Stille von Idris (Malia/Lydia) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Lydia und Stiles stehen in der Mitte des Raumes und brüllen sich an. Die Luft schmeckt salzig und bitter, nach Angstschweiß und aufkeimender Panik und ihre Stimmen vibrieren durch die beengte Luft, dissonant und schmerzhaft, wie ein Orchester aus falsch gestimmten Instrumenten. Malia steht mit dem Rücken an der Wand. Sie hat die Fingernägel in die Handfläche gebohrt. Der Fluchtinstinkt in ihr bäumt sich auf wie ein wildes Tier und sie muss ihn mit Gewalt nach unten zwingen. Sie zählt Herzschläge. Das hat Scott ihr beigebracht. Herzschläge zählen wie einen Tanzrhythmus. 1-2-3. 1-2-3. 1-2-3. Bumm bumm bumm. Bumm bumm bumm. BummbummBUMMbummbummbummbummBUMM… und das ist Stiles. „Was ist mit Deaton?“ faucht Lydia. „Der redet in Glückskekssprüchen! Das hilft uns doch nicht weiter!“ brüllt Stiles zurück. „Oh mein Gott, Stiles, wir müssen irgendwo anfangen!“ „Wenn du einen Plan hast, nur her damit!“ „Lass uns doch einfach erst mal nachdenken!“ „Das tu ich doch! Was denkst du, was ich tue?“ faucht Stiles. Er atmet tief durch und schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, sieht er gefasster aus. „Es tut mir leid“, sagt er erstickt und greift nach ihrer Hand. Lydia nickt. Sie presst ihre Lippen zusammen und drückt seine Finger. Sie stehen sich gegenüber mitten in Lydias Zimmer. Ihre zuckerwatteweiche Einrichtung in Pink und Lila ist wie eine Kollision zu den gehetzten Stimmen und den angespannt fuchtelnden Händen. Angespannt ist nicht das richtige Wort. Das richtige Wort für die Stimmung, die gerade über den Raum liegt wie eine große, schwere Decke ist wieder eins der Wörter, die Malia fehlen. Das oder es gibt einfach kein Wort für die nackte Panik, die sich in allen Gesichtern ausgebreitet hat bei dem Gedanken, dass Scott verschwunden ist. Scott ist weg. Kira löst sich vom Fensterrahmen, an dem sie bisher gelehnt hat. Sie hat ein paar Mal versucht, etwas einzuwenden, aber ist nicht gegen Stiles und Lydias aufgebrachte Stimmen angekommen. Kira hat es manchmal schwer, vor allem wenn Scott nicht da ist, der immer dafür sorgt, dass jeder zu Wort zu kommt und der jeden ausreden lässt. Aber Scott ist weg. Jetzt räuspert sie sich und wirft einen Blick zu Malia. Malia nickt ihr zu. Sie weiß nicht genau wieso, aber sie sie weiß, dass Kira das manchmal braucht, damit sie den Mund aufmacht. „Was ist mit Mr. Argent?“, fragt sie zögernd. Stiles schüttelt den Kopf. „Nicht erreichbar. Sie sind in den Bergen. Isaac hat Sc-Scott gestern geschrieben, dass sie die nächsten Tage kein Netz haben werden.“ Seine Stimme wackelt, als er Scotts Namen ausspricht. Kira nickt. „Okay. Dann… dann lass es uns systematisch angehen. Fällt dir irgendjemand ein, der Interesse an einem Alpha haben könnte?“ „Alle?“ Stiles reibt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Seine Finger zittern. „Wir haben darüber geredet. Dass er ein wahrer Alpha ist… das ist wie eine Zielscheibe auf seinem Rücken. Es könnte jeder sein. Ich weiß nicht. Jäger? Andere Werwölfe? Druiden? Feen? Böse Meerjungfrauen? Aliens? Ich weiß es nicht.“ Es ist zwei Stunden und siebzehn Minuten her, dass Scott verschwunden ist. Malia hat das Gefühl, dass sie von Minute zu Minute dabei zusehen können wie Stiles langsam auseinanderfällt. Es ist beängstigend. Lydia kaut auf ihrem Daumennagel. Malia weiß, dass sie versucht sich das abzugewöhnen und dass sie nicht erfolgreich ist, seit Allison… „Derek“, sagt sie. Alle Blicke landen auf ihr. „Wir sollten Derek anrufen. Er ist am längsten von uns allen dabei, oder? Vielleicht hat er eine Idee?