließ sich nicht beirren, weder jetzt noch bei seinen Besuchen in Setos Büro. Wäre es nur nach Seto gegangen, hätte ihn die Kleine wohl inzwischen nicht mehr erkannt. „Aber – sie wird –“, zischelte Seto und sah sich schon mit einem heulenden Kind im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er musste erkennen, dass er nicht nur ein miserabler Bruder, sondern auch ein miserabler Onkel war. „Sie sieht dich beinahe jeden Tag im Fernsehen, Seto. Und wir haben dich fast jede Woche im Büro besucht. Und jedes Mal danach malt sie dich“, wandte Mokuba besonnen ein. „Immer blau?“ „Immer blau.“ Seto nickte, als hätte er sich gerade über vorhersehbare Entwicklungen von Aktien unterhalten. „Komm, Seto, wenn du willst, kannst du noch etwas essen. Es ist wie immer viel zu viel übrig.“ Mit einem nachsichtigen Blick fügte er hinzu: „Du kannst gerne auch in der Küche essen, wenn du möchtest.“ „Zählt das zu den zwei Stunden?“, fragte Seto. „Natürlich nicht“, entgegnete Mokuba trocken. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt ein Kind in Setos Obhut zu lassen, trat Mokuba aus dem Gang in das Wohnzimmer, wo – Setos Meinung nach – das Grauen auf ihn wartete und überließ ihm selbst die Wahl – und Qual – den Zeitpunkt zu bestimmen, wann er dem ätzenden Abend in die Augen sehen wollte. Wobei von wollen keine Rede sein konnte. Er vernahm ununterbrochen das Gerede und Gelächter, die Weihnachtsmusik düdelte im Hintergrund vor sich her. Der Duft von deftigem Essen und Mandarinen und Plätzchen drang zu ihm und ließ ihn die Augen verdrehen. „Wenn du mich heute nicht im Stich lässt, dann kaufe ich dir später einmal ein Pony“, flüsterte er dem Mädchen zu und war sich unsicher, ob sie die Bedeutung schon erfasste. Aber sie musterte ihn so aufmerksam, dass er nicht überrascht wäre, sollte sie Jahre später mit genau jener Forderung auf ihn zukommen – immerhin war sie eine Kaiba. Mit durchgedrücktem Rücken betrat er das Wohnzimmer und rechnete mit dem Schlimmsten. Viele gaffende Menschen, die ihn zuckersüß anlächelten und im Chor Fröhliche Weihnacht sangen. Stattdessen trat das Zweitschlimmste ein, das er – als es geschah – auf den Platz des Schlimmsten hoch korrigierte. Wheeler musterte ihn – selbst mit einem Kind auf dem Arm – und grinste ihm debil zu. Um ihn herum saßen Altbekannte. Nur ein enger Kreis von Freunden. Muto neben der nervigen, brünetten Freundin des Kindergartens, der Typ, dessen Name er stets vergaß und eins, zwei, über die er nur gelangweilt seinen Blick schweifen ließ. Stattdessen betrachtete er lieber die Weihnachtsdekoration auf dem Tisch. Engel. Und kleine Weihnachtsbäume. Er rümpfte die Nase. Die Blicke, die ihm die Runde zuwarf, blieben ihm selbstverständlich nicht verborgen, aber er ignorierte sie. Das hatte er immerhin jahrelang perfektioniert. „Seto“, begrüßte ihn die Stimme seiner Schwägerin, die gerade aus der Küche kam. Er sah auf und nickte ihr zu. „Yukiko.“ „Wie ich sehe hat Lin dich bereits wieder erobert.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, was – da war er sich sicher – eher einer gequälten Grimasse glich. Lin streckte die Ärmchen ihrer Mutter entgegen, die bereits auf sie beide zukam, den Tisch dabei umrundete und – lächelte. Was Seto bemerkte – und ihn gleichsam verwirrte – war die Tatsache, dass sie nicht nur ihre Tochter, sondern auch ihn mit einem aufrichtigen Lächeln bedachte. „Sie ist jedenfalls nicht das Geschenk, das ich zu überreichen gedachte“, meinte Seto trocken. Weil jemand daraufhin gluckste, starrte er grimmig in die Runde und sein Blick – wie hätte es anders sein können – blieb an Wheeler hängen, der verdächtig amüsiert zurückschaute. Jeder normale Mensch, jeder mitdenkende Mensch hätte bei seinem Blick den eigenen abgewendet und wäre ihm für den Rest des Abend – oder des Lebens, aber Seto war nicht so der dramatische Typ – aus dem Weg gegangen. Was ihn aber irritierte, waren die Blicke der anderen, die zwischen dem Köter und ihm selbst hin und her sprangen. Seto wollte die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen, also entschied er sich gegen ein Essen in der Küche und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Die gequälte Miene hinter dem perfektionierten Vorhang an Gleichgültigkeit verdeckt. Als er sein Smartphone aus der Hosentasche zog, traf ihn ein mahnender Blick seitens seines kleinen Bruders. Innerlich seufzend steckte er es nach ein paar Minuten wieder weg. „Wie war das eigentlich bei euch, Joey?“ Yukiko stieß Mokuba in die Seite. „Ich mein, ist – nicht so wichtig“, fügte er verlegen hinzu. Seto runzelte die Stirn. Um ihn herum tauschten die Leute geistloses Zeug aus. Sein Blick ruhte auf dem Adventskranz, der zentral auf dem Tisch platziert war. Das Licht der vier Adventskerzen flackerte. Was für eine Zeitverschwendung hier. Wheeler lächelte immer mal wieder, sagte ein paar Worte, aber seine große Klappe kam nicht zum Einsatz. Lin zog an Setos Hosenbein und forderte seine Aufmerksamkeit. „Du“, sie brabbelte etwas vor sich hin, was er akustisch nicht verstand, und zeigte auf das Bild. „Da Mama, Papa, da ich.“ Seto betrachtete das Bild, das bunte Kreise umfasste mit grinsenden Gesichtern – eines davon grinste nicht. Es war blau. Er lobte seine Nichte mental für ihre Beobachtungsgabe. Ja, er hatte ja hier auch wenig zu lachen. „Da du!“, verlangte sie und Seto schaute sich unauffällig um. Keiner schien ihn zu beachten. „Ja?“, fragte er. Lin drückte ihm das Bild in die Hände. „Mmmh“, brummte er, betrachtete das Gemälde nochmals kritisch und nickte ihr zu. Sie strahlte ihn an und trat zum Rückzug an. Seto runzelte genervt die Stirn, als das blonde Mädchen anfing zu quengeln. Wheeler nahm ihr die Reste des Keks aus den Fingern und ließ sie auf den Boden rutschen, dort wackelte sie sofort Richtung Lin. Seto versuchte das Geschwätz auszublenden und konzentrierte sich auf Mokuba. Immerhin war er seinetwegen hier. „Wie läuft das Geschäft?“, fragte er also an ihn gewandt. Sein Bruder zuckte die Schultern und grinste. „Alles super. Aber heute reden wir nicht über Geschäftliches, Seto.“ Für einen Moment verzog Seto sein Gesicht, als wollte er fragen, über was sie sonst reden sollten. „Alles gut mit –“, er schaute sich im Raum um, als suchte er ein Thema; sein Blick fiel auf die beiden Kleinkinder, die irgendwas vor sich hin brabbelten und Bilder malten, „mit Lin?“ „Ja, alles super. Wusstest du, dass sie in drei Jahren schon in die Vorschule geht?“ Seto wusste nicht, ob er eine Antwort erwartete oder ob es sich nur um eine rhetorische Frage handelte, denn er hatte davon keine Ahnung. „Yukiko sorgt sich darum, dass sich Lin dort langweilt. Sie ist verdammt clever.“ Der Stolz ließ Mokubas Augen strahlen. „Sie ist nun mal eine Kaiba“, stimmte Seto ernst zu. Seine Mundwinkel zuckten. Mokuba erzählte von seinem Plan mit seiner Familie einen Urlaub nach Europa zu machen. Seto stach es irgendwo in die Brust, als ihm klar wurde, dass er in dem Kontext nicht gemeint war. Urlaub und Familie. Seto hatte das Gefühl, dass er und sein Bruder in zwei verschiedenen Welten lebten. Nachdem Muto Mokuba und Yukiko in ein Gespräch verwickelt hatte – und Seto, allen Versuchen Mutos zum Trotz, nicht an dem Gespräch teilnahm – ließ sich Seto von Lin, die wieder an seinem Hosenbein gezogen hatte, zum Sofa führen, unweit des offen gestalteten Esszimmers, wo die Gäste zu Tisch saßen. „Dafür bekommst du eindeutig ein Pony von mir“, versprach er ihr leise. Er saß vor dem Weihnachtsbaum, trank einen Glühwein. Mehr Weihnachten konnte niemand von ihm verlangen, dachte er trocken, als er sein Smartphone aus der Tasche zog, um ein wenig von der Langeweile abzuschütteln, die ihn befallen hatte. Dann spürte er plötzlich Mokubas strengen Blick. Seto zuckte die Schultern und zeigte auf den Weihnachtsbaum. „Noch eine Stunde und zehn Minuten“, formte er lautlos mit seinen Lippen. Lin saß neben ihm, jedoch vor dem Sofa auf dem Teppich und malte geschäftig auf dem niedrigen Tisch. „So viel dazu. Du darfst arbeiten“, sprach er ihr zu, „und mir verbietet man es.“ Das blonde Mädchen malte geschäftig daneben. „Sie arbeitet doch nicht. Sie malt nur zum Vergnügen“, unterbrach Wheeler seine Gedanken. Natürlich Wheeler. Wer war dumm genug, sich ihm zu nähern und auch noch Worte an ihn zu richten – auf einem Fest – mit sozialen Kontakten? Das ungeschriebene Gesetz lautete, weder das eine, noch das andere zu tun. Aber das wäre ja nicht Joey Wheelers erster Konflikt mit Gesetzen. „Und wo schließt das eine das andere aus?“ Er erwartete Unverständnis, doch nach einem Moment, in dem Wheeler schwieg und sich scheinbar seine Worte nochmals durch den Kopf gehen ließ, nickte er. „Du hast recht. Tut es nicht.“ Plötzlich setzte er sich einfach neben ihn, als hätte er ihm nicht ganz deutlich signalisiert, dass er genau das nicht hatte tun sollen. „Wie lange warst du Gassi in den Vereinigten Staaten, Wheeler? Zehn Jahre? Und trotzdem setzt du dich wieder neben dein Herrchen.“ „Neun“, entgegnete Wheeler besonnen und innerlich ärgerte es Seto, dass sein Gegenüber kein bisschen auf seine Bemerkung einging – nicht so wie früher. „Und nach neun Jahren wird es mal Zeit, dass sich das Herrchen wieder kümmert“, fügte Wheeler provokant hinzu. Er warf ihm einen Blick zu, den er nicht genau einordnen konnte. Doch dann war der Moment vorbei, als Wheeler seine Tochter zurecht wies. „Karin! Nicht auf den Tisch malen! Nur auf das Papier!“ Das Mädchen warf ihm einen unschuldigen Blick aus großen, braunen Augen zu. Drei Minuten später malte sie erneut über den Rand des Papiers und Wheeler stöhnte, schimpfte mit ihr und legte mehr Zeitungen als Unterlage um das Papier herum. „Vielleicht würde sie ihrer Mutter folgen“, spottete Seto. „Ja. Bestimmt.“ Seto verengte seine Augen. Es war anders. Früher hätte ihm das Hündchen eine gepfefferte Antwort auf all seine Sticheleien gegeben. Jetzt schien es, als erwiderte ein müder Mann. In ihm bohrte ein Verdacht. Natürlich schaffte Wheeler es nicht, sein Leben in normale Bahnen zu lenken. Wahrscheinlich hatte sich die Frau von ihm getrennt, weil sie sein dämliches Geschwätz nicht mehr ertragen konnte. Eine Trennung kam heutzutage doch dauernd vor, selbst mit einem Kind. Das hieß schon lange nichts mehr. „Wie banal“, urteilte Seto und tippte weiter auf seinem Phone. Als Wheeler ihn schweigend musterte und diesen nervenden Blick einfach nicht von ihm abwenden wollte, sah er hoch. „Was?“, fragte Seto mit verengten Augen, als Wheeler einfach nicht den Mund aufmachte, sondern – im Gegenteil – noch die Lippen aufeinander presste. Nur kurz, aber er bemerkte es natürlich. Sicherlich war er noch nicht über die Trennung hinweg. „Leider ist sie gestorben – bei einem Autounfall. So – banal.“ Seto erstarrte. Wheeler schaute zur Seite, ihn an und schenkte ihm ein Lächeln, in dem Traurigkeit waberte. „Keine Sorge, ich brech' vor dir nicht in Tränen aus. Es war vor zwei Jahren ungefähr. Aber mir kommt es vor wie –“ „– gestern“, beendete Seto den Satz für ihn. Wheeler schaute ihn einen Moment an, als suchte er etwas in seinen Augen, dann schwenkte sein Blick wieder zu seiner Tochter. Trotzdem konnte er den Schmerz nicht aus seinen Gesichtszügen verbannen. Seto erkannte dieses Gefühl, denn er hatte es als Kind selbst erlebt. „Ja – genau so“, murmelte Wheeler, wie ein alter Mann. Abgestumpft, weil es anders nicht zu ertragen war und melancholisch, weil es ständig auf dem Herzen lastete, wie eine Last, die einem den Atem nahm. Etwas, das man den anderen verbarg, weil man es sonst selbst nicht schaffte, weiterzumachen. „Ja, ich weiß“, sagte Seto und sonst nichts; nicht, weil es dazu nicht mehr zu sagen gab, sondern weil Wheeler wusste, dass es so war. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Die beiden Kinder vor ihnen malten ohne Sorgen und Kummer. Setos Blick blieb an dem blonden Mädchen hängen. Wahrscheinlich bemerkte Wheeler das, andernfalls konnte sich Seto nicht vorstellen, wie der auf seine folgende Frage kam. „Hast du Kinder?“ Seto fixierte ihn einen Moment, als wäre es eine ungeheure Frechheit, auf so einen Gedanken zu kommen. Aber dann besann er sich. Er sah nichts Angreifendes in Wheelers Augen. Vielleicht war es nur der Versuch, die Stille zu überlisten. „Nein, immerhin habe ich –“ „– keine Roboterfrau?“, stichelte Wheeler. Setos Augen verengten sich. „Ein Unternehmen zu leiten.“ „Ich hab gelesen, dass –“ „Gelesen“, bemerkte Seto und sein Ton trug diese spöttische Note. Wheelers Mundwinkel zuckten. „Ja, wir entwickeln uns alle weiter, nicht? Jedenfalls – ich hab gelesen, du hast BWL und Jura studiert?“ „Du liest und dazu auch noch Zeitungen? Ich dachte, Hündchen geben den ganzen Tag nur Pfötchen“, provozierte Seto ihn und er spürte etwas in seinem Magen. Keine Schmerzen, sondern das Gefühl, wie wenn man auf den wachsenden Aktienindex sah. „Ich hab's in so ner Klatsch-Zeitung gelesen. Du bist übrigens nicht mehr der beliebteste Junggeselle“, stichelte Wheeler, „wahrscheinlich bist du denen inzwischen zu alt.“ „Ich dachte schon, du hättest das Wirtschaftsmagazin gelesen. Da wurde meine Biografie veröffentlicht. In der Reihe Die erfolgreichsten Geschäftsmänner. Ich denke, der Platz in der Reihe Beliebteste Junggesellen ist daher abkömmlich.“ Wheeler gluckste. „Dann ziehst du Jura und BWL also immer noch dem normalen Leben vor.“ „Ja, es war ein interessanteres Hobby.“ „Ein Hobby?“ „Das ist eine freiwillige Tätigkeit, die man betreibt, zum eigenen Lustgewinn und der Entspannung.“ „Ich weiß, was ein Hobby ist“, entgegnete Joey knurrend, ehe er sich durch sein Haar fuhr und schnaubte. „Geldsack.“ „Flohschleuder.“ „Eisschrank.“ „Fotograf.“ „Was?“, fragte Wheeler verwirrt. „Deine Ausbildung. Mokuba erwähnte es mal.“ „Mokuba redet mit dir über mich?“ „Er redet über alle möglichen soziale Kontakte, um mich von der Arbeit abzuhalten. Ich musste mir also die ein oder andere Hast du schon gehört-Sache geben“, erklärte Seto grimmig. Wheeler grinste ihn an und in diesem Moment hatte er das Gefühl, den Sechzehnjährigen neben sich sitzen zu haben, den er so viele Jahre gekannt hatte. Nicht den Mann, der ihm fremd geworden war. „Du warst ein professioneller Gamer. Ein – für deine Verhältnisse – erstaunlich erfolgreicher. Warum also plötzlich Fotografie?“ Wheeler schob den Mund vor, als schmollte er. „Tz. Für meine Verhältnisse, erstaunlich. Pf. Ich bin reich als Gamer geworden“, behauptete er, „so viel zu meine Verhältnisse, erstaunlich und erfolgreich.“ „Reich für deine Verhältnisse“, entgegnete Seto herablassend. „Wäre ich noch sechzehn, würde ich dir jetzt mein Kontoauszug zeigen.“ „Und was machst du jetzt, wo du so erwachsen bist?“ Wheeler winkte ab und zuckte die Schultern, nach einem Moment, in dem sie beide schwiegen, fuhr er fort, Setos ursprüngliche Frage zu beantworten. „Als Gamer musst du immer auf Zack sein. Immer die neuesten Spiele, immer – spielen. Es war total stressig, ich bin kaum noch vom Bildschirm weggekommen. Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich verpass' das richtige Leben.“ Wheeler lehnte sich zurück, während er ein Auge auf die beiden Mädchen hatte. „Aber Dawn of the Dragon war gut“, meinte er nach einer Pause. Seto musterte ihn aus den Augenwinkeln. „Mmmh“, brummte er. „Vor allem, weil ich es kostenlos spielen durfte“, frotzelte Wheeler. „Die Entwicklung dauerte mehr als fünf Jahre –“ „Ja, du warst sehr langsam bei der Entwicklung von dem Spiel damals, Kaiba.“ Seto schnaubte. „Und du fandest es nur gut?“ Wheeler gluckste. Schon wieder. Irgendwie mochte Seto es, wenn er Wheeler diesen Laut entlocken konnte. Denn in diesen Momenten bröckelte die Fassade der Melancholie an diesem ab. Das Hündchen als abgestumpfter Mann von Welt. Das war nicht richtig. Das war schon er selbst. „Hey, ihr vier! Macht ihr heimlich schon die Geschenke auf?