Five Days von CaroZ ================================================================================ Kapitel 5: Tag 4 ---------------- Tag 4 Am vierten Tag war es auf allen Decks kalt. Auf der Brücke saß die Steuercrew bereits mit leichten Jacken, ehe sich die Sonnenscheibe ganz über den Horizont geschoben hatte. Die Temperatur sank langsam, aber stetig auf dem ganzen Gefährt. Auf sämtlichen Monitoren, die die Besatzung allerorts mit den neusten Informationen versorgten, waren nun zusätzlich die immer kritischer werdenden Reiseparameter eingeblendet: altitude: 49.834 ft (AGL) outside temperature: -58°F Um den Sinkflug einzuleiten, was die Außentemperatur immerhin leicht erhöhen würde, war es noch viele Stunden zu früh. Als Thor aus einem erdrückenden Gewirr wilder und verstörender Träume erwachte, wusste er nicht, wie spät es war. Das bogenförmige Display mit der Digitalanzeige, praktischerweise direkt über dem schmalen Bett angebracht, war tot. Die unnatürliche Dunkelheit, die in sämtlichen Quartieren herrschte, da sie fensterlos angelegt waren, hatte Thors innere Uhr von Beginn an irritiert, war er es doch gewohnt, mit dem ersten Sonnenlicht zu erwachen. Nun lag er in undurchdringlicher Schwärze. Selbst das ununterbrochene matte Leuchten des Alarmknopfes neben der Tür war erloschen. Unruhig stieß Thor die Decke von sich und wälzte sich auf die linke Seite. Kalte Luft berührte den Nachtschweiß auf seiner Haut. Sekundenlang zweifelte er sogar daran, dass er sich noch auf dem fliegenden Schiff befand; dann aber berührten seine Zehenspitzen den Zimmerboden aus grauem Filz. Ja, er war hier. Alles war unverändert. Und so sehr er diesen Ort auch verabscheute, so wusste er doch, dass in den Kammern direkt neben seiner eigenen Menschen nächtigten, die ihm wohlgesinnt waren. Ein langgezogener, ferner Ruf ließ ihn innehalten. Er glaubte, seinen Namen gehört zu haben, doch der Hall war schon verschwunden. Angespannt lauschte er ins Dunkel. Da war es wieder. Unwirklich und aus weiter Ferne drang sein Name an sein Ohr, wie durch dicke Stoffe gedämpft, ohne jedes Echo. Durch Wände, die keinen Schall hereinließen. Ihn schauderte. An seinem ganzen Körper richteten sich die feinen Härchen auf. Alles stand unter Spannung. Er konnte nicht anders, als wieder zu horchen. »Thor!« Strauchelnd kam er neben dem Bett auf die Füße, stieß mit dem Schienbein gegen den Rahmen und knirschte mit den Zähnen. Mit ausgestreckter Hand tastete er sich zur Zimmertür vor. In diesem Moment war er dankbar dafür, dass der Raum so klein war. Als er die Tür aufzog, strömte blasses Licht hinein. Der Notstrom funktionierte noch. Ein leises Summen erfüllte den Korridor, der ansonsten völlig still war. Es musste noch früh am Tag sein. »Thor!« Es bestand kein Zweifel, wer da nach ihm rief. Er kannte diese Stimme seit frühester Kindheit. Kannte jede Facette an ihr, das gesamte Frequenzspektrum. Kannte sie wie die Stimmen seiner Eltern. »Thor!« Was hatten sie diesmal mit ihm gemacht? Thor war nicht auf der Besprechung am letzten Abend gewesen. Er hatte sich einfach zu verwirrt und entkräftet gefühlt, um der emotionslos geführten Debatte über die Handhabung seines Bruders beizuwohnen. Was hatten sie ihm jetzt angetan? Welche neue Marter war ihnen eingefallen, um seine Zuarbeit zu erwirken? »Thor!« Er beschleunigte seinen Schritt, kämpfte sich den Korridor hinunter. Seine nackten Zehen waren bereits wie erfroren. Er trug keine Rüstung, nicht mal richtige Kleidung, nur eine Art lange graue Tunika, wie sie jedem an Bord als Schlafbekleidung zur Verfügung gestellt worden war. Den Weg zur Arrestebene hätte er inzwischen blind gefunden. Er war ihm so vertraut wie der Weg nach Hause. Zwei müde aussehende junge Männer in Jacken kamen ihm entgegen. Er passierte sie, ohne innezuhalten. Ignorierte ihre fragenden Blicke. »Thor!« »Ja …« Seine Stimme klang wie das Krächzen der beiden Raben, der Späher seines Vaters. Grimmig ging er weiter. Fand die Tür zu den Verliesen verriegelt. Versuchte, sie gewaltsam aufzuschieben – und schaffte es nur mit großer Mühe. Sein Mangel an Kraft hätte ihn überraschen müssen. Doch in diesem Moment war in seinem Bewusstsein kein Raum für Verwunderung. Selbst die Furcht vor dem, was er vielleicht sehen würde, hielt ihn nicht zurück. »Thor!« Hastig atmend trat er ein. Wie immer stiegen Wolken aus Nebel vor seinem Gesicht auf. Die eisige Luft erschlug ihn beinahe. Loki lag reglos auf seiner Pritsche. Die Decke hatte er über sich gezogen. Er hatte dem Zugang den Rücken gekehrt, nur sein dunkler, strähniger Scheitel und die Spitzen seiner Schuhe waren im klammen, flimmernden Licht zu sehen. In diesem Moment fiel Thor auf, dass die Rufe hätten lauter werden müssen. Es war nicht möglich, dass sie sich kein bisschen verändert hatten, während er sich ihrer vermeintlichen Quelle näherte. Eine Sinnestäuschung. Aber wie war das möglich? Loki schlief. Und schlafend konnte er nicht wirken. Frierend füllte Thor seine Lungen mit der schrecklich kalten Luft und trat barfuß an die Zelle heran. Seine Finger wollten ihm kaum gehorchen, als er sie um die entriegelte Tür schloss. Kein Blut floss in die gefühllosen Muskeln, und er brauchte mehrere Anläufe, um sich Zugang zu verschaffen. Innen waren die Glaswände mit feinem Frost bedeckt. Eisblumen rankten dort, wo der Rahmen das Glas einfasste. Jede noch so kleine Menge Feuchtigkeit schlug sich nieder. Thor sah zum Kopfende der Pritsche, wo der Wasserspender eingelassen war. Er sah genauso aus wie der in seinem eigenen Quartier, eine kleine Schale, die sich automatisch füllte, wenn Druck auf ihren Grund ausgeübt wurde. Wie eine Pferdetränke. Nun hing an ihr ein harter, klarer Tropfen. Lokis Trinkwasser war gefroren. Thor fragte sich, wie groß der Anteil des Liebestranks darin mittlerweile war. Ohne darüber nachzudenken trat er zu seinem Bruder und umfasste dessen schlaffe Gestalt mit den Armen, um sie aufzurichten und sich neben ihn zu setzen. Auf der Pritsche kauernd zog er die Beine an und schlang die Decke um sie beide. Loki sank widerstandslos gegen ihn. Sein Haar war voller Raureif, eine feine weiße Kristallschicht hüllte die Spitzen ein. Unter der farblosen Gesichtshaut schimmerten bläuliche Adern wie feine Fäden. Es dauerte nur Sekunden, bis Thor zu zittern anfing. Die graue Decke war ein ärmlicher Schutz gegen die alles durchdringende Kälte. Von Lokis Körper ging keine Wärme aus. Er brauchte sie nicht. Er war in einer solch harschen Welt geboren. Sein falscher Bruder. Thor schloss die Augen und rang mit dem unkontrollierten Schlottern, das seinen ganzen Körper einzunehmen drohte. Fast konnte er das Zähneklappern nicht mehr unterdrücken. Wo der Dampf seines Atems seine Augen berührte, hingen Perlen aus Eis in den Wimpern. Lokis Kopf an seiner Schulter regte sich. Mit einem zärtlichen blauen Lächeln sah er zu Thor auf. »Friert dich, Bruder?