“ Lydia und Stiles nicken gleichzeitig. Wortlos kramt Stiles sein Handy aus der Hosentasche hervor. Seine Finger zittern, als er nach der Nummer tastet. Lydia lässt ihre Hand sinken und wirft ihr einen dankbaren Blick zu und Malia weiß nicht, was sie darauf erwidern soll. „Hi“, stößt Stiles hervor. „Ich bin’s… Nein. Nein, ich bin nicht okay.“ Er atmet aus. „Scott ist… er geht nicht an sein Handy. Nein, du verstehst nicht. Scott geht immer an sein Handy… immer! Wir wissen nicht, was passiert ist… ich… ich geb dir Malia, okay?“ Malia streckt die Hand aus und nimmt das Handy entgegen. „Scott ist verschwunden“, sagt sie ohne Umschweife. - Deaton hat gesagt, dass der Kojote in ihr Scott als Alpha akzeptiert hat, in dem Moment als er sie durch sein Gebrüll zurückverwandelt hat und sie vor ihm als Mensch aufgewacht ist. Scheinbar war das ein Zeichen von Unterwerfung und von Anerkennung seiner Autorität. Malia ist nicht ganz sicher, wie das alles funktioniert. Alles was sie weiß, ist dass sie sich in Scotts Gegenwart anders fühlt. Besser. Wenn er da ist, ist es leichter die Verwandlung zu kontrollieren. Ihr Fokus ist schärfer und sie ist sich ihres eigenen Selbst bewusster. Es ist als ob sie und der Kojote aufhören miteinander zu ringen und stattdessen anfangen entspannt nebeneinander herzulaufen. Sie ist Mensch und Kojote zugleich und es ist kein Widerspruch darin. Scott hat ihr gemeinsame Trainingseinheiten vorgeschlagen und seit dem treffen sie sich dreimal die Woche für ein paar Stunden im Wald. Manchmal laufen sie einfach nur, meilenweit und so schnell bis Malia ausgepowert und erschöpft ist, damit sie den Haufen angestauter Aggressionen los werden kann. Das ist besser als Jungs in ihrer Schule die Fresse zu polieren, die blöde Kommentare über ihre Brüste machen oder dumme Sachen über Scott oder Lydia sagen oder Stiles als Spasti bezeichnen. Malia hat einen Haufen Aggressionen. Sie weiß gar nicht wohin damit. Manchmal hat Scott Aufgaben für sie. (Malia hat den vagen Verdacht, dass Stiles derjenige ist, auf dessen Mist die meisten „Trainingspläne für Werkreaturen“ gewachsen sind. Es klingt auf jeden Fall nach Stiles.) Dieses Mal ging es darum, ihre Sinne gezielter einzusetzen. „Ich konnte ihn nicht die ganze Zeit sehen“, endet sie. „Aber er war die ganze Zeit so nah, dass ich wenigstens seinen Herzschlag hören konnte oder seinen Geruch wahrnehmen. Und auf einmal war alles… weg. Er war weg.“ Wie vom Erdboden verschwunden. Sie erinnert sich an den Moment im Wald, als seine Anwesenheit plötzlich aufgehört hat zu existieren wie eine Lücke in ihrem Bewusstsein, so ruckartig, dass sie sekundenlang ins Taumeln geraten ist. Derek ist ganz still. „Kann es Teil des Trainings gewesen sein?“ fragt eine zweite Stimme am Telefon. Es ist Cora Hale, ihre Cousine, die Malia bisher nur von Bildern her kennt. „Vielleicht hat er es irgendwie geschafft dich zu täuschen und er wartet einfach bis du ihn findest?“ „Nein.“ Es ist Stiles, der antwortet. Er hat die Arme um seine Taille geschlungen, als ob ihm kalt ist. „Aber es könnte doch…“, versucht Cora. „Nein.