Weihnachtsfoto von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 4: Alle Jahre wieder ---------------------------- Wenn Seto ehrlich war, dann bereute er es nicht. Trotzdem überrollte ihn üble Laune, wenn er an die Nacht dachte vor sieben Tagen (erkannte er mit einem Blick auf den Kalender). Seit dem hatte sich Wheeler, nur ein Mal gemeldet. Um ihm mitzuteilen, dass er den Regenschirm bei ihm vergessen hatte. Seinen. Verdammten. Regenschirm. Seto war noch nie eine Person gewesen, die groß etwas für soziale Kontakte übrig hatte (und Regenschirme waren ihm ziemlich egal. Er war reich verdammt. Er konnte sich hunderttausend Regenschirme leisten). Aber es irritierte ihn, dass Wheeler den Kuss einfach hinzunehmen schien. Es zu ignorieren, war seine eigene Taktik. Aber er konnte es nicht ignorieren, wenn der andere es bereits ignorierte. Denn dann bemerkte der andere nicht, dass er es ignorierte. Sicherlich war der Kuss nicht bedeutungsvoll (er war nicht einmal verärgert deswegen). Immerhin waren sie nur – was waren sie eigentlich? Wenn er ehrlich zu sich war, dann war es nicht einmal die Sache mit dem Kuss, die ihn gedanklich so vereinnahmte, sondern das Gespräch zuvor. Niemals hatte er mit jemandem darüber gesprochen. Nicht. Einmal. Mit. Mokuba. Tagelang hatte sein genialer Verstand Zeit, um ein Gespräch mit Wheeler vorzubereiten, um gewisse Fakten abzuklären, um diese dann – wie es sich für ihn gehörte – endlich ignorieren zu können und das Leben weiter zu leben, das er so effizient durchorganisiert hatte. Nicht, dass es etwas genutzt hätte. Wheeler – das musste er schließlich zugeben – war die personifizierte Störung seiner Planungen. Nicht einmal Mokuba schaffte es, ihn dermaßen aus dem Konzept zu bringen. Am Donnerstag saß er wie auf glühenden Kohlen, was seine Mitarbeiter durch seine spöttischen Bemerkungen und den harschen Ton überdeutlich mitbekamen. (So unprofessionell hatte er sich nicht mehr verhalten, seitdem er gegen Yugi verloren hatte.) Eineinhalb Stunden nach der gewohnten Zeit, in der Wheeler bei ihm im Büro auftauchte, um gemeinsam zum Dönerladen zu trödeln, schnappte er sich das Telefon und hackte eine gewisse Nummer in die Tastatur. »Wheeler!«, schnauzte er ihn an ohne eine Begrüßung. »Wo. Bist. Du?« Wheeler schien durch seine Worte eingeschüchtert oder vielleicht konnte er ihnen auch einfach nicht folgen, denn es folgte eine Stille, die Seto nur ungern abwartete. »Es ist Donnerstag!«, rief er ihm also unwirsch ins Gedächtnis. »Oh, sorry. Waren wir verabredet? Dann hab ich es vergessen, tut mir leid«, plapperte Wheeler, als wäre er sich keiner Schuld bewusst. Wut streifte durch Setos Bauch, obwohl sie gar keine Verabredung hatten. Nicht offiziell. Aber. »Hier ist nur so viel los. Das Projekt und –«, erklärte Wheeler. »Was für ein Projekt?« »Duke will mich engagieren, um für ihn –« »Duke Devlin? Du willst für meine Konkurrenz arbeiten?« »Ich –« »Ausgerechnet Devlin«, warf er ihm an den Kopf. »Müsste ich ja nicht, wenn du mir einen Job geben würdest«, witzelte Wheeler. Vielleicht seine Strategie, um mit Setos Laune umzugehen. Vielleicht ein Hinweis. Aber am wahrscheinlichsten war, dass es einfach eine unbedachte Bemerkung gewesen war. Immerhin sprach da Joey Wheeler. »Wann kannst du hier sein?« Setos Wut verrauchte, zurück blieb nur stoische Ruhe, als er sich in seinem Bürosessel zurücklehnte und die gegenüberliegende Wand niederstarrte. »Hä?