« »Nnnn … nein.« »Oh, dir ist also warm?« Loki quittierte die furchtbar schlechte Lüge mit einem nachsichtigen Lächeln. Thor schnaufte. Er wusste nicht, warum er hier war, warum er sich dieser Kälte aussetzte. Er wollte von hier fort. »Ich k-kannnn … nnicht bei d-dir bleiben.« »Du kannst nicht gehen«, sagte Loki ruhig und legte den Kopf wieder an seine Schulter. »Ich war zu lange allein. Ich habe Angst, allein zu sein, Thor. Auf mich selbst zurückzufallen … ist unerträglich für mich.« Thors Gedanken wurden müde. Während sein Leib noch immer heftig gegen die Kälte kämpfte, schwamm sein Geist langsam in die Ferne davon. »Warum … Loki … Warum t-tust du … mir das an? All das …« Seine Zunge wurde lahm. »Das weißt du genau«, entgegnete Loki mit einem Anflug von Zorn in der Stimme. »All die Jahre, in denen ich hinter dir zurückstehen musste. Jede Möglichkeit hast du ergriffen, um vor Vaters Augen in einem besseren Licht dazustehen. Auch zu meinem Nachteil. Ohne Rücksicht. Du hast mich nur dann geliebt, wenn ich dir nicht im Weg war. Dann hast du mit mir geteilt, dich mir großmütig zugewandt. Vorgegeben, dich um mich zu sorgen. Mir einen Teil deines Ruhmes abzugeben. Der rührende große Bruder.« Dunkler Neid troff nun aus seiner Stimme. »Falsche Bescheidenheit. Hinterhältigkeit. Sobald auch mir Aufmerksamkeit zuteil wurde, hast du mich auf meinen Platz verwiesen. Hartherzig. Du hast auch meinen Verdienst an dich gerafft, wenn es deinem Ansehen zuträglich war. Alle liebten den mächtigen Thor. Den großen Thronerben. Es gab nichts, das du nicht konntest. Alles hast du getan, um den Ruhm zu ernten. Auch dann, wenn ich ihn verdient hatte. Aber wer hörte auf mich? Nicht einmal Vater. Er sah immer nur dich. Nur dich.« Loki zitterte jetzt ebenfalls. Es war kein Beben vor Kälte, sondern vor Hitze, ein inneres Toben, das nach außen drang wie das schmelzende Magma im Inneren eines Vulkans. In Loki glühte noch Feuer. Das Feuer des Hasses. »Dich loszuwerden war die einzige Möglichkeit. Ich hielt es nicht mehr aus. Die Eifersucht zerfraß mich. Hätte ich dich nicht beseitigt, hätte ich den Verstand verloren.« In Thors Sichtfeld war alles verwaschen und schemenhaft. Sein Körper zitterte nicht mehr so sehr. Eigentlich kaum noch. Er konnte nicht mehr richtig sehen, hörte Lokis Worte nur noch von fern. Ihr Sinn erreichte sein Bewusstsein nur schleppend. »Ich … ich wusste nicht …«, begann er lahm. »Ich wollte … es nicht …« Seine Augen glitten in ihren Höhlen ziellos umher. Sein Kinn sank mehr und mehr auf seine Brust. »Doch, du wusstest«, wisperte Loki. »Und du wolltest.« Wie um seine Worte Lügen zu strafen, drückte er sich enger an Thors erfrierenden Körper, rieb seine eiskalte Wange an der empfindungslos gewordenen seines Bruders. »Nein …« Thor versuchte, sich zu bewegen. Leben in seine tauben Glieder zu bringen. Träge rollte das Blut durch seinen Leib. Viel zu langsam. Ohne Wärme. Loki atmete in seine Halsbeuge. Der kalte Hauch eines Jotunen, der das blonde, eisverkrustete Haar bewegte. Dann küsste er sanft die zarte Haut an Thors Nacken. Dort wuchs eine Eisblume auf den feinen Härchen. Loki hob die Lippen dicht unter sein Ohr. »Ich liebe dich, Bruder«, flüsterte er hinein, und seine Stimme war wie das Klirren von Eis. »Und eines Tages werde ich dich töten.« Der Schlaf fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Schatten glitten vorüber, Stimmen durchflossen die Stille. Thor lag auf Watte. Fühlte sich geborgen. Erfüllt von Ruhe. Die unsanften Berührungen störten ihn. Er schob sie fort. Die Stimmen wurden zu laut. Sie schmerzten in seinen Ohren. Er versuchte, nicht auf sie zu hören. Dann jedoch kam das Feuer. Brennend hüllte es ihn ein, versengend, verzehrend. Thors Fleisch warf Blasen. Sein Körper bäumte sich auf. Ein markerschütternder Schrei zerriss die Schatten. Es war sein eigener. »Ruhig, Thor, ruhig!« Hände packten ihn, fixierten ihn. Er zerrte wild an ihnen. Schrie und kämpfte. »Thor, hör zu!« »Es verbrennt mich!«, heulte er und erkannte seine Stimme kaum wieder. Licht drang in seine Augen, und die Hände, die ihn festhielten, wurden noch mehr. Mit Tausenden und Abertausenden von Nadeln stach das Feuer auf seine Haut ein. Er krümmte sich unter Qualen. »Thor, das Wasser ist nur lauwarm!« »Sieht nicht so aus, als ob ihn das interessiert.« »Halten Sie die Klappe und nehmen Sie seine Beine, bevor er noch aus der Wanne springt!« »Verdammt, Steve, haben Sie eigentlich gar keinen Humor?« »Nicht in solchen Situation, Herrgott noch mal!« Thor wand sich und stieß ein langgezogenes Stöhnen aus. Noch immer schlug und trat er um sich, doch seine Bewegungen wurden von den vielen, vielen Peinigern gehemmt. Zwanzig oder dreißig von ihnen rangen mit ihm, ließen nicht zu, dass er aus der sengenden Hitze entkam. Nur langsam klärte sich sein Blick. Er sah einen gekachelten Raum. Das Licht kam aus einer surrenden Lampe, die auf einem Sockel ruhte. »Es ist nur lauwarm, hörst du?«, insistierte die Frauenstimme dicht über ihm. »Du verbrennst nicht! Es ist gerade so warm wie meine Hand!« »Naja, wärmer kriegen wir’s auch nicht«, murrte der Mann auf der anderen Seite. Thor kannte die Stimmen. Er kämpfte darum, wieder an die Oberfläche zu dringen, die Schatten zu vertreiben. Es ging quälend langsam. Schnaubend ertrug er das kochend heiße Wasser auf seiner Haut. Lange würde er diese Schmerzen nicht mehr aushalten, das wusste er. »Er beruhigt sich ein bisschen, oder?« »Na, hoffentlich. Noch so ein Ruck und er kugelt mir beide Schultern aus. Gott, hat der Kerl einen Bums!« Thor begann wieder zu zittern. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, brach sein ganzer Körper in unkontrolliertes Schütteln aus. »Na endlich, er wird warm. Festhalten, Jungs und Mädels! Ist gleich durchgestanden.« Eine Hand, die eben noch fest ihre Fingernägel in das Fleisch seiner Schulter gegraben hatte, löste sich und begann stattdessen, seine Schläfe zu streicheln. Unwillig bog er den Kopf beiseite. Wasser rieselte ihm in die Augen. »Okay, okay, raus mit ihm. Handtuch. Und Decke! Oder besser zwei.