“ Malia sieht wie sein Kehlkopf sich bewegt als er schluckt. Ein Teil von ihr möchte sich beschützend um kringeln um ihn zu trösten, weil es so schmerzhaft offensichtlich ist wie sehr er leidet. „Er würde nicht einfach so verschwinden. Nicht nachdem was… nein. Das würde er mir nicht antun.“ Niemand widerspricht ihm. Jeder von ihnen hat die Art gesehen, wie Stiles und Scott aufeinander zustreben, wenn sie länger als fünf Minuten getrennt sind. Sie sind wie kleine Magnete die man nicht auseinander bekommt, so sehr man auch an ihnen zieht. „Wenn er nicht freiwillig verschwunden ist“, sagt Derek zögernd, und es klingt als ob es ihm leid tut, dass er es aussprechen muss, „dann hat ihn jemand gefangen genommen.“ „Was ist wenn er…?“ Stiles kann es nicht einmal sagen. Er stolpert über die Worte, wie Malia im Wald, als der Boden unter ihr nachgegeben hat. „Er ist nicht tot“, sagt Derek. Er ist der erste von ihnen, der das Wort in Mund nimmt. Lydia presst eine Hand vor den Mund. Sie atmet langsam aus. „Natürlich nicht“, faucht sie, als ob das überhaupt nicht zur Debatte stünde. Aber Malia kann hören wie ihr Herzschlag flackert, unregelmäßig und panisch, weil ihr dieser Gedanke absolut schon gekommen ist. „Ich habe zwei Alphas verloren in meinem Leben“, sagt Derek leise. „Ich weiß, wie es sich anfühlt. Ihr hättet es alle gespürt. Er ist nicht tot.“ Stiles schließt die Augen und nickt. Als er sie wieder öffnet, sieht er gefasster aus, als ob dieser Satz alles ist, was er hören muss, damit er weiterfunktionieren kann. „Hast du irgendetwas ungewöhnliches gehört oder gesehen, Malia?“ fragt Derek. „War noch irgendjemand außer euch da?“ Sie schüttelt den Kopf. „Nur die üblichen Waldgeräusche. Eichhörnchen. Vögel. Irgendwo waren Wanderer. Zumindest haben wir Spuren gesehen.“ Nachdenklich runzelt sie die Stirn. „Und ich glaube, ich habe ein Kind gehört… eine Stimme oder ein Lachen… aber ich glaube nicht, dass ein Kind ihn entführt hat.“ „Vermutlich nicht, nein“, stimmt Derek ihr zu. „Lydia und ich könnten im Wald nach Spuren suchen“, schlägt Stiles vor. „Oder wir könnten…“ „Nein“, befiehlt Derek sofort. Es klingt scharf, beinah schneidend. „Nein! Auf keinen Fall werdet ihr alleine in den Wald gehen, solange wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben.“ „Aber…“ „Stiles. Nein!“ Es klingt nicht kompromissbereit. „Wenn ihr euch schon aufteilen müsst, dann kann doch wenigstens jeder Mensch mit einem Wolf zusammen bleiben“, schlägt Coras Stimme pragmatisch vor. „Kojote“, sagt Malia. „Kitsune.“ Kira klingt entschuldigend. Sie klingt immer entschuldigend, als ob ihre ganze Existenz anderen Menschen Ungelegenheiten machen könnte. Aber ja, es macht Sinn, denkt Malia. Lydia und Stiles haben die Erfahrung. Kira und sie haben die Katanas und die Klauen. Sie können sie beschützen. Ihr erster Impuls ist es zu Stiles zu gehen. Stiles ist immer ihr erster Impuls. Sie tritt zu ihm und greift nach seiner Hand, gleichermaßen als Beruhigung für ihn, wie für sich selbst gedacht. Stiles sieht sie an und seine Finger schließen sich um ihre. „Wir passen auf uns auf“, sagt er ins Telefon. „Ich nehme den nächsten Flieger zurück, okay?“ verspricht Derek. „Ich könnte in sechs Stunden da sein. Vielleicht in fünf.“ Stiles schluckt und nickt. „Ja“, sagt er leise. „Ja, bitte.