«, entgegnete Wheeler verwirrt. »Du musst immerhin den Vertrag unterschreiben«, stellte Seto klar und hörte nur noch einen dumpfen Aufprall. »Was? Wo? Wegen?« »Hast du gerade das Telefon fallen lassen?« »Welchen Vertrag?«, beharrte Wheeler. »Die Werbung für das Weihnachtsgeschäft. Du bist engagiert.« »Was? Du weißt gar nicht, was ich beruflich drauf habe –« »Natürlich weiß ich das. Ich würde doch nicht einfach irgendwen unter Vertrag nehmen. Also Wheeler, wann bist du hier?« Nachdem Wheeler ihm eine Uhrzeit zugesagt hatte, drückte er die Durchwahl zu seiner Sekretärin. »Frau Yagami, bringen Sie bitte alles über Joey Wheelers beruflichen Werdegang in Erfahrung.« Er musste ja niemandem mitteilen, dass dieses eine Mal Wheeler Recht gehabt hatte. Und er selbst würde es schlicht ignorieren. Gut drei Stunden später, kündigte seine Sekretärin Besagten an. Seto setzte sich instinktiv aufrecht hin und ließ seinen Blick zu der Tür schweifen, nur um ihn dann wieder auf den Bildschirm zu lenken. Wheeler sollte nicht denken, er hätte auf ihn gewartet. Mit gerunzelter Stirn drückte der die Tür auf und blieb mit verschränkten Armen vor ihm stehen. »Wird das hier jetzt ein Vorstellungsgespräch? Oder reicht es, wenn ich auf Vitamin-B hoffe?«, provozierte Wheeler. »Du kannst meinen Regenschirm behalten«, antwortete Seto, als stünde das zur Debatte und Wheelers Augenbrauen hüpften Richtung Stirn, als er ihn entgeistert anschaute. »Okay«, erwiderte er gedehnt. »Sonst noch –« »Nein. Du kannst gehen. Melde dich bei meiner Sekretärin, sie sendet dir alles zu.« Es zu ignorieren hatte sich doch bewährt – also meistens, oft, manchmal. Vielleicht dieses Mal. »Sicher nicht.« Wheeler wagte es unter Setos mörderischem Blick einfach bis zum Schreibtisch zu schreiten und sich halb darauf zu setzen. Seto erhob seinen Blick betont desinteressiert, doch er konnte seine üble Laune kaum verbergen, als er mit seinen Fingern auf die Schreibfläche tippte. »Wäre ich noch sechzehn, würde ich dir jetzt eine reinhauen«, behauptete Wheeler und reckte sein Kinn, wie es schon immer seine Angewohnheit war, wenn er Seto die Stirn bot. »Und was machst du jetzt, wo du so erwachsen bist?« Einen Moment zog Seto in Betracht, dass Wheeler ihm eine reinhauen würde, obwohl er keine sechzehn mehr war. Vor seinem inneren Auge sah er noch, wie Wheelers Freunde ihn ein paar Mal hatten zurückhalten müssen, damit der nicht seine verbale Unterlegenheit durch physische Überlegenheit ersetzte. Tatsächlich hatte Wheeler es jedoch nie geschafft, ihm nahe genug zu kommen, um ihm körperlich bedrohlich zu werden. Das war heute anders. »Dich fragen, ob du mit mir Essen gehst.« Vieles war heute anders. »Ich habe keinen Hunger.« »Na, und?« »Na, und?«, echote Seto düster, »warum sollte ich –« Sehr vieles. Weder romantisch noch besonders geduldig, es wirkte eher ziemlich unelegant, wie sich Joey so über den Schreibtisch beugte, halb darauf saß und sich geradezu verrenken musste, um Setos Lippen zu treffen. Aber es verdeutlichte auf eindrucksvolle Art und Weise, warum. Es passte zu ihnen. Der eine war nicht romantisch, der andere nicht besonders geduldig. Zum ersten Mal war sein Büro Zeuge dessen, dass Seto Kaiba geküsst wurde. Er rückte seine Krawatte zurecht, als er ein Dokument, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, Joey entgegen schob. »Du musst hier unterschreiben.