“ Seto hob die Augenbrauen, als seine Schwägerin ihn vom Essbereich aus angrinste und mit der Kamera vor der Nase ein Bild von ihnen knipste. Ihn – Seto Kaiba – zu bezichtigen, heimlich Geschenke auszupacken mit zwei Kleinkindern und Joey Wheeler grenzte nicht nur an eine provokante Unverschämtheit. Er erkannte in Yukikos Mimik, dass ihr das durchaus bewusst war. „Bescherung!“, rief sie über ihre Schulter und Seto stöhnte gepresst, was ihm einen amüsierten Blick seitens Wheeler einbrachte. „Freust du dich nicht, Geschenke auszupacken?“ „Alles, was ich als Geschenke könnte haben wollen, schenke ich mir kurzerhand selbst. Ein Hoch auf die finanzielle Unabhängigkeit.“ Wheeler grinste. „Darum geht’s doch bei der Bescherung gar net“, behauptete er. Worum es dann ginge, konnte Seto ihn nicht mehr fragen, denn um ihn herum machten erwachsene Menschen plötzlich einen Krach wie eine Kindergartengruppe, als sie sich um den Weihnachtsbaum versammelten und begannen Oh, Tannenbaum zu singen. Genervt verzog Seto sein Gesicht, doch als er sich umsah, die ganzen Leute, die Mokuba seine Freunde nannte, er mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen Tochter, da beschlich ihn ein Gefühl, dem er sonst nur geringe Beachtung zollte. Erleichterung. Denn irgendwie war es auch sein Verdienst, wo Mokuba heute stand. Er hatte vielleicht doch nicht alles als großer Bruder falsch gemacht. Um ihn herum tauschten die Menschen Geschenke, die bisher unter dem Weihnachtsbaum auf ihren großen Moment gewartet hatten. Seto beobachte, wie Lin das Geschenk öffnete, das er ihr gemacht hatte. Einen Moment fürchtete er ihre Reaktion. Sollte sie anfangen zu heulen oder zu schreien oder – sie strahlte ihn an, als sie die Buntstifte in den Händen hielt. Sie schaute ihn mit ihren großen, blauen Augen an – eindeutig Mokubas Augen – und brabbelte aufgeregt. „Wie schafft sie das nur“, flüsterte ihm jemand zu. Wheelers Stimme. Er spürte, dass er ihn von der Seite aufmerksam betrachtete. „Wer hat was geschafft?“, hakte Seto desinteressiert nach. „Sie hat dich zum Lächeln gebracht.“ Als müsste er diesen Umstand durch einen besonders finsteren Blick ausgleichen, schaute er ihn bedrohlich an. Wheeler gluckste leise und Seto zwang sich, das Gefühl in seinem Magen zu ignorieren. Nachdem überall Geschenkpapier lag und Seto mit zusammengepressten Lippen Weihnachtsgrüße entgegengenommen hatte, behauptete Wheeler neben ihm, so dass nur er es hörte: „Dawn of the Dragon war deshalb nur gut, weil es ohne die Erweiterung keine Multiplayer-Funktion gab, in der man zusammen gegen die Drachen kämpfen konnte. Es gab nur die Möglichkeit gegeneinander zu spielen.“ „Ursprünglich war geplant, dass man als Drachen gemeinsam gegen die Menschen spielen kann.“ „Warum wurde die Idee nicht umgesetzt?“, hakte Wheeler nach und blickte ihn erwartungsvoll an. „Drachen kämpfen nicht gemeinsam. Sie sind Einzelgänger, sind von keinem abhängig. Ich verwarf die Idee.“ „Du glaubst jetzt, dich in ihnen wiederzuerkennen, nicht?“, spöttelte Wheeler grinsend und lehnte sich dann vor, um ihm ernst in die Augen zu sehen. „Dabei ist das totaler Blödsinn. Dein altes Deck beweist es.“ Seto runzelte die Stirn, hob eine Augenbraue. „Offensichtlich“, erwiderte er trocken, doch Wheeler ließ nicht nach. „Du checkst es echt nicht, oder?“ Seto warf ihm einen mahnenden Blick zu, doch Wheeler ließ sich davon nicht beeindrucken – das hatte er noch nie. „Deine drei Weißen sind das Sinnbild für den gemeinsamen Kampf von Drachen. Nicht erst, wenn sie fusionieren –“ Seto betrachtete Wheelers Mimik, seine funkelnden Augen, als erinnerte er sich an eine tolle Zeit, bemerkte den Ton dessen Stimme, der signalisierte, dass er bei dem Thema aufblühte. Seto verstand nicht, warum. Vielleicht fragte er deswegen spöttisch, ob Wheeler überhaupt wüsste, was ein Sinnbild ist. „Dir ist es doch nur peinlich, dass das, was ich sage, mehr Sinn macht, als das, was du so behauptet hast“, erwiderte Wheeler nonchalant. Seto öffnete den Mund, um etwas Kluges und Schlagfertiges zu entgegnen, aber in diesem Moment nahm Yukiko Lin von seinem Schoß, was er mit einem verstimmten Blick quittierte. „Sie muss langsam ins Bett“, entschuldigte seine Schwägerin mit einem Lächeln im Gesicht, als ob Seto eine Erklärung ihres Handelns gefordert hätte. Wheeler beobachtete das Geschehen und strich seiner Tochter, die mit einer neu erhaltenen Puppe spielte, über den Kopf. „Ich werde mich langsam auch auf den Weg machen“, warf er ein, „Karin wird unerträglich, wenn sie nicht rechtzeitig ins Bett kommt und ich muss noch gut eine halbe Stunde nach Hause fahren von hier aus.“ Die Runde verabschiedete sich. Seto war kurz davor, die Augen zu verdrehen, genervt zu schnauben, einen sarkastischen Kommentar von sich zu geben – oder alles drei – als sich Wheeler an ihn wandte, die freie Hand (auf dem anderen Arm trug er ja seine kleine Tochter) auf Setos Schulter legte und ihn angrinste. „Bis bald mal wieder.“ „Mmmhm“, brummte Seto und fühlte sich deplatziert. Als Ruhe einkehre und Mokuba die Tür schloss, grinste ihn sein kleiner Bruder vielsagend an. „Vier Stunden und siebenundfünfzig Minuten“, stellte er in den Raum. Setos Augenbraue fand den Weg instinktiv nach oben. „Bis?“, hakte er nach. „Nichts bis. Solange bist du bereits hier.“ Seto schaute ihn abwägend an. Doch obwohl er sicher war, dass ein Außenstehender niemals die Überraschung aus seiner Mimik und Gestik hätte herauslesen können, wusste er, dass seinem kleinen Bruder das mühelos gelang. „Und ist es dir nicht aufgefallen? Außerdem. Joey hat den ganzen Abend kein einziges Mal gelächelt, erst, als er mit dir –“ „So ein Unsinn“, unterbrach Seto seinen kleinen Bruder unwirsch. So ein haltloses Geschwätz musste er sich nicht geben – auch nicht von Mokuba. Er hörte der Stille einen Moment lang nach, die ihm schon beinahe bizarr in den Ohren klang, nachdem sie sich an den Lärm der Gäste gewöhnt hatten. „Endlich – damit haben wir Weihnachten wohl für dieses Jahr abgehakt. Ich verabschiede mich und wünsche euch noch einen schönen Abend.“ Seto nickte Mokuba zu, der es sich nicht nehmen ließ, ihn in eine Umarmung zu ziehen. Es würde Seto wohl sein Leben lang überraschen, dass Mokuba so groß war wie er selbst, denn in seinen Gedanken sah er immer noch den kleinen Jungen vor sich. Steif klopfte er seinem kleinen Bruder auf den Rücken, doch ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Nachdem Yukiko ihm noch Plätzchen aufgedrängt hatte und Mokuba ihn darauf aufmerksam gemacht, er solle seine Geschenke nicht vergessen, saß Seto endlich in seinem Auto und atmete durch. „Und jetzt – noch ein bisschen arbeiten, um den Abend ausklingen zu lassen.“ In den Büros der KC hing Ruhe und Dunkelheit. Letzteres verdrängte das Licht, als Seto den Schalter drückte. Die Plätzchen stellte er auf seinen Schreibtisch, die Geschenke legte er daneben und vergaß, sie zu öffnen. Denn er vergrub sich in die Dokumente auf seinem Bildschirm. Arbeit war verlässlich, er konnte sich in ihr vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihm und diesen Zahlen vor sich. Zahlen voller Macht und ihn, der ihnen diese Macht entlockte. Aber Mokuba verstand das nicht. Er glaubte ihm nicht, wenn er sagte, dass er zufrieden mit seinem Leben war – genau so, wie es momentan lief, so wie es all die vergangenen Jahre verlaufen war und so wie es, hoffentlich, auch in Zukunft verlaufen würde. So wäre es wahrscheinlich auch, hätte nicht eine Woche später das Telefon bei ihm geklingelt. Seine Sekretärin leitete ihm weiter, dass ein Herr behauptete, einen Termin bei ihm zu haben, allerdings wäre nichts darüber im Kalender vermerkt. Deswegen hakte die Frau höflichst bei ihrem Vorgesetzten nach, was er zu tun gedachte. „Name?“, wollte Seto genervt wissen. Er hatte wirklich genug zu tun. Unangemeldete Geschäftspartner wies er gewöhnlich ab. „Joseph Wheeler steht auf seinem Ausweis.“ Seto ließ seinen Blick durch die Fensterfront seines Büros schweifen. Draußen reflektierten sich die Sonnenstrahlen in den Schneeflocken, die sich auf den Dächern und Straßen sammelten. Noch war der Schnee weiß, doch schon heute Nachmittag würde lediglich braunschwarzer Schlamm übrig bleiben. „Lassen Sie ihn durch. Ich erwarte ihn.“ Kapitel 2: Ein neues Jahr ------------------------- Seto ließ seinen Blick durch die Fensterfront seines Büros schweifen. Draußen reflektierten sich die Sonnenstrahlen in den Schneeflocken, die sich auf den Dächern und Straßen sammelten. Noch war der Schnee weiß, doch schon heute Nachmittag würde lediglich braunschwarzer Schlamm übrig bleiben. »Lassen Sie ihn durch. Ich erwarte ihn.« Wenn Seto ehrlich war, dann genoss er es, wenn sich Menschen in seinem Büro ehrfürchtig umsahen. Wenn sie erkannten, dass sein Büro teurer war als ihre eigene Wohnung. Wenn er in ihrem Blick entdeckte, dass allein seine Präsenz am Schreibtisch sie einschüchterte. Es gab ihm einen Kick. Und lenkte ihn für einen Moment von seinem sonst so fest strukturierten und vorhersehbaren Alltag ab. Vielleicht war das Ausbleiben dieses sonst erfrischenden Ablaufs das, was ihn an Wheeler so nervte. Dass der Köter nie – niemals – so reagierte, wie es jeder normale Mensch tat. Und das traf doch bereits eine wichtige Aussage über den Köter. Statt sich mit Ehrfurcht umzusehen, wie angewurzelt stehen zu bleiben und eingeschüchtert zu ihm zu schleichen, stieß Wheeler die Tür auf, natürlich ohne vorher anzuklopfen, strahlte ihn an, als führte er irgendetwas im Schilde, vereinnahmte den Raum, als gehörte er ihm, und schlenderte zu Seto an den Schreibtisch, wo er sich ungefragt dagegen lehnte. Setos Fingerspitzen fanden von selbst an seine Schläfen, als diese zu pochen begannen. »Ich hoffe, dir ist klar, Wheeler, dass ich hier arbeite.« »Absolut«, erwiderte der Köter ernst, »es steht ja nicht nur hier auf deinem Schreibtisch, sondern mit unübersehbaren Buchstaben auch an diesem unübersehbaren Wolkenkratzer, in dem dein Schreibtisch steht.« Wheelers freches Funkeln in den Augen ließ Seto für einen Moment die Akten vergessen, die er bis halb vier noch zu bearbeiten hatte. »Dann bist du nicht hier, um dich davon zu überzeugen, dass ich tatsächlich hier arbeite, wenn mich niemand dabei stört«, erwiderte er trocken, »sondern?« »Du scheinst nicht jeden hier zu empfangen. Warum hast du mich hoch gelassen?«, entgegnete Wheeler statt einer Antwort. »Wie kommst du darauf?« Setos Stimme sollte gelangweilt klingen, doch Wheelers Grinsen verbreiterte sich. »Deine Sekretärin unten«, um seine strahlenden Augen zogen sich feine Lachfältchen, »ich hatte die Befürchtung, sie fällt in Ohnmacht. Ich glaube, sie hat wirklich einen Moment hyperventiliert.« Seto schaute ihn einen Moment lang an, lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und behauptete desinteressiert: »Vielleicht war es mir langweilig?« »Pffff.« Wheelers Schnauben war das erste, das sein Büro jemals gehört hatte und nicht von ihm selbst stammte. »Ja, nee ist klar.« Der Köter schaute sich unauffällig um – wahrscheinlich sollte es das jedenfalls sein – Seto hielt es eher für ein Gaffen. Er selbst würde niemals so einen bekloppten Gesichtsausdruck zur Schau stellen. »Hier«, stieß ihn Wheelers Stimme aus seinen Gedanken und er betrachtete überrascht, wie ihm das Hündchen ein Päckchen entgegen hielt. Gut, jedenfalls nicht ganz so bekloppt wie der des Hündchens. »Wheeler«, begann er genervt. »Nee, sag nichts«, unterbrach Wheeler ihn sofort, „nimm's einfach und pack's aus, wenn du vielleicht mal Lust drauf hast.« »Was soll das überhaupt?« »Du hast gesagt, dass du dir alles, was du dir wünschst, selbst schenken kannst. Aber –« Wheeler zögerte. »Ach, nimm es einfach und halt die Klappe.« Es war das erste Mal, dass sein Büro jemals gehört hatte, dass jemand an ihn gewandt einen solchen Ausdruck gebrauchte. Und er war sich sicher, dass es das einzige Mal bleiben würde. Vielleicht war es das oder vielleicht war es Wheelers Zögern, das ihn tatsächlich dazu bewog, das Geschenk anzunehmen. »Das Geschenk ist eine Woche zu spät«, spöttelte er. Mit einem Blick auf sein Gegenüber, der bereits zu einem verbalen Schlag angesetzt hatte, fuhr er fort: »Aber Unpünktlichkeit gehörte ja stets zu deinen tradierten Umgangsformen.« »Und zu deinen deine ätzende Meckerei, dein arroganter Tonfall und die Unfähigkeit, sich zu bedanken.« Für einen Moment kehrte Stille die Stelle zwischen ihnen beiden. Der Köter begann zu grinsen. Seto erschloss sich nicht genau, warum, aber er hatte weder den Nerv, noch die Zeit sich die kleine Welt des Hündchens erklären zu lassen – er wagte ohnehin zu bezweifeln, dass er überhaupt einen Grund hatte, so dämlich zu schauen. »Dann lass ich dich mal weitermachen mit –« Wheeler riskierte tatsächlich einen Blick auf seine Bildschirme, winkte dann jedoch ab, als wäre es tatsächlich egal. »Mit was auch immer das ist.« »Das –«, Setos Stimme klang gedämpft hinter seinen aneinander gelehnten Fingern, »sind Millionen.« Niemand stellte seine Arbeit als egal hin, auch nicht subtil. Nicht einmal der Köter – erst recht nicht der. »Millionen was?« Seto hob vielsagend die Augenbrauen und Joeys Augen weiteten sich. »Yen?« »Dollar.« Wenn Seto ehrlich war, dann genoss er es, wenn sich Menschen in seinem Büro ehrfürchtig umsahen. Noch mehr konnte er es nur genießen, wenn ihm diese Ehrfurcht galt. Vielleicht hatte ihn das zu der Aussage verführt. Allerdings hatte er nicht mit Wheelers Reaktion anschließend gerechnet. »Cool. Und was kaufst du dann damit?« Seto wusste keine Antwort. Das war mehr Geld, als er gebrauchen konnte. Eigentlich war es nur Geld, um es anzulegen und noch mehr Geld daraus zu machen, genau das offenbarte er Wheeler. Jeder Banker würde ihm dafür auf die Schultern klopfen. Vom Köter hingegen bekam er nur einen enttäuschten Blick. »Wie langweilig. Weißt du, dass du von einer Millionen Dollar zweihundertfünfzigtausend Döner kaufen kannst?« Herzlich willkommen in der Welt des Köters. »Hast du das eben alleine ausgerechnet?