« Ein Choral einatmender Stimmen brandete um ihn herum auf. Die Griffe wurden fester. Dann rief jemand: »Eins – zwei – drei!« Stöhnend wuchteten die vielen Menschen Thors widerstrebenden Körper aus dem Wasser und über den Rand des großen Metallgefäßes, in dem er gelegen hatte. Er kam auf etwas Weichem zu liegen, und jemand breitete ein riesiges Tuch über ihm aus. Viele Hände rieben ihm den Bauch und den Rücken, massierten seine Gliedmaßen. Blinzelnd öffnete Thor die Augen. Und diesmal sah er mehr. Undeutlich schwammen die Gesichter seiner Gefährten heran. Romanoff, Rogers und Stark knieten direkt über ihm; weitere, ihm unbekannte Helfer umringten sie. Sämtliche Hände kneteten an ihm herum. »Was …«, brachte er mühsam hervor, »… ist passiert?« Das Zittern war noch lange nicht verebbt, doch allmählich wurde er Herr darüber. Als auch noch mehrere weiche Decken auf ihn gelegt wurden, spürte er, wie die Wärme auch in die entlegensten Winkel seines Körpers zurückkehrte. »Was passiert ist, solltest du uns lieber sagen, Großer.« Tony Stark, der neben seinem Kopf kniete, sah streng auf ihn herab. »Was hast du dir dabei gedacht, nur mit einem Nachthemdchen in diese Tiefkühltruhe zu klettern? Du wärst fast erfroren!« Thor war verwirrt. Seine Gedanken bewegten sich noch nicht so schnell wie üblich. »Wie … habt ihr … mich hierher …?« In seiner blassen Erinnerung war er bei Loki gewesen. Im Inneren der Glaszelle. Waren sie dort hineingegangen? »Wir haben dich getragen«, antwortete ihm Natasha Romanoff und trocknete ihm fürsorglich das Haar mit einem kleineren Tuch. »Tony hat zufällig Loki beobachtet und gesehen, dass du bei ihm warst. Bevor wir kommen konnten, hast du es geschafft, dich von ihm loszumachen. Du hast seine Zelle hinter dir geschlossen und bist unmittelbar danach unterkühlt zusammengebrochen.« »Wirklich?« Thor spürte das Stechen von Scham in seinen Eingeweiden. Unbehaglich sah er beiseite, blickte auf die kahle Wand. »Ich habe mich schändlich verhalten. Es tut mir Leid. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« »Du schuldest niemandem eine Entschuldigung«, beruhigte ihn Steve Rogers. »Wir wissen, was mit dir los ist. Loki manipuliert dich. Uns alle. Aber er merkt es nicht, weil das Neuroleptikum ihm den Zugriff auf sein Unterbewusstsein blockiert. Das Zepter strömt Energie aus, die nach und nach das ganze Schiff lahm legt und uns in den Wahnsinn treibt. Egal wie gut wir es abschotten, wir können dem Einfluss nicht entkommen. Nicht hier an Bord.« Thor nahm diese Kunde mit Staunen auf. An das Chitauri-Zepter hatte er gar nicht mehr gedacht. Er schluckte; seine Kehle war trocken. »Wie hat Loki reagiert, als … ich …?« »Oh, er hat gebrüllt«, erzählte Stark ihm mitleidslos. »Sehr lange und sehr laut. Immer wieder deinen Namen. Und er hat sich gegen die Scheibe geworfen wie ein Irrer. Wir haben ihn zwei Decks drüber noch gehört. Der ist reif für die Gummizelle, wenn das hier vorbei ist.« »Für was?«, fragte Thor schwach. »Oh … so ein gepolsterter Raum für … Spinner.« Mit einem tiefen Seufzen richtete Thor seinen Oberkörper auf. Die raue Decke kratzte auf seiner Haut. Erst jetzt nahm er zur Kenntnis, dass er unter ihr völlig nackt war. »Ich trage keine Kleidung«, stellte er fest. »Naja. Nein. Wäre dein Hemd nass geworden, hätten wir es bis heute Abend nicht wieder trocken gekriegt. Unser Boot wird langsam aber sicher zum Kühlschrank. Wir haben dir was Wärmeres zum Anziehen mitgebracht.« Stark wies auf ein Bündel Kleidung, das auf einem Stuhl neben der Wanne ruhte. Zuoberst lag eine gefütterte Jacke. »Das Fell eines Bergschafes würde gute Dienste tun.« »Das glaube ich dir. Leider sind Bergschafe hier an Bord nicht allzu häufig.« Stark tätschelte ihm die Schulter und erhob sich dann in den Stand. Rogers und Romanoff taten es ihm gleich, ebenso wie viele der anderen Helfer. »Es wird Zeit«, sagte Rogers. »Wir müssten längst auf der Besprechung sein. Agent Taps erwartet uns.« »Agent Taps kann mich mal«, gab Stark unbeeindruckt zurück. »Nick wird ihn schon hinhalten. Wir bringen Thor jetzt in sein Quartier und machen ihm ’nen heißen Tee, solange wir noch Wasser kochen können.« Damit waren alle anderen sofort zufrieden. Thor fragte nicht, weshalb. Am Vortrag musste mehr passiert sein, als er sich vorstellen konnte. Seine drei Gefährten begleiteten ihn den Gang hinunter, nachdem sie die anderen Menschen dankend weggeschickt hatten. In der warmen Jacke und mit einem Schal um den Hals fühlte Thor sich bereits wesentlich besser, wenn er auch noch reichlich schwach auf den Beinen war. Fast so tief in den Knochen wie die unerbittliche Kälte saßen ihm Lokis Anschuldigungen. Waren sie ein Produkt seiner Phantasie gewesen, hervorgerufen durch die Wirkung der Medizin, oder hatte er ihre brüderliche Beziehung wirklich als so demütigend empfunden? Etwas in der Art hatte Thor bei Lokis erstem Verrat zwar schon vermutet, doch erklärt hatte sein Bruder sich ihm bis heute nicht, und er hatte geglaubt, irgendein Erlebnis habe Lokis Vertrauen zu ihm erschüttert und sei in seinem Kopf gewuchert wie ein Geschwür. Die Aufdeckung seiner Herkunft war es jedenfalls nicht, denn davon hatte Thor selbst erst viel später erfahren. Also war er von irgendeinem harmlosen Konflikt ausgegangen, irgendeiner ihrer vielen rivalitätsbedingten Auseinandersetzungen, aus der Loki im Nachhinein mehr gemacht hatte, als wirklich gewesen war. Jetzt zu hören, dass der Jüngere ihn schon seit Langem gehasst und seine Zuneigung stets nur geheuchelt hatte, stieß ihm bitter auf. Mehr als bitter sogar. »Das hat aber sehr lange gedauert«, merkte Taps mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Hat Ihr Halbgott aus dem Weltall sich so sehr geziert?« »Er war massiv unterkühlt«, meldete Romanoff, ihre Empörung unterdrückend. Arg verspätet waren sie nun alle versammelt, aber Thor hatten sie in weiser Voraussicht in seinem Quartier mit Tee und einer Heizdecke zurückgelassen. »Es kann nicht in Ihrem Sinne sein, wenn Ihr … Subjekt … seine Vertrauensperson verliert.« Der triefäugige Agent war unbeeindruckt. »Ich hätte ihm genug Kraft zugetraut, diesen Zwischenfall besser zu tolerieren.« »Oh, Kraft hat er!«, versicherte Stark. »Wir haben zwanzig Mann gebraucht, um ihn in der Wanne zu halten. Schade, dass Sie nicht dabei waren, aber Sie hatten ja Wichtigeres zu tun, hm?