Dunkelstes Reich von Flordelis ================================================================================ Prolog: Innerste Zuflucht – ... ------------------------------- Er existierte. Das nahm er jedenfalls an. Es war ihm nicht möglich, sich zu bewegen, selbst die geschlossenen Augen zu öffnen, erschien ihm wie ein Akt, der viel zu viel Kraft erforderte. Er war unfähig, etwas anderes außer sich selbst wahrzunehmen. Zeit war hier vollkommen ohne Bedeutung, genau wie ein Bewusstsein, deswegen wäre es für ihn nicht überraschend gewesen, würde es sich bei diesem Ort um das Jenseits handeln. Aber er existierte. Er lebte. Er hörte seinen Herzschlag, der aus allen Richtungen gleichzeitig zu erklingen schien, spürte das Wasser um sich herum, das sein Haar um seinen Kopf schweben ließ. Doch er ertrank in dieser Flüssigkeit nicht, er fühlte sich geborgen, zu Hause. Sicher. Das einzige, das seine heile Welt mit unschönen, rostigen Nägeln, anzukratzen versuchte, waren die kurzen Erinnerungen von Reue, die ihn manchmal durchzuckten, ihn mit einem heißen, gleißenden Feuer erfüllten, das genauso schnell wieder erstarb und eine geradezu schockierende Kälte zurückließ, bis er sich wieder in Sicherheit fühlte. Jedes Mal, wenn diese Flamme ihn heimsuchte, wollte er sich zusammenkrümmen, wollte schreien, wollte irgendjemanden auf seinen Schmerz, der ihm so vollkommen fremd erschien, aufmerksam machen. Er wollte nicht allein sein. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er existierte, doch er war gezwungen, für immer in derselben Position zu verharren, als wäre er eine Marionette, deren Fäden sich vor langer Zeit einst verfangen hatten und die derart unwichtig war, dass sich niemand je die Mühe gemacht hätte, sie wieder zu befreien. Er war verdammt, seine Existenz an diesem Ort, der gleichzeitig fremd und doch eine Heimat war, zu verbringen. Allein. Bewegungslos. Immer wieder von den grausamen Schmerzen heimgesucht, die ihn von innen heraus zu verbrennen drohten, bis er bereits auf Gnade hoffte, die nie eintrat. Er existierte. Und doch wünschte er sich, in seinen fast schon wachen Momenten, dieses Dasein würde enden. Würde alles mit sich reißen, was ihn eins ausgemacht hatte und woran er sich ohnehin nicht mehr erinnerte, abgesehen von dieser furchtbaren Reue, dem Gefühl, einen großen, unverzeihlichen Fehler begangen zu haben. Manchmal glaubte er, sich zu erinnern, glaubte, ein Gesicht zu sehen, einen Namen, glaubte, dass etwas in seinem Inneren darauf reagierte und Saiten seines Gefühls erklingen ließ. Aber da war nur sein Herzschlag, nur das Feuer der Reue, nur die Kälte des Vergessens. Er existierte. Aber das war auch schon alles. Nur manchmal, da wurde das Gefühl der Reue von einer Trauer begleitet, die so groß war, dass sie sich in Tränen ausdrückte, obwohl er nicht einmal wusste, dass es ihm noch möglich war zu weinen. Diese Tränen widersetzten sich jeder Logik, vermischten sich nicht mit der ihn umgebenden Flüssigkeit und schwebten stattdessen nach oben, bis sie die Wasseroberfläche durchbrachen. Dort wandelten sie sich in Töne, ein schweres Seufzen einerseits, eine Stimme andererseits. Diese Stimme war voller Bedauern, voller Reue, voller Trauer, voller Erinnerungen an gute Zeiten, die niemals zurückkommen würden, Erinnerungen an verpasste Chancen, die einfach verstrichen waren. Und diese Stimme sagte nur einen einzigen Namen, schaffte es damit aber, das gesamte, strahlendweiße Refugium einzunehmen: „Faren ...“ Außenwelt: 14.12.2023 – Dieses Mal werde ich dich retten. --------------------------------------------------------- Faren trat durch die Tür der Bahn, in dem Moment, in dem sie sich schloss. Natürlich nahm das rote Licht, das diesen Vorgang ankündigte, keine Rücksicht auf ihn und so konnte er gerade noch den zweiten Fuß hineinsetzen, bevor die Türen sich endgültig schlossen. Er schwankte nicht einmal, als die Bahn sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, während er bereits einige Schritte zur Seite machte, um sich zu setzen. Zu seiner Erleichterung fuhren abends um diese Zeit nicht mehr sonderlich viele Fahrgäste, weswegen er sofort einen freien Platz in der Sitzreihe neben der Tür fand. Die alte Dame rechts von ihm beachtete ihn nicht einmal, die Jugendliche links von ihm blickte für einen kurzen Moment von ihrem Handy auf, nur um dann zu stutzen und direkt noch einmal zu ihm zu sehen. Er wollte glauben, dass es – im Gegensatz zu all seinen Begegnungen der letzten Wochen – nur an seinem Haar lag, das ihm bis an die Schultern reichte und teilweise in einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden war. Die braune Farbe war schon wesentlich dunkler und intensiver gewesen, inzwischen wurde sie mit erschreckender Geschwindigkeit immer heller. Manchmal erkannte er sich selbst schon im Spiegel nicht mehr, besonders wenn er die Abwesenheit seines Lächelns bemerkte, das früher sein Markenzeichen gewesen war. Aber ich arbeite ja schon daran, es zurückzubekommen. Damit wanderte sein Blick zu seinem linken Handgelenk, an dem sich eine Armbanduhr befand – jedenfalls erschien sie so auf den ersten Blick. Das schwarze Band war auf jeden Fall um einiges breiter und erinnerte viel mehr an ein Schweißband, das Gehäuse ließ Rückschlüsse auf eine Stoppuhr zu, schon allein weil es zwei verschiedene Kronen – eine blaue und eine rote – gab, die man betätigen konnte. Das Ungewöhnlichste war dann allerdings eher das Ziffernblatt, das lediglich aus sechs, statt den üblichen zwölf, Zahlen bestand. Im Moment befanden sich alle Zeiger auf der Zwölf, ihrer Ausgangsposition, keiner von ihnen bewegte sich. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Uhr noch da war, hob er den Blick wieder, um durch das Fenster auf der anderen Seite nach draußen zu sehen. Als er bemerkte, dass es nur noch wenige Sekunden waren, bis sie die nächste Station erreichten, entspannte er sich ein wenig. Dadurch, dass sie sich in einem Tunnel befanden, war es schwer zu sagen, aber er war diese Strecke in den letzten Wochen so oft gefahren, dass er inzwischen jede kleinste Biegung, jedes Kabel, jedes Licht derart auswendig kannte, dass er genau wusste, wo sie waren und wie lange die Fahrt dauerte. Tatsächlich fuhr die Bahn nur wenige Sekunden später in den nächsten Bahnhof, aber auch hier stiegen nicht sonderlich viele Fahrgäste ein. Es war noch nicht wirklich Nacht, gerade einmal neun Uhr abends, aber dennoch zogen die Menschen es vor, nicht auf dieser Strecke zu fahren. Wäre Faren nicht etwas Bestimmtes bewusst, wäre es ihm genauso ergangen. Aber er wusste über das Gefühl Bescheid, das einen überkam, drei Minuten, nachdem diese Bahn den Bahnhof verlassen hatte, und er sehnte sich geradezu danach, deswegen war er so oft hier entlang gefahren. Aber das wird das letzte Mal sein. Eine halbe Minute später fuhr die Bahn bereits weiter. Faren betätigte die blaue Krone an seiner Uhr, worauf er einen leichten Stich in seinem Handgelenk spürte. Etwas strömte in ihn hinein, breitete sich in seinem Körper aus, um ihn zu erfüllen, während er den Kopf in den Nacken legte und die Augen schloss. Für einen kurzen Moment glaubte er, die Welt selbst atmen zu hören, wurde eins mit ihrem Herzschlag, der ihm begreiflich machte, was für ein winziges Sandkorn er war – nur um direkt danach von dem Gefühl übermannt zu werden, dass er mehr als das war. Er war ein Kieselstein, der eine Mühle anhielt, der einzelne Ast, der einen Fluss staute, der Biber, der ein ganzes Ökosystem erschaffen konnte. Er war eine kleine Figur aus Sternenstaub und hielt die Fäden für das Schicksal der gesamten Welt in der Hand. Er war nichts und gleichzeitig alles. Und das erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl, das ihn glauben ließ, dass er sogar Berge versetzen könnte, wenn er es sich nur fest genug vornahm. Mit diesem Gedanken öffnete er die Augen wieder und fand sich in einer leicht veränderten Bahn wieder, die sich aber immer noch bewegte, wenngleich deutlich langsamer als zuvor. Außer ihm befand sich niemand mehr hier, alles war hell erleuchtet, in einem grellen Licht, das ihm eigentlich in den Augen schmerzen sollte, das aber nicht tat. Jenseits der Fenster existierte nur ein strahlendes Weiß, das nicht von dieser Welt sein konnte. Sein Innerstes war erfüllt von Glück, das einst eine unbändige Freude gewesen war, bevor er sich daran gewöhnt hatte. Der Blick auf seine Uhr war eigentlich überflüssig, aber rein aus Gewohnheit tätigte er ihn dennoch. Dabei stellte er wieder einmal fest, dass der Sekundenzeiger sich in Bewegung gesetzt hatte und bereits fast eine Minute verstrichen war. Sein erster Moment, wenn die Wirkung einsetzte, kam ihm nie derart lang vor, weswegen er auch an diesem Tag wieder verwundert blinzeln musste. „Du solltest deine Euphorie wirklich nicht für mich verschwenden.“ Die andere Stimme, die ihm so vertraut war, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Als Faren den Blick hob, entdeckte er, dass auf der Sitzbank ihm gegenüber eine Person erschienen war, die sich im vergangenen Jahr kein bisschen verändert hatte. Das schwarze Haar fiel ihm immer noch über sein linkes Auge, womit es den Blick des anderen nur umso eindrucksvoller erschienen ließ. Durch seine Kombination aus weißem Hemd und grauer Jacke – und wenn man seine feingliedrigen Finger betrachtete – erschien er immer noch ein wenig feminin, niemand vermutete hinter ihm wirklich jemanden, der geradezu meisterhaft mit einem Schwert – oder jeder anderen Waffe, was das anging – umgehen konnte. Diese Person sah Faren geradezu vorwurfsvoll an, auch wenn in seinem dunkelbraunen Auge etwas wie Sehnsucht mitzuschwingen schien – aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein, weil er es sehen wollte. „Ich verschwende gar nichts, Kieran“, erwiderte Faren, statt ihn zu begrüßen, wie er es eigentlich gern getan hätte. „Ich tue genau das, was ich tun will.“ „Ich weiß, was du tun willst.“ Kierans Stimme, die sonst so melodisch und klangvoll war, hörte sich an diesem Tag einfach nur hart und unnachgiebig an, vielleicht ein wenig verständnislos sogar. „Aber ich finde das nicht gut. Willst du etwa alles wegwerfen, was ich dir geschenkt habe?“ Wäre Faren nicht noch immer von der überschäumenden Freude erfüllt gewesen, die durch Kierans Auftauchen noch verstärkt worden war, hätte er nun verärgert erwidert, dass er nie gefragt worden war, ob er dieses Geschenk, vor allem zu diesem Preis, überhaupt haben wollte. Aber so konnte er nur sanft lächeln. „Ich werfe überhaupt nichts weg. Ich weiß zu schätzen, was du getan hast, aber du hast dabei etwas Wichtiges aus den Augen verloren.“ „Und was?“ Kieran klang durchaus ernsthaft verärgert, was früher eigentlich recht selten zu hören gewesen war; immer war es ihm gelungen, sich unter Kontrolle zu halten, stets waren die Emotionen so tief verborgen gewesen, dass es ihm irgendwann wohl selbst nicht mehr möglich gewesen war, sie zu erreichen. „Dich selbst“, antwortete Faren ruhig. „In deiner Selbstlosigkeit hast du vollkommen vergessen, dass du auch glücklich werden musst.“ „Ich bin glücklich.“ Der Nachdruck in seiner Stimme sollte Faren wohl überzeugen, aber dabei ignorierte er seine eigene Klangfarbe, die seinem Gegenüber verriet, dass er vieles war, aber glücklich gehörte mit Sicherheit nicht dazu. Zumindest schaffte er es aber, dass seine Mimik vollkommen neutral blieb und seine Gestik quasi gar nicht vorhanden war. Er hatte noch nicht ein einziges Mal, bei keinem Wort, etwas anderes bewegt als seinen Mund oder ein Augenlid. Deswegen fiel es Faren auch nicht schwer, zu kontern: „Das glaube ich dir nicht. Ich kann spüren, dass du unglücklich bist.