« Gegen Abend spulte sein Gedächtnis Bilder ab, die ihm von dem Gespräch mit Wheeler besonders in Erinnerung waren. Wie er ihn angrinste, wie seine ganze Präsenz plötzlich das Büro ausfüllte und die Atmosphäre von abweisend in angenehm kippte. Wie er ihn mit großen Augen anblickte und dann enttäuscht. Und natürlich der innovative Einfall, eine Millionen Dollar in Döner zu investieren. Eine. Millionen. Dollar. Ein Grinsen zuckte über seine Mundwinkel, als sein Blick auf dem Geschenk haften blieb, das Wheeler ihm überlassen hatte, und bröckelte Stück für Stück, als er es in seinen Aktenkoffer steckte. Neben Dokumente, die richtig verwendet, zweihundertfünfzigtausend Döner wert waren. Als er spät in der Nacht nach Hause fuhr und die leere Villa ihn empfing, traf ihn ein absurder Gedanke: Wie sich die Atmosphäre hier wohl ändern würde, wenn der Köter die Villa mit seiner Präsenz flutete? Mit einem Seufzen musste er sich eingestehen, dass er offensichtlich unter Schlafmangel litt. Setos Leben war eine Aneinanderreihung vorhersehbarer Ereignisse, die er in drei Kategorien unterteilte. Einmal die alltägliche Büroarbeit. Das schloss kleinere Projekte mit ein. Dann größere Verträge, die besonders in den Medien gehypet wurden – was ihm und besonders seiner PR-Abteilung natürlich recht war. Dann gab es die Zusammenarbeiten, die er platzen ließ, weil sie sich nicht mehr rentierten (oder weil ihn der andere schlicht mit seiner Inkompetenz nervte). Diese Vorkommnisse wurden oft genug ebenso durch die Medien getragen, allerdings ausgeschlachtet, bis es in Vermutungen und waghalsige Behauptungen abdriftete. Das brachte dann seiner Rechtsabteilung einiges an Arbeit. Alles in allem war sein Leben eine abgestimmte, strukturierte Abfolge. Etwas, das ihn beruhigt schlafen ließ. Umso beunruhigender war es, wenn Mokuba in seinem Büro auftauchte. Mokuba war die personifizierte Störung seines durchorganisierten Lebens. Sie saßen in seinem Büro. Der Schreibtisch nahm hier die zentrale Stellung ein. Trat jemand in das Zimmer, so fiel der erste Blick auf die umfangreiche Schreibfläche, mit all den Ordnern und den beiden Computern, seinen Bürosessel und natürlich ihn selbst, der dort saß und die Besucher (wenn er es denn wollte) empfing. Abseits dieses Zentrums standen eine schwarze Ledercouch und ein gleichfarbiger Ledersessel um einen Couchtisch drapiert, der meist erst ins Auge fiel, wenn Seto darauf hinwies. Mokuba hatte sich natürlich ohne Aufforderung dort niedergelassen. Schon als Kind war das Gang und Gebe gewesen. Sein kleiner Bruder, der dort Hausaufgaben machte – obwohl er es nicht gerne sah, wenn Mokuba zu lange Zeit in der KC verbrachte – aber manchmal hatte ihn Setos schlechtes Gewissen gewähren lassen. Im Sommer hatte Mokuba dort Eis gegessen, im Winter einen Kinderpunsch getrunken. Er hatte geplappert und ihn angestrahlt, während Seto gearbeitet hatte. Jetzt saß Lin dort und kritzelte mit Kugelschreiber irgendetwas auf ein weißes Blatt Papier, das er ihr aus dem Drucker spendiert hatte. Das schlechte Gewissen zehrte wieder an seinen Nerven. Vielleicht setzte er sich deswegen in den Ledersessel, wo er Mokuba schräg gegenüber saß, und verharrte nicht nur am Schreibtisch. »Stimmt es, dass –«, schon hier wusste Seto, dass er das Folgende bestenfalls verneinen konnte, »Joey vor ein paar Tagen hier war?« Seto warf seinem Bruder einen prüfenden Blick zu ob des Themenwechsels. Er führte die Kaffeetasse an seine Lippen und nahm einen Schluck, sich völlig bewusst darüber, dass Mokuba ihn aufmerksam beobachtete. »Und wenn er es war?« »Dann hätten wir ein interessantes Thema.« Seto stellte die Tasse zurück auf den Couchtisch und seufzte. »Inwiefern?« »Seit wann empfängst du hier Menschen, die dir keine Millionen bringen?« »Ich empfange dich.« »Jaaaah, genau.« Als Seto der Mimik seines Bruders gewahr wurde, wusste er, dass er mit dieser Aussage ein Interesse geweckt hatte, dessen Grund er wohl besser nicht erfahren wollte. Genauso wie ihm plötzlich in das Bewusstsein tröpfelte, dass er gerade den Köter auf eine Stufe mit seinem Bruder gestellt hatte. »Keine große Sache«, wies er von sich ab. »Er ist wieder in der Stadt und hat anscheinend zu viel Zeit.« »So wie du?«, provozierte Mokuba ihn mit einem kecken Grinsen. »Oder warum lädst du ihn auf einen Plausch in dein Büro?« »Ich lade niemanden auf einen Plausch in mein Büro.« Mokuba zog seine Augenbrauen hoch, Seto schnaubte und setzte für einen weiteren Schluck Kaffee an, während er in seine Tasse murmelte. »Du platzt hier einfach rein. Oder sollte ich die Security informieren und dich hinaus werfen lassen?« »Das wären mal amüsante Schlagzeilen. Kaiba setzt Kaiba vor die Tür.« »Bitte sag mir nicht, dass du auch diese Klatsch-Zeitschriften liest.« »Auch? Wer liest denn –« »Onkel Seto für dich.« Lin stand vor ihm und streckte ihm das Papier entgegen, als gäbe es nichts Wichtigeres und Seto war innerlich dankbar für die Ablenkung. Sein Blick schweifte über seine Nichte und das Bild, das auf einem Papier entstanden war, wo sonst Zahlen und Fakten standen, die tausende, hunderttausende Dollar wert waren. Zweihundertfünfzig, fünfundzwanzigtausend Döner. Er zog seine Stirn kraus angesichts dieses bescheuerten Gedankens. Kreise, jeweils zwei übereinander, wahrscheinlich Rumpf und Kopf, mit langen Strichen und Gesichtern, waren auf dem Blatt zu sehen. Einen Weihnachtsbaum mit Kerzen und brennenden Dochten glaubte er zu erkennen. Darüber schwirrten Kugeln mit Flügeln – Vögel oder – und das musste er als wahrscheinlicher erachten – dicke Engel. Besonders groß – und seiner Meinung nach hässlich – wirkten sechs Gestalten die zentral auf dem Bild ins Auge stachen; drei davon größer, eines etwas kleiner. »Was ist das?«, fragte er sie. »Mama«, sie tippte auf entsprechende Figur auf dem Bild, »Papa und ich und Karin«, jedes Mal deutete sie auf eine der Gestalten. »Und du und Onkel Joey« erklärte die strahlend – und hier beugte er sich überrascht näher und zog das Blatt Papier gleichermaßen mehr zu sich. Er betrachtete die kindliche Darstellung. Die Figuren und das Durcheinander. Vor sich sah er Wheelers Grinsen. Wheelers Strahlen. Seine Augen. Seine Mimik, die plötzlich so erwachsen wirkte – waren sie wirklich so alt geworden? Er war nicht alt. Aber manchmal fühlte er sich so. Um die sechs Gestalten herum standen noch andere, aber die waren scheinbar unwichtiger, weil kleiner dargestellt. Lin schaute ihn erwartungsvoll an und das riss ihn dazu hin, ihr über den Kopf zu streichen, über ihre dunklen Locken, um ihr dann ein Lächeln zu schenken (jedenfalls zupfte es an seinen Mundwinkeln). »Weißt du, eigentlich sucht er einen Job.« Setos Augenbrauen hoben sich und sein Blick schnellte zurück zu seinem Bruder, der nachdenklich zu seiner Tochter schaute. »Wer?« »Joey«, antwortete sein Bruder schlicht. »Er hat Weihnachten behauptet, er wäre reich. Warum sollte er –« »Du doch auch«, fuhr Mokuba ihm frech dazwischen und betrachtete ihn. Ironie zupfte an seinen Mundwinkeln. »Trotzdem arbeitest du.« »Und ich soll ihm jetzt einen Job anbieten?«, spöttelte Seto und stellte seine ausgetrunkene Kaffeetasse hin. Mokuba lehnte sich zurück und erwiderte seinen Blick unschuldig. »Nein, wieso solltest du?« Setos Augen verengten sich. Er wusste nicht, was Mokuba im Schilde führte. Hatte ihn der Köter angestiftet? Aber warum sollte der? Wheeler wäre wohl der letzte, der bei ihm – falsch, für ihn – arbeiten wollen würde. Warum brachte Mokuba ohnehin das Thema zur Sprache? »So – wir müssen dann mal.« Mokuba erhob sich und schnappte sich Lins Jacke. »Dir zu sagen, dass du dich nicht überarbeiten sollst, kommt ja ohnehin Jahre zu spät – aber –« Mokuba schaute ihn vielsagend an und Strenge durchwob seine dunkelblauen Augen. Seto war sich sicher, dass er diesen Blick erst drauf hatte, seitdem er Vater war. »Lin, vergiss dein Bild nicht«, wandte er sich an seine Nichte, doch die schüttelte heftig den Kopf, so dass ihre Locken wild umherflogen. »Nein, nein, nein!« Seto hob die Augenbraue. »Das hab ich für dich gemacht.« Er behielt das Bild also in seiner einen Hand und strich ihr mit der anderen zum Abschied über den Kopf. »Ich melde mich«, informierte Mokuba ihn und es klang nicht nach einer Drohung, aber wie ein Versprechen, das Seto besser akzeptierte. Also nickte der und öffnete für seinen kleinen Bruder die Tür, der mit seiner Tochter im Arm hinaus spazierte. Nachdenklich betrachtete er das Kugelschreiberbild in seinen Händen, öffnete einen der Aktenschränke und klebte es an die Innentür zu den anderen Gemälden seiner Nichte. Nach Mokubas Besuchen erschien ihm sein Büro stets ungeheuer still. Gewöhnlich favorisierte er die Ruhe, wenn er allein arbeitete und ihn niemand störte. Aber. Mit einem Ruck ließ er sich in seinen Bürosessel nieder und tippte weiter auf der Tastatur. Einige Tage später öffnete er die Tür zur Villa und trat ein. Wie immer trank er einen Tee, während er ein bisschen in der Zeitung blätterte, nur um sich anschließend in die Dusche zu begeben und sich fertig fürs Bett zu machen. Als er mit einem Handtuch um die Hüften das Schlafzimmer betrat, blieb er wie angewurzelt stehen. Auf seinem Bett lag Wheelers Geschenk. Bestimmt hatte seine Haushälterin gedacht, er hätte es vergessen (was er – aber das stand jetzt nicht zur Debatte – ja auch hatte). Auf seinem Bett. Wheelers Geschenk. Er fühlte sich, als wäre jemand in seine Privatsphäre eingedrungen. Mit einem Schnauben beschloss er, das Päckchen (das Geschenkpapier war blau) zu ignorieren. Wirklich, es interessierte ihn nicht. Neugier war noch nie seine Schwäche gewesen. Vor allem wenn es den Köter betraf. Es war ihm absolut gleichgültig, was in diesem verdammten – Mit einem Ruck riss er das Geschenkpapier auf. Als er den Inhalt des Geschenkes in Händen hielt klappte ihm der Unterkiefer auf. Oder wäre es, wäre er nicht Seto Kaiba (dem niemals der Unterkiefer aufklappte) gewesen. Stattdessen schnappte er sich sein Telefon und rief bei der Auskunft an. »Hallo?« Wheelers Stimme war noch immer dieselbe, die er von Schulzeiten kannte. Irgendwie. »Hallo? Wer ist da?« Seine Ungeduld ebenfalls. Mit einem Blick auf die Uhr versicherte sich Seto der Zeit. Es war erst zweiundzwanzig Uhr. Sonntags arbeitete er nicht so lange. Für einen Anruf zwischen zwei Bekannten war die angemessene Zeit wahrscheinlich schon vorbei, aber das interessierte ihn herzlich wenig. Es ging immerhin nur um den Köter und was der dachte, interessierte ihn ohnehin nicht. »Wheeler.« »Kaiba?« Er hörte plötzlich ein Husten und Rascheln. »Sorry. Ich – hab mich verschluckt. Mann! Was –« »Du schenkst mir das Spiel, das ich selbst entwickelt habe?« Seto war noch nie ein Mann für Smalltalk gewesen, er kam direkt zur Sache. »Japp.« Seto sah förmlich vor sich, wie Wheeler grinste. »Du bemerkst aber, dass das – selbst für deine Verhältnisse – jeglichen Sinn entbehrt?« »Ich dachte, wir spielen mal eine Runde zusammen.« Seto ließ die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen. »Du dachtest also –« »Im Ernst – hast du es geöffnet?« Doch Wheeler schien die Frage rhetorisch zu meinen, denn er drängte ihn ohne Pause zwischen den Sätzen: »Mach die Hülle auf.« Mit einer Mimik, die damit rechnete, eine tickende Zeitbombe vorzufinden, öffnete er das Spiel und sah eine selbst beschriftete DVD. »Für Kaiba, den Geldsack«, stand darauf. Auf der anderen Seite der Schachtel – wo normalerweise die Benutzeranweisung und Werbung eingeklemmt war – zeigte ein Foto eine Szene von vor so langer Zeit. Es war das Bild, das damals während des Battle-City Finales aufgenommen worden war. Yugi stand da, schüchtern blickte er der Kamera entgegen. Wheeler grinste breit in die Kamera. Er selbst schaute so, als hätte er keine Zeit für (und vor allem keine Lust auf) das Foto. Seto fühlte sich einen Moment in eine Erinnerung gestoßen, aus die er nicht leicht zurückfand. Damals. Es fühlte sich so weit weg an. »Warum habe ich das Gefühl, dass das ein sentimentales Geschenk ist?«, fragte er in den Hörer. Vielleicht, um die Stille zu vertreiben. Vielleicht, um sich keine Gedanken um das Gefühl in der Brust machen zu müssen. »Für dich ist alles sentimental«, behauptete Wheeler, »das ist nur der Beweis, dass du ein Teil unserer Truppe bist.« »Redest du gerade von der Gruppe? Dem Kindergarten?« Setos Ton war löschpapiertrocken, doch Wheeler überhörte seinen Kommentar geflissentlich. »Mann, wir haben schon so lange kein Duell mehr gespielt. Ich war so lange weg irgendwie – ich weiß nicht einmal mehr, wo ich mein altes Deck gelassen habe – vielleicht hat es Yugi.« Seto verdrehte die Augen. »Ich dachte, du bist reich, Hündchen. Warum kaufst du dir nicht ein neues, wenn dein Herz daran hängt?« »Darum geht’s doch gar net«, behauptete Wheeler und Seto war, als hätte das Hündchen diese Behauptung schon einmal gegen ihn verwendet. »Worum geht es dann?« Wheeler lächelte ihn an. »Darum geht es.« Seto verstand es nicht, aber bevor er irgendetwas in die Richtung vor dem Hündchen auch nur angedeutet hätte, hätte er sich lieber selbst ein Hundeband umgelegt. „Ich meine, darum“, verdeutlichte Wheeler. Als Seto nichts erwiderte, ließ Wheeler diesmal die Stille zerspringen. »Und – hast du eigentlich inzwischen zweihundertfünfzigtausend Döner verdient?« Solche abstrusen Fragen konnte auch nur der Köter stellen. Ein Lächeln blitzte in seinen Mundwinkeln, das völlig entgegen seines Tons sprach, als er ihm ernst zu verstehen gab, dass das interne Informationen waren, die er ihm sicherlich nicht mitteilen würde. Er hörte Wheeler daraufhin beleidigt schnauben. »Solltest du allerdings einmal Lust auf Döner verspüren, habe ich inzwischen mehr als genug Mittel dafür«, fuhr er fort. Wheelers Lachen traf ihn direkt dort, wo sich sonst sein Hunger meldete. »Das war ein Ja, oder? Na, herzlichen Glückwunsch. Ich sag auch nichts weiter.« »Wem?« »Na, der Presse oder so?« Wheelers Stimme klang eindeutig fragend. »Auch wenn ich keine Ahnung hab, was das denen bringen sollte.« »Das wiederum ist nichts Neues.« Ein Kinderschreien störte Wheelers Antwort, die sicherlich nicht halb so eloquent gewesen wäre, wie er sich erhoffte. »Karin. Sie will einfach nicht schlafen«, teilte ihm der Köter mit, als hätte er ihm eine Frage gestellt, die er natürlich niemals stellen würde. Was interessierte es ihn auch, ob seine Tochter schlief oder wann oder wie. »Also – ich muss.« Seto nickte, obwohl Wheeler es selbstverständlich nicht sehen konnte und schob ein »Wie auch immer« hinterher. »Tschüss, Kaiba.« Dann verblieb nur noch das Tüten. Und der Gedanke, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er das letzte Mal einen Döner gegessen hatte. Er verbuchte es nicht unter Neugier, als er die DVD in den Player schob und den Fernseher in seinem Schlafzimmer anschaltete. Er verbuchte es unter – ach, was sollte das. Zu sich selbst konnte er ehrlich sein. Er war neugierig. Die nächsten fünfzehn Minuten schaute er Szenen aus seiner Schulzeit, seiner Jugend und jungem Erwachsenenleben an. Mit Musik untermalt und daher oft unfreiwillig komisch, glitten die Situationen und Gesichter an ihm vorbei. Es waren auch Szenen von öffentlichen Auftritten dabei. Duelle, ob im Klassenzimmer oder bei Turnieren. Protagonisten waren Joey und der Kindergarten, aber auch Mokuba und er selbst. Manche Sachen waren Videomaterial, das die KC für Turniere aufgenommen hatte – und hier fragte sich Seto, wie Wheeler daran gekommen war. Da legte der Köter Muto den Arm um die Schulter, in der nächsten Szene betrat Seto selbst den Raum. Die dramatische Musik untermalte den Auftritt. Fast musste er lächeln. Mokuba rannte in seine Arme. Der Kindergarten rief Muto zu. Wheeler drohte ihm mit geballter Faust. Wheeler lachte in die Kamera. Mokuba hielt Setos Hand. Wheeler reckte den Daumen in die Luft. Seto sagte etwas, was durch die Musik überlagert wurde, Wheeler streckte ihm die Zunge heraus. Der Kindergarten beglückwünschte ihn zu einem erfolgreichen Vertrag – daran konnte er sich sogar noch erinnern. Das Videomaterial, das für den Abschlussball gesammelt worden war. Schulfeiern. Er stand allein in der Ecke. Plötzlich sah er sich selbst mit Wheeler an der Wand lehnen. Der Köter hatte ihn in ein Streitgespräch verwickelt. Die Musik war jedoch fröhlich. Nein, eigentlich war es kein Streitgespräch gewesen. Es sah aus – Hätte Seto es nicht besser gewusst, hätte er gedacht, dass es aussah, als wären sie befreundet gewesen. Noch tagelang blitzten diese Szenen in seinem Kopf auf – zu den ungünstigsten Zeitpunkten. Gerade hielt ein Abteilungsleiter eine Präsentation über die Zahlen bezüglich des Weihnachtsgeschäfts. Es sah wunderbar aus. Wheeler legte Muto den Arm auf die Schulter. Die Kurve stieg. Der Abteilungsleiter zeigte den Vergleich zu den Verkaufszahlen im letzten Jahr vor Weihnachten. Wheeler grinste ihn an, reckte sein Kinn, wie er es immer tat, kurz bevor er gedachte ihm verbal Paroli zu bieten. Der Abteilungsleiter deutete auf die Prozentangaben. Wheelers Lachen. Der Abteilungsleiter erklärte, wie viel Millionen sie Umsatz gemacht hatten. Wheelers Stimme. »Weißt du, wie viele Döner du dir damit kaufen könntest?