« »Nun. In der Tat.« Taps faltete die Hände und warf Fury neben sich einen kurzen Blick zu. »Der Direktor und ich haben uns darüber beraten, wie man der prekären Situation, in der wir uns befinden, Herr werden könn–« Fury, sichtlich enerviert, unterbrach ihn kurzerhand. »Damit das klar ist«, schnarrte er, »unsere Alternativen sind begrenzt. Ich bin immer noch der Meinung, dass wir New York in einem Stück erreichen können, aber dass wir hier bei einer Beleuchtung, die diese Bezeichnung nicht verdient, in Wintermänteln sitzen, ist mehr als bedenklich.« Er ließ seinen einäugigen Blick durch den dünn erhellten Saal schweifen. »Unsere Reihen haben sich gelichtet. Dr. Banner wird den Rest der Reise unter Sedativa zubringen – womit es für ihn zumindest deutlich angenehmer werden dürfte als für uns.« »Wenigstens einer, der noch Spaß hat«, murmelte Stark. Er hatte, fand Romanoff, in den letzten Tagen einen großen Teil seiner Schlagfertigkeit und seines Optimismus’ eingebüßt. Wie wir alle, dachte sie müde. »Der Nationale Sicherheitsrat ist vom Verlauf des Projekts auch nicht eben begeistert. Ich kann es nun nicht mehr ablehnen, das Ziehen der Notbremse in Erwägung zu ziehen. Loki scheint durch die Therapie emotional so instabil zu sein, dass er uns alle in große Gefahr bringt. Die Ultima Ratio wäre, das Medikament abzusetzen und ihn in denselben Zustand zu versetzen wie Dr. Banner, bis wir den Tesserakt und unsere Vermissten sichergestellt haben.« »Nein!«, rief Taps sofort aus, und sein lauter Zwischenruf ließ alle am Tisch zusammenzucken. »Ausgeschlossen, das hatte ich doch schon dargelegt! Warum machen Sie alle sich in die Hosen wegen einer kleinen depressiven Verstimmung? Wir beobachten hier etwas völlig Neuartiges! Und er –« Fahrig wies er auf Thors leeren Stuhl. »– muss aufhören zu jammern und sich zusammenreißen! Wir haben eine kritische Phase erreicht, viel schneller, als wir dachten! Das Subjekt wendet sich ihm zu, und er muss es an sich binden, so fest wie nur möglich! Es verführen! Sie verstehen hier doch alle nichts davon!« Romanoff schluckte gegen ihren Ärger an; diesen anmaßenden Tonfall würde Fury sich nicht gefallen lassen, so viel stand fest – und tatsächlich bewegte sich wieder einmal seine Augenbraue kritisch in die Höhe, ehe er gefährlich leise sagte: »Agent Taps, wenn Sie nicht auf der Stelle den Mund halten, lasse ich Sie zu Ihrem Subjekt in die Zelle sperren.« Jemand am Tisch kicherte. Unschwer zu erraten, wer. »Ich –«, setzte Taps an, doch wieder fiel der Direktor ihm ins Wort. »Sie haben hier nicht das letzte Wort, was das Projekt betrifft. Wenn das Leben meiner Leute gefährdet ist, geht mir Ihre Wissenschaft am Arsch vorbei.« Endlich mal klare Worte. Unerwartet direkt, aber mehr als überfällig. Sogar Rogers’ Mundwinkel zuckten in Schadenfreude. »Wie lange also, bis wir Loki über Bord werfen?«, fragte Stark lächelnd. »Können wir schon einen Countdown starten? Wird’s Drinks geben?« »Immer langsam«, gab Fury behäbig zurück. »Ich behalte mir vor, diese Maßnahme zu ergreifen, aber vorerst wird sich an unserem Plan nichts ändern. Zumal wir nicht einmal wissen, ob es etwas nützen würde, Loki ruhig zu stellen. Das Zepter jedenfalls können wir nicht einfach über Bord werfen. In einer Beziehung hat Agent Taps leider Recht: Wir sind immer noch vor allem auf Thor angewiesen.« »Thor empfindet dieses Experiment als tief verstörend«, wandte Rogers behutsam ein. »Und ich kann ihn verstehen. Wir alle haben gehofft, dass er Loki unter Kontrolle haben würde, aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Immer noch.« »Das wird sich zeigen«, sagte Fury seufzend. »Ich bitte Sie, Thor gut im Auge zu behalten. Seien Sie versichert, dass wir diese letzten Stunden überstehen – ob wir nun abbrechen müssen oder nicht. Ich werde nicht riskieren, dass jemandem an Bord etwas zustößt.« Er lehnte sich zurück und machte eine lockere Handbewegung. »Danke, Gentlemen, Sie sind fürs Erste entlassen.« Steve Rogers folgte Stark, der im Gehen augenfällig frustriert auf seinem Handcomputer herumtippte. Das Display blieb schwarz, so viel konnte er über die Schulter des anderen Mannes hinweg erkennen. »Versagt Ihre Technik jetzt etwa auch schon?« Stark schien ihn erst jetzt zu bemerken, bedachte ihn aber nur mit einem knappen Blick. »Nein«, sagte er abwesend, »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich auf diesem Geisterschiff Probleme kriege … Nein, was hier versagt, sind die Überwachungskameras. Leider.« Rogers verstand. »Sie können Loki nicht mehr beobachten.« »Sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten es nicht auch spannend gefunden. Endlich mal eine nicht gefakte Reality-Show.« »Als wäre da viel zu sehen gewesen.« »Och, schon allein ihn in einem Glaskasten zu sehen hat meine sadistische Ader gekitzelt.« Rogers seufzte. »Kann ich Sie was fragen, Tony?« »Oh, sicher, bitte, fragen Sie mich. Wenn es nicht gerade um die Namen aller Frauen in meinen Betten geht.« »Wieso der Plural?« »Bei ›Frauen‹?« »Nein, bei ›Betten‹.« »Wie, Sie haben nur eins?« »Tony …« Rogers trat näher an ihn heran, unruhig im leeren Gang um sich blickend, als könnte sie jemand belauschen. »… Sagen Sie … Hören Sie auch … Stimmen?« Starks Augenbrauen schossen in die Höhe. Daran, dass er nicht sofort einen sarkastischen Kommentar beispielte, erkannte der Captain, dass er ihn kalt erwischt hatte. »Sie meinen … hier an Bord?« »Jap, hier an Bord«, nickte Rogers. »Na jaah, dazu muss man sagen … schlechtes Licht, Schlafmangel, Infraschall … und wer weiß, was für Konservierungsstoffe hier im Essen sind …« »Ja oder nein, Tony?« Rogers sah ihn fest an. »Also … ein bisschen vielleicht.« Starks Blick ging an ihm vorbei. »Nennen wir es mal … Flüstern. So was wie tote Menschen höre ich nicht, keine Nachrichten aus der Twilight Zone. Einfach nur … Flüstern.« »Unverständlich, nehme ich an.« Stark zögerte. »Manchmal denke ich, ich verstehe was. Aber dann ist es, als ob der Sinn nicht in meiner Großhirnrinde ankommt.« »Finden Sie … es auch unheimlich?«, fragte Rogers und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme bange klang. Nicht wie die eines Supersoldaten. Stark dachte darüber nach. »Ähm … nicht wirklich. Wissen Sie, ich weiß schließlich, was bei Halluzinationen im Kopf passiert und dass das Zepter Schuld daran ist. Ich komm damit klar.