« Und deutete auf die entsprechende Stelle. Joey schnappte sich den angebotenen Kugelschreiber und setzte seinen Namen unter den Druck. »Normalerweise liest man sich einen Vertrag vorher durch, Wheeler.« »Normalerweise besteht ein Vorstellungsgespräch auch nicht aus einem Kuss, Kaiba.« Das Argument war nicht von der Hand zu weisen. »So – kommst du jetzt?«, fragte Joey, aber er war schon Richtung Tür unterwegs, sich darauf verlassend, dass Seto folgte. Als sie sich im Dönerladen gegenüber saßen, verbalisierte Seto einen Gedanken, den er bisher nicht gewagt hatte auszusprechen. Aber jetzt, wo er Joey so betrachtete – was angesichts des halben Döners vor und in seinem Mund kein besonders ästhetischer Anblick war – musste er doch eine Sache klar stellen. Er selbst hatte sich bisher kaum Gedanken über sexuelle Orientierungen gemacht – es war ihm schlich unwichtig erschienen. Ob ein Mann und eine Frau oder eine Frau und eine Frau oder ein Mann und ein Mann – das waren Angelegenheiten, die so privat waren, dass es ihn nie tangiert hatte. Er war – so gesehen – sogar sehr für die Gleichheit der sexuellen Ausprägungen: alle waren ihm gleich egal. Soziale Kontakte bestanden für ihn aus Geschäftspartnern und Agenturen und – weil Mokuba ihm keine andere Wahl ließ – manchmal aus privat bekannteren Kreisen. Aber niemals hatten ihn Gerüchte interessiert, die etwas mit deren Intimsphäre zu tun gehabt hatten – egal, ob er selbst noch in der Schule gewesen war oder zu einem späteren Zeitpunkt. Sexualität kam nicht einmal in seinen Top Ten vor. »Ich wusste nicht, dass du«, er wusste kurz nicht, wie er es ausdrücken wollte, »ich meine, du hattest eine Frau.« »Dass ich schwul bin?«, hakte Joey nach. Natürlich nannte Joey es beim Namen, natürlich. Er war noch nie der Typ für Euphemismen oder Paraphrasen gewesen. »Nö«, er schüttelte nachdenklich den Kopf, »bin ich nicht. Bin ich es? Bisexuell vielleicht. Mann, immer diese ganzen Begriffe, ne. Frauen find ich trotzdem – attraktiv, aber. Keine Ahnung, mir geht es wahrscheinlich eigentlich um dich, Seto. Nicht um dein Geschlecht.« Er biss wieder in den Döner. Die Backen vollgestopft. Seto verzog sein Gesicht. »Was?«, hakte Joey nach, was Seto die Augen verdrehen ließ. »Willst du auch n paar Pommes?« Mit einem Seufzen stahl er sich eine Fritte. Wenn das keine Ehre war, etwas von Joeys Teller abzubekommen. Gleichzeitig überrollte Seto die Frage, ob es tatsächlich einen Unterschied machte. War er vielleicht gar nicht homosexuell? War er nur wheeler-fixiert? Gab es das? Mit einem Schulterzucken ließ er die gedankliche Frage für den Moment unbeantwortet und nahm sich noch eine Pommes. Unbeantwortete Fragen waren Seto ein Dorn im Auge. Ebenso wie ungeplante Zwischenfälle, Verspätungen von Testergebnissen, schwache Computerleistungen und technische Störungen. Setos Leben war eine Aneinanderreihung vorhersehbarer Ereignisse, die er in drei Kategorien unterteilte. Einmal die alltägliche Büroarbeit. Das schloss kleinere Projekte mit ein. Dann größere Verträge, die besonders in den Medien gehypet wurden – was ihm und besonders seiner PR-Abteilung natürlich recht war. Dann gab es die Zusammenarbeiten, die er platzen ließ, weil sie sich nicht mehr rentierten (oder weil ihn der andere schlicht mit seiner Inkompetenz nervte). Diese Vorkommnisse wurden oft genug ebenso durch die Medien getragen, allerdings ausgeschlachtet, bis es in Vermutungen und waghalsige Behauptungen abdriftete. Das brachte dann seiner Rechtsabteilung einiges an Arbeit. Alles