“ Er sieht so blass und elend dabei aus, als ob er sich gar nicht vorstellen mag, dass Scott in fünf Stunden immer noch verschwunden ist. Seine Hände zittern so sehr, dass er erst im dritten Anlauf schafft, das Handy in seine Hosentasche zu schieben. Sein Herz wummert schmerzhaft schnell. Lydia und Kira tauschen über seinen Kopf hinweg einen Blick, lang und besorgt, und Lydia zieht sie mit einer nachdrücklichen Handbewegung nach drüben ans Fenster. Sie stecken die Köpfe zusammen und reden leise miteinander. Kira ist sehr blass und ihre Augen sind geweitet, aber sie nickt gehorsam und Malia kann sehen wie sie sich zusammenreißt. „Stiles. Wir könnten zusammen in den Wald gehen“, schlägt sie leise vor. „Ich kann dir zeigen, wo ich war, als es passiert…“ Stiles nickt und schüttelt gleich darauf den Kopf. „Ja. Warte. Nein“, sagt er und atmet tief durch. „Nein, das macht keinen Sinn. Lydia. Geh mit Lydia. Zeig ihr die Stelle, wo es war und… vielleicht kann sie… vielleicht kann sie irgendwas spüren.“ Man sieht ihm an, wie frustriert er ist, dass das alles so vage ist, dass Lydias Kräfte so unberechenbar und nebulös sind, dass sie keiner richtig versteht und dass sie nie so funktionieren wie sie das sollen. Trotzdem macht es vermutlich Sinn. Lydia ist die einzige, die im Wald irgendeine Spur finden könnte. „Ich mag das nicht“, sagt Malia ehrlich. „Was?“ „Das alles. Dass wir uns trennen. Du. Du bist so…“ Sie macht eine Handbewegung an ihm entlang. „Und du riechst so…“ „Hey, ich habe heute Morgen geduscht.“ Stiles lächelt matt. Panisch, denkt Malia. Er riecht panisch und gehetzt und angstvoll. Und traurig. Aus einem Impuls heraus, schlingt sie die Arme um ihn. Einen Moment lang versteift er sich, bevor er ausatmet und mit einer Hand über ihren Rücken streichelt und seinen Kopf auf ihre Schulter sinken lässt. Er muss sich nicht weit hinunter beugen, denn sie ist fast so groß wie er. „Wir finden ihn schon“, sagt er leise. „Alles wird gut. Wir werden ihn finden. Mach dir keine Sorgen.“ „Du musst mich nicht trösten. Ich versuche dich zu trösten“, murmelt Malia in seinen Nacken, weil Stiles offenbar nicht versteht wie das läuft. „Ich weiß.“ Er lächelt blutleer. Malia weiß, dass sie nicht Scott ist. Niemand kann Stiles so trösten wie Scott das kann. Aber Scott ist nicht hier. In diesem Moment räuspert sich Kira hinter ihnen. „Stiles“, sagt sie behutsam, und er löst sich langsam aus Malias Umarmung. „Wir beide gehen zu Deaton und reden mit ihm, okay?“ Sie blickt zu Lydia, und Lydia nickt bestätigend. „Kira ist bewaffnet und bereit jedem in den Hintern zu treten, der dir zu nahe kommt“ informiert sie Stiles. „Versucht einfach Informationen zu sammeln. Alles was ihr kriegen könnt.“ „Okay.“ „Malia und ich gehen in den Wald. Und ich versuche… mein Ding zu machen.“ „Okay.“ „Und du wirst nicht auf eigene Faust losziehen um nach Scott zu suchen oder irgendetwas ähnlich Dämliches versuchen, klar? Sonst bohre ich dir meine hohen Absätze in die Weichteile.“ Stiles nickt und sieht dabei aus, als ob es ihm schwer fällt dieses Versprechen abzugeben. „Und ihr lasst gefälligst alle eure Handys an“, befiehlt Lydia und sieht sie der Reihe nach scharf an. „Alle. Die ganze Zeit. Keine Funkstille, ich will regelmäßige Meldungen von allen.