“ „Das kannst du nicht.“ Etwas in Kierans Auge blitzte auf, nur für einen Sekundenbruchteil, aber es war eindeutig Hass, der ihm da entgegengeschleudert wurde, obwohl seine Stimme vollkommen monoton blieb. „Hör endlich auf, dich aufzuspielen und tu nicht so, als würdest du mich kennen, Faren.“ „Aber ich kenne dich nun einmal“, erwiderte dieser vollkommen ruhig, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. „Ich weiß, dass du noch nie wirklich glücklich warst, weil es dich nie ernsthaft interessiert hat – und deswegen hast du dich auch geopfert. Du wolltest, dass alle anderen glücklich werden können und glaubtest, das ginge in diesem Moment nur durch dein Opfer.“ Kieran schwieg darauf, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sein Gesprächspartner im Recht war. Eigentlich hätte Faren diesen Moment noch gern ausgekostet, aber er konnte ein leises Rauschen hören, das ihm anzeigte, dass er sich schon fast an der Stelle befand, an der er das Gespräch unterbrechen musste. „Aber“, fragte er dennoch amüsiert, „glaubst du nicht, es geht ein bisschen zu weit, gleich ein Dämon zu werden? Nachdem du sie so lange selbst gejagt hast?“ Kieran stieß einen genervten Laut aus und wandte den Blick nach rechts, so dass Faren ihm nicht mehr ins Auge sehen, nicht mehr erkennen konnte, was in ihm vorging, auch wenn das ohnehin schon deutlich wenig gewesen war. „Ich habe getan, was ich tun musste. Akzeptiere es doch einfach.“ Obwohl er sich deutlich bemühte, zitterte seine Stimme ein wenig, kaum wahrnehmbar. Aber Faren registrierte es dennoch und in gewisser Weise freute er sich darüber. Es war ein Jahr her, seit er zuletzt mit Kieran gesprochen hatte, ein furchtbar langes Jahr, aber er schaffte es noch immer, ihn zu erreichen. Es war noch nicht alles verloren. „Das kann ich aber nicht. Einer von uns beiden muss egoistisch sein und wenn du es nicht sein kannst, werde ich diese Rolle übernehmen.“ „Ich hätte dir niemals sagen sollen, was ich für dich fühle“, murmelte Kieran abweisend. Aber er senkte dabei den Blick ein wenig und hob eine seiner Hände leicht an. Es war deutlich, dass er sich diese vor das Gesicht legen wollte, ihm wurde dieses Gespräch bereits zu viel und er wollte nicht mehr zeigen, was er fühlte. Aber er traute sich nicht, diese Geste zu einem Ende zu führen oder er schaffte es nicht. Doch wie auch immer, dies allein war eine Erkenntnis, die Faren innerlich jubeln ließ, da sie ihn erneut in seinem Vorhaben bestätigte. „Selbst wenn du es nicht gesagt hättest“, erwiderte er, „dachtest du, ich würde dich einfach diesem Schicksal überlassen?“ War Kieran in seiner Selbstlosigkeit wirklich derart verblendet, dass er glaubte, niemanden würde es kümmern, wenn er den Rest seines Lebens als das verbrachte, was er einst verachtet hatte? Dachte er wirklich, man würde mit den Schultern zucken und nicht einmal ernsthaft versuchen, ihm zu helfen? Kieran wandte wieder den Blick in seine Richtung, um ihn regelrecht damit zu durchbohren, sein sichtbares Auge war nun nicht mehr dunkelbraun, sondern ging bereits in einen leicht rötlichen Ton über. Irgendetwas musste ihn wirklich ärgern – und auf eine seltsame Art freute es Faren, dass er wieder einmal derjenige war, der Emotionen aus ihm hervorholen konnte. „Wenn du dort hingehst, werde ich dich nicht beschützen können!“ Erstmals war deutlich etwas in seiner Stimme wahrzunehmen und es passte zu der Empfindung in seinem Auge: Zorn. „Ich werde dich nicht retten kommen, wenn du in Schwierigkeiten gerätst! Alles, was dort geschieht, wirst du dir ganz allein zuschreiben dürfen!“ Das Rauschen wurde langsam lauter und trieb Faren damit an, sich bald zu verabschieden, obwohl er das gar nicht wollte, nicht nachdem er hier nun endlich mit Kieran beisammensaß. Aber es muss sein. Nur für die nächsten sechs Stunden, dann ist es endlich vorbei. Dann gehen wir wieder zusammen auf die Jagd, er wird mich als lästigen Idioten beschimpfen und wir werden über diese Ereignisse nur noch lachen. „Das ist schon in Ordnung“, sagte er sanft. „Ich habe es dir damals bereits gesagt, oder? Dieses Mal werde ich dich retten.“ Kieran öffnete bereits den Mund, doch fand er offenbar keine Widerworte, denn er blieb vollkommen still und sah Faren einfach nur an. Der rote Schimmer in seinem Auge verschwand wieder, bis es genauso aussah wie zuvor, so wie es schon immer ausgesehen hatte. Aber im Gegensatz zu früher, lag heute ein hoffnungsvoller Schimmer darin, einer, der sich wünschte, dass Faren zu seinem Wort stand, selbst wenn es ein Jahr gedauert hatte, um es zu erfüllen. „Fein“, brachte Kieran schließlich hervor. „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber beklag dich hinterher nicht bei mir, wenn du verletzt wirst.“ Damit verschwand er bereits, so dass Farens folgende Worte keinen Zuhörer mehr fanden: „Mach dir keine Sorgen, ich kriege das schon hin.