« Als Seto allein in seinem Büro saß, ertappte er sich dabei, wie er auf Lins Bild starrte. Onkel Joey, hatte sie erklärt, und er selbst. So ein Schwachsinn. Vehement tippte er weiter. Silvester nahte. Das war ein Tag, der ihm nach Weihnachten am Nervenkostüm zerrte. Ein Fest, bei dem erwartet wurde, es mit Freunden und Familie zu feiern. Seine alljährlichen Kommentare, es wäre ein Tag wie jeder andere auch im Jahr, wurden von Mokuba und seiner Ehefrau geflissentlich ignoriert. Ein Jahr hatte er es tatsächlich gewagt, die Einladung abzulehnen und in seinem Büro die Nacht durchzuarbeiten – zumindest war das sein Plan gewesen. Am Ende waren in seinem Büro Mokuba inklusive Familie, ein paar derer Freunde und Bekannte aufgetaucht mit Sekt und Partyhütchen. Als Seto ernst gemacht und die Security dazu geholt hatte, hatte Mokuba am Ende auch mit diesen angestoßen. Selbst der Gedanke daran machte ihn noch immer zornig. Seit dem Erlebnis gab er jedoch den Einladungen nach. Mokuba wusste, wann er gewonnen hatte und Seto nicht weniger. Als er folglich Mokubas Anruf in diesem Jahr erhielt, sagte er lediglich zu, nicht ohne jedoch mit der Polizei zu drohen, sollten Raketen vor gesetzlich erlaubter Zeit abgeschossen werden. Natürlich trieb seinen Bruder diese Spitze nicht dazu, die Einladung zurück zu nehmen. An diesem Tag erwartete er wirklich nichts Außergewöhnliches mehr, wurde aber eines Besseren belehrt, als seine Sekretärin ihm mitteilte, dass seine Verabredung zum Essen unten auf ihn wartete. »Bitte, was?«, erwiderte er gefasst und erwartete einen geschmacklosen Scherz, der seiner Sekretärin den Job kosten würde – auch, wenn er sie nur ungern feuerte, denn sie war bisher ausgesprochen kompetent. Natürlich, andernfalls hätte er sie nicht eingestellt. »Herr Wheeler steht hier und meint, sie wären zum Essen verabredet.« Setos Augenbrauen schossen Richtung Haaransatz. »Ich habe jetzt keine Zeit, um –« »Kaiba!« Wheelers Stimme drang plötzlich an sein Ohr, er musste seiner Sekretärin das Telefon abgenommen haben. »Ich hab Hunger. Kommst du jetzt? Oder soll ich raufkommen? Wir können uns auch was bestellen und in dein Büro liefern lassen.« Im ersten Moment war Seto sprachlos. In seinem gesamten Leben war niemand so dreist gewesen und hatte sich selbst in sein Büro eingeladen, um sich dort etwas zu essen liefern zu lassen. Er wusste, dass er bei dem Köter nur zwei Möglichkeiten hatte. Er konnte ihn mit der Security abführen lassen und ein Hausverbot geben. Allerdings würde Wheeler das nicht aufhalten, weswegen er mindestens einen Wächter allein für den Köter abstellen lassen müsste – und selbst dann würde sicherlich irgendwann die Polizei auftauchen. Viel Lärm, viel Stress, viel Ärger. Oder er gab nach. Nicht so, dass es danach aussah natürlich. Und brachte den Köter dazu, von selbst zu gehen. »Lass das Telefon auf Lautsprecher stellen«, forderte er. Es raschelte. »Sie sind auf Lautsprecher«, informierte ihn die Stimme seiner Sekretärin. »Wir waren erst in zwei Stunden verabredet«, behauptete er fest, »ich werde frühestens in einer essen gehen können.« Wheeler würde gehen, er selbst hätte sein Gesicht vor seiner Sekretärin gewahrt und er würde endlich ungestört weiterarbeiten können. Wheeler war schon immer ungeduldig, er würde niemals – »Okay, dann komm ich in einer Stunde nochmal«, flötete der Köter und Seto rammte sich mental seinen Laptop in den Kopf. In diesem Moment verfluchte Seto Kaiba Joey Wheelers Sturköpfigkeit. Pünktlich auf die Minute öffnete Wheeler eine Stunde später die Tür zu seinem Büro und lugte hinein. Seto schnaubte genervt, als er ihn erblickte, doch er wandte seinen Blick sofort wieder seinen Akten zu. »Was machst du hier?«, fragte er ihn. »Dich abholen.« »Wheeler, wie kommst du auf den absurden Gedanken –« »Du hast gesagt, wenn ich Lust auf Döner habe, dann soll ich vorbeikommen.« Seto blinzelte und hielt mit dem Tippen inne. »Das habe ich sicherlich nicht gesagt.« »Doch. Also kommst du? Ich hab eine echt gute Dönerbude gefunden, bei der –« »Ich habe keinen Hunger.« »Dann ess halt nichts. Aber mitkommen kannst du trotzdem.« »Warum sollte ich mitkommen, wenn –« Wheelers Blick traf ihn und er verstummte. »Warum gehst du nicht einfach zu einem Freund, wenn du mit jemandem zu Mittag essen willst?« »Bin ich doch«, erwiderte Wheeler und sprach mit ihm, als wäre er schwer von Begriff. Der Köter sprach mit ihm, als verstünde er seine Worte nur langsam. Seto wusste, dass er für heute verloren hatte. Wollte er schnell wieder in Ruhe arbeiten, wäre es am effizientesten, Wheeler schnell wieder los zu werden und dazu gab es momentan nur einen Weg. »Eine halbe Stunde. Und danach verschwindest du und lässt mich ungestört arbeiten.« Wheelers Grinsen wanderte bis in seine verdammten Augen. »Ich war in Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, hab einiges in Europa gesehen und«, er tippte auf seine Brust, »und ich hab natürlich viel fotografiert. Hab danach noch Kommunikationsdesign studiert. War aber hart.« »Vielleicht hättest du dich als Psychologe versuchen sollen.« »Was? Wieso?« Seto wollte ihm sicherlich nicht offenbaren, dass er ihn geradezu leicht zu etwas gebracht hatte, das er sonst jedem anderen – außer Mokuba – verweigert hätte. Er verschluckte sich beinahe an seiner Cola, als sich der Gedanke in seinem Kopf spann, dass er Mokuba und Wheeler gerade wieder irgendwie auf einer Ebene betrachtet hatte. Deswegen schwieg er nur und schaute zu ihm. „Nee“, winkte Joey ab, „NC und so –“ Sie saßen sich in einer Dönerbude gegenüber. Es war ein gepflegter Laden, das Personal freundlich und sie unterhielten sich. Wobei – eigentlich unterhielt sich eher Wheeler und Seto nickte ab und zu oder hob seine Augenbrauen oder schnaubte höhnisch. »Du trinkst also immer noch Cola«, stellte Wheeler fest, »fand ich schon damals komisch. Hätte dich eher für einen Wasser-Typen gehalten.« »Einen Wasser-Typen?«, spöttelte Seto. »Ja, du weißt schon. Diese vorgetäuscht gesundheitsbewussten Menschen, die in einem Restaurant Wasser bestellen. Am besten auch noch stilles.« »Das hier ist kein Restaurant.« »Würdest du denn in einem Restaurant Wasser bestellen?« »Ich sage hierzu nichts. Nicht ohne meinen Anwalt.« Wheeler schaute ihn perplex an. »Hä? Was's los?« »Ich sage hierzu nichts. Am Ende tauchst du wieder in meinen Büro auf und behauptest, ich hätte dich in ein Restaurant eingeladen.« Wheelers Lachen rauschte durch ihn hindurch wie ein Schwall kalten Wassers. Oder eher wie ein Schwall heißen Wassers. »Och, dafür brauche ich keinen Vorwand. Auch deine Anwälte könnten mich nicht davon abhalten, wenn ich wollte.« Wheelers Augen blitzten. Sein Grinsen verbreiterte sich, als er das Röhrchen, das in seiner Flasche Cola steckte, wieder zwischen seine Lippen nahm und ein paar Schlucke trank. Den Blickkontakt unterbrach er jedoch keinen Moment. Setos Mundwinkel zuckten. »Mmmmh. Angesichts dessen, dass es sich um dich handelt – im Bereich des Möglichen.« Moment, flirtete Wheeler gerade mit ihm? Flirtete er zurück? Seto räusperte sich und blickte auf seine Armbanduhr – und blinzelte. Eindreiviertel Stunden? Ihn befiel das Verlangen gegen die Uhr zu tippen und zu prüfen, ob sie einwandfrei funktionierte. Er suchte nach einer Vergleichsmöglichkeit, sprich einer anderen Uhr, doch Wheeler kam ihm zuvor. »Uh, schon so spät?« Er hob seinen Blick von seinem Smartphone. »Verdammt. Ich muss los. Sorry!« Er steckte es zurück in seine Tasche und erhob sich langsam. Gemeinsam verließen sie den Laden und gingen die Straße entlang. »War doch gut, nicht?«, erkundigte sich Wheeler, woraufhin ihm Seto einen irritierten Blick zuwarf. »Den Döner, meine ich.« Er nickte knapp, was Wheeler offenbar zufriedenstellte. »So – ich muss. Wenn ich zu spät komm, macht mir mein Boss wieder Stress.« »Wieder?«, provozierte ihn Seto. »Das letzte Mal war nicht meine Schuld«, ereiferte sich Wheeler und war schon auf dem Sprung, »ich musste Karin – ach, egal. Wir sehen uns.« Er schenkte ihm ein Lächeln und wandte sich ihm nochmals entgegen, wobei er einen Passanten beinahe angerempelt hätte. »Und sag deinem Boss, er soll dich nicht zu hart dran nehmen.« »Ich bin mein Boss, Wheeler.« »Weiß ich doch«, grinste er ihn an, drehte sich um und beeilte sich, pünktlich zu sein. Manche Sachen änderten sich eben doch im Leben. Als er zurück in sein Büro schritt, schaute er – wenn er schon auf dem Weg daran vorbei war – im Büro seiner Sekretärin vorbei und fragte nach Neuigkeiten. Obwohl sie den Kopf schüttelte, lächelte sie ihn auf eine Art und Weise an, die ihn irritierte. In seinem Büro hatte die Stille wieder Einzug gehalten. Wohltuende, Arbeit fördernde, angenehme Ruhe. Vor seinem inneren Auge tauchten immer wieder Wheelers Blicke auf, sein Grinsen, sein Lachen, sein – Genervt verzog Seto den Mund. Seto Kaiba bevorzugte die vorhersehbaren, planbaren Tage. Zeitpläne, die er einteilen und strukturieren, Arbeit, die er effizient erledigen konnte und Menschen, die seinen Anordnungen folgten. Gleichzeitig durften sie ihm nicht durch Inkompetenz Zeit rauben oder die Qualität ihrer Arbeit gefährden. Seine Vertragspartner waren kompetente, innovative Köpfe, die seine Anordnungen umsetzten und Arbeit in vorgegebenen Zeiten auf höchstem Niveau erledigten. Wheeler fiel in gewisser Weise aus dem Rahmen. Er gab ihm Widerworte, kam und ging, wann er wollte, erlaubte sich sogar über ihn zu witzeln, provokante Kommentare fallen zu lassen und ihm seine Meinung an den Kopf zu werfen. »Und du glaubst echt, dass das eine gute Idee ist?« Dass Wheeler das bezweifelte, war offensichtlich. »Ich glaube nämlich, die haben keine Ahnung.« Einige Tage später. Wieder saßen sie sich im Dönerladen gegenüber und Wheeler schaute ihn skeptisch an, während er mit dem Trinkhalm die Eiswürfel in seiner Cola umrührte, als hätte das irgendeinen Sinn. »Ich mein, Mädchen mögen rosa und so. Aber –« Wheeler lehnte sich zu ihm und wisperte, damit niemand das Folgende verstehen konnte außer ihm und Seto: »DuelMonster-Figuren in rosa? DuelMonster-Plüsch in rosa? Kannst du dir den Weißen in Rosa vorstellen?« Er schnaufte amüsiert. Seto hingegen war alles andere als zum Spaßen zu Mute. »Und warum glaubst du, dass du mehr Ahnung hast als das Team, das ich für diese Aufgabe zusammen gestellt habe?« »Ich bin Vater eines Mädchens, für deren Altersgruppe und für deren zukünftige Altersgruppe du das Zeug herstellen willst.« Wheelers Argument war erschreckend plausibel. »Während deine Mitarbeiter entweder alte Männer sind oder junge, die entweder keine Kinder haben oder anscheinend keine Töchter.« »Herr Chan hat eine Tochter.« »Die wahrscheinlich älter als achtzehn ist.« Seto kämpfte gegen den Impuls an, mit den Zähnen zu knirschen. Wheeler hatte Recht. Aber was gab es als Alternative? Aufgeben? Den ganzen Markt bezüglich Mädchen ignorieren? »Weißt du, was mich damals zu DuelMonsters gebracht hat?«, führte Wheeler an, ehe Seto hätte nachhaken können. »Dein Verlangen ständig zu verlieren?«, mutmaßte er spöttelnd. »Ich war Dritter im –« Seto winkte ab und forderte ihn auf, zu erzählen, was ihn zu dem Spiel geführt hatte. Wheelers Antwort war überraschend simpel. »Meine Freunde.« »Wir sollten also das Spielzeug so produzieren, dass es alle Kinder haben wollen. Schon klar, Hündchen. Das ist durchaus das Ziel.« »Nee, ich meine, so produzieren, dass es alle Kinder und die Eltern für ihre Kinder haben wollen. Wenn die Eltern das Zeug haben wollen, erzählen sie es wiederum Eltern und so weiter. Von Freund zu Freund eben. Und ihr könntet ein Sammelspiel aus den Figuren machen. Doppelte Figuren könnte man mit Freunden tauschen und so weiter. Uh, ja! Mit einem Brettspiel verbunden! Irgendetwas Pädagogisch-Wertvolles. Zum Beispiel als Teamspiel. Ein Brettspiel, in dem es mehrere Teams gibt, die zusammen arbeiten müssen, um das andere Team zu schlagen, das fördert doch die soziale Kompetenz, nicht? Welches Mädchen will heutzutage schon rosa Zeug?« Seto lehnte sich zurück und betrachtete Wheelers Miene. Seine Arme gestikulierten wild, auf seinen Wangen lag ein roter Hauch, als würde ihn das Denken mehr anstrengen als ein Sprint. Genau das teilte Seto ihm auch mit, doch dann lenkte er ein. »Woher kommen deine Ideen? Mein Team hat das Konzept in zwei Wochen erarbeitet und du machst es in einer Viertelstunde nieder. Eine weitere Viertelstunde später kannst du ein verbessertes Konzept präsentieren. Ich dachte, Hunde folgen nur dem Weg ihres Herrchen und erschnüffeln nicht neue.« Seto hüllte das subtile Kompliment in ein bisschen Spott. Er hatte mit Komplimenten ohnehin keine große Erfahrung – nicht, wenn er sie an jemanden richtete und nicht selbst empfing. »Was für ein Konzept?«, fragte Wheeler verwirrt nach. »Ich hab doch nur ein bisschen rumgesponnen, was man vielleicht mal machen könnte.« »Genau so etwas führt zu einem Konzept.« »Und dafür wird dein Team bezahlt?« Wheelers Erstaunen amüsierte ihn, aber irgendwie ärgerte ihn auch die offenbare Inkompetenz, die sein Team hier an den Tag gelegt hatte. Dann wanderte ein nachdenklicher Schatten über Wheelers Gesicht. »So Spielzeug gibt es natürlich irgendwie wie Sand am Meer. Ihr müsstet die Eltern überzeugen, dass das Spielzeug etwas Besonderes ist. Dass es vielleicht heimisch ist und – keine Ahnung – besonders halt. Ladet die Eltern und ihre Kinder doch zu euch in die Produktion ein.« Seto hätte sich beinahe an seiner Cola verschluckt. »Wir stellen nicht alles vor Ort her.« »Oh, bitte. Erzähl mir nicht, ihr produziert auch in China.« Seto schwieg, was Wheeler die Augen verdrehen ließ. »Hier alles zu produzieren wäre zu teuer«, erklärte er das, doch das Hündchen schien nicht überzeugt. »Nach dem Skandal mit den Augknöpfen versuche ich, solches Spielzeug zu vermeiden.« »Skandal? Was –« »Das kommt davon, wenn man nur seine eigene Biographie in Wirtschaftsmagazinen liest«, zog ihn Wheeler auf, doch dann erklärte er, dass vor ein paar Wochen, ein Kleinkind wegen Spielzeug, das in China produziert worden war, beinahe erstickt wäre. »Ein Knopf, das ein Auge für das Plüschtier war, hat sich gelöst und der kleine Junge hatte es verschluckt.« Setos Gedanken überschlugen sich, während Wheeler in seinen Döner biss, der inzwischen sicherlich kalt war. Er dachte über Wheelers Ideen nach und wägte ab. Doch wie er so Wheeler betrachtete, wurden seine Gedankengänge in andere Flure geleitet. Es war Wheelers zweiter Döner, den er da verschlang, und Hunger konnte er doch keinen mehr haben. Seto beobachtete ihn, wie er genussvoll weiter aß, als hätte er nicht schon einen Döner gegessen und eine große Portion Pommes. Wahrscheinlich stimmte etwas mit seinen Hormonen nicht, die dafür verantwortlich waren, dem Gehirn zu signalisieren, dass der Magen voll war. »Du kommst auch an Silvester zu Mokuba, nicht?«, warf Wheelers Stimme ihn aus seinen verqueren Gedanken. »Wie kommst du darauf?« »Er ist dein Bruder.« »Wie du jetzt auf das Thema kommst«, wiederholte Seto. »Smalltalk halt«, erwiderte Wheeler achselzuckend, »und weil er mich auch eingeladen hat.« »Mhm.« Seto ließ sich alles durch den Kopf gehen. Zwei Tage später klopfte er an Mokubas Tür. Sein Bruder öffnete und starrte ihn überrascht an. »Du bist viel zu früh«, konstatierte er. »Du hast gesagt, es beginne um sieben Uhr. Zum Abendessen«, entgegnete Seto argwöhnisch. »Ja, aber an Silvester kommst du gewöhnlich erst kurz vor – wie auch immer. Komm doch rein. Yugi und –« Seto trat an ihm vorbei und entledigte sich seiner Jacke. »Wo soll ich den Sekt hinstellen? Zwei Stunden vor dem Servieren muss er in den Kühlschrank«, ordnete Seto an und ließ Mokuba lächeln, während der die Tür schloss. Im Wohnzimmer saßen Yugi, die Brünette und Wheeler und unterhielten sich mit Yukiko. Wheelers Tochter saß mit Lin auf dem Teppich und spielte mit Puppen. Als Lin ihn entdeckte kam sie aufgeregt auf ihn zu gerannt. »Onkel Seto! Onkel Seto!