“ Malia ertappt sich dabei zu nicken, auch wenn sie das leise Surren ihres Handys mehr irritierend und erschreckend als sonst etwas findet. Aber Lydia hat diese Art an sich Befehle zu erteilen und das Kommando an sich zu reißen wie ein Feldmarshall, und wenn sie in diesem Modus ist, dann sagt man einfach nicht ‚nein‘ zu Lydia. Stiles sieht aus als schluckt er einen ganzen Haufen Erwiderungen hinunter, die ihm auf der Zunge liegen. „Pass auf dich auf“, flüstert er stattdessen. Lydia küsst ihn zum Abschied auf die Wange. „Du auch.“ Er wirft ihr einen langen Blick zu, bevor er sich umdreht und folgsam hinter Kira herläuft, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Im Türrahmen kann Malia sehen wie Kira sich bei ihm einhakt und leise etwas sagt, und sie hört wie das Wort ‚Batman‘ fällt. Stiles schenkt ihr dasselbe blutleere Lächeln wie Malia vorhin, aber es ist besser als nichts. Danach sind sie und Lydia allein. Ausgerechnet. Malia hat einen plötzlichen und zeitlich unpassenden Moment der Erkenntnis, indem ihr klar wird, dass sie bisher nur ein einziges Mal mit Lydia alleine gewesen ist, und das war, als Lydia ihr zwischen Tür und Angel ihre Mitschrift des Matheunterrichts überreicht hat. ‘Hier. Kannst du damit was anfangen?‘ ‚Was… was ist das…? Es sieht aus wie chinesisch!‘ ‚Es ist Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und jetzt pack die Klauen weg, Schätzchen, es ist Mathe, kein tollwütiger Bär.‘ Das war‘s. Sonst sind immer die anderen dabei gewesen, wenigstens einer von ihnen, Stiles oder Scott oder Kira. Es ist keine Absicht gewesen, nicht direkt… aber vielleicht doch. Malia kennt sich nicht sonderlich gut aus mit Menschen, aber sie hat zunehmend den Eindruck, dass Lydia sie vielleicht… nicht besonders gut leiden kann. Das oder Lydia kann vielleicht nur eine ganz begrenzte Handvoll von Menschen ertragen und die Quote ist einfach erfüllt. Keine Nachzügler. „Und jetzt?“ fragt Malia. Lydia wirft sich ihre langen Haare aus dem Gesicht und atmet tief durch. „Wir werden meinen Wagen nehmen“, bestimmt sie. „Und du musst mir die Stelle zeigen, wo er verschwunden ist.“ „Wieso?“ „Es… es funktioniert besser, wenn ich an der passenden Stelle bin.“ Sie klingt ungeduldig. „Und dann?“ Lydia schluckt. Sie hat eine Hand auf ihren Bauch gedrückt und die andere schwebt vor ihrem Mund, als ob ihr schlecht ist und sie es mit Gewalt zurückhält. „Ich werde schreien“, stellt sie fest. „Und es wird sehr laut werden.“ - Sie lassen Lydias Wagen am Waldrand stehen. Malia stapft voran, durch hohes Gras und vorbei an Büschen und Bäumen. Sie kann Scotts und ihre eigene Spur wahrnehmen, die sie heute Nachmittag hier hinterlassen haben, zertrampeltes Gras und der schwache Geruch von Apfelshampoo, das Stiles ihr einmal mitgebracht hat. Sie versteht nicht, wieso Menschen so gerne nach Essen riechen wollen, wo sie ohnehin schon Beutetiere sind. Menschen sind komisch. Die Sonne hängt tief über dem Horizont. In einiger Entfernung hört man das leise Brausen des Flusses. Es ist widerlich idyllisch und beunruhigend zugleich. Malias Blümchenshorts kleben unangenehm an ihren Oberschenkeln und ihre Strickjacke ist viel zu warm für das milde Wetter. Aber es hat immer noch etwas von einem Pelz an sich, wenn man von Kopf bis Fuß in dicken Stoff gehüllt ist. „Hier“, sagt sie und bleibt abrupt stehen. „Hier war ich, als Scott…“ Sie dreht sich einmal um sich selbst, bevor sie nach Norden zeigt, wo eine Gruppe von dicken Büschen steht. „Dort war er. Er war vor mir. Vielleicht… fünfzig Meter entfernt? Lydia?“ Lydia steht regungslos hinter ihr. Ihr Blick ist weit weg. „Was?“ fragt Malia beunruhigt. „Was ist?