“ Im selben Moment, in dem das Rauschen geradezu ohrenbetäubend wurde, erhob Faren sich von seinem Sitz – und in genau dieser Sekunde geschahen zwei Dinge auf einmal: Er kehrte wieder in die gewöhnliche Bahn zurück und die Welt hielt den Atem an. Alle anderen Fahrgäste verharrten in ihren Positionen, über ihre Handys gebeugt, mitten im Gespräch, eine Frau war sogar gerade mit einem sanften Lächeln beim Stricken eines Schals eingefroren. So gern Faren das alles auch ausführlicher bewundert hätte, seine Zeit drängte, die Uhr zeigte, dass bereits drei Minuten seiner Frist verstrichen waren. Also begab er sich ans Ende des Wagens und öffnete dort die Tür, um einfach auf die Gleise zu springen. Solange er sich in dieser Phase der Zeitlosigkeit befand, musste er sich keine Sorgen um etwaige andere Züge machen, aber dennoch hastete er weiter voran, bis er zu einer Nische im Tunnel kam. Es war eine vollkommen uninteressante Vertiefung in der Wand, höchstwahrscheinlich einmal eingebracht, damit Arbeiter sich hier in Sicherheit bringen könnten, aber für Faren war sie an diesem Tag wesentlich mehr. Mit weißer Kreide hatte irgendjemand das Wortspiel Nobody's happy auf den Beton geschrieben, was ihm nur noch einmal deutlich vor Augen führte, dass er sich am richtigen Ort befand. Das ist so typisch für dich, Kieran. Du musst erst ein Dämon werden, um das einzusehen. Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk, ließ er eine Pistole erscheinen, die er sofort ergriff, um dann damit dreimal auf die Wand zu schießen. Es gab keinen lauten Knall, es wurden nicht einmal Kugeln verschossen, aber die Energiebälle taten genau das, was er gewollt hatte. Sie nahmen jeweils drei nicht zu sehende Punkte, rund um die Worte herum, ein, dann verbanden sie ihre Energie miteinander – und im nächsten Augenblick gähnte bereits ein pechschwarzes Portal vor ihm. Kälte, Einsamkeit und Schmerz strömte ihm entgegen, wollte ihn davon abhalten, auch nur einen winzigen Schritt hineinzuwagen. Unwillkürlich erinnerte Faren sich daran, wie viel Angst er empfunden hatte, als er das erste Mal den Zugang zu einer sogenannten Zuflucht gesehen hatte. Wäre er damals allein gewesen, so wie heute, hätte er niemals auch nur einen Fuß hineingesetzt. Aber nun war da keine Angst mehr. Sie war durch Entschlossenheit ersetzt worden, den unbändigen Wunsch, sein Versprechen zu halten und die Person zurückzuholen, die er liebte. „Ich komme, um dich zu holen, Kieran“, murmelte er. „Ob du willst oder nicht.“ Er atmete noch einmal tief durch, dann schritt er durch das Portal, hinein in eine Welt, deren Aussehen ihm noch vollkommen unbekannt war, die er aber erst wieder verlassen würde, wenn sich der Gesuchte in Sicherheit befand. Ganz egal, was geschehen würde. Hinter ihm schloss sich das Tor wieder, als wäre es nie da gewesen und die Zeit dieser Welt lief ganz normal weiter, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hatte. Erste Welt der Zuflucht – War es wirklich das, was du wolltest? --------------------------------------------------------------- Faren wusste, dass mit einigem zu rechnen gewesen war. Zuflüchte waren stets auf den Dämon zugeschnitten, der in ihnen lebte, deswegen glichen sie einander nicht, sondern konnten jeweils ein vollkommen individuelles Aussehen annehmen. Als er gemeinsam mit Cathan, Kierans Vater, eine solche Zuflucht besucht hatte – wenn auch nur für wenige Minuten, weil der Dämon sie überraschend früh registrieren konnte – waren sie an einem Strand gewesen. Unzählige Meilen weit nur glitzernder Sand unter ihren Füßen, ein strahlend blauer Himmel, der mit Ölfarbe gemalt zu sein schien und glänzendes Wasser, das nach wenigen Metern gebröckelt war, als hätte an dem Punkt jemand die Lust verloren, das Meer zu malen oder ihm wäre die Farbe ausgegangen. Alles in allem war die Atmosphäre bis zum Eintreffen des Dämons friedlich gewesen. Aber Kierans Zuflucht war anders. Faren schritt durch die Ruinen einer Stadt, die aussah, als wäre ein Luftangriff im Krieg erfolgreich gewesen. Die riesigen Gebäude waren zerstört, ausgebrannt, teilweise in sich zusammengefallen, manchmal lagen die Trümmerstücke direkt vor ihm auf der Straße und erforderten von ihm, dass er einen Umweg nahm, um voranzukommen. Der Himmel glühte in einem bedrohlichen Rot, so dass Faren unweigerlich den Eindruck bekam, dass irgendwo noch ein Feuer brannte und niemand kam, um es zu löschen. Vier silbern leuchtende Ringe, in denen sich magische Symbole, deren Bedeutung er nicht kannte, befanden, rotierten in gleichförmigen, ruhigen Bewegungen, am Himmel um sich selbst. Zusätzlich wurde die Atmosphäre noch dadurch verstärkt, dass vollkommene Stille herrschte. Kein Laut, abgesehen von seinen eigenen Schritten, war zu hören, nicht einmal das Knistern eines möglicherweise vorhandenen Feuers. Außer ihm befand sich hier auch sonst niemand, aber dennoch wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Möglicherweise sogar von Kieran selbst. „Stille, huh?“, fragte er murmelnd und verscheuchte diese damit vorerst. „War es wirklich das, was du wolltest?“ Faren musste zugeben, dass er ihm diese nie gegönnt hatte. Wann immer er mit Kieran zusammen gewesen war, hatte er entweder geredet oder zumindest das Radio laufen lassen. Alles andere war ihm einfach zu bedrückend vorgekommen und besonders nach den ersten Wochen hatte er sich gewünscht, dass Kieran gern mit ihm unterwegs war. Hatte es ihn möglicherweise doch eher genervt, statt entspannt? Unsinn!, schalt er sich sofort. Hätte es ihn so sehr gestört, wäre das bestimmt mal von ihm gesagt worden. Er hatte nie ein Problem damit, sich über mich zu beschweren. Und es wäre nie so weit gekommen, dass Kieran Gefühle für ihn entwickelte. Aber darüber wollte er im Moment nicht nachdenken, aus Furcht, dann nachlässig zu werden. Also schob er den Gedanken innerlich weit von sich und konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung. Gerade noch rechtzeitig, denn plötzlich konnte er ein weiteres Geräusch hören. Rasch versteckte er sich hinter einem ausgebrannten Auto – das dem seiner Mutter erschreckend ähnlich sah – und lugte vorsichtig dahinter hervor. Er lauschte dem Tappsen, das ihn in schauderhafter Weise an so manches Videospiel erinnerte, allerdings war es nie ein gutes Zeichen, wenn in einer solch finsteren Umgebung ein so geradezu niedliches Geräusch hörbar war. Schließlich