« Dann musterte er Rogers mit einem Anflug von Spott. »Wenn Sie also denken, Sie könnten heute bei mir schlafen, vergessen Sie’s.« Rogers musste grinsen. »Nehmen Sie mir die Frage nicht übel.« »Nein. Ich glaube, es geht uns hier allen gleich mies.« »Meinen Sie?« Er selbst bezweifelte das. »Bei Agent Taps sieht es nicht danach aus.« »Pah. Taps. Taps ist Doktor Frankenstein im Armani-Anzug. Den könnten wir zu Loki ins Einweckglas stecken und es wären immer noch einhundert Prozent eingeweckter Wahnsinn.« »Halten Sie an Ihrem Plan fest?« »An welchem? Den Partykönig rauszuschmeißen?« »Nicht so laut.« Rogers sah sich unsicher um, doch Stark machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Überwachungstechnik ist doch sowieso ausgefallen. Ja, ich hab das immer noch vor, auch wenn’s mir genauso wenig gefällt wie Ihnen, Fury in den Rücken zu fallen. Seine Autoritätsmasche gefällt mir zwar manchmal nicht …« »Und Natasha?«, bohrte Rogers weiter. »Sie ist loyal.« Stark zuckte die Achseln. »Immerhin einer. Vermutlich hat Sie Fury schon bescheid gesagt. Er wird uns nicht aus den – Pardon, aus dem Auge lassen.« Rogers lächelte freudlos. »Seien Sie vorsichtig bei Ihrem Komplott.« »Aber ja.« Stark lächelte und sah auf seine teure Uhr. »Ah! Vor dem Komplott gibt’s erst mal Kompott. Mittagessen. Kommen Sie mit?« Als Natasha Romanoff zu Thor kam und ihn darum bat, ihnen beim Essen Gesellschaft zu leisten, hätte er sie am liebsten weggeschickt, doch sie ließ nicht locker. »Komm schon«, ermunterte sie ihn lächelnd und zog an seinem Arm, bis er sich endlich schwerfällig von seinem Bett erhob. Er wusste, sie war eine Meisterin darin, sich zu verstellen; sie brauchte keine Illusionen wie Loki. Sicherlich war ihr Optimismus, ihre Munterkeit auch jetzt nur aufgesetzt. Keines der Gefühle, an denen sie ihn teilhaben ließ, war wirklich. »Mit den warmen Mahlzeiten ist es leider vorbei«, teilte sie ihm mit, als er ihr über die Flure folgte. »Wir können nicht mehr kochen.« »In meiner Welt kochen wir wenig«, sagte er teilnahmslos. Er sprach nur, um nicht der Stille ausgesetzt zu sein. »Wir bevorzugen hartes Brot, festen Käse, gebeizten Fisch mit Kräutern …« Er blieb stehen. Seine Füße hielten einfach an, während die Frau noch ein paar Schritte weiterging, ehe sie irritiert stehen blieb und sich nach ihm umsah. »Was ist?« »Er …« Thors Mund war plötzlich trocken wie Dünensand. »… Er ruft mich.« Und bevor er darüber nachdenken konnte, machte er Kehrt. »Thor!« Romanoff sprang ihm nach, umfasste seinen Arm. Er stieß sie von sich. »Du kannst nicht helfen. Ich muss zu ihm. Diesmal wird mich eure Kleidung vor der Kälte schützen.« »Aber …!«, protestierte sie. »Mir wird nichts geschehen.« Ein weiteres Mal drehte er sich nicht nach ihr um. Er hörte, wie ihre Schritte abrupt endeten, kurz innehielten und sich dann in die andere Richtung entfernten. »Ich werde nicht dein zahmes Bilgenschwein sein, das dir auf deinen Befehl Pilze aus dem Schlamm gräbt!«, fuhr Thor seinen Bruder durch die beschlagene Scheibe hindurch an. Seine Finger glitten sinnlos über das Glas, brachten mit ihrer Hitze die feine Eisschicht zum Schmelzen. Loki stierte ihn feindselig an. »Wovon sprichst du überhaupt?« »Wie kannst du das fragen? Du dringst in meine Gedanken ein!«, polterte Thor in Rage. »Du schlingst unsichtbare Fesseln um mich, wann immer dir danach ist! Du glaubst, du kannst mich beherrschen!« Er schlug gegen die Scheibe. »Das kannst du nicht!« Hastig atmend und mit bebenden Schultern stand er vor dem durchscheinenden Gefängnis. Nein, er wollte sich jetzt nicht beruhigen. All das hier wurde ihm zu viel. Loki hatte keine Regung getan. Ohne auch nur die geringste Spur des Unbehagens war er mitten in der Zelle stehen geblieben; nun kam er mit zwei langen Schritten auf Thor zu. »Es ist genau andersherum, du Einfaltspinsel«, gab er trocken zurück. »Ihr glaubt, ihr könntet mich beherrschen. Und darum habt ihr dafür gesorgt, dass nicht einmal ich mich noch beherrschen kann.« Diesmal lächelte er nicht. Seine Züge boten ein Bild mühsam unterdrückter Wut. »Ich kann nicht auf dich einwirken, auf keinen von euch! Ich kann nicht einmal mehr nachdenken! Nicht planen … nicht einmal träumen kann ich … Nein, Thor, wenn ihr nicht wisst, was ich als nächstes tun werde, dann weiß es niemand!« Thor starrte ihn an. Sein Zorn wich mehr und mehr Verblüffung. »Was meinst du damit?« Loki hob eine Hand und öffnete sie zur Scheibe hin. Die blauen Finger zitterten unkontrolliert. »Siehst du das?«, zischte er. »Sieh dir das an! Ich – ich habe keine Kontrolle über mich! Nicht über meine Gedanken … und bald auch nicht mehr über meinen Körper!« Tröpfchen seines Geifers spritzten gegen das Glas und gefroren dort sofort. »Ihr habt meinen Geist vergiftet …«, würgte er, »meinen Verstand … in Ketten gelegt … Ich bin nur noch ein Schatten, Thor … Ich bin … leer …« Langsam ließ er die Hand sinken und trat zurück. Seine Gestalt verschwamm hinter der hauchdünnen Wand aus Feuchtigkeit. »Wenn ich dein Bruder bin, Thor … Dann beende es.« Es klang nicht wie ein Flehen. Sondern wie eine Drohung. Thor sah ihn an. Lange. Und wortlos. Sah zu, wie Loki sich zuletzt wieder auf seine Pritsche setzte und mit gesenktem Kopf die Decke um sich schlug. Obgleich er sie nicht brauchte. Er selbst war kälter als der ganze Raum. »Wenn ihr mich weiterhin vergiftet«, ließ Loki ihn schließlich wissen, »werde nicht nur ich am Ende dieser Reise tot sein.« Thor wandte sich ab. Das war mehr gewesen, als er hatte hören wollen. Längst spürte er, wie die Kälte sich einen Weg durch seine warme Kleidung bahnte. Als er sich zu gehen anschickte, sprang Loki wieder auf. Zornig rief er: »Bleib hier!« »Warum?«, fragte Thor resigniert und sah über die Schulter. »Du kannst nicht meinen, was du sagst, wenn du mich um dich haben willst. Ich weiß, dass es nur der Trank ist, der deine Gefühle verwirrt.« »Ich habe keine Gefühle!«, fuhr Loki ihn an. »Ich ertrage nur das Wissen nicht, dass Sie …! Dass auch du …! Dass sie dir …!« Unverhofft schien er die Worte zu verlieren, bleckte in wilder Verzweiflung die Zähne. So außer sich hatte Thor ihn selten gesehen, und es erschreckte ihn. »Bleib bei mir, Thor, nicht bei ihnen!« »Du bist irrsinnig, Bruder. Deine Gedanken sind abstrus.« Die unguten Gefühle, die in dem Asen aufstiegen, drohten unerträglich zu werden. »Ich komme wieder, wenn du ruhiger bist.« »Nein!«, grollte Loki, doch es änderte nichts daran, dass Thor seinen Weg zum Ausgang fortsetzte. »Nein, komm zurück!