“ Sie ist sich nicht ganz sicher, wie das ganze Banshee-Ding funktioniert. Das ist alles so wenig gradlinig und wenig logisch. Aber sie ist beinah ganz sicher, dass es nicht dazu gehört, dass Lydia aussieht wie erstarrt. „Lydia.“ Lydia blinzelt. „Ich… ich kann nicht…“, sagt sie. „Was soll das heißen?“ Sie runzelt die Stirn. „Mach dein Ding. Schrei einfach?“ Lydia schnaubt. „Ich kann nicht einfach schreien. Das ist es nicht.“ Malia läuft die paar Schritte zurück zu ihr. Kniehohe Grashalme streifen ihre bloßen Beine. „Wie funktioniert es denn normalerweise?“ fragt sie. Lydia schüttelt den Kopf. Winzige Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn und ihr Atem ist schnell und flach. „Nein, du verstehst nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht für Scott schreien… ich kann nicht. Das letzte Mal als ich geschrien habe … das war wegen…“ Sie bricht ab. ‚Allison.‘ Das ist der Name, den Lydia nicht aussprechen kann. Es ist der Name, den Malia nicht aussprechen darf. Stiles hat sie irgendwann einmal zur Seite genommen, ganz am Anfang, und ihr nachdrücklich in die Augen gesehen und gesagt ‚frag niemals nach Allison, okay? Oder wenn du Fragen hast, frag mich. Aber frag niemals Scott. Oder Lydia. Niemals. Und Malia hat genickt und es versprochen. Sie ist nicht dumm, okay? Malia weiß was Trauer ist. Es ist der schwere, salzige Geruch, der manchmal an Scott und an Lydia klebt, schwer wie eine dunkle, schwarze Wolke, die einen zu Boden drückt und einen nicht atmen lässt. Es ist der Ausdruck in Stiles Augen, wenn jemand aus Versehen Allisons Namen sagt. Es ist der Moment, wenn Scott manchmal ganz still wird und weit weg ist, weil die Wirklichkeit einen Moment lang unerträglich geworden ist. „Aber Derek hat gesagt, Scott ist nicht tot“, sagt sie langsam. „DU hast gesagt, er ist nicht tot.“ „Ja“, faucht Lydia. „Aber vielleicht hab ich gelogen! Vielleicht hat Derek gelogen. Wegen Stiles.“ Sie stößt einen entsetzten Schluchzer aus und presst eine Hand auf ihren Mund. Malia starrt sie an. „Nein“, sagt sie langsam. „Was hätte ich ihm denn sonst sagen sollen?!“ „Scott ist nicht tot! Derek hat es gesagt!“ faucht Malia zurück. Ihr Puls rennt schneller. Heiße Luft bläst gegen ihre schweißnasse Haut. „Er ist nicht tot“, wiederholt sie. Sie weiß nicht, ob sie es sagt um sich selbst zu überzeugen oder Lydia. „Stiles überlebt das nicht“, flüstert Lydia, als ob sie gar nicht zugehört hat. „Wenn Scott nicht mehr… das geht nicht. Das packt er nicht. Das überlebt er nicht. Und ich kann… ich kann nicht diejenige sein, die es ihm sagt… ich kann nicht.“ „Er ist nicht tot“, wiederholt Malia. „Reiß dich zusammen, Lydia!“ „Woher willst DU das denn wissen?“ explodiert es aus Lydia heraus. Ihre Augen funkeln und sekundenlang seht sie wütend und furchteinflößend aus. „Tu doch nicht so! Du hast doch keine Ahnung, wie es war! Du hast doch keine Ahnung, was wir zusammen…“ Sie bricht ab. „Ich hab keine Ahnung?“ Fassungslos schnappt Malia nach Luft. „Ja, du hast Recht - ICH habe keine Ahnung wie es ist, wenn man Leute verliert, die man liebt oder wenn man schuld an ihrem Tod ist weil man sich in ihrem Auto in ein Monster verwandelt oder wenn dein eigener Vater dich nicht mal ANSEHEN kann ohne sich zu betrinken!