trat der Verursacher in sein Blickfeld, worauf er am liebsten geseufzt hätte und nur darauf verzichtete, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wie er befürchtet hatte, handelte es sich um eine kleine Stoffpuppe, die sich von allein bewegte und bei jedem hüpfenden Schritt dieses seltsame Geräusch verursachte. Hin und wieder gab sie ein leises Quietschen von sich, das wohl an eine Sprache erinnern sollte. Aber es erschreckte ihn wesentlich mehr, dass sie ein wenig an Kierans Mutter, Granya, erinnerte. Gut, das lange schwarze Haar war nicht so eindeutig, es gab viele Frauen mit solchem, die grau-blauen Knopfaugen waren auch nicht der beste Indikator, genausowenig wie das blaue Kleid. Aber sie war von einem Gefühl umgeben, das an Granya erinnern sollte, dessen war Faren sich absolut sicher. Genauso war er sich aber auch sicher, dass er nicht von ihr gesehen werden durfte und es intelligenter wäre, ihr einfach auszuweichen, was er auch sofort tat. Während sie der Straße weiter folgte, begab er sich in eine Seitengasse, in der, dicht an dicht, Müllcontainer standen. Es war nicht abzusehen, ob sich dazwischen nicht doch jemand verborgen hielt oder vielleicht sogar darunter, nur darauf wartend, hervorstürzen und ihn fressen zu können. Aber ihm blieb keine andere Möglichkeit, als direkt hindurchzugehen. „Komm schon, Faren“, murmelte er, um sich selbst Mut zuzusprechen. „Das schaffst du.“ Im letzten Jahr hatte er wesentlich schlimmere Dinge mitgemacht, wie er sich erinnerte, und womit er es endlich schaffte, den ersten Schritt zu wagen. Kaum war dies geschehen, lief er problemlos immer weiter, vorbei an den Containern, neben denen sich nichts befand, unter denen nichts hervorbrach, um nach ihm zu greifen. Natürlich nicht. Ich wurde noch nicht bemerkt. Oder noch nicht als Bedrohung wahrgenommen. Möglicherweise war Kieran nicht darauf erpicht, ihm zu schaden, was er nur hoffen konnte und worauf er im Moment auch am meisten vertraute. Dennoch atmete er erleichtert auf, als er endlich aus der Gasse treten konnte – nur um gleich irritiert innezuhalten, als er hinter sich ein leises Kratzen hören konnte. Nur widerwillig wandte er den Blick wieder in die Gasse zurück, dabei wollte er eigentlich gar nicht wissen, was sich dort befinden könnte – und außerdem drängte die Zeit. Aber er konnte nicht anders, als wie hypnotisiert auf den ersten linken Container zu starren, dessen Deckel vorsichtig von etwas aus dem Inneren angehoben wurde. Ein leises Röcheln wurde hörbar, dann schob sich eine massiv aussehende Männerhand durch die entstandene Lücke und der Anblick beschleunigte Farens Herzschlag sofort um ein Vielfaches. „D-das ist nicht wahr“, hauchte er schockiert. „Das kann nicht wahr sein!“ Egal wie lange es bereits her war, wie sehr Faren es zu verdrängen versuchte und auch wie stark die Euphorie in seinem Inneren war – wenngleich sie gerade ohnehin nicht mehr allzu stark war, zugegeben – er erkannte diese Hand sofort und wenn es nur wegen dem schweren Goldring war, der ihm bei so vielen Gelegenheiten, ein ums andere Mal, Narben und Schmerzen beschert hatte. Sein gesamter Körper verkrampfte sich bei diesem Anblick, er war nun nicht einmal mehr ein Sandkorn, er war schlagartig zu weniger als nichts geworden, diesem Etwas hilflos ausgeliefert. Doch im selben Moment, in dem ihn diese Erkenntnis ereilte, wurde der Deckel wieder zugeschlagen, die Gestalt im Inneren des Containers gab einen gellenden Schrei von sich, die Hand wurde abgetrennt – und löste sich in Asche auf. Wortlos konnte Faren nur auf diese Flocken hinabsehen, während diese zur Erde regneten, und sein Herzschlag sich beruhigte, dabei gleichzeitig bemüht war, die Euphorie wieder durch seinen Körper strömen zu lassen. Er glaubte, ein leises, amüsiertes Lachen zu hören, das tatsächlich klang, als käme es von Kieran und das wiederum ein gänzlich anderes Gefühl in ihm freisetzte. Wütend, voller Hass gar, trat er gegen den Container, ignorierte das dabei entstehende laute Geräusch, das er eigentlich zu vermeiden versuchte, und fuhr dann herum, verlieh seinem Zorn auch mit Worten Ausdruck: „Fuck! Das ist nicht komisch, Kieran!“ Natürlich erklang keine Antwort darauf. Was immer da gelacht und dabei so geklungen hatte wie Kieran, war in Wirklichkeit gar nicht er. Der Kieran, den er kannte, den er liebte, würde sich niemals einen so finsteren Scherz mit ihm erlauben oder gar Freude dabei empfinden, einen Menschen zu verletzen. „Du hast es mir selbst gesagt“, murmelte Faren, um sich davon wieder selbst zu überzeugen. „Du könntest nicht einmal zulassen, dass einem Mörder etwas geschieht.“ Kaum hatte er das gesagt, sah er erneut Kierans bedrücktes Gesicht in jenem Moment vor sich. Das gab ihm wieder die Zuversicht, seine Schultern zu straffen und den Weg fortzusetzen, diesmal ohne noch einmal ein Kratzgeräusch zu hören oder sich auch nur einfach so umzudrehen. Er war dieser neuen Straße, die zu einem zerstörten Wohngebiet gehörte, nur wenige Meter gefolgt, bis er schließlich ein Haus fand, das noch stand. Es war ein einfaches, kleines Haus, mit zwei Stockwerken und großen Fenstern zu beiden Seiten der massiv aussehenden Eingangstür. Er ging an dem Briefkasten vorbei, auf dem jemand mit Kreide Song for the fallen quer über den Namen Lane geschrieben hatte. Cathan hatte ihn bereits darauf vorbereitet, dass es durchaus möglich war, dass Kieran Rätsel stellen könnte, dass es tatsächlich Lazarus-Dämonen gab, die das taten, aber eine Begründung dafür kannte er nicht. Die kannte niemand, wie Jii, der Leiter dieses Experiments, ihm erklärt hatte. Dafür waren die Lazarus-Dämonen einfach noch nicht ausgiebig genug erforscht. Auf der Haustür war ein solch magischer Ring, wie einer von