«, rief sie ihm entgegen und klebte an seinem Bein. Unsicher, wie er darauf reagieren sollte, tätschelte er ihr den Kopf, als ihm ein weiteres Kind am Bein hing. Wheelers Tochter strahlte ihn von unten an. Yukiko schnaufte amüsiert und er war sich sicher, dass sie nur angesichts seines pikierten Gesichtsausdrucks so breit grinste, als er Wheeler auch noch glucksen hörte. »Könntet ihr bitte eure –« Er wählte das folgende Wort sorgfältig, »Welpen zurückpfeifen?« »Mama, was ist ein Welp?« Lin warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu, ohne jedoch von Setos Bein abzulassen. »Ein Welpe ist ein Babyhund, mein Schatz.« »Hier sind Babyhunde?«, hakte sie an ihren Onkel gewandt mit großen Augen nach und Seto hatte das Gefühl, dass das ein langer Abend werden würde. Tatsächlich musste Seto viel Geschwätz ertragen. Dass Thea – nach ein paar Mal der Namensnennung speicherte sein Gehirn diese unnötige Information von ganz allein ab – eine professionelle Choreographin war und verschiedenen Künstlern das Tanzen lehrte. Wozu das auch immer gut war. Yugi hingegen war Werbeträger für einen guten Zweck. Dinge, die Seto unter langweilig verbuchte. Am liebsten hätte er einfach weg gehört oder hätte diese Konversation mit einer Fernbedienung übersprungen. Wenn aber Wheeler seinen Beitrag zu dem Gespräch machte – »Und dann waren wir in Chicago«, plapperte Wheeler, »dort ist ja auch Karin geboren.« Das blonde Mädchen auf seinem Schoß knabberte an einem Keks, der schon ganz durchgeweicht war. Seto hätte das Gesicht verzogen, wäre seine Selbstdarstellung nicht so seiner Kontrolle unterlegen. Kleinkinder waren einfach – unsauber, nervig und – Lin kam lächelnd auf ihn zu und hielt ein bunt bemaltes Papier in den Händen. »Ja, ich erinnere mich noch an die Mail mit den Bildern«, entgegnete Thea und verzog das Gesicht angeekelt. »Normalerweise wartet man, bis das Baby geboren wurde und nicht –« »Schon kapiert, Thea«, unterbrach Wheeler sie und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Die Freunde lachten amüsiert auf. »Ja, die Bilder –«, erinnerte sich Muto rührselig und grinste. Als Seto einige Stunden später in den bunt erleuchteten Himmel sah, eine eiskalte Brise umfasste seine Nase und Finger, das Feuerwerk malte Lichter in die Dunkelheit der Nacht, musste er erkennen, dass der Abend zu kurz gewesen war. Überhaupt das Jahr. Die letzten Jahre. Ihm wurde bewusst, wie viel Zeit bereits vergangen war, seitdem er die Schule verlassen hatte, als er Wheeler beobachtete, wie er mit seiner Tochter auf den Schultern in den Himmel blickte und mit einer Hand auf explodierende Feuerwerkskörper im Nachthimmel deutete. »Frohes, neues Jahr!« Wheelers Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken. Seine Tochter baute mit Lin einen Schneemann – zumindest sollte es wohl einer werden. Wheelers Lächeln erreichte wie nur zu oft auch seine Augen – anders als bei Seto. Er selbst deutete mit dem Sekt in der Hand ein Zuprosten an und nickte. »Dir auch.« Das Hündchen löste den Blick nicht – oder war er es selbst, der den Blick abwenden sollte? Sie sahen sich einfach an. Die Lichter reflektierten sich in seinen Augen und erhellten nur sekundenlang das Gesicht des anderen, färbten die Mimik rot und blau und silber. Für einen Moment glaubte Seto, dass Wheeler was sagen wollte. Aber er schwieg. Wheeler kappte den Blickkontakt als erster und wandte sich seiner Tochter zu. Die meiste Zeit war Seto sich nicht gewahr, wie viel Zeit er in seinem Büro verbrachte. Wie viele Nächte er an sich vorüberziehen ließ, ganz der Arbeit gewidmet. Früher hatte Mokuba auf ihn zu Hause gewartet (auch, wenn er meistens doch eingeschlafen war, ehe Seto zu Hause ankam). Heutzutage verließ er ein leeres Haus und kehrte in ein leeres Haus zurück. Wenn er nicht einfach im Büro übernachtete. Arbeit war verlässlich, er konnte sich in ihr vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihm und diesen Zahlen. Zahlen voller Macht und ihn, der ihnen diese Macht entlockte. Aber Mokuba verstand das nicht. Er glaubte ihm nicht, wenn er sagte, dass er zufrieden mit seinem Leben war – genau so, wie es momentan lief, so wie es all die vergangenen Jahre verlaufen war und so wie es, hoffentlich, auch in Zukunft verlaufen würde. Er war durchgefroren, aber stand noch immer auf der Terrasse, als er hörte, wie sich ihm jemand von hinten näherte. Einen Moment später wusste er, dass es Wheeler war. Noch ehe er angefangen hatte zu sprechen. »Karin wird langsam müde. Wahrscheinlich ist sie schon total übermüdet. Wir gehen dann nach Hause. Wollte mich nur schnell verabschieden.« Seto nickte und schaute wieder in den Himmel. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Wheeler ihn umarmte, wie er es bei den anderen sicherlich auch getan hatte. Aber als er es tat, war er überrumpelt von der Nähe, Wheelers Duft und der Wärme seines Körpers. Wahrscheinlich hatte er zu viel Sekt getrunken, aber für eine Sekunde – wirklich nur einen kurzen Moment – wünschte er sich, Wheeler würde jetzt nicht nach Hause gehen. Als Seto nach dem Heimweg aus dem Auto stieg und seine Eingangstür aufschloss, lauschte er einen Moment lang der Stille. Es war wohl in diesem Moment, als er vor sich selbst zugab, dass er sich manchmal einsam fühlte in seinem Haus. Er schob es leichtfertig auf den Sekt, obwohl er doch immer ehrlich zu sich selbst war. Er war bei weitem nicht angetrunken genug, um seine Handlung damit zu rechtfertigen. Er wollte gerade auflegen, als sich Wheeler meldete. »Geht es dir gut, Kaiba?«, fragte ihn das Hündchen statt einer Begrüßung am Telefon. Seine Stimme klang so nah. Nicht vorwurfsvoll (und angesichts der Uhrzeit wäre das durchaus denkbar gewesen), nein, es hörte sich ehrlich besorgt an. »Ich wollte nur –« Ja, was eigentlich? Seto verzog sein Gesicht, was Wheeler natürlich (zum Glück) nicht wahrnehmen konnte. »Danke.« Das Wort schien einen Moment lang den Raum zu füllen. »Hä? Was? Wofür?«, hakte Wheeler nach. »Für das Geschenk.« Kapitel 3: Geburtstage wie Weihnachten -------------------------------------- Schon am nächsten Tag bereute er seinen Anruf und fuhr sich genervt über die Augen. Seto lag noch im Bett. Üble Laune überrollte ihn, als er an die erbärmliche Sentimentalität dachte, die ihn gestern heimgesucht hatte. Gut, dass ein Kaiba immer eine Strategie hatte, um mit dem Unangenehmen umzugehen: Er würde es ignorieren. Und sollte der Köter es auch nur wagen, eine Andeutung zu machen, würde er ihn verbal krankenhausreif prügeln. Er genoss die Tage nach Neujahr. Tage ohne Feste und Verpflichtungen – nur Arbeit und noch mehr Arbeit, wann und wie er wollte. Niemand, der ihn störte. Keiner, der ihn in langweilige Gespräche verwickelte, um höflich zu sein. Und das nächste Fest in endloser Ferne. Bis er einem Fest entgegenblicken musste, das er fürchtete. Wheeler erwähnte es nebenbei, als wäre es keine große Sache und ging dann einfach zu einem anderen Thema über, was Seto völlig irritierte. »Wusstest du, dass ihr an der Spitze der Innovation von Spielen steht?«, teilte ihm der Köter mit Begeisterung mit und er stierte ihn verärgert an. Sie saßen im Dönerladen, sich gegenüber und Wheeler mampfte seinen zweiten Döner, wie sonst auch immer und blätterte im Wirtschaftsmagazin, was an und für sich durchaus eine Sensation war. Etwas, das man nicht jeden Tag zu sehen bekam. »Wer ist ihr?« Setos Ton hörte sich selbst für ihn unangenehm schneidend an. »Ähm du und – deine Firma?« Wheeler warf ihm einen Blick zu, als bemerkte er erst jetzt, dass etwas ungewöhnlich war. Ungewöhnlicher als ein Seto Kaiba, der mit einem Joey Wheeler in einer Dönerbude zu Mittag aß. »Achja, da war etwas. Meinst du die Firma, wo ich eben war, bis du kamst oder in die ich gleich wieder gehen werde? Oder die, in der ich jeden Tag bleibe, bis man nicht mehr weiß, ob es früh oder spät am Tag ist?« »Mhm.« »Natürlich weiß ich, dass die Kaiba Corp an der Spitze der Innovation von Spielen steht. Seit wann liest du überhaupt? Seit wann liest du das hier? Und wie kommst du jetzt darauf?« Setos Furcht vor Geburtstagen ließ er erfolgreich als Zorn über den Köter schütten. Doch statt selbst in Rage zu geraten, zuckte Wheeler die Achseln. »Ich wollte nur über etwas erzählen, das dich wahrscheinlich mehr interessiert. Du scheinst dich zu langweilen.« »Und wie kommst du darauf?« Seto musterte ihn argwöhnisch, doch Wheeler wich seinem Blick aus. »Du wirkst abwesend. Hörst mir nicht zu. Antwortest nicht, wenn ich dich etwas frage. Ich mein, du ignorierst mich, seitdem ich, naja, dich eingeladen hab. Und jetzt wirst du wütend. Wenn du keinen Bock hast zu kommen, komm nicht.« Seto ließ seine Fingerspitzen zwischen seinen Brauen kreisen. Die Kopfschmerzen pochten dort und in seinen Schläfen. Tief ein- und wieder ausatmend, fand er zu seiner Contenance zurück. »Hast du einen speziellen –« Er zögerte. »Wunsch?« »Hä?« »Zum Geburtstag. Du hast mich eingeladen. Oder nimmst du die Einladung zurück?« Sein Gefühl schwankte zwischen Hoffnung und Unsicherheit. Es irritierte ihn, dass er nicht eindeutig feststellen konnte, ob er hoffte oder eben nicht hoffte, dass Wheeler die Einladung überdachte. »Ich wüsste was, aber – wahrscheinlich –« »Ich werde dir keinen Kuchen backen.« Wheeler gluckste und mit seinem Grinsen schien die angespannte Atmosphäre vergessen. »Ich dachte eher an ein Spiel.« »Oder Blinde Kuh spielen«, spöttelte Seto sofort. »Ich dachte an Dawn of the Dragon«, spezifizierte Wheeler. »Du forderst mich heraus? Den Erfinder und Programmierer des Spiels?« »Japp.« »Ich werde dich nicht gewinnen lassen, nur weil du Geburtstag hast«, stelle Seto klar und Wheelers Strahlen erleuchtete dessen Mimik. Das Hündchen hatte schon bemerkt, dass er eben subtil zugestimmt hatte. »Ich weiß. Das würdest du nicht mal, wenn es mein letztes Spiel vor meinem Tod wäre«, entgegnete Wheeler trocken. Wenn Seto es recht bedachte, dann waren Geburtstage wie Weihnachten – nur ohne Baum und Plätzchen. Es waren Feste mit der Erwartung, dass man sie gerne mit Freunden oder Familie verbrachte. Letzten Endes war Weihnachten auch nur ein Geburtstag, an dem sich die christliche Gemeinschaft mehr oder weniger geeinigt hatte, Gottes Menschwerdung zu feiern. Jesu Geburtstag, wenn man es ganz banal ausdrückte. Die Sache war nur, dass Jesus ihn nicht zu einem Spiel Dawn of the Dragon herausforderte. In seiner Schulzeit waren Wheelers Geburtstage berühmt-berüchtigt. Laut und viel Alkohol. Dass die Polizei am Ende die Party wegen Ruhestörung beendete, war schon geradezu unspektakulär, weil alljährlich. Es waren Partys mit vielen Menschen, manche – das wusste Seto durch Gerüchte – kannte Wheeler nicht einmal, aber jeder war eingeladen, wenn er nur Alkohol mitbrachte. Es schien nur um Oberflächlichkeiten zu gehen – nicht einmal Geschenke, sondern nur einen Abend, an dem am Ende kaum einer mehr wusste, was eigentlich gewesen war. Als sich Wheeler mit Muto angefreundet hatte, reduzierte sich der Alkoholexzess. Nur die Lautstärke blieb unverändert. Seto war niemals auf einem der Feiern gewesen. Offensichtlich. Weder Alkohol noch Lautstärke hätten ihn jemals dazu verführt – von den Menschen, die dort auftauchten, ganz zu schweigen. Hätte ihm irgendwann in seiner Schulzeit einmal jemand gesagt, er würde eines Tages – heute, den 25. Januar – seinen Wagen vor Wheelers Wohnung parken, um zu dessen Geburtstagsfeier zu gehen, hätte er ihn wegen Rufmordes verklagt. Wheeler Wohnung war Teil in einem Wohnkomplex, der aus einzelnen größeren Häusern bestand. Jedes Haus mochte drei, vier Wohnungen umfassen. Damit war es kein Vergleich zu dem Zuhause in Wheelers Jugend, dessen Wohnblöcke versifft und heruntergekommen gewesen waren. Ein Park rundete die Umgebung ab, in dem zu dieser Zeit kahle Bäume standen und frischer Schnee wie Puderzucker den Boden bedeckte. Zwei Schneemänner standen dort, weiter hinten lieferten sich eine Gruppe Kinder eine Schneeballschlacht. Seto stiefelte über den gefegten Weg und ließ seinen Blick das Gebäude empor wandern, ehe er auf dem Klingelschild »Wheeler« hängen blieb. Als er die Klingel drückte, betrachtete er das Geschenk in seinen Händen voller Skepsis. Vielleicht hätte er – oder lieber – vielleicht auch nicht. Eigentlich waren sie aus dem Alter eh draußen. »Komm hoch. Erster Stock!«, trällerte Wheelers Stimme ihm durch die Sprechanlage entgegen und er vernahm gleichzeitig das Klicken der Eingangstür. Oben angekommen stürmten Lin und Karin auf ihn zu. Letztere ahmte wahrscheinlich nur erstere nach, vermutete Seto, doch ihm war die Reaktion von Kindern schleierhaft. Wheeler schlenderte den beiden nach und grinste. »Hier das obligatorische Geschenk und die obligatorischen Glückwünsche.« Seto streckte ihm das Päckchen, das fast ein Unterarm lang war, entgegen, als wollte er es schnellstmöglich los werden. »So wie dein obligatorischer Besuch?«, zog ihn Wheeler auf Seto beachtete diesen Einwurf nicht weiter, denn würde er das Ganze von außen betrachten, hätte er zugeben müssen, dass es nichts Obligatorisches an der Situation gab. Er hätte der Feier fernbleiben können – niemand hätte ihn wirklich dazu gezwungen. Nicht einmal Wheeler, da war er sich sicher, hätte er die Einladung abgewiesen. Durch seinen Kopf zuckte die Frage, wie Wheeler darauf reagiert hätte. Gleichgültig? Gefasst? Mit der Schulter gezuckt oder enttäuscht? Hätte es für ihn überhaupt einen Unterschied gemacht? War das hier eine Einladung nur der Höflichkeit halber? Seto folgte in das Wohnzimmer, Lin und Karin schoben sich an ihm vorbei, um erster dort zu sein – warum auch immer. Ein Blick in die Runde dementierte Setos Annahme, es handele sich lediglich um Höflichkeit. Das hier waren nur Wheelers engste Freunde. Ein seltsames Gefühl kraulte seinen Hals hinauf. »Ich wusste, du kommst«, raunte ihm sein kleiner Bruder zu. Yukiko lächelte ihn an. Nachdem sie gemeinsam Kuchen gegessen hatten (»Isst du das Stück noch, Kaiba?« »Wieso? Du wirst es doch nicht –« »Natürlich, ess ich es, wenn du es nicht mehr willst.« »Es liegt auf meinem Teller, Wheeler! Ich habe es bereits angefangen zu essen.« »Seh ich. Willst du es noch?« »Nein.« »Bist du krank?« »Warum –« »Ich liebe Schokokuchen!«, mampfte Wheeler ungeniert), saßen sie zusammen und er hörte einige Anekdoten. Manche ließen Joey breit grinsen, andere verlegen am Hinterkopf kratzen. »Wusstet ihr, dass Joey Zeitungsausschnitte über Kaiba in den USA gesammelt hat?«, witzelte Tristan und sein Kopf ruckte in Setos Richtung, als er davon anfing. »Was? So ein – Tris!«, empörte sich Wheeler sofort und schien auf einmal furchtbar beschäftigt mit seinen Geschenken, die er gerade auspackte. Setos Augenbrauen wanderten seine Stirn hinauf. Mokuba stieß ihn von der Seite an und grinste, was ihn genervt die Augen verdrehen ließ. »Ich hab die Kiste beim Umzug ge-« »Das war keine Kiste! Das waren nur –« Tristan überhörte Wheelers Einwurf geflissentlich. Yugi schaute von dem einen zum anderen. Sein Blick blieb an Seto kleben. »Ich wollte damals informiert bleiben. Was ist daran so –« »Du hast das Zeug immer noch.« »Das – nur zufällig. Ich – also echt jetzt! Wie kommst du jetzt darauf?« »Vielleicht hab ich mich nur gewundert, wo die Zeitungsausschnitte über Yugi sind?« Wheeler warf ihm einen Blick zu, sprang auf und verließ das Zimmer. Sie schauten ihm verwundert (Kaiba betont gleichgültig) nach. »Ist er jetzt eingeschnappt?«, fragte Tristan an Yugi gewandt, doch der zuckte ratlos die Schultern. Als Thea Tristan bereits für sein Verhalten rügen wollte, rauschte Wheeler schon zurück in das Wohnzimmer mit einer Kiste voller Bilder, Zeitungsausschnitten und ausgedruckten Emails und einem breiten Grinsen im Gesicht. »Hier. Das ist Yugis Kiste. Willst du auch deine eigene sehen, Tris?«, fragte Wheeler nach, doch Tristan hob nur abwehrend die Hände. »Ist ja schon gut. Will gar nicht so genau wissen, was du da alles gegen mich in der Hand hast.