« Ein weiterer Tobsuchtanfall drohte. Thor blieb eisern. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, weiter auf Loki einzuwirken. Schon öffnete er die Tür, die ihn aus dieser kalten Welt hinausführen würde. »Komm zurück!«, schrie Loki ihm nach. Es klang, als fiele etwas Schweres donnernd gegen die Scheibe. »Du Narr! Komm zurück!« Die Tür fiel zu. Der Schrei verebbte. Thor ging schneller. Seine Füße trugen ihn nun wieder sicher und zuverlässig. Inmitten dieses Wahnsinns musste er seine geistige Gesundheit hüten wie einen Schatz. Sonst würde Lokis Drohung wahr werden. Das wusste er. Wenig später saß er mit seinen vier Gefährten im Labor. Die Mittagsmahlzeit war unerquicklich ausgefallen, und er bedauerte nicht, daran nicht teilgenommen zu haben. Da Thor wusste, dass Lokis Zelle nicht mehr über das kleine sehende Auge beobachtet werden konnte, hatte er sich verpflichtet gefühlt, für Romanoff, Stark und Rogers noch einmal alles zu wiederholen, was sich zugetragen hatte. Es war nicht viel gewesen, doch es beunruhigte die anderen in demselben Maße wie ihn. »Er ist richtig süchtig geworden, was deine Nähe betrifft«, sagte Stark. »Es ist, als ob er versucht, mir etwas zu sagen.« Thor stützte das Kinn auf die Faust und legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ich verstehe ihn nicht.« »Weil er selbst nicht weiß, was in ihm vorgeht«, folgerte Romanoff, wie üblich vernünftig und sachlich. »Mag sein, dass Lokis Verhalten und das, was er sagt, dich ängstigt, aber es darf dich nicht zu sehr beeindrucken. Das chemische Gleichgewicht in seinem Gehirn ist gestört, die Aktivität der Nerven verändert. Bei Patienten unter Risperidon sind tagsüber Hirnareale hochaktiv, die eigentlich verstärkt im Schlaf arbeiten. Was er denkt, sagt und tut, sind momentan drei ganz verschiedene Dinge.« Ihr Ton wurde bitter: »Und dass er seine Handlungen nicht im Griff hat, zeigt die verheerende Wirkung des Zepters nur zu gut.« Nervös blickten sie alle zu der Liege an der Wand hinüber, wo unter einer weißen Decke Bruce Banner auf dem Rücken lag und abwesend vor sich hin blinzelte. »Hört er uns zu?«, fragte Thor vorsichtig. »Nö, glaub nicht«, erwiderte Stark. »Der ist in ’nem ganz anderen Film. Hill ist kein Risiko eingegangen.« »Wenn wir nicht alle so enden wollen, sollten wir die Finger von Loki lassen«, sagte Rogers düster. »Thor, warum weigerst du dich nicht einfach, deine Arbeit mit ihm fortzusetzen? Das könnte dir Kummer ersparen.« »Es würde nichts an der Wirkung des Speers ändern«, gab Thor ihm zu bedenken. »Lokis Unterbewusstsein hat sich durch den Speer ein … Ventil geschaffen, um gegen uns zu arbeiten. Und …« Diese unangenehme Wahrheit bedurfte der Aussprache. » … ganz gleich, wie viel des Liebestranks er zu sich nimmt, er … hasst mich noch immer. Ich weiß es. In den Momenten, in denen er mich liebt, versucht er zur gleichen Zeit, mir zu schaden. Er weiß, dass seine … Berührungen … in mir Unbehagen erwecken. Deshalb genießt er sie umso mehr. Je unwohler ich mich fühle, desto mehr … erregt es ihn.« Er ließ den Kopf hängen. Kurzzeitig gab die Runde sich unangenehm berührtem Schweigen hin. Erst nach Minuten formulierte Rogers umständlich die Frage, die sich vielen von ihnen stellte. »Von … von was für einer Art von Erregung sprechen wir hier eigentlich?«, wandte er sich vorsichtig an Thor. »Taps hat uns versichert, dass Loki auf eine emotionale Weise an dich gebunden wird. Nicht auf eine …« Er verstummte. Seine Wangen waren plötzlich etwas weniger blass. »Hemmungen, es beim Namen zu nennen?«, fragte Stark spöttisch. Thor hob entschieden die Hand, ehe der andere weitersprechen konnte. Das, was Stark da zur Sprache bringen würde, wollte er nicht hören. »Es bereitet ihm Vergnügen, mich leiden zu sehen«, lenkte er ab. »Das ist nicht erst so, seit er den Trank einnimmt. Es ist … eine Folge meines eigenen Verhaltens und dessen meines Vaters. Aber jetzt äußert es sich anders.« »Nur um das mal zusammenzufassen«, nahm Stark eifrig wieder das Wort. »Du willst damit sagen, dass Loki sich an allem aufgeilt, was dich abstößt?« Thor sah ihn bestürzt an. »Also, wenn dir der Arsch auf Grundeis geht, dann geht ihm einer ab?« »Was …? Ich verstehe nicht …« Captain Rogers rollte die Augen. »Das war ja wieder mal mehr als taktlos. Sei froh, dass du nichts verstehst, Thor. Ich sage, wir müssen dieses Experiment beenden.« »Na, genau das sag ich doch auch?« »Nein, Sie finden es lustig, wie sich alles entwickelt!« »Schhh!«, fuhr Romanoff dazwischen. Sie schien nicht fassen zu können, dass selbst in einer derart zugespitzten Lage immer noch Raum für Streitigkeiten und barsche Worte war. Jedoch lenkten beide Männer sofort ein. »Das Einzige, was ich an dem Experiment lustig finde«, räumte Stark nüchtern ein, »ist – und das geb ich zu –, dass wir Loki einfach mal so richtig verarscht haben. Haben wir doch. Natasha sollte ihn um den Finger wickeln, er hat’s spitz gekriegt, dann lassen wir Thor auf ihn los und – bäm! Stockholm-Syndrom. Die Lage kann sein, wie sie will, aber das Experiment war ein Erfolg. Irgendwie. Die Phase mit dem kuschelnden Opossum, die haben wir doch schon erreicht.« »Die Frage ist, was kommt danach?«, sagte Rogers bedeutsam. »Wollen Sie Ihre Energie nicht lieber mal dazu verwenden, in Taps’ persönlichem Speicher nach weiteren Aufzeichnungen zu suchen?« »Was Sie nicht sagen!«, stieß Stark entzückt hervor. »Brillante Idee, Captain! Wenn Sie’s wissen wollen, ich bin schon seit heute Morgen dabei, die Daten runterzuladen. Der Server ist leider inzwischen so ausgebremst, dass es ewig dauert.« »Können wir irgendwas tun, damit es schneller geht?«, bot ihm Romanoff an. »Fürchte nein … Wir scheinen kurz vor ’nem Systemcrash zu stehen …« Thor beobachtete fasziniert Starks Finger, die flink über das leuchtende Fenster in seiner Hand huschten. »… Aber was ich schon habe, sind Taps’ Einträge. Scheint penibel Buch zu führen über das Affentheater. Und er überwacht immer noch Lokis Temperatur, die … oh, wow … dem Gefrierpunkt ziemlich nahe ist.« Argwöhnisch richtete er einen schiefen Blick auf Thor. »Ist das normal bei dem?« »Loki toleriert die Kälte«, sagte Thor steif. »Du hast mir gesagt, er wäre ein … Eis…dingsbums. Da frag ich mich: Wieso hast du ihn zugedeckt?« »Hat er?«, fragte Romanoff irritiert. »Ja, hat er?«, kam es ebenso ungläubig von Rogers. Stark tippte auf den Bildschirm. »Hab’s genau gesehen.