jenen, die am Himmel standen, abgebildet. Dieser bewegte sich nicht, aber er glühte in regelmäßigen Abständen mal stärker, mal schwächer, als imitiere er einen Herzschlag. Das in der Mitte befindliche Zeichen kannte Faren dennoch nicht, aber es besaß entfernte Ähnlichkeit mit einer Musiknote und musste daher im Zusammenhang mit dem stehen, was auf den Briefkasten geschrieben war. Entgegen aller Hoffnung drückte er gegen die Tür, rüttelte am Knauf, aber natürlich kam er nicht hinein, es war verschlossen. Selbst als er eine Hand auf das Zeichen legte, geschah nichts. Er bekam keine Erleuchtung, was zu tun war, verstand auch nicht plötzlich, was es zu bedeuten hatte – und die Zeit tickte unaufhörlich weiter. Frustriert raufte er sich das Haar. Mann, Kieran! Warum musst du es mir so schwer machen? Okay, ganz ruhig. Beruhige dich, Faren. Er atmete tief durch, konzentrierte sich darauf, seinen Herzschlag wieder zu normalisieren und betrachtete die Tür dann noch einmal genauer. Nun erkannte er, dass das Schlüsselloch keinesfalls für einen gewöhnlichen Hausschlüssel geeignet war. Stattdessen sah es aus, als müsse etwas wesentlich Kleineres und gleichzeitig Groberes, da hinein. Eine Art Aufziehschlüssel, vielleicht? Aber wo soll ich den herbekommen? Als würde jemand ihm eine Antwort schicken wollen – oder als wäre Kieran aufgegangen, dass es fairer wäre, noch einen Hinweis zu geben – erklang plötzlich wieder dieses seltsame Tappsen hinter ihm. Diesmal versteckte er sich nicht, da es auch keinerlei Versteck in der Nähe gab, sondern wandte sich einfach wieder in Richtung der Straße. Dort hüpfte erneut eine der Puppen vorbei, die ihn gar nicht beachtete und stattdessen zielstrebig dem Weg folgte, als müsse sie an einen ganz bestimmten Ort. Das erinnerte ihn daran, dass die andere Puppe – falls es nicht doch genau dieselbe war – genauso gewirkt hatte. Vielleicht bringt sie mich ja zum Schlüssel. Um das herauszufinden, folgte Faren ihr in gebührendem Abstand und ging sicher, dass er sich stets in der Nähe eines Verstecks aufhielt, sollte die Puppe sich doch spontan entscheiden, sich einmal umzusehen. Glücklicherweise tat sie das nicht, sondern führte ihn direkt ins Stadtzentrum, das gleichzeitig der Ort zu sein schien, auf den sich die Zerstörung konzentrierte. Hier gab es nicht einmal mehr Gebäude, die noch halbwegs standen, alles war bis zur Unkenntlichkeit vernichtet, nur noch eine Ansammlung von Stein, Beton und Stahl, deren ursprünglicher Zweck nicht einmal mehr zu erahnen war. Aber zumindest war Faren dort nicht mehr allein. Er kniete sich hinter einen umgestürzten Betonpfeiler und lugte über diesen hinweg zu der freien Fläche, die wie das Innere eines Blütenkelchs wirkte, wenn man all den Schutt darum herum als geöffnete Blüte sehen wollte. Dort, auf einem Betonbrocken, saß eine Gestalt, das rechte Bein angewinkelt, den Oberkörper vornübergeneigt. Die durchtrainierte Statur und auch das kurze schwarze Haar, sowie das bisschen, das Faren von seinem markanten Gesicht sehen konnte, verrieten, dass es sich um Cathan handelte – oder nicht ganz. Diese Person war nicht von Leben erfüllt, dafür aber von einer finsteren Aura umgeben, die sogar sichtbar war. Sie waberte wie eine Flüssigkeit um ihn herum, unfähig, sich zu weit von ihm zu entfernen. Auf seinem Oberschenkel saß eine dieser Granya-Puppen und quietschte immer wieder leise, als würde sie ihn aufmuntern wollen. Auch um ihn herum waren unzählige von ihnen zu sehen, sie tanzten zu einer unhörbaren Melodie, sangen quietschend vor sich her, als gelte es, ihn von seinem Leiden abzulenken und machten es damit zumindest für Faren, der das beobachtete, nur noch schlimmer. Für einen kurzen, aber äußerst schrecklichen, Moment, befürchtete er, dass Cathan sich nicht an die Abmachung gehalten hatte und doch auf eigene Faust in Kierans Zuflucht eingedrungen war, nur um dann von diesem festgehalten und langsam getötet zu werden. Aber er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Das kann gar nicht sein. Ich habe Cathan gesehen, bevor ich zum Bahnhof aufgebrochen bin. Er kann unmöglich vor mir hierher gelangt sein. Bestimmt sitzt er immer noch mit Jii in dessen Büro und wartet auf meinen Anruf. Dieser Gedanke beruhigte ihn zwar wieder, brachte ihn aber auch nun darauf, dass es sich bei dieser Person um einen Feind handeln musste, einen äußerst machtvollen sogar, wenn er das richtig einschätzte. Es wäre wesentlich besser, ihm erst einmal aus dem Weg zu gehen, wie er fand. Also machte er einen Schritt zurück – und im selben Moment, in dem er den Widerstand unter seinem Fuß spürte, hörte er auch bereits das schmerzerfüllte Quietschen einer Puppe, das ihm durch Mark und Bein fuhr. Er wagte nicht, nach unten zu sehen, war vollkommen wie versteinert und blickte stattdessen stur geradeaus, auch wenn das keine bessere Alternative war. Die anderen Puppen hatten inzwischen aufgehört zu tanzen und sich ihm mit einem Quietschen zugewandt, um ihn nun mit statisch lächelnden Gesichtern zu mustern, während er nur spürte, wie sämtliche Farbe sein Gesicht verließ. Er hoffte, betete regelrecht darum, dass sie gleich wieder das Interesse verlieren würden. Er nahm sogar den Fuß von der Puppe herunter, worauf diese ein erleichtertes Quietschen ausstieß. Aber es zeigte sich, dass Gott ihn an diesem Ort wohl nicht erhören konnte oder wollte. Die Gesichter verzerrten sich plötzlich zu bösartigen Grimassen, von irgendwoher zückten sie alle gleichzeitig Messer, die im roten Schein des Himmels bedrohlich glühten. Großartig gemacht, Faren, schalt er sich innerlich. Du bist echt der Tollste. Auf eine stumme Einigung stürzten sich alle Puppen sofort auf ihn, womit er keine Gelegenheit mehr hatte, sich mehr für