in allem war sein Leben eine abgestimmte, strukturierte Abfolge. Etwas, das ihn beruhigt schlafen ließ. Beunruhigend war es, wenn Mokuba in seinem Büro auftauchte. Mokuba war eine der personifizierten Störungen seines durchorganisierten Lebens. Umso beunruhigender war es, wenn nicht Mokuba in seinem, sondern Seto in Mokubas Büro auftauchte. Es war das erste Mal, dass das Büro seines kleinen Bruders Zeuge dessen wurde. »Er ist nicht nur Fotograf. Er hat Kommunikationsdesign studiert«, führte er gerade ins Feld, während Mokuba beobachtete, wie er ziellos in dem Büro hin und her schritt. »Ich weiß«, erwiderte sein kleiner Bruder ruhig. »Er ist ein guter Fotograf. Joey ist – ich hätte nie gedacht, diese Worte einmal in Kombination zu sprechen – brillanter Fotograf. Und seine Kreativität ist innovativ. Außergewöhnlich.« »Ich weiß, Seto.« »Seine Werbung ist –« »Vor wem rechtfertigst du dich hier eigentlich«, unterbrach ihn sein kleiner Bruder und unterdrückte ein Grinsen, weil das Seto nur rasend gemacht hätte, »vor mir oder eher vor dir selbst?« »Ich rechtfertige mich hier vor niemandem.« »Ja, und das tust du schon seit«, Mokuba schaute demonstrativ zu der Uhr, »seit gut einer halben Stunde.« Ehe er plötzlich die Stirn kraus zog und ihn mit einem Blick bedachte, den Seto nicht einordnen konnte. »Seit wann nennst du ihn eigentlich Joey?« »Seitdem wir uns geküsst haben. Gut, ich muss jetzt ohnehin los. Wir sehen uns spätestens zu Weihnachten«, entgegnete Seto abgeklärt, aber ohne Atempausen und wandte sich zum Gehen. »Ja, spätestens. Bis dann –«, erwiderte Mokuba leichthin und sah noch, wie die Tür zuschlug. Im nächsten Moment vernahm Seto Mokubas Ausruf. »Moment! Geküsst?!« Doch er ließ ihm keine Chance und verschwand durch die Aufzugstür. Als Seto den Umschlag vier Wochen vor Weihnachten, pünktlich vor dem ersten Adventswochenende, in die Hand nahm, hielt er inne und verdrehte die Augen. Rentiere standen neben einem Weihnachtsbaum auf dem silbernen Briefpapier. Für seinen Geschmack zu viel. Zu viel von allem. In dem Umschlag steckten zwei Papiere. Ein Brief von Mokuba und ein Bild mit Wachsmalstifte gezeichnet. (Letzteres nicht von seinem kleinen Bruder – der ja gar nicht mehr klein war.) Er hatte etliche Gespräche über den Kuss mit seinem Bruder abgeblockt, nur um jetzt einen ganzen Brief lang darüber lesen zu müssen, was Mokuba ihm persönlich bisher nicht hatte sagen dürfen. »Was isn das?«, fragte Joey und schaute zu ihm auf, als Seto ins Wohnzimmer kam und den Brief las. »Das schlimmste von allen«, behauptete Seto ernst. »Das Schlimmste?« »Das schlimmste Fest von allen«, spezifizierte Seto. »Oh, Mokubas Einladung!« Joeys Augen begannen zu leuchten. Mit missmutig verzogenem Gesicht setzte Seto ein Antwortschreiben auf. »Ich kann nur hoffen, dass dieses Weihnachtsfest mein Leben nicht noch weiter über den Haufen wirft«, murmelte er dabei. »Hast du was gesagt?« »Nein, nein«, behauptete er und winkte ab, als Karin auf ihn zu kam und ihm eine Duelmonster-Karte entgegen hielt. »Joey, sie schenkt mir wieder Teile deines Decks«, rief er dem Hündchen zu, der an dem Couchtisch sein Deck sortierte und daraufhin seufzte. »Karin! Nein, nicht die Karten wegnehmen!