“ Ihre Stimme wird immer lauter, bis sich ihre Stimme bei den letzten Wörtern beinah überschlägt. Sie atmet aus und lässt die Arme sinken, mit denen sie eben noch wütend gestikuliert hat. Mit einem Mal fühlt sie sich hilflos. Lydia öffnet den Mund, als ob sie etwas erwidern möchte, aber dann schließt sie ihn gleich wieder, ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen gepresst. Einen Augenblick sieht sie aus, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Malia blinzelt heftig. Sie blickt zur Seite und starrt in die Sonne, solange bis ihre Augen tränen, unerwartet getroffen von Lydias Ausbruch. „Ist es wegen Stiles?“ rutscht es ihr heraus, eine leise, eine sinnlose Frage. Was würde es denn schon für einen Unterschied machen zu wissen wieso Lydia sie nicht leiden kann. „Was?“ „Schon okay. Vergiss es.“ „Ist was wegen Stiles?“ bohrt Lydia. „Ich hab gesagt, vergiss es!“ faucht sie zurück. Die Luft glüht zwischen ihnen und es sind nicht nur die hohen Temperaturen. Lydia schließt die Augen und atmet ein und aus. Sie fährt mit beiden Händen über ihr Gesicht und schiebt energisch ihre Haare aus der Stirn. Rotblonde Strähnen kringeln sich feucht um ihre Schläfen und in ihrem Nacken. „Okay.“ Sie nickt, als ob sie eine Frage beantwortet, die niemand gestellt hat. Eine kleine hektische Ader pocht an ihrer Schläfe. „Okay… wie auch immer. Das bringt uns jetzt auch nicht weiter.“ „Nein.“ Scott, denkt Malia. Es geht um Scott. Und nicht um ihr und Lydias persönliches Drama, das sowieso völlig unwichtig ist. Was kümmert es sie schon, warum Lydia sie nicht leiden kann. Sie blickt haarscharf an Lydia vorbei, ihr Gesicht ein helles, verschwommenes Oval. „Vielleicht kannst du auch ohne zu schreien irgendwas hören?“ sagt sie leise. Sie hat doch keine Ahnung wie das funktioniert. Sie fühlt sich nutzlos. Und sie weiß nicht, wieso es jemals wie eine gute Idee geklungen hat, dass sie Lydia begleitet. Sie kann ihr doch sowieso nicht helfen. Und Lydia will auch gar nicht, dass sie ihr hilft. Malia ist nur gut darin draufzuhauen, aber hier sind keine Sprüche klopfenden Jungs, die sie platt machen kann. Sie kann gar nichts tun, und sie wünscht sich so sehr, dass man alle Problem der ganzen Welt damit lösen könnten, indem man ihnen ins Gesicht haut. Lydia schüttelt den Kopf und wischt sich über das Gesicht. „Es ist so laut“, murmelt sie unerwartet. „Es ist alles so laut. Ich höre ständig dieses… Murmeln. Dieses Rauschen. Wie… tausend Flüsterstimmen. Die ganze Zeit. Es hört nicht auf.“ Aus einem Impuls heraus tritt Malia zu ihr und hebt langsam die Hände, denn das – da ist sogar etwas, was sie versteht. Ihr ist es die ganze erste Zeit so gegangen, dass ihr alles zu viel und zu laut war, die ganze Welt überscharf und grell und in Sonic Surround Sound. „Darf ich…?“ fragt sie. Vielleicht ist es ein dummer Gedanke. Aber das ist das einzige, was ihr einfällt. „Was soll das werden?“ fragt Lydia skeptisch. „Du musst dich auf deinen Herzschlag konzentrieren“, sagt Malia. Sie wartet nicht ab, bis Lydia antwortet. Behutsam legt sie die Hände über Lydias Ohren. Lydia erstarrt. Dann seufzt sie leise und lässt die Arme sinken. Ihre Augenlider flattern wie von selbst nach unten und sie atmet aus. Einen Augenblick sieht ihr Gesicht beinah friedlich aus. Ihre Wangen sind wie aus Porzellan; sie sind weiß und rosa unter Malias langen, gebräunten Fingern. Sie sind wie eine Studie aus Kontrasten, und vielleicht, denkt Malia, vielleicht ist das das ganze Problem. Einen Moment lang ist alles ganz still, während ihre Atmung sich langsam synchronisiert, ein und aus, ein und aus, und Malia kann spüren wie ihr Herzschlag langsamer wird, im Gleichtakt mit Lydias. Sie kann den warmen Wind auf ihrer Haut spüren. Alles ist leise. Als Lydia die Augen wieder öffnet, sieht sie gefasster aus. Sanft, aber bestimmt nimmt sie Malias Hände von ihren Ohren. „Halt dir die Ohren zu“, befiehlt sie. „Es wird… sehr laut werden.