sein unvorsichtiges Verhalten zu beschimpfen. Er fuhr herum und rannte in irgendeine Richtung, doch der Weg wurde ihm schon nach wenigen Metern wieder abgeschnitten. Ein ganzer Strom an Puppen, mit funkelnden Messern in den Händen, kam bereits aus einer Seitenstraße heraus und verhinderte sein Durchkommen. Er ging leicht in die Knie und sprang mit einem einzigen Satz auf eines der Trümmerstücke, das in etwa dreimal so groß war wie er und rannte dieses dann der Länge nach entlang, in der Hoffnung, diesen Puppen damit ausweichen zu können. Doch diese Wesen folgten ihm problemlos, stießen dabei weiterhin Quietschlaute aus, in denen er die Aufforderung zu hören glaubte, ihn nicht nur zu fangen, sondern auch direkt auseinanderzuschneiden. Einige folgten dieser Aufforderung bereits, lösten sich von dem Strom, um mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit auf ihn zuzuschnellen. Er wich lediglich dem Blitzen der Klingen aus, aber er spürte dennoch jeden Stich, den sie ihm versetzten, jeden Schnitt, für den er nicht schnell genug war. Blut floss warm und klebrig aus den Verletzungen, ehe die Heilungskräfte einsetzen und die Wunden verschlossen, dabei stets eine weitere kostbare Sekunde seiner, ohnehin schon knapp bemessenen, Zeit raubten. Und je mehr Blut sich auf seiner Kleidung verteilte, an seiner Haut klebte, desto angriffslustiger schienen die Puppen zu werden – er zweifelte nicht daran, dass sie es wirklich schaffen könnten, ihn zu zerteilen, sofern sie nicht lockerließen. Er könnte nicht ewig rennen. Aber ich würde mich kaum gut machen, wenn ich in meine Einzelteile zerlegt bin. Also musste er etwas tun, um das zu verhindern. Als vor ihm ein weiterer Strom an Puppen erschien, sprang er erneut in die Luft – und wie gehofft folgten sie ihm. Noch in der Luft ließ er zwei Schwerter in seinen Händen erscheinen, streckte die Arme seitlich von sich und vollführte eine Drehung um sich selbst. Die Klingen zerschnitten die Puppen, die direkt in seiner Reichweite gewesen waren, lösten sie in Ascheflocken auf, die anderen wurden von dem Rückstoß des heftigen Angriffs und dem endenden Momentum wieder zu Boden geschleudert. Faren selbst blieb, umhüllt von einem sanften, blauen Leuchten, in der Schwebe, ließ die Schwerter wieder verschwinden und beschwor stattdessen zahlreiche Gewehre, die rund um ihn herum in der Luft schwebten und auf die bewegungslos daliegenden Puppen deuteten. Auf ein stummes Kommando von Faren, wurden alle Gewehre abgefeuert. Es war ein geradezu ohrenbetäubender Lärm, als sie alle einen Schuss abfeuerten und dabei gleichzeitig danach klangen, als gäbe es nur einen einzigen, weil sie vollkommen synchron waren. Er schmerzte in seinen Ohren und ließ ihn endlich verstehen, warum Dämonenjäger auf solches Geschütz verzichteten. Aber es tat seinen Dienst: Die Kugeln zerfetzten die Puppen, lösten sie alle, inklusive ihren Messern, in Asche auf, auch wenn es Faren in der Seele wehtat. Vielleicht sehen sie Granya doch ein wenig zu ähnlich. Doch statt in Gewissensbisse zu versinken, widmete seine Aufmerksamkeit sich sofort Cathan, der inzwischen den Oberkörper aufgerichtet hatte. Seine leeren, weißen Augen, betrachteten die grauen Flocken für einen Moment nur, dann legte er den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und stieß ein gellendes Heulen aus, das Faren für einen Moment die Konzentration nahm und ihn zu Boden stürzen ließ. Er schaffte es gerade noch, sich halbwegs abzurollen, um sich bei dem Aufprall nicht zu verletzen, dann richtete er sich bereits wieder auf. Cathan stand bereits ebenfalls und hielt die Lanze in der Hand, mit der er normalerweise kämpfte. Faren hatte das Original in den letzten Monaten oft damit umgehen sehen, aber doch wäre es ihm nun nicht möglich, diesen Kampfstil zu kontern, wenn es sein müsste. Kieran könnte das bestimmt. Er war gut darin, zu kämpfen. Dieser war allerdings nicht da, um ihm zu helfen und er würde auch nicht plötzlich auftauchen – und Cathan stürmte bereits wütend auf ihn zu. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als mit einem weiteren Sprung auszuweichen und wieder in der Luft schwebenzubleiben. Cathan machte sich sofort daran, dieses ungleiche Höhenverhältnis auszugleichen, indem er einfach Klingen, aus dem Boden herausbrechen ließ. Faren wich den Waffen sofort aus und bemerkte dann, dass Cathan sie als scharfkantige Klettermöglichkeiten nutzte, um ihn zu erreichen. Daraufhin entfernte Faren sich weiter von ihm – und schaffte es gerade noch, nicht von einem Betonbrocken getroffen zu werden. Dieser schlug dafür in ein anderes Trümmerstück ein und erzeugte dabei derart viel Staub, dass er sich hustend die Hand vor den Mund halten musste. Er war nur eine Sekunde abgelenkt – und in dieser spürte er bereits einen scharfen Schmerz, der seinen Rücken durchzuckte. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass er von Cathan gegen eine noch intakte Wand geschleudert worden war. Sie war unter ihm gebröckelt, so dass er zumindest im Moment einen sicheren Halt in ihr fand. Die Euphorie, die ihn durchströmte, verhinderte noch dazu die höllischen Schmerzen, die er im Moment durchleben müsste, die Heilungskräfte nahmen jede möglicherweise entstandene Verletzung von ihm, ehe er sie registrieren konnte. Und die Sekunden zerrannen immer weiter ... Sein Gegner stand auf einer der höchsten Klingen, das rechte Bein auf der nächsthöheren, die linke Hand in die Hüfte gestützt, sein rechter Arm, mit dem er die Lanze trug, hing schlaff an seinem Körper herab. Es war eine typische Pose, die Faren schon oft an dem richtigen Cathan gesehen hatte und bei ihm natürlich aussah – bei diesem Schatten troff sie aber vor Arroganz, dass es Faren beinahe übel