«, rügte er sie, doch das kleine Mädchen strahlte weiterhin unbeirrt Seto an, der ihr die Karte aus den Händchen nahm. »Du weißt halt, wer mehr Ahnung davon hat«, flüsterte er ihr anerkennend zu. Gut vier Wochen später schritt er mit hochgestelltem Kragen und Mantel zu der Tür, hinter der er das Grauen vermutete. Schneeflocken tanzten vom Himmel herab. Er verabscheute Schnee, dieses Wetter, doch vor allem den Anlass, hierher zu gehen. Weihnachten. Noch mehr würgte ihn nur die Abscheu, anderen Leuten außer ganz bestimmten hier begegnen zu müssen. Er machte das nur für diese speziellen Menschen, das wussten sie und er selbst und hoffentlich auch alle anderen, die anwesend sein würden. Seto kam sich ein wenig beschränkt vor, wie er da im Eingang stand und zögerte zu klingeln. Schon länger war er nicht hier gewesen. Ein paar Wochen auf jeden Fall. Er überlegte, ob es bereits einen Monat überschritten haben mochte. Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen, genau jenes, das ihn immer bezüglich der Arbeit und seinem kleinen Bruder beschlichen hatte. Niemals hatte er beidem gerecht werden können, nicht zur selben Zeit. Wahrscheinlich war auch dieses Gefühl ein Motor seiner Anwesenheit heute. Der Versuch, etwas gut zu machen, was er sonst verpasste und aufschob, wofür er sich entschuldigen ließ und über der Arbeit verdrängte. Er war ein miserabler Bruder – die meiste Zeit. Aber heute sollte nicht dazu gehören. Er ließ seinen Blick schweifen. Mokubas Haus war nicht so anmaßend wie die alte Villa, in der er ihn großgezogen hatte. Die Villa, in der er selbst noch immer hauste und die sich leer und furchtbar still anhörte, wenn er alleine dort war. Wenn Joey dort war, verschwand die Stille und die Leere und es herrschte Lärm und Chaos. Plötzlich stolperte Seto über Schuhe in der Küche und setzte sich auf Socken auf dem Sofa (Dinge, weswegen er einige Male implodiert und dann explodiert war – nicht, dass das Joey gestört hätte). Eine Angewohnheit von Joey, über die Seto nur die Augenbrauen heben konnte, war das Singen. Er sang nicht schön, dafür voller Überzeugung. Manchmal nahm es Joey nicht einmal selbst wahr, wenn er singend durch die Villa streifte (im Sommer natürlich ohne Schuhe und Socken, im Winter mit Setos Hausschuhen) und wirkte erstaunt, wenn Seto ihm anordnete, die Klappe zu halten (»Ich hab doch nix gesagt!« »Aber gesungen!« »Was? Echt?«). Joey in seiner Villa hatte denselben Effekt wie Weihnachten hier im Haus (natürlich ohne die Schuh-und-Socken-Problematik). Unüberhörbar fand hinter der Wand eine Party statt. Weihnachtsmusik wehte durch die Tür. Lachen drang an seine Ohren. Er sog diesen Moment davor ein. Erinnerte sich an letzte Weihnachten und musste feststellen, dass er vielleicht falsch gelegen hatte. Arbeit war verlässlich, er konnte sich in ihr vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihm und diesen Zahlen vor sich. Er brauchte Arbeit, die gab ihm einen Weg im Leben und das würde sich nicht ändern. Aber die Richtung, die gaben andere Aspekte in seinem Leben vor. Er war zufrieden mit seinem Leben – nicht so wie es all die vergangenen Jahre verlaufen war, sondern genau so, wie es momentan lief, so wie es, hoffentlich, auch in Zukunft verlaufen würde. Weihnachten. Das hier war nicht seine Welt, war es noch nie gewesen, würde es niemals sein. Aber er würde sich den Abend über angenommen fühlen und okay zwischen all den Leuten und ihrem meist einfältigen Geschwätz. Die Langeweile, die ihn dabei befallen würde, wäre zumeist erträglich. Vier Aspekte, ließen seine Mundwinkel wirklich von ganz unten weit hinauf wandern. Er gab sich einen Ruck und drückte die Klingel. Zuerst glaubte er, dass das Geräusch durch den ganzen geschmacklosen Krach überhört wurde, doch dann zog jemand die Tür auf. »Mensch, Geldsack! Du bist eine Viertelstunde zu spät! Das Essen ist schon fertig! Und ich hab Hunger! Und wegen dir musste ich war-« Joeys Augen verengten sich, als er Setos Mundwinkel zucken sah, jemand anderes wäre es vielleicht gar nicht aufgefallen. »Was ist so lustig?