« »Besser so.« Yugi lugte währenddessen neugierig in die Pappkiste, auf der mit Wheelers krakeliger Schrift »Yugi« stand, und zog einen Zeitungsausschnitt heraus. »Meine Güte«, begann der,»das ist ja«, er schaute auf das Datum des Artikels, »das ist wirklich schon siebzehn Jahre her!« Seine großen Augen schauten in die Runde. »Und trotzdem alle beisammen.« »Woah, stimmt. Schon siebzehn Jahre!«, bestätigte Tristan und Thea beugte sich zu ihnen hinüber, um den Artikel zu sehen. »Das waren Zeiten. Erinnerst du dich noch als«, wandte sich Mokuba an seinen Bruder, der das Bild natürlich sofort wiedererkannte und anstatt seinem Bruder zu antworten, schnellte sein Blick zu Wheeler, der diesen mit einem Grinsen erwiderte. Über dem Artikel prangerte das Bild aus dem Königreich der Duellanten. Wheeler schien so wenig Aufmerksamkeitsspanne zu besitzen, dass er für das Öffnen der Geschenke den ganzen Abend benötigte. Ständig lenkte ihn etwas ab oder er ließ ein Geschenk nur halbgeöffnet liegen, um noch ein Kuchenstück zu essen oder um Yugi zuzustimmen oder Tristan zu widersprechen oder umgekehrt. Vielleicht rechnete Seto deswegen gar nicht mehr damit, dass das Geschenk, das er Wheeler überreicht hatte, noch in seiner Anwesenheit geöffnet würde. Wenn er ehrlich zu sich war, wäre es ihm auch lieber gewesen. »Was. Zur. Hölle!«, rief Wheeler, als er das Geschenkpapier in der Hand hielt und Seto ungläubig anstarrte. Damit befanden sich die beiden natürlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, was Seto wenn möglich hatte vermeiden wollen. »Das ist – das ist – das neue –« Mokuba übersetzte das Gestammel mit einem Blick auf das Gerät in Wheelers Hände in einen vollständigen Satz. »Das ist das neue DuelDisk-Holo-System. Aber«, hier wandte er sich erstaunt an seinen großen Bruder, »das habt ihr doch noch nicht auf den Markt gebracht« »Das ist die Beta-Version. Ich habe Wheeler in das Programm geschrieben. Er ist jetzt offiziell ein Beta-Tester des Produkts«, entgegnete Seto, als wäre es offensichtlich. Wheeler starrte ihn an, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber es kam nichts über seine Lippen. »Wow. Das nenn ich mal Ehre«, hörte Seto stattdessen aus Tristans Mund und wurde sich des bewundernden Blicks aus Yugis Augen gewahr. »Bedienung ohne die DuelDisk zu berühren. Interaktiv direkt steuerbar. Vier Kameras, die den Blick des Nutzers verfolgen, um dreidimensionale Bilder zu projektieren. Dazu Air-Touch und Air-Unlock«, zählte Mokuba auf. »Und warum bin ich kein Beta-Tester?«, zog er Seto vor allen auf, was den im ersten Moment sprachlos machte. »Das letzte Mal, als ich mit der Bitte an dich herantrat, meintest du schon wieder?«, erinnerte er ihn dunkel und Mokuba grinste. »Achja. Das war in der Zeit als Lin zahnte und ich keine Nacht richtig schlafen konnte.« »Uh, ja, daran erinnere ich mich selbst noch zu gut«, stimmte ihm Wheeler zu und hatte scheinbar seine Stimme wieder gefunden, doch sein Blick klebte noch immer auf der Verpackung des Gerätes, als hielte er den Heiligen Gral in den eigenen Fingern. »Nicht als ich gezahnt habe, sondern Karin«, kam er Tristan – der schon den Mund geöffnet hatte – mit einem gelangweilten Blick zuvor, doch dann wandte er sich abrupt Thea zu, als wäre ihm ein Gedanke gekommen. Gedanken musste Wheeler seit je her in die Welt hinaus posaunen – entweder weil er sie sofort wieder vergaß, sich bemerkbar machen wollte oder weil er tatsächlich glaubte, sie wären wichtig. »Hey, wo ich grade dran denke. Thea, könntest du an einem Abend auf Karin aufpassen? Kaiba und ich wollten ein Spiel spielen.« Als nächstes hörte man nur noch Tristans Husten, der sich offenbar an seinem Kaffee verschluckt hatte. Seto war noch nie naiv gewesen. Sein Verstand kalkulierte nüchtern und realistisch. Seine Planung war exakt und effizient. Wheelers Planungen hingegen – waren meistens nicht existent. Er lebte sein Leben ohne größere Strategie. Er war spontan und meisterte Aufgaben auch ohne Organisation. Wie genau er das schaffte, war Seto schleierhaft. Und es wurde ihm auch nicht verständlicher, als er selbst Teil davon wurde. Das Telefon in seinem Büro klingelte gegen achtzehn Uhr, als er überrascht abnahm (denn normalerweise stellte ihn seine Sekretärin durch). Niemand – außer Mokuba – rief ihn direkt hier an. Also musste es ein Notfall sein. »Ich hab Lust auf Pizza«, trällerte ihm durch den Hörer entgegen. »Was? Wheeler?« »Ja, hast du noch viel Arbeit? Ach, was frag ich. Ist mir egal. Kommst du? Du hast mir ein Spiel versprochen. Als Geburtstagsgeschenk«, schob er hinterher, als wäre es das Totschlagargument schlechthin. »Thea passt extra auf Karin auf, damit wir –« »Ich wusste nichts von heute, woher sollte deine Freundin davon –« »Ich hab es vergessen, dir zu sagen.« Seto rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die inneren Augenwinkel. »Hast du noch dein Deck?« »Natürlich habe ich noch mein –« In diesem Moment wusste er, dass das die falsche Antwort gewesen war. »Cool, ich bin dann in einer halben Stunde bei dir.« »Du willst Pizza bestellen und –« »Ja, soll ich dir was mitbringen?« »Nein, und ich habe mein Deck nicht in meinem Büro.« »Oh –« Für einen Moment dachte Seto tatsächlich, dass Wheeler endlich begriffen hatte, dass er heute keine Zeit für ihn hätte. Es war ein Augenblick, in dem er sich eingestehen musste, dass er manchmal eben doch naiv war. »Ist bestimmt bei dir zu Hause –« In diesem Moment wusste Seto, was kommen würde. Im Nachhinein war Seto nicht einmal mehr im Stande zu rekonstruieren, wie Wheeler ihn dazu gebracht hatte um acht Uhr bei sich zu Hause die Tür aufzuschließen und einzutreten. Um wenigstens ein bisschen seine Reputation zu behalten, hatte er seiner Sekretärin mitgeteilt, er würde heute zu Hause die Akten bearbeiten und hatte sich entsprechend den Koffer vollgepackt. Frau Yagami hatte ihn verwundert gemustert, aber lediglich genickt. Nur zehn Minuten später klingelte es. »Wow, sieht hier ja noch genauso aus wie früher.« Wheeler trat ein und zog seinen Mantel aus. In der Hand hielt er das DuelDisk-Holo-System und eine DuelDisk. »Woher –« »Och, ich hab dich damals zu meinem Geburtstag einladen wollen –« »Du hast mich nie –« »Ich hatt's mir anders überlegt und ich wollte ganz schnell verschwinden, aber Mokuba hat mich gesehen und es war kalt draußen. Fast so'n Schneesturm und er hat mich auf eine heiße Schokolade eingeladen gehabt. Hat er dir das nie erzählt?« Damit trat er in das Wohnzimmer, als würde er das immer so machen. »Mhm. Warum hättest du mich einladen wollen?« Seto folgte ihm, nahm ihm den Mantel wortlos aus der Hand und hängte ihn nebenbei auf. »Wollte ich nicht.« Auf Setos vielsagenden Blick, fügte er hinzu: »Das war nach dem Königreich der Duellanten. Yugi hat damals gemeint – es wäre – nett.« Wheelers breites Grinsen sprach für sich. Seto konnte sich das Gespräch der beiden gut vorstellen. Anscheinend war Muto für Wheeler das, was Wheeler für ihn war: der Motor, der ihn etwas machen ließ, was er eigentlich gar nicht so geplant hatte. Bei dem Gedanken an Muto und Wheeler lief ihm etwas Bitteres durch die Adern. Mit einem Ruck ließ er sich auf dem Sofa schräg gegenüber des Sessels – wo Wheeler gerade stand – nieder. Sein Blick fiel auf das Gerät, das das Hündchen auf den Couchtisch platziert hatte. »Was hast du mit der DuelDisk gemacht? Die sieht aus –« »– als wäre sie mir ein paar Mal runtergefallen, joar.« Anstatt sich auf dem Sessel breit zu machen, setzte sich Wheeler neben ihn auf die Couch. Nicht unangenehm nah, aber doch so, dass Seto sich seiner Präsenz erstaunlich bewusst war. »So etwas steckt sie weg«, hörte er sich sagen, obwohl seine Aufmerksamkeit auf Wheelers Händen lag, die sich gerade hinter dessen Kopf verschränkten. Wie nebenbei glitt sein Blick über Wheelers Profil. »Das habe ich monatelang getestet. Jahrelang inzwischen.« »Naja«, entgegnete Wheeler gedehnt. Seine blonden Strähnen hingen ihm in der Stirn und obwohl er sein Haar deutlich kürzer trug als in der Schulzeit, stand es ihm wirr vom Kopf ab. »Mir ist ein Mal Kaffee drüber gelaufen. Oder zwei Mal und dann hat Tris' Hund daran genagt. Der nagt an allem, ohne Witz. Meine Schuhe waren schon ein paar Mal wegen dem hin. Dann ist Karin ein paar Mal drüber geklettert und hat damit gespielt. Und ich glaube, sie ist mir ein Mal vom Balkon gefallen. Also nicht Karin, sondern die DuelDisk. Ein Mal oder zwei Mal. Oder so.« »Wie hast du – ach, vergiss es.« Bei Wheeler stellte man gewisse Fragen einfach nicht. Vor allem nicht dann, wenn er einen so ansah. So, als könnte er durch einen durchsehen. »Hast du was gegen Pizza?«, fragte Wheeler stattdessen und griff schon in seine Hosentasche. »Ich könnte eine Pizza machen lassen.« »Ja, also ich kenn die Nummer auswendig. Wir –« »Von meiner Haushälterin. Sie hat sonst kaum etwas in der Küche zu tun. Ich esse normalerweise –« »Nichts?«, zog ihn Wheeler auf und dessen Grinsen verführte seine Mundwinkel zu zucken. »Nicht hier zu Hause«, brummte Seto über seine eigene Reaktion verärgert. »Okay, voll gut. Oder Lasagne? Oder Kartoffelauflauf oder –« »Was auch immer du willst«, unterbrach Seto die euphorische Aufzählung und Wheeler lehnte sich zu ihm. »Weil du mir nichts abschlagen kannst?«, wollte er wissen und es klang nach einer Frage, aber in Wheelers Augen stand, dass er es gar nicht fragen brauchte. Und noch etwas Anderes; wie eine Frage, die hinter den Worten stand. »Ich könnte dich sofort von meinem Anwesen entfernen lassen«, hielt Seto ruhig dagegen, aber so ruhig fühlte er sich gerade nicht. In Wheelers Blick lag etwas, das seinen Magen rauschen ließ. »Wirklich?«, provozierte Wheeler ihn und beugte sich zu ihm, um ihm in die Augen zu funkeln. Dabei berührte sein Bein das von Seto, was ihn erstarren ließ, als erwarte er einen Blitzeinschlag. Wheeler schien ihn zu hypnotisieren. Anders konnte er sich seinen mentalen Zusammensturz nicht erklären. Keine Gedanken. Keine Pläne. Keine Worte, die er ihm an den Kopf ballern konnte. Sein Blick streifte Wheelers Gesichtszüge. Er hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase. Die Augen waren gar nicht ganz braun, sondern hatten einen grünlichen Stich, wenn man ganz, ganz nah war. Seine Lippen – Jemand stieß die Tür zum Wohnzimmer auf und sie fuhren auseinander. »Herr Kaiba, oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass Sie schon hier sind. Oder Besuch haben. Ich dachte vorhin, ich hätte etwas gehört, aber –«, plapperte seine Haushälterin sichtlich verlegen. »Lasagne«, krächzte er und räusperte sich dann, richtete sich auf und ordnete höflich an: »Könnten Sie uns eine Lasagne zubereiten, Frau Wong? Dankeschön.« Neben ihm sank Wheeler zurück ins Sofa, als seine Haushälterin wieder verschwand. »Wie wäre eine Runde Dawn of the Dragon?«, schlug Wheeler vor, als wäre nichts gewesen, doch die Röte auf seinen Wangen zeugte von etwas ganz Anderem. Setos Strategie, um mit dem Unangenehmen umzugehen, war es zu ignorieren. Wheeler war ihm scheinbar gar nicht so unähnlich darin. Es war nicht so, als wäre alles wieder wie vorher. Es stand zwischen ihnen und wenn er Wheelers Blick auffing, dann wusste er auch sofort, dass der andere das auch wusste. Da war etwas in der Luft, wenn sie miteinander sprachen – als existierte ein geheimer Subtext zu ihren Sätzen. Als läge etwas zwischen den Worten, das keiner von ihnen auszusprechen wagte. Um ehrlich zu sein, hätte Seto das wahrscheinlich auch weiterhin so gelassen. Sie kamen immerhin durch den Sommer mit der Strategie und meisterten fürchterliche, wirklich Angst einflößende Herausforderungen. (»Hör zu. Thea und Yugi sind in Urlaub, Tristan hat keinen Schimmer von Kindern und –« »Und dann rufst du mich an?« »Ich will, dass Karins Geburtstagsfeier genial wird.« »Und bei dem Adjektiv genial, bin ich dir natürlich sofort eingefallen. Verständlich.« Natürlich wurde die Kinderparty mit seiner Hilfe genial. Während er sich selbst zwei Wochen später, während ihres allwöchentlichen Döneressens donnerstags, an Wheeler wandte. »Mokubas Geburtstag ist ba-« »Er hat schon gemeint, wenn du damit zu mir kommst, soll ich dir sagen, dass er einen Rundflug mit dem Hubschrauber mit seiner Frau und Lin und dir machen will. Aber sag ihm nicht, dass ich dir das gesagt hab.« »Wieso?« »Er hat auch gemeint, ich sollte dir nicht sagen, dass er es mir gesagt –« »Am einfachsten ist, wir tun einfach so, als wüsste niemand etwas«, legte Seto genervt fest. »Japp, genau.«) Und mit der Strategie, so zu tun, als wüsste niemand etwas, konnten sie wunderbar so tun, als wüsste wirklich niemand etwas. Obwohl sie natürlich wussten, dass sie es wussten. Manche Feiern konnte Seto nicht vermeiden. Weihnachten gehörte dazu und auch Neujahr. Aber seinen eigenen Geburtstag hatte er stets so gefeiert, wie er es für richtig gehalten hatte. Nämlich gar nicht. Er erwartete nicht einmal Geburtstagsanrufe. Schon gar nicht einen Tag davor. Und genau dieser Anruf war es auch, der ihre bisher so angenehme Strategie in einer Nacht über den Haufen werfen sollte. Am 24. Oktober klingelte das Telefon in seinem Büro um genau neun Uhr zweiundfünfzig. Er schaute auf die Uhr, weil er das immer tat, wenn er bei der Arbeit unterbrochen wurde. Als sich Wheelers Stimme nahe seines Ohres räusperte, kraulte eine Gänsehaut seinen Nacken, die er natürlich sofort ignorierte. »Was willst du, Wheeler? Ich arbei-« »Was hast du damals gemacht, wenn Mokuba Fieber hatte?«, platzte Wheeler sofort heraus. Er atmete schwer, als würde er gerade hektisch durch das Zimmer schreiten. Überhaupt klang er gehetzt. Im Hintergrund weinte leise ein Kind. »Sie hat Fieber. Karin und – ich hab schon beim Arzt angerufen, aber die Arzthelferin meinte, erst wenn es über achtunddreißig Grad geht, soll ich vorbeischauen. Aber sie weint die ganze Zeit.« »Es kann doch nicht sein, dass deine Tochter bisher nie Fieber hatte, was hast du sonst –« »Natürlich hatte sie schon einmal Fieber, aber damals war –«, er hörte, wie Wheeler tief ein- und ausatmete und sich förmlich zu den nächsten Worten zwingen musste, »ich nicht allein.« Setos Blick wanderte über den Bildschirm und die Akten, die er bis morgen früh durcharbeiten wollte – sollte – musste. »Aber – ist schon gut. Ich hab bestimmt überreagiert. Sorry. Ich – krieg das schon hin«, lenkte Wheeler mit einem Mal ein. Seto atmete tief durch. »Okay, dann – gute Besserung.« Wheeler legte als erstes auf. Eine halbe Stunde arbeitete Seto weiter und zwang sich, seine Konzentration auf die Dokumente vor sich zu legen. Eine Viertelstunde später gestand er sich ein, dass er vor seinem inneren Auge keine einzige Zahl wahrgenommen hatte, sondern nur eine einzige Person. Er schnappte sich seinen Mantel, seinen Schal und einen Regenschirm, um in den Regen hinauszutreten. Wheelers Wohnung befand sich mit dem Auto gar nicht so weit weg von seinem Büro, wenn kein Stau herrschte. In der Nacht – so wie jetzt gerade – bremsten ihn nur sein Sicherheitsbewusstsein und Verantwortungsgefühl. Als er dort ankam – und nach dem er keinen Parkplatz gefunden hatte, einfach in zweiter Reihe sein Auto abstellte – drückte er ohne ein Zögern die Klingel. Wheelers Stimme klang erschöpft und gereizt, als er fragte, wer da war. »Ich.« Ohne ein weiteres Wort über die Sprechanlage, summte die Eingangstür. Wheeler öffnete ihm oben die Tür mit dem Kind im Arm. Verheult schaute Karin ihm entgegen – sofort erinnerte es ihn an damals, als Mokuba – den Gedanken beiseite schiebend, trat er ein und schob sich an Wheeler vorbei, während er bereits seinen Mantel auszog. »Hast du Tee gemacht?