wurde. Siehst du deinen Vater wirklich so, Kieran? Ist er für dich ein arroganter, gefühlloser Kämpfer, der sich nur für Granya interessiert? Cathan hob eine Hand, worauf, ähnlich wie bei ihm zuvor, nun Waffen in der Luft erschienen. Es waren unzählige Schwerter, die allesamt auf Faren gerichtet waren und nur noch auf den Befehl warteten, losstürmen zu dürfen. Obwohl es ihm nicht im Mindesten behagte, streckte Faren seine Hand aus – und im selben Moment stand auch diese Welt still, so wie jene zuvor. Die Schwerter hingen immer noch drohend in der Luft, aber Cathan bewegte sich nicht einmal mehr im Mindesten. Faren nutzte diese Gelegenheit, um sich von der Wand zu lösen, in der er steckte. Kaum war das geschehen, sackte er einige Zentimeter in die Tiefe, bevor er es schaffte, wieder zu schweben. Statt sicherzugehen, dass er nicht doch noch verletzt war – was nur weitere Zeit verschwendet hätte – ließ er wieder die Pistole erscheinen und schoss einige Energiekugeln auf den Berg aus Klingen, der als Cathans Stütze diente. Die Kugeln schlugen darin ein, aber die Explosionen hielten mittendrin inne, derart losgelöst von der einzigen Person, die sich in dieser Zeitlosigkeit weiterhin bewegen konnte. Im Anschluss begab er sich in Deckung und ließ dann die Zeit weiterlaufen. Wie er gehofft hatte, zerstörten die Explosionen den Klingenberg und ließen Cathan in die Tiefe stürzen. Die beschworenen Schwerter fielen ebenfalls, ohne die Kontrolle ihres Meisters, zu Boden. Doch dieser gab nicht so einfach auf, drehte sich im Fall – und landete tatsächlich, wie eine Katze, unverletzt auf den Füßen. Die Schwerter schlugen rund um ihn herum ein, ohne ihn auch nur anzukratzen, als ob sie genau wüssten, dass sie ihm nichts tun dürften. Wäre auch zu schön gewesen, wenn es so einfach funktioniert hätte. Cathans Blick konzentrierte sich auf Farens Versteck. Wie er wissen konnte, wo sich der Feind befand, war ihm erst ein Rätsel – aber dann fiel ihm auf, dass er möglicherweise eine stark spürbare Aura ausstrahlte, die von einem so erprobten Feind einfach registriert werden musste. Die Klingen begannen zu rütteln, sich zu bewegen und lösten sich plötzlich, wie von Geisterhand geführt, um direkt auf Faren zuzusteuern. Diesem blieb nicht viel Zeit zu überlegen, also tat er das, was für ihn selbst am Naheliegendsten war – und verließ sein Versteck wieder. Die ersten Klingen trafen auf den Betonblock, zerfetzten ihn regelrecht, die nächsten folgten dann wieder seinen Bewegungen, scheiterten aber an den Schwertern, die er beschwor, um die angreifenden Waffen abzuwehren. Mit Bewegungen, denen kein normaler Mensch jemals hätte mit den Augen folgen können, schaffte er es, kein fremdes Schwert nah genug an sich heranzulassen, um ihn überhaupt gefährlich werden zu können. Dass er das allerdings nicht ewig würde durchhalten können, merkte er schon nach wenigen Sekunden, als seine Gelenke regelrecht zu ächzen begannen und er trotz der Euphorie von Schmerzen durchzuckt wurde. Er musste es schnell beenden, ihm blieb keine Wahl mehr. Also brachte er sich mit einem Sprung erst einmal außerhalb der Flugbahn der Schwerter. Bevor sie diese korrigieren konnten, stieß er sich in der Luft bereits von einem Bannfeld ab, das nur für ihn für den Bruchteil einer Sekunde existierte, und katapultierte sich damit in Cathans Richtung. Sein Gegner wollte wohl aber nicht untätig auf ihn warten, er streckte einfach die Hand in seine Richtung – und im nächsten Moment hörte Faren bereits ein Kreischen, in einem derart hohen Ton, dass er für einen Augenblick glaubte, taub werden zu müssen. In seiner Konzentration unterbrochen, landete er auf dem Boden, ließ seine eigenen Waffen verschwinden und presste sich beide Hände auf die Ohren, um den Ton draußen zu halten, aber es funktionierte nicht. Er hallte in seinem Inneren wider, erzeugte geradezu ein ganzes Orchester an verstimmten Instrumenten, die ihn dafür anklagten, überhaupt hierher gekommen zu sein. Sein ganzer Kopf schien zu brennen. Noch nie hatte er sich so sehr gewünscht, sein Gehirn einfach ausschalten zu können, wie in diesem Moment. Selbst nachdem Cathan die Hand wieder sinken gelassen hatte, hielt das Geräusch noch an, zwang ihn in die Knie und band ihn an Ort und Stelle. Sein Feind kam auf ihn zu und er wusste, dass er sich verteidigen oder zumindest fliehen müsste, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er konnte nur, durch einen Schleier von Tränen, beobachten, wie Cathan auf ihn zugelaufen kam, mit langsamen, siegessicheren Schritten, er war ganz offensichtlich überzeugt, dass sein Feind ihm nicht mehr würde entkommen können. Eigentlich wollte Faren ihm das Gegenteil beweisen. Eigentlich wollte er, egal was für eine schlechte Idee es auch war, noch einmal die Zeit anhalten. Eigentlich wollte er diesen Kampf gewinnen, um seinem richtigen Ziel näherzukommen. Aber er schaffte es einfach nicht, auch nur einen Muskel zu rühren. Und die Sekunden verstrichen immer weiter, während er untätig war … Das kann nicht sein!, sagte er sich, versuchte, das Kreischen mit seiner eigenen Stimme zumindest in Gedanken zu übertönen. Aber erfolglos. Ich kann hier nicht verlieren! Wer soll Kieran retten, wenn ich hier sterbe?! Und plötzlich, als seine Verzweiflung ihren Höhepunkt erreichte, war da noch etwas anderes. Etwas, das es tatsächlich schaffte, diesen anklagenden Chor zu dämpfen. Es klang wie ein Seufzen, sehnsuchtsvoll, erfreut, fast schon glücklich – und direkt darauf folgte eine Stimme: „Faren ...“ Der Klang von Kierans Stimme überdeckte das Kreischen, verdammte es an einen weit entfernten Ort, wo es schließlich zum Schweigen kam. Diese Klangfarbe, die selbst bei nur einem Wort eine wundervolle Melodie zu spielen