«, fragte Joey argwöhnisch. Vier Aspekte, die seine Mundwinkel hinauf wandern ließen. Der erste stand hier gerade vor ihm, der zweite und dritte stürmte ihm mit einer Duelmonsters-Karte beziehungsweise einem Bild entgegen und der vierte strahlte ihn vom Wohnzimmer her aus dunkelblauen Augen an. Seto verstand den ganzen Aufriss, den Joey um Weihnachten und besonders die Bescherung machte, immer noch nicht. Er schätzte auch weiterhin seine finanzielle Unabhängigkeit und leistete sich Zeug, das er haben wollte, selbst – und wartete nicht darauf, dass es ihm jemand auf Gutdünken ein Mal im Jahr schenkte. Was er aber vor sich selbst (und nur vor sich selbst) zugab, war das berauschende Gefühl, wenn Joey das Geschenk öffnete, das Seto für ihn ausgesucht hatte, und er es damit schaffte, ihm ein Lächeln auf die Lippen zu zeichnen. Der Blick, den er ihm dann zuwarf, durch das Lächeln strahlend, das Funkeln und das leichte Kräuseln seiner Augenwinkel. Er hatte das Gefühl, verstanden zu haben, was Joey gemeint hatte, als er damals gesagt hatte, dass es eigentlich gar nicht um die Geschenke ging. »Das ist es«, hauchte Joey dieses Jahr. »Dawn of the Dragon Vier!« Da war es das Lächeln und der Blick. »Mit Erweiterung. Multiplayer-Funktion, in der man zusammen gegen die Drachen kämpfen kann und –«, zählte Seto nüchtern auf, »die Funktion, dass man als Drachen gemeinsam gegen die Menschen spielen kann. Und jetzt: Mach es auf.« Joey runzelte die Stirn. »Was? Wieso? Wir können jetzt keine Runde spielen, Seto. Außerdem zählt Mokuba das dann sicherlich nicht zu deinen vier Stunden Aufenthaltsminimum.« Der Schalk tanzte ganz deutlich durch Joeys Augen, was Seto die seinigen verdrehen ließ (Mokuba sollte sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, er hatte durchaus mitbekommen, dass die Anwesenheitszeit angezogen worden war). Resigniert nahm er ihm die Spielhülle aus der Hand, öffnete sie selbst und drückte sie ihm wieder in die Finger. Joeys Blick fiel auf eine Fotografie, die dort lag, wo sonst die Anleitung und Werbung für andere Spiele eingeklemmt war. Das Bild zeigte sie beide, wie sie nebeneinander auf dem Sofa saßen. Vor ihnen lungerten Karin und Lin und waren dabei zu malen. Es war das Foto von letzer Weihnacht. Es war eigentlich wie dieses Jahr – nur anders. »Soll das etwa ein sentimentales Geschenk sein, Seto?« »Wie bitte?« »Sen-ti-men-tal, das ist, wenn man allzu gefühlsbetont und rührselig wird. Passiert oft an Weihnachten«, zog ihn Joey auf. »Ich bitte dich, Wheeler. Ich bin niemals sentimental. Auch nicht an Weihnachten«, entgegnete Seto ernst, was Joey grinsen ließ. „Schon klar, Geldsack.“ „Flohschleuder.“ „Eisschrank.“ Seto murmelte etwas, das Joey akustisch nicht verstand. „Was?“, fragte der verwirrt nach. Mit einem schiefen Grinsen lehnte sich Seto also zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Thea!«, rief Joey und räusperte sich dann. »Thea, könntest du an einem Abend auf Karin aufpassen? Kaiba will mich was Geniales mit ihm machen lassen!