«, fragte Seto ihn statt einer Begrüßung, stellte den Regenschirm gegen die Wand und zog den Schal aus. Wheeler schüttelte den Kopf. »Gib sie mir«, verlangte Seto. Es war effizienter, wenn Wheeler selbst in der Küche hantierte statt ihm, der nicht wusste, wo was war. »Alles gut, Karin.« Sie schaute ihn mit großen Augen an und legte dann erschöpft ihren Kopf auf seine Brust. »Wheeler, du machst Tee. Setzt ihn auf. Hast du eine Wärmeflasche? Und wir brauchen Waschlappen.« Wheeler folgte seinen Anweisungen ohne Widerspruch. »Ist dir kalt, Karin?«, fragte Seto leise an das Kind in seinem Arm gewandt. Er spürte ihr Kopfschütteln in der Halsbeuge. »Ist dir heiß?« Sie nickte zögerlich. »Wir fangen mit den Waschlappen an. Kühles Wasser, Hündchen. Bring es her.« Das Wasser für den Tee brodelte allmählich. Mit einer Wärmeflasche in der Hand rauschte Wheeler an ihnen vorbei ins Bad und besorgte Waschlappen. »So ist gut«, lobte Seto ihn, als wäre er ein braver Hund, was Wheelers Augen funkeln ließ. »Ich lass es dir heute durchgehen«, entschloss er sich, als wäre er außerordentlich gutherzig deswegen, »aber nur heute.« Eine Stunde später lag Karin in ihrem Bett und schlief. »Gott, ist es plötzlich still«, flüsterte Wheeler und alles an ihm drückte Erleichterung, aber auch Erschöpfung aus. Sie standen an dem Gitterbett des Mädchens und betrachteten ihr Werk. »Manchmal glaube ich, dass ich es nicht schaffe«, hauchte Wheeler und die wenigen Worte in dem dämmrigen Kinderzimmer waren so intim wie nichts, was sie jemals zuvor geteilt hatten. Nach einem Augenblick, in dem Seto nichts erwiderte, sondern nur den regelmäßigen Atemzüge des Mädchens und denen von Wheeler lauschte, erwiderte er ruhig, dass er das Gefühl kannte. Wheelers ungläubiger Blick traf ihn von der Seite. »Aber – du – wirklich?« »Ich liebe Mokuba über alles«, es war irgendwie seltsam, das vor Wheeler so offen zu bekennen, »aber es war eine harte Zeit. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen.« Möglicherweise war es die Dunkelheit, die ihm das Gefühl von Sicherheit vermittelte, von Intimität oder Wheelers ruhiger Atem, jedenfalls offenbarte er weiter, dass er nach dem Tod seiner Eltern glaubte, nicht weiter leben zu können, aber es zu müssen. »Ja«, stimmte Wheeler ihm flüsternd zu, »nachdem – nach der ganzen Sache. Es fühlte sich für mich an, als wäre mein ganzes Leben nur noch – da, aber ohne – Richtung. Ohne Sinn. Alle Pläne –« »– zerstört, alle Wünsche plötzlich wertlos, lächerlich«, führte Seto leise aus. »Ja.« Wheeler ließ die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen. »Komischerweise hat dann immer eine Stimme in meinem Kopf gesagt: Du wirst doch nicht tatsächlich so erbärmlich sein? Selbst ein drittklassiger Duellant versucht wenigstens ein Duell zu gewinnen.« Seto sah ihn regungslos an. »Es war deine Stimme. In meinem Kopf.« Für einen Moment betrachtete er Wheelers Profil. Sein Blick ruhte auf dem Kind im Bett. »Das hört sich äußerst bedenklich an«, flüsterte er in einem witzlosen Versuch, dieses unglaublich Bedrückende aus Wheelers Mimik zu vertreiben. Natürlich ohne Erfolg. »Das – Ganze – war direkt nachdem du das professionelle Gamen aufgegeben hattest und nach deiner Ausbildung zum Fotografen?«, hakte Seto nach. »Nicht ganz«, entgegnete Wheeler und erzählte von seinem Studium des Kommunikationsdesigns. »Amy hat mich dazu gebracht – ohne sie hätt' ich nie dran geglaubt, dass ich das schaffen könnte«, schloss er und strich dem Kind über die blonden Locken. Stille legte sich einen Moment über sie beide. »Danach wollten wir zusammen nach Europa gehen, aber – ich hab' gedacht, ich würd' es nicht schaffen. Sie war plötzlich weg. Jedenfalls – Karin war noch so klein, gerade erst – da. Es war Amys und mein Traum zusammen nach Europa zu gehen. Aber – es war wichtiger, erst einmal nach Hause zu kommen – wo auch immer das war. Dort war es jedenfalls nicht mehr. Und nach ein paar Umwegen kam ich hierher.« »Was für Umwege?« »Mein Vater, ihre Eltern, meine Mutter – die Kurzfassung.« Sein Ton machte deutlich, dass er für die Langfassung gerade nicht bereit war. Seto kannte dieses Gefühl. Wenn man von Neuem anfangen musste, obwohl man glaubte, keine Kraft dafür zu haben. Irgendwo ankommen zu müssen, ohne die Gewissheit, es wirklich zu schaffen. Das Gefühl, alles, was bisher im Leben wichtig und richtig gewesen war, in einem Augenblick zu verlieren und mit der Faust des Schicksals eingeprügelt zu bekommen, dass Wünsche und Träume nur etwas für Kinder waren. Hätte Mokuba nicht an ihn geglaubt, vielleicht stünde er heute nicht hier. Wheeler hatte all das in den letzten Jahren auch kennen lernen müssen. Wo Seto aber alles hinter einer Mauer aus Abweisung und Distanz verschanzte, überspielte Wheeler es mit einem breiten Grinsen. Nur manchmal schafften sie es nicht, dieses Spiel aufrecht zu erhalten. »Danke, dass du –« Wheelers Stimme brach ab, als er ihn anblickte und seine Augen etwas zu erkennen schienen. Seto selbst schaute ihn an und war nicht auf den abrupten Blickkontakt vorbereitet gewesen. Er würde niemals danach fragen, was Wheeler in diesem Augenblick in ihm erkannt haben mochte. Vielleicht, weil er sich vor der Antwort fürchtete. Doch diese Furcht war nur ein Schatten im Vergleich zu dem Licht, das Wheeler in ihm entzündete, als er sich an ihn lehnte, seine eine Hand auf die Schulter legte und gleichzeitig die Lippen mit den seinigen berührte. Ein Feuer brannte sich durch seinen Magen, ein Schneesturm fegte durch seine Adern und ließ seine Finger erkalten. Die Hitze loderte bis in seine Wangen, hinab zu seinem – Entsetzt drückte er Wheeler eine Armlänge von sich weg. »Wheeler«, fing er an, um seine Gedanken, die sich in der Stille formten nicht verfolgen zu müssen, dabei wusste er nicht, was er sagen sollte. »Joey«, entgegnete Wheeler ihm schlicht, »spätestens jetzt solltest du so weit sein, um meinen Vornamen zu benutzen, Kaiba.« »Sagte er und bekam es selbst nicht hin«, meinte Seto trocken und schaute ihn mit gehobenen Brauen an. Stille trat zwischen sie. Aber es war kein unangenehmes Schweigen, sondern eher eine erwartungsvolle Ruhe, bis Wheeler etwas murmelte. »Mh?«, hakte Seto nach. »Seto«, sagte Wheeler lediglich. »Ja?« »Nichts. Nur als Beweis.« Er rieb sich über die Augen, was noch etwas ganz Anderes bewies und Seto langsam das Kinderzimmer verlassen ließ. Wheeler – Joey folgte ihm und beobachtete, wie er sich seinen Mantel überzog. »Weißt du, du kannst auch hier schlafen. Ich –« »Nein, danke«, widersprach Seto vielleicht etwas zu heftig, denn Joey blieb einen Moment regungslos und stumm stehen. »Hast du Angst, dass ich dich in der Nacht – bedränge?« »Und wenn es so wäre?«, provozierte Seto ihn stoisch. »Sei nicht albern, ich bin so müde, ich würde jetzt nicht einmal mehr einen –« »Ich will es gar nicht wissen.« »Einen Döner packen«, beendete Joey seinen Satz mit Schalk in den übermüdeten Augen. Mit einem Blick auf die Uhr versicherte sich Joey der Zeit und stöhnte leise auf. »Und ich muss morgen – nein, heute – später arbeiten.« »Ich auch«, erwiderte Seto unbeeindruckt. »Ja, aber dein Chef kann dich nicht dumm anmachen.« »Weil ich mich niemals selbst dumm anmachen würde«, bestätigte Seto trocken. »Genau.« Er öffnete ihm die Tür und Seto schritt hinaus, zögerte einen Moment, doch dann war er bereits aus der Wohnung getreten. »Uh, bevor ich es vergesse«, hielt ihn Joey doch nochmals auf, schenkte ihm einen müden Blick und ein schiefes Lächeln. »Alles Gute zum Geburtstag, Seto.« Kapitel 4: Alle Jahre wieder ---------------------------- Wenn Seto ehrlich war, dann bereute er es nicht. Trotzdem überrollte ihn üble Laune, wenn er an die Nacht dachte vor sieben Tagen (erkannte er mit einem Blick auf den Kalender). Seit dem hatte sich Wheeler, nur ein Mal gemeldet. Um ihm mitzuteilen, dass er den Regenschirm bei ihm vergessen hatte. Seinen. Verdammten. Regenschirm. Seto war noch nie eine Person gewesen, die groß etwas für soziale Kontakte übrig hatte (und Regenschirme waren ihm ziemlich egal. Er war reich verdammt. Er konnte sich hunderttausend Regenschirme leisten). Aber es irritierte ihn, dass Wheeler den Kuss einfach hinzunehmen schien. Es zu ignorieren, war seine eigene Taktik. Aber er konnte es nicht ignorieren, wenn der andere es bereits ignorierte. Denn dann bemerkte der andere nicht, dass er es ignorierte. Sicherlich war der Kuss nicht bedeutungsvoll (er war nicht einmal verärgert deswegen). Immerhin waren sie nur – was waren sie eigentlich? Wenn er ehrlich zu sich war, dann war es nicht einmal die Sache mit dem Kuss, die ihn gedanklich so vereinnahmte, sondern das Gespräch zuvor. Niemals hatte er mit jemandem darüber gesprochen. Nicht. Einmal. Mit. Mokuba. Tagelang hatte sein genialer Verstand Zeit, um ein Gespräch mit Wheeler vorzubereiten, um gewisse Fakten abzuklären, um diese dann – wie es sich für ihn gehörte – endlich ignorieren zu können und das Leben weiter zu leben, das er so effizient durchorganisiert hatte. Nicht, dass es etwas genutzt hätte. Wheeler – das musste er schließlich zugeben – war die personifizierte Störung seiner Planungen. Nicht einmal Mokuba schaffte es, ihn dermaßen aus dem Konzept zu bringen. Am Donnerstag saß er wie auf glühenden Kohlen, was seine Mitarbeiter durch seine spöttischen Bemerkungen und den harschen Ton überdeutlich mitbekamen. (So unprofessionell hatte er sich nicht mehr verhalten, seitdem er gegen Yugi verloren hatte.) Eineinhalb Stunden nach der gewohnten Zeit, in der Wheeler bei ihm im Büro auftauchte, um gemeinsam zum Dönerladen zu trödeln, schnappte er sich das Telefon und hackte eine gewisse Nummer in die Tastatur. »Wheeler!«, schnauzte er ihn an ohne eine Begrüßung. »Wo. Bist. Du?« Wheeler schien durch seine Worte eingeschüchtert oder vielleicht konnte er ihnen auch einfach nicht folgen, denn es folgte eine Stille, die Seto nur ungern abwartete. »Es ist Donnerstag!«, rief er ihm also unwirsch ins Gedächtnis. »Oh, sorry. Waren wir verabredet? Dann hab ich es vergessen, tut mir leid«, plapperte Wheeler, als wäre er sich keiner Schuld bewusst. Wut streifte durch Setos Bauch, obwohl sie gar keine Verabredung hatten. Nicht offiziell. Aber. »Hier ist nur so viel los. Das Projekt und –«, erklärte Wheeler. »Was für ein Projekt?« »Duke will mich engagieren, um für ihn –« »Duke Devlin? Du willst für meine Konkurrenz arbeiten?« »Ich –« »Ausgerechnet Devlin«, warf er ihm an den Kopf. »Müsste ich ja nicht, wenn du mir einen Job geben würdest«, witzelte Wheeler. Vielleicht seine Strategie, um mit Setos Laune umzugehen. Vielleicht ein Hinweis. Aber am wahrscheinlichsten war, dass es einfach eine unbedachte Bemerkung gewesen war. Immerhin sprach da Joey Wheeler. »Wann kannst du hier sein?« Setos Wut verrauchte, zurück blieb nur stoische Ruhe, als er sich in seinem Bürosessel zurücklehnte und die gegenüberliegende Wand niederstarrte. »Hä?«, entgegnete Wheeler verwirrt. »Du musst immerhin den Vertrag unterschreiben«, stellte Seto klar und hörte nur noch einen dumpfen Aufprall. »Was? Wo? Wegen?« »Hast du gerade das Telefon fallen lassen?« »Welchen Vertrag?«, beharrte Wheeler. »Die Werbung für das Weihnachtsgeschäft. Du bist engagiert.« »Was? Du weißt gar nicht, was ich beruflich drauf habe –« »Natürlich weiß ich das. Ich würde doch nicht einfach irgendwen unter Vertrag nehmen. Also Wheeler, wann bist du hier?« Nachdem Wheeler ihm eine Uhrzeit zugesagt hatte, drückte er die Durchwahl zu seiner Sekretärin. »Frau Yagami, bringen Sie bitte alles über Joey Wheelers beruflichen Werdegang in Erfahrung.« Er musste ja niemandem mitteilen, dass dieses eine Mal Wheeler Recht gehabt hatte. Und er selbst würde es schlicht ignorieren. Gut drei Stunden später, kündigte seine Sekretärin Besagten an. Seto setzte sich instinktiv aufrecht hin und ließ seinen Blick zu der Tür schweifen, nur um ihn dann wieder auf den Bildschirm zu lenken. Wheeler sollte nicht denken, er hätte auf ihn gewartet. Mit gerunzelter Stirn drückte der die Tür auf und blieb mit verschränkten Armen vor ihm stehen. »Wird das hier jetzt ein Vorstellungsgespräch? Oder reicht es, wenn ich auf Vitamin-B hoffe?«, provozierte Wheeler. »Du kannst meinen Regenschirm behalten«, antwortete Seto, als stünde das zur Debatte und Wheelers Augenbrauen hüpften Richtung Stirn, als er ihn entgeistert anschaute. »Okay«, erwiderte er gedehnt. »Sonst noch –« »Nein. Du kannst gehen. Melde dich bei meiner Sekretärin, sie sendet dir alles zu.« Es zu ignorieren hatte sich doch bewährt – also meistens, oft, manchmal. Vielleicht dieses Mal. »Sicher nicht.« Wheeler wagte es unter Setos mörderischem Blick einfach bis zum Schreibtisch zu schreiten und sich halb darauf zu setzen. Seto erhob seinen Blick betont desinteressiert, doch er konnte seine üble Laune kaum verbergen, als er mit seinen Fingern auf die Schreibfläche tippte. »Wäre ich noch sechzehn, würde ich dir jetzt eine reinhauen«, behauptete Wheeler und reckte sein Kinn, wie es schon immer seine Angewohnheit war, wenn er Seto die Stirn bot. »Und was machst du jetzt, wo du so erwachsen bist?« Einen Moment zog Seto in Betracht, dass Wheeler ihm eine reinhauen würde, obwohl er keine sechzehn mehr war. Vor seinem inneren Auge sah er noch, wie Wheelers Freunde ihn ein paar Mal hatten zurückhalten müssen, damit der nicht seine verbale Unterlegenheit durch physische Überlegenheit ersetzte. Tatsächlich hatte Wheeler es jedoch nie geschafft, ihm nahe genug zu kommen, um ihm körperlich bedrohlich zu werden. Das war heute anders. »Dich fragen, ob du mit mir Essen gehst.« Vieles war heute anders. »Ich habe keinen Hunger.« »Na, und?« »Na, und?«, echote Seto düster, »warum sollte ich –« Sehr vieles. Weder romantisch noch besonders geduldig, es wirkte eher ziemlich unelegant, wie sich Joey so über den Schreibtisch beugte, halb darauf saß und sich geradezu verrenken musste, um Setos Lippen zu treffen. Aber es verdeutlichte auf eindrucksvolle Art und Weise, warum. Es passte zu ihnen. Der eine war nicht romantisch, der andere nicht besonders geduldig. Zum ersten Mal war sein Büro Zeuge dessen, dass Seto Kaiba geküsst wurde. Er rückte seine Krawatte zurecht, als er ein Dokument, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, Joey entgegen schob. »Du musst hier unterschreiben.« Und deutete auf die entsprechende Stelle. Joey schnappte sich den angebotenen Kugelschreiber und setzte seinen Namen unter den Druck. »Normalerweise liest man sich einen Vertrag vorher durch, Wheeler.« »Normalerweise besteht ein Vorstellungsgespräch auch nicht aus einem Kuss, Kaiba.« Das Argument war nicht von der Hand zu weisen. »So – kommst du jetzt?«, fragte Joey, aber er war schon Richtung Tür unterwegs, sich darauf verlassend, dass Seto folgte. Als sie sich im Dönerladen gegenüber saßen, verbalisierte Seto einen Gedanken, den er bisher nicht gewagt hatte auszusprechen. Aber jetzt, wo er Joey so betrachtete – was angesichts des halben Döners vor und in seinem Mund kein besonders ästhetischer Anblick war – musste er doch eine Sache klar stellen. Er selbst hatte sich bisher kaum Gedanken über sexuelle Orientierungen gemacht – es war ihm schlich unwichtig erschienen. Ob ein Mann und eine Frau oder eine Frau und eine Frau oder ein Mann und ein Mann – das waren Angelegenheiten, die so privat waren, dass es ihn nie tangiert hatte. Er war – so gesehen – sogar sehr für die Gleichheit der sexuellen Ausprägungen: alle waren ihm gleich egal. Soziale Kontakte bestanden für ihn aus Geschäftspartnern und Agenturen und – weil Mokuba ihm keine andere Wahl ließ – manchmal aus privat bekannteren Kreisen. Aber niemals hatten ihn Gerüchte interessiert, die etwas mit deren Intimsphäre zu tun gehabt hatten – egal, ob er selbst noch in der Schule gewesen war oder zu einem späteren Zeitpunkt. Sexualität kam nicht einmal in seinen Top Ten vor. »Ich wusste nicht, dass du«, er wusste kurz nicht, wie er es ausdrücken wollte, »ich meine, du hattest eine Frau.