« Unbehaglich versuchte Thor sich zu erklären: »Dass er die Kälte aushält, heißt nicht, dass er sie mag. Ich habe gehofft, ich könnte ihn … menschlich halten.« »Indem du ihn warm hältst?« »Es ist ganz gleich, was ich tue.« Thor schlug die Augen nieder. »Er wird nicht aus eigenem Antrieb Vernunft annehmen. Wenn er zuletzt gehorsam ist, so liegt es daran, dass ihm diese Gefühle aufgezwungen werden. Mittlerweile glaube ich nicht mehr, dass er in diesem Zustand in Asgard willkommen wäre.« Rogers starrte mit dämmrigem Blick an Thor vorbei auf die Wand. »Erst mal wird sich zeigen, wer das alles hier mit weniger Schaden übersteht: er oder wir. Werden wir beim Stark Tower ankommen oder wird dieses Flugzeug vorher in seine Einzelteile zerfallen sein?« Über diese Option mochte Thor nicht nachdenken. Noch nicht. Doch eines war sicher: »Je mehr wir ihn quälen, desto mehr wird er uns quälen.« »Es sei denn, Fury hält Wort und schaltet ihn rechtzeitig aus.« Der Captain wandte sich an Romanoff. »Wie würde das aussehen?« »Simpel«, antwortete die Spionin. »Die Zelle lässt sich mit Narkosegas fluten. Wir rechnen damit, dass wir eine große Menge davon einsetzen müssen und dass es eine sehr tiefe Bewusstlosigkeit erfordern wird, Lokis Einfluss durch das Zepter zu verringern. An seinen normalen Schlaf- und Wachphasen lässt sich schließlich kein Unterschied in der Wirkung feststellen.« »Richtig, wir müssten ihn ganz, ganz, ganz tief schlafen legen«, betonte Stark, »so tief, dass die Hirnaktivität fast zum Erliegen kommt.« »Das ist der Plan«, nickte sie. »Und was muss noch passieren, damit Fury den Befehl gibt? Warum aufs Spiel setzen, dass wir in einem Stück nach Manhattan kommen?« Romanoff erwiderte Starks Blick aus ihren großen, dunklen Augen, in denen nie etwas zu lesen war. »Weil er hofft, dass dieses Mittel uns in Zukunft eine große Hilfe im Umgang mit mächtigen Gegnern sein wird. Gegnern von Lokis Kaliber.« »Und er will’s so genau wissen, dass er eine Katastrophe riskiert?« »Ja«, war ihre aufrichtige Antwort. »Sie machen sich keine Vorstellung von den Bedrohungen, die von allen Seiten auf die Menschheit starren.« »Doch, mache ich.« »Lassen Sie’s gut sein«, forderte ihn Rogers auf. »Wir werden diese Sache gemeinsam aussitzen. Thor?« Der Angesprochene hob den Kopf. »Ja?« »Wirst du vor der Abendkonferenz noch mal zu ihm gehen?« »Wenn ihr euch davon etwas versprecht«, seufzte Thor. »Aber ich glaube nicht, dass er schon morgen tun wird, was ich ihm sage.« »Lassen wir es auf den Versuch ankommen.« Thor sah das blasse, aufmunternde Lächeln und versuchte ungeschickt, es zu erwidern. Gegen fünf Uhr nachmittags fiel sämtliche Kommunikation an Bord aus. Exakt wie die bereits zuvor versagende Technik waren nun auch die Ohrstücke nutzlos geworden; keine Art der Energiezufuhr erweckte die Geräte wieder zum Leben. »Nicht nur ich werde am Ende dieser Reise tot sein.« Thor wälzte diese Worte im Kopf umher, bis sie dort gediehen wie widerwärtiges Unkraut. Er hatte versprochen, das Experiment fortzusetzen, und ja – er würde es noch genau einmal versuchen. Wenn Loki jetzt, zur Neige des vierten Tages, immer noch dieses seltsame Gebaren zwischen Zutraulichkeit und Unberechenbarkeit an den Tag legte, würde gewiss auch die letzte Nacht nicht mehr viel daran ändern. Und diese Nacht fürchtete Thor. Sie würde kalt sein, denn im Laufe des Tages war die Temperatur an Bord stetig gesunken. Außerdem wusste er, dass ihn die wilden, abstoßenden und zugleich seltsam erregenden Träume erneut unentrinnbar heimsuchen würden. Und diesmal würde Loki darin zweifellos eine Rolle spielen. Als er die Arrestebene betrat – jenen fremd gewordenen Teil des fliegenden Schiffes, dessen Wände mit bizarren, kalt glitzernden Eisranken überwuchert waren –, wusste Loki längst, dass er kommen würde. Erwartungsvoll stand er vor der Scheibe, beide Handflächen darauf abgestützt. Thor schauderte, als er sah, wie auf der Oberfläche des Glases die Eiskrusten Lokis blaue Finger eingeschlossen hatten, als wären sie ein Teil seines Körpers. Er musste stundenlang in dieser Position verharrt haben. Als er Thor sah, teilte unverhehlte Freude seine gleichfalls blau gefrorenen Lippen. Seine Augen – dies ließ Thor umso mehr den Frosthauch spüren – hatten nun einen abscheulichen, leuchtend roten Stich. Er wusste, was das bedeutete. Herausgerissen aus der Welt, in die er nie gehör hatte, begann Lokis Körper sich zu erinnern, was er wirklich war. »Ich wusste, du besuchst mich wieder.« »Tritt zurück«, verlangte Thor von ihm. »Oooh.« Lokis Augen blitzten auf. »Diesmal willst du näher kommen. Wie erfreulich.« Er wich von dem Glas fort. Knisternd lösten seine Hände die zerbrechlichen Fesseln, die sie an die Scheibe hefteten. Feiner Eisstaub rieselte zu Boden. Thor zwang die gläserne Pforte beiseite, sobald Loki gedankenverloren lächelnd auf seiner Pritsche saß, und füllte ihre Öffnung mit seinem Körper, jederzeit bereit, einen wilden Angriff abzuschmettern, ehe er den Zugang wieder geschlossen hatte. Keiner der beiden machte eine schnelle Bewegung. Loki blieb entspannt sitzen, und Thor, nun innerhalb des Gefängnisses, zog den Schal aus grober Schurwolle, den Natasha Romanoff ihm gegeben hatte, enger um den Hals. Der herablassende Blick seines Jotunbruders forderte ihn geradezu dazu auf, in die Offensive zu gehen. Thor war fest entschlossen, seine Abscheu niederzuzwingen und zu tun, was nötig war. Festen Schrittes ging er auf Loki zu – und stoppte auf halbem Wege, als etwas Kleines, Hartes unter seiner Sohle scharf knackste. Noch ehe er den Fuß gehoben hatte, wusste er, was es war. Betroffen nahm er das winzige zerstörte Zauberding in die Hand und hörte, wie Loki auflachte. »Es hat mich gestört. Mein Ohr wurde schwerhörig«, erklärte er in spöttischem Ton. Thor ließ den Temperaturfühler fallen. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr. Als er zu dem Feldbett kam, machte Loki ihm sofort Platz, und sobald Thor saß, lehnte der andere sich gegen ihn. Thor zitterte innerlich. Er war dazu angehalten worden, seinem Bruder Körperkontakt aufzuzwingen, doch genau andersherum geschah es. »Wieso hast du den Kampf aufgegeben?«, fragte er ihn tonlos. »Du sagtest, du könntest mich niemals lieben.« »Ich habe nicht aufgegeben«, sagte Loki dicht an seinem Ohr, und die Kälte seines Atems bescherte Thor Schüttelfrost. »Ich habe … mich überzeugen lassen.