« Als nächstes hörte man nur Tristans Stimme, als er brummte: »Joey, sag das anders! Sonst hört sich das immer so zweideutig an, verdammt!« »Es geht nur um Schokokuchen, Mann.« Tristan resignierte mit einem Schnauben. »Du kannst es nicht lassen, oder?«, fragte Seto trocken und das Hündchen zuckte nur mit seinen Schulter, das schelmische Grinsen auf den Lippen sprach allerdings Bände. Seto hatte sich immer noch nicht die Frage beantwortet, was sie eigentlich waren. Er definierte es nicht. Sie beide hatten bisher nie ein Wort darüber verloren. Vielleicht war es besser so, denn er befürchtete, dass Worte das Etwas, das sie hatten, auseinander reißen könnten. »Einen Abend lang Dawn of the Dragon mit dir zocken und der Schokokuchen deiner Haushälterin. Ich glaube, es gibt kein besseres Geschenk auf der ganzen Welt«, behauptete Joey ernst und lehnte sich entspannt zurück. Wenn Seto ehrlich zu sich war, dann gab es wirklich Schlimmeres als Weihnachten. »Übrigens«, wandte er sich an Joey mit ernstem Blick, der wiederum beobachtete Lin und Karin und ließ seinen Blick weiter über die Anwesenden schweifen, die Plätzchen naschten, erzählten und lachten, »wir werden zukünftig donnerstags keinen Döner mehr essen gehen.« Jetzt traf ihn Joeys Blick doch. Im Hintergrund düdelte die Weihnachtsmusik. »Oh, okay.« Die Enttäuschung in Joeys Stimme versuchte er vergeblich zu überspielen mit einem Lächeln, das nicht so recht klappen wollte. »In der KC gibt es einen wirklich erstklassigen Essenservice und –« »Ihr habt einen Essenservice?« »Natürlich. Für alle Mitarbeiter und –« »Und warum gehen wir dann ständig donnerstags Döner essen?« »Du warst kein Mitarbeiter. Außerdem meintest du doch, von einer Million Dollar könnte ich mir zweihundertfünfzigtausend Döner kaufen.« »Muss ich die deswegen auch alle essen? Oder weißt du, wie oft du dafür in ein richtig gutes Restaurant gehen kannst?« »Mit dir?«, hakte Seto gespielt überrascht nach. »Natürlich.« »Zwei Mal? Wenn ich mir nur Wasser bestelle, vielleicht drei Mal.« Joeys Lachen ließ ihn automatisch selbst lächeln – nicht so, dass es jemand bemerkt hätte außer Mokuba wahrscheinlich und eben Joey. Aber dann doch so, dass seine blauen Augen funkelten – zumindest behauptete das das Hündchen (er selbt bezweifelte es ja). Seto betrachtete ihn, die Lachfältchen um die Augen und die Sommersprossen auf der Nase, denen er nur gewahr wurde, wenn er ganz nah bei ihm war. Seine Augen, die ihm etwas mitteilten, woran ihre Worte scheiterten (wahrscheinlich auch, weil Joey ein miserabler Redner war und er selbst in solchen Belangen wortkarg). Und wenn Seto auch sonst kompromisslos seine Meinung (die sich gegenüber Weihnachten niemals grundlegend ändern würde) durchzusetzen wusste – es gab diese Tage, da konnte er Mokuba und Joey sogar ein Fest mit sozialen Kontakten – mit Freunden – nicht abschlagen. Früher hatte er angenommen, dass diese Weihnachtssache sich irgendwann von selbst auflösen würde. Das tat sie nicht. Wenn Seto dabei ganz ehrlich war, dann bereute er das nicht. Nicht einmal an Weihnachten selbst. »Joey«, murrte Seto und rieb sich genervt mit Daumen und Zeigefinger über die inneren Augenwinkel. »– kommt das Christuskind, mhmhhmm – « »Joey!« Trotzdem hatte auch Seto Kaiba eine weihnachtliche Belastungsgrenze (insbesondere mit Joey Wheeler an der Seite). »– wo wir Menschen sind. Steht auch –« »Joey, du singst schon wieder!« »Was? Oh, sorry.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)