“ Malia hat kaum Gelegenheit ihre Hände zu heben und über ihre eigenen Ohren zu pressen, als Lydia tief Luft holt. Der Schrei, der über die Lichtung hallt, ist kaum als menschlich zu bezeichnen. Er hat eine schallende, beinah metallische Qualität an sich als ob er durch einen Verstärker gejagt und durch tausend Echos gleichzeitig zurückgeworfen wird. Und er ist laut. Er ist LAUT. Kleine Tiere setzen sich fluchtartig in Bewegung und flitzen davon. Vögel flattern kreischend gen Himmel. Der Boden vibriert unter ihr. Reflexartig presst Malia die Augen zusammen. Die Vibrationen gehen ihr durch Mark und Bein, und sie geht unwillkürlich in die Knie. Ihr Kopf dröhnt. Es fühlt sich an, als ob ihr Gehirn pulsiert und anschwillt und droht sich durch Augenhöhlen und Ohren nach draußen zu drücken. Der Schrei vibriert durch ihre Knochen und nimmt sie auseinander. Sie merkt erst, dass es wieder vorbei ist, als jemand behutsam ihre Hände berührt. Alles ist verschwommen und sie blinzelt heftig gegen den Schleier aus Tränen an, der sich in ihren Augen gesammelt hat. Lydia kniet vor ihr im Gras. Sie sieht entschuldigend aus. „Es tut mir leid“, formt ihr Mund und Malia lässt vorsichtig die Händen sinken. „Gott…“ stöhnt sie. „Alles okay?“ fragt Lydia. Blut rauscht in Malias Ohren und Lydias Stimme ist sehr leise und gedämpft, als ob sie von weit weg kommt. „Tropft Blut aus meinen Ohren?“ fragt sie ängstlich. „Stiles hat mir einen Horrorfilm gezeigt und da war… tropft Blut aus meinen Ohren?“ Lydia verzieht den Mund zu einem unwillkürlichen Lächeln. Aber sie nimmt Malias Gesicht in die Hände und dreht ihren Kopf behutsam zur Seite, um nachzusehen. „Nein“, stellt sie fest und lässt ihre Hände sinken. „Kein Blut. Es ist alles okay.“ „Okay.“ Malia nickt zögernd. Sie schüttelt den Kopf um das benebelte Gefühl los zu werden, das sich anfühlt wie Wasser in den Ohren. „Das war… sehr laut“, stellt sie überflüssig fest. Lydia lacht erstickt. Ihre Hand ruht auf Malias Ellbogen, warm und sicher, und sie nimmt sie nicht weg. Es ist eine tröstliche kleine Geste. „Ich weiß. Sorry. Ich hatte vergessen… ich hätte dich weiter weg schicken sollen.“ „Hat es geholfen?“ fragt Malia hoffnungsvoll und wischt sich über die Augen. „Hast du… hast du was gehört?“ „Rauschen“, sagt Lydia. „Ich höre die ganze Zeit nur dieses verdammte Rauschen.“ Es klingt resigniert und frustriert zugleich. „Aber was ist wenn das die Antwort ist?“ fragt Malia zögernd. „Ich meine, vielleicht hörst du Rauschen, weil es wichtig ist?“ Lydia runzelt die Stirn. Einen Augenblick ist sie sehr still. „Welche Dinge rauschen?“ fragt sie langsam. „Schlecht eingestellte Radios?“ schlägt Malia vor. „Stimmengewirr? Wasser?“ Sie sehen sich an, wie vom Blitz getroffen. „Der Fluss!“, wiederholen sie beide gleichzeitig. Lydia atmet scharf aus, und dann ist Malia schon auf den Beinen, greift nach ihrer Hand und zieht sie mit sich hoch. Fortsetzung folgt Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)