« Sein Arm schob sich unter Thor Schulterhöhle durch, vergrößerte die Berührungsfläche. Sein Kinn kam auf Thors Oberarm zu liegen. Indes wirkte sein Haar seltsam weiß vom Eis; jede einzelne Strähne war gefroren. Thor beruhigte sich mit dem Gedanken daran, dass all das hier unter Kontrolle war. Zumindest jetzt noch. Er konnte Loki jederzeit von sich stoßen. Seine Freunde beobachteten ihn durch ihr großes Fenster. Sie würden helfend eingreifen. »Kehr mit mir zurück nach Hause«, bat er, während er vorsichtig seinen Arm aus Lokis Griff befreite und ihn seinerseits um dessen schmale Schultern legte, ihn sanft an sich ziehend. »Glaubst du wirklich, ich zöge das in Erwägung?«, gab Loki abfällig zurück. »Mein Leben ist eine einzige Lüge. Ich kann nicht so tun, als wäre alles wie früher zu unserer Kindheit. Wir sind beide nicht mehr, was wir waren. Und ich war niemals das, was du von mir glaubtest. Ich war niemals dein Bruder. Und niemals dein Freund.« Noch während er diese zurückweisenden Worte aussprach, hatten seine Lippen sich wieder Thors Hals genähert. Er schien den Geruch der Haut zu inhalieren; dann schob er mit kalten Fingern den schützenden Schal beiseite und berührte die weiche Stelle unter dem Kieferknochen, dort, wo warm die Halsschlagader pulsierte, vorsichtig mit der Spitze seiner Zunge. Thor konnte nicht anders; sobald er die kalte Feuchte spürte, zuckte er zurück und widerstand nur mit größter Beherrschung dem Impuls, sich auf der Stelle zu befreien. Seine Glieder brachen in Zittern aus; ein krampfartiges Schnauben füllte die Luft mit Atemnebel. Nein. Keine Flucht. Er musste dies zulassen. Kein Weg führte daran vorbei. Es musste sein. Keuchend und bebend ließ er Loki gewähren. Hielt aus, dass dieser sich an ihn schmiegte und genüsslich in sein Haar atmete. Es war nicht richtig. Es hätte anders verlaufen sollen. Und dann schaute er zur Seite, sah seinen Bruder an – und entdeckte einen geheimnisvollen Vorgang, der im spärlichen, flimmernden Licht beinahe unsichtbar war: Dort, wo Lokis eiskalte Haut Thors warme berührte, wich das klamme Blau langsam zurück. Schon hatten Lokis Wangen wieder eine gesunde Farbe – bleich, aber nicht erfroren – und seine Augen, die kaum lange genug aufblickten, um sich eingehend mustern zu lassen, waren wieder klar, ohne jeden roten Schimmer. Es ist die Wärme, dachte Thor. Sie ist es tatsächlich. Ich hatte Recht. Aus einem Impuls heraus nahm er Lokis Hände fest in seine und sah zu, wie in die schlanken Finger das Leben zurückkehrte. Genauso, das wusste er inzwischen, hatte es sich zugetragen, als Odin Loki als Neugeborenes gefunden hatte: Die Berührung einer warmen Hand, die Annahme und Zuwendung neuer, sorgender Eltern hatten einen Eisriesen die Gestalt eines der Ihren annehmen lassen. Eine unerklärliche, wundersame Verwandlung. Mit einem scharfen Atemholen entzog Loki Thor seine Hände und schob sie gierig und völlig unerwartet durch die über der Brust geöffnete Jacke unter die warm haltende Weste und das Hemd darunter. Thor stieß einen erstickten Laut aus, als die noch immer eiskalten Finger sich an seine nackte Haut pressten. Unwillkürlich umklammerte er Lokis Handgelenke, versuchte, sie wieder unter seinem Wärmepanzer hervorzuziehen. Und musste mit Erschrecken feststellen, dass Loki um ein Vielfaches stärker war als er. Sein Bruder schüttelte ihn mühelos ab. Thors Widerstand ignorierend forderte er hartnäckig die Wärme ein, die ihm so lange verwehrt geblieben war. Seine Hände glitten zu den tieferen, noch heißeren Zonen am unteren Bauch, seine Zunge fuhr über Thors Hals und überzog die feine Haut mit knisternder Kälte. Sein Atem ging immer schneller, tiefer und geräuschvoller. Thor spürte dort, wo seine Hände krampfhaft die von Loki umklammerten, ihrer beider hämmernden Puls. Zugleich war er so aufgewühlt, dass ihm nicht einmal kalt wurde. In einem Hin und Her aus Fluchtreflex und Kampfinstinkt heizte sich sein Leib auf, wärmte sie beide. Immer noch ertrug er die begierigen, Wärme aufsaugenden Liebkosungen, obwohl seine Gedanken rasten. Wie sollte er sich von Loki befreien, wenn er – … Und genau in diesem Moment wurde seine Angst davor, Loki könnte zudringlich werden, Wirklichkeit. Wild drückte sein Bruder die Hand dorthin, wo sie nicht hingehörte, und fixierte Thor mit einem messerscharfen Blick, heftig atmend, die Zähne entblößt. »Nein, Thor! Du wirst mich nicht noch einmal zurücklassen. Nicht, nachdem du endlich mir gehörst. Mir allein!« Und mit diesen Worten packte er zu, während er die Zähne bittersüß in Thors Hals grub. Vor dem großen Beobachtungsfenster starrten Rogers, Stark und Romanoff fassungslos auf die Szene nieder, die sich ihren ungläubigen Augen darbot. Minutenlang schwiegen sie perplex. Ihre Münder standen offen. Erst viel später brachte Stark als Erster mit heiserer Stimme einen Kommentar hervor. »Er … geht … ihm mächtig an die Wäsche …« Rogers bewegte kurz die Lippen, wie um etwas zu erwidern, ließ es aber ratlos bleiben. Er konnte genauso wenig wie die anderen den Blick abwenden. »Wir müssen … jemanden informieren«, ließ Romanoff mit dünner Stimme verlauten. »Nick … oder Phil …« »Sie denken genauso wenig an Taps wie ich.« Stark brachte seine Zunge nur mühsam unter vollständige Kontrolle. »Der hat uns versprochen, dass so was nicht passiert. Dumm gelaufen.« Rogers schüttelte sich in unwillkürlicher Abscheu. »Das ist nicht, was wir sehen wollten«, murmelte er, »das ist völlig … übers Ziel hinausgeschossen!« Noch immer starrten die drei auf Loki und Thor, eng umschlungen auf der Pritsche kauernd und nicht in gleicher Weise glücklich damit. Dann ließ Starks Computer, kaum gesichert in der lose gewordenen Hand hängend, ein affirmatives Geräusch ertönen. Wie aus einer Starre erwacht hob sein Besitzer es vor die Augen. »Oh … Der Download ist endlich fertig.« Zweimal huschte sein Finger über das Display, einmal hin, einmal zurück. »Viel mehr Videomaterial, als wir zu sehen bekommen haben … Mal gucken, ob da was Spannendes bei ist … was, das uns das da erklären kann …« Ihm war anzumerken, dass selbst er, trotz aller Unerschütterlichkeit, noch immer ganz befangen war. Schließlich nahm seine Stimme einen noch alarmierenderen Ton an, sodass auch seine beiden Leidensgenossen sich genötigt sagen, aufzusehen: »Wow, wow, Stopp, nein, das kann nicht dein Ernst sein!«, stieß er aus. Und dann, noch lauter: »Taps, du verlogener Mistkerl!« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)