« »Dass ich schwul bin?«, hakte Joey nach. Natürlich nannte Joey es beim Namen, natürlich. Er war noch nie der Typ für Euphemismen oder Paraphrasen gewesen. »Nö«, er schüttelte nachdenklich den Kopf, »bin ich nicht. Bin ich es? Bisexuell vielleicht. Mann, immer diese ganzen Begriffe, ne. Frauen find ich trotzdem – attraktiv, aber. Keine Ahnung, mir geht es wahrscheinlich eigentlich um dich, Seto. Nicht um dein Geschlecht.« Er biss wieder in den Döner. Die Backen vollgestopft. Seto verzog sein Gesicht. »Was?«, hakte Joey nach, was Seto die Augen verdrehen ließ. »Willst du auch n paar Pommes?« Mit einem Seufzen stahl er sich eine Fritte. Wenn das keine Ehre war, etwas von Joeys Teller abzubekommen. Gleichzeitig überrollte Seto die Frage, ob es tatsächlich einen Unterschied machte. War er vielleicht gar nicht homosexuell? War er nur wheeler-fixiert? Gab es das? Mit einem Schulterzucken ließ er die gedankliche Frage für den Moment unbeantwortet und nahm sich noch eine Pommes. Unbeantwortete Fragen waren Seto ein Dorn im Auge. Ebenso wie ungeplante Zwischenfälle, Verspätungen von Testergebnissen, schwache Computerleistungen und technische Störungen. Setos Leben war eine Aneinanderreihung vorhersehbarer Ereignisse, die er in drei Kategorien unterteilte. Einmal die alltägliche Büroarbeit. Das schloss kleinere Projekte mit ein. Dann größere Verträge, die besonders in den Medien gehypet wurden – was ihm und besonders seiner PR-Abteilung natürlich recht war. Dann gab es die Zusammenarbeiten, die er platzen ließ, weil sie sich nicht mehr rentierten (oder weil ihn der andere schlicht mit seiner Inkompetenz nervte). Diese Vorkommnisse wurden oft genug ebenso durch die Medien getragen, allerdings ausgeschlachtet, bis es in Vermutungen und waghalsige Behauptungen abdriftete. Das brachte dann seiner Rechtsabteilung einiges an Arbeit. Alles in allem war sein Leben eine abgestimmte, strukturierte Abfolge. Etwas, das ihn beruhigt schlafen ließ. Beunruhigend war es, wenn Mokuba in seinem Büro auftauchte. Mokuba war eine der personifizierten Störungen seines durchorganisierten Lebens. Umso beunruhigender war es, wenn nicht Mokuba in seinem, sondern Seto in Mokubas Büro auftauchte. Es war das erste Mal, dass das Büro seines kleinen Bruders Zeuge dessen wurde. »Er ist nicht nur Fotograf. Er hat Kommunikationsdesign studiert«, führte er gerade ins Feld, während Mokuba beobachtete, wie er ziellos in dem Büro hin und her schritt. »Ich weiß«, erwiderte sein kleiner Bruder ruhig. »Er ist ein guter Fotograf. Joey ist – ich hätte nie gedacht, diese Worte einmal in Kombination zu sprechen – brillanter Fotograf. Und seine Kreativität ist innovativ. Außergewöhnlich.« »Ich weiß, Seto.« »Seine Werbung ist –« »Vor wem rechtfertigst du dich hier eigentlich«, unterbrach ihn sein kleiner Bruder und unterdrückte ein Grinsen, weil das Seto nur rasend gemacht hätte, »vor mir oder eher vor dir selbst?« »Ich rechtfertige mich hier vor niemandem.« »Ja, und das tust du schon seit«, Mokuba schaute demonstrativ zu der Uhr, »seit gut einer halben Stunde.« Ehe er plötzlich die Stirn kraus zog und ihn mit einem Blick bedachte, den Seto nicht einordnen konnte. »Seit wann nennst du ihn eigentlich Joey?« »Seitdem wir uns geküsst haben. Gut, ich muss jetzt ohnehin los. Wir sehen uns spätestens zu Weihnachten«, entgegnete Seto abgeklärt, aber ohne Atempausen und wandte sich zum Gehen. »Ja, spätestens. Bis dann –«, erwiderte Mokuba leichthin und sah noch, wie die Tür zuschlug. Im nächsten Moment vernahm Seto Mokubas Ausruf. »Moment! Geküsst?!« Doch er ließ ihm keine Chance und verschwand durch die Aufzugstür. Als Seto den Umschlag vier Wochen vor Weihnachten, pünktlich vor dem ersten Adventswochenende, in die Hand nahm, hielt er inne und verdrehte die Augen. Rentiere standen neben einem Weihnachtsbaum auf dem silbernen Briefpapier. Für seinen Geschmack zu viel. Zu viel von allem. In dem Umschlag steckten zwei Papiere. Ein Brief von Mokuba und ein Bild mit Wachsmalstifte gezeichnet. (Letzteres nicht von seinem kleinen Bruder – der ja gar nicht mehr klein war.) Er hatte etliche Gespräche über den Kuss mit seinem Bruder abgeblockt, nur um jetzt einen ganzen Brief lang darüber lesen zu müssen, was Mokuba ihm persönlich bisher nicht hatte sagen dürfen. »Was isn das?«, fragte Joey und schaute zu ihm auf, als Seto ins Wohnzimmer kam und den Brief las. »Das schlimmste von allen«, behauptete Seto ernst. »Das Schlimmste?« »Das schlimmste Fest von allen«, spezifizierte Seto. »Oh, Mokubas Einladung!« Joeys Augen begannen zu leuchten. Mit missmutig verzogenem Gesicht setzte Seto ein Antwortschreiben auf. »Ich kann nur hoffen, dass dieses Weihnachtsfest mein Leben nicht noch weiter über den Haufen wirft«, murmelte er dabei. »Hast du was gesagt?« »Nein, nein«, behauptete er und winkte ab, als Karin auf ihn zu kam und ihm eine Duelmonster-Karte entgegen hielt. »Joey, sie schenkt mir wieder Teile deines Decks«, rief er dem Hündchen zu, der an dem Couchtisch sein Deck sortierte und daraufhin seufzte. »Karin! Nein, nicht die Karten wegnehmen!«, rügte er sie, doch das kleine Mädchen strahlte weiterhin unbeirrt Seto an, der ihr die Karte aus den Händchen nahm. »Du weißt halt, wer mehr Ahnung davon hat«, flüsterte er ihr anerkennend zu. Gut vier Wochen später schritt er mit hochgestelltem Kragen und Mantel zu der Tür, hinter der er das Grauen vermutete. Schneeflocken tanzten vom Himmel herab. Er verabscheute Schnee, dieses Wetter, doch vor allem den Anlass, hierher zu gehen. Weihnachten. Noch mehr würgte ihn nur die Abscheu, anderen Leuten außer ganz bestimmten hier begegnen zu müssen. Er machte das nur für diese speziellen Menschen, das wussten sie und er selbst und hoffentlich auch alle anderen, die anwesend sein würden. Seto kam sich ein wenig beschränkt vor, wie er da im Eingang stand und zögerte zu klingeln. Schon länger war er nicht hier gewesen. Ein paar Wochen auf jeden Fall. Er überlegte, ob es bereits einen Monat überschritten haben mochte. Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen, genau jenes, das ihn immer bezüglich der Arbeit und seinem kleinen Bruder beschlichen hatte. Niemals hatte er beidem gerecht werden können, nicht zur selben Zeit. Wahrscheinlich war auch dieses Gefühl ein Motor seiner Anwesenheit heute. Der Versuch, etwas gut zu machen, was er sonst verpasste und aufschob, wofür er sich entschuldigen ließ und über der Arbeit verdrängte. Er war ein miserabler Bruder – die meiste Zeit. Aber heute sollte nicht dazu gehören. Er ließ seinen Blick schweifen. Mokubas Haus war nicht so anmaßend wie die alte Villa, in der er ihn großgezogen hatte. Die Villa, in der er selbst noch immer hauste und die sich leer und furchtbar still anhörte, wenn er alleine dort war. Wenn Joey dort war, verschwand die Stille und die Leere und es herrschte Lärm und Chaos. Plötzlich stolperte Seto über Schuhe in der Küche und setzte sich auf Socken auf dem Sofa (Dinge, weswegen er einige Male implodiert und dann explodiert war – nicht, dass das Joey gestört hätte). Eine Angewohnheit von Joey, über die Seto nur die Augenbrauen heben konnte, war das Singen. Er sang nicht schön, dafür voller Überzeugung. Manchmal nahm es Joey nicht einmal selbst wahr, wenn er singend durch die Villa streifte (im Sommer natürlich ohne Schuhe und Socken, im Winter mit Setos Hausschuhen) und wirkte erstaunt, wenn Seto ihm anordnete, die Klappe zu halten (»Ich hab doch nix gesagt!« »Aber gesungen!« »Was? Echt?«). Joey in seiner Villa hatte denselben Effekt wie Weihnachten hier im Haus (natürlich ohne die Schuh-und-Socken-Problematik). Unüberhörbar fand hinter der Wand eine Party statt. Weihnachtsmusik wehte durch die Tür. Lachen drang an seine Ohren. Er sog diesen Moment davor ein. Erinnerte sich an letzte Weihnachten und musste feststellen, dass er vielleicht falsch gelegen hatte. Arbeit war verlässlich, er konnte sich in ihr vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihm und diesen Zahlen vor sich. Er brauchte Arbeit, die gab ihm einen Weg im Leben und das würde sich nicht ändern. Aber die Richtung, die gaben andere Aspekte in seinem Leben vor. Er war zufrieden mit seinem Leben – nicht so wie es all die vergangenen Jahre verlaufen war, sondern genau so, wie es momentan lief, so wie es, hoffentlich, auch in Zukunft verlaufen würde. Weihnachten. Das hier war nicht seine Welt, war es noch nie gewesen, würde es niemals sein. Aber er würde sich den Abend über angenommen fühlen und okay zwischen all den Leuten und ihrem meist einfältigen Geschwätz. Die Langeweile, die ihn dabei befallen würde, wäre zumeist erträglich. Vier Aspekte, ließen seine Mundwinkel wirklich von ganz unten weit hinauf wandern. Er gab sich einen Ruck und drückte die Klingel. Zuerst glaubte er, dass das Geräusch durch den ganzen geschmacklosen Krach überhört wurde, doch dann zog jemand die Tür auf. »Mensch, Geldsack! Du bist eine Viertelstunde zu spät! Das Essen ist schon fertig! Und ich hab Hunger! Und wegen dir musste ich war-« Joeys Augen verengten sich, als er Setos Mundwinkel zucken sah, jemand anderes wäre es vielleicht gar nicht aufgefallen. »Was ist so lustig?«, fragte Joey argwöhnisch. Vier Aspekte, die seine Mundwinkel hinauf wandern ließen. Der erste stand hier gerade vor ihm, der zweite und dritte stürmte ihm mit einer Duelmonsters-Karte beziehungsweise einem Bild entgegen und der vierte strahlte ihn vom Wohnzimmer her aus dunkelblauen Augen an. Seto verstand den ganzen Aufriss, den Joey um Weihnachten und besonders die Bescherung machte, immer noch nicht. Er schätzte auch weiterhin seine finanzielle Unabhängigkeit und leistete sich Zeug, das er haben wollte, selbst – und wartete nicht darauf, dass es ihm jemand auf Gutdünken ein Mal im Jahr schenkte. Was er aber vor sich selbst (und nur vor sich selbst) zugab, war das berauschende Gefühl, wenn Joey das Geschenk öffnete, das Seto für ihn ausgesucht hatte, und er es damit schaffte, ihm ein Lächeln auf die Lippen zu zeichnen. Der Blick, den er ihm dann zuwarf, durch das Lächeln strahlend, das Funkeln und das leichte Kräuseln seiner Augenwinkel. Er hatte das Gefühl, verstanden zu haben, was Joey gemeint hatte, als er damals gesagt hatte, dass es eigentlich gar nicht um die Geschenke ging. »Das ist es«, hauchte Joey dieses Jahr. »Dawn of the Dragon Vier!« Da war es das Lächeln und der Blick. »Mit Erweiterung. Multiplayer-Funktion, in der man zusammen gegen die Drachen kämpfen kann und –«, zählte Seto nüchtern auf, »die Funktion, dass man als Drachen gemeinsam gegen die Menschen spielen kann. Und jetzt: Mach es auf.« Joey runzelte die Stirn. »Was? Wieso? Wir können jetzt keine Runde spielen, Seto. Außerdem zählt Mokuba das dann sicherlich nicht zu deinen vier Stunden Aufenthaltsminimum.« Der Schalk tanzte ganz deutlich durch Joeys Augen, was Seto die seinigen verdrehen ließ (Mokuba sollte sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, er hatte durchaus mitbekommen, dass die Anwesenheitszeit angezogen worden war). Resigniert nahm er ihm die Spielhülle aus der Hand, öffnete sie selbst und drückte sie ihm wieder in die Finger. Joeys Blick fiel auf eine Fotografie, die dort lag, wo sonst die Anleitung und Werbung für andere Spiele eingeklemmt war. Das Bild zeigte sie beide, wie sie nebeneinander auf dem Sofa saßen. Vor ihnen lungerten Karin und Lin und waren dabei zu malen. Es war das Foto von letzer Weihnacht. Es war eigentlich wie dieses Jahr – nur anders. »Soll das etwa ein sentimentales Geschenk sein, Seto?« »Wie bitte?« »Sen-ti-men-tal, das ist, wenn man allzu gefühlsbetont und rührselig wird. Passiert oft an Weihnachten«, zog ihn Joey auf. »Ich bitte dich, Wheeler. Ich bin niemals sentimental. Auch nicht an Weihnachten«, entgegnete Seto ernst, was Joey grinsen ließ. „Schon klar, Geldsack.“ „Flohschleuder.“ „Eisschrank.“ Seto murmelte etwas, das Joey akustisch nicht verstand. „Was?“, fragte der verwirrt nach. Mit einem schiefen Grinsen lehnte sich Seto also zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Thea!«, rief Joey und räusperte sich dann. »Thea, könntest du an einem Abend auf Karin aufpassen? Kaiba will mich was Geniales mit ihm machen lassen!« Als nächstes hörte man nur Tristans Stimme, als er brummte: »Joey, sag das anders! Sonst hört sich das immer so zweideutig an, verdammt!« »Es geht nur um Schokokuchen, Mann.« Tristan resignierte mit einem Schnauben. »Du kannst es nicht lassen, oder?«, fragte Seto trocken und das Hündchen zuckte nur mit seinen Schulter, das schelmische Grinsen auf den Lippen sprach allerdings Bände. Seto hatte sich immer noch nicht die Frage beantwortet, was sie eigentlich waren. Er definierte es nicht. Sie beide hatten bisher nie ein Wort darüber verloren. Vielleicht war es besser so, denn er befürchtete, dass Worte das Etwas, das sie hatten, auseinander reißen könnten. »Einen Abend lang Dawn of the Dragon mit dir zocken und der Schokokuchen deiner Haushälterin. Ich glaube, es gibt kein besseres Geschenk auf der ganzen Welt«, behauptete Joey ernst und lehnte sich entspannt zurück. Wenn Seto ehrlich zu sich war, dann gab es wirklich Schlimmeres als Weihnachten. »Übrigens«, wandte er sich an Joey mit ernstem Blick, der wiederum beobachtete Lin und Karin und ließ seinen Blick weiter über die Anwesenden schweifen, die Plätzchen naschten, erzählten und lachten, »wir werden zukünftig donnerstags keinen Döner mehr essen gehen.« Jetzt traf ihn Joeys Blick doch. Im Hintergrund düdelte die Weihnachtsmusik. »Oh, okay.« Die Enttäuschung in Joeys Stimme versuchte er vergeblich zu überspielen mit einem Lächeln, das nicht so recht klappen wollte. »In der KC gibt es einen wirklich erstklassigen Essenservice und –« »Ihr habt einen Essenservice?« »Natürlich. Für alle Mitarbeiter und –« »Und warum gehen wir dann ständig donnerstags Döner essen?« »Du warst kein Mitarbeiter. Außerdem meintest du doch, von einer Million Dollar könnte ich mir zweihundertfünfzigtausend Döner kaufen.« »Muss ich die deswegen auch alle essen? Oder weißt du, wie oft du dafür in ein richtig gutes Restaurant gehen kannst?« »Mit dir?«, hakte Seto gespielt überrascht nach. »Natürlich.« »Zwei Mal? Wenn ich mir nur Wasser bestelle, vielleicht drei Mal.« Joeys Lachen ließ ihn automatisch selbst lächeln – nicht so, dass es jemand bemerkt hätte außer Mokuba wahrscheinlich und eben Joey. Aber dann doch so, dass seine blauen Augen funkelten – zumindest behauptete das das Hündchen (er selbt bezweifelte es ja). Seto betrachtete ihn, die Lachfältchen um die Augen und die Sommersprossen auf der Nase, denen er nur gewahr wurde, wenn er ganz nah bei ihm war. Seine Augen, die ihm etwas mitteilten, woran ihre Worte scheiterten (wahrscheinlich auch, weil Joey ein miserabler Redner war und er selbst in solchen Belangen wortkarg). Und wenn Seto auch sonst kompromisslos seine Meinung (die sich gegenüber Weihnachten niemals grundlegend ändern würde) durchzusetzen wusste – es gab diese Tage, da konnte er Mokuba und Joey sogar ein Fest mit sozialen Kontakten – mit Freunden – nicht abschlagen. Früher hatte er angenommen, dass diese Weihnachtssache sich irgendwann von selbst auflösen würde. Das tat sie nicht. Wenn Seto dabei ganz ehrlich war, dann bereute er das nicht. Nicht einmal an Weihnachten selbst. »Joey«, murrte Seto und rieb sich genervt mit Daumen und Zeigefinger über die inneren Augenwinkel. »– kommt das Christuskind, mhmhhmm – « »Joey!« Trotzdem hatte auch Seto Kaiba eine weihnachtliche Belastungsgrenze (insbesondere mit Joey Wheeler an der Seite). »– wo wir Menschen sind. Steht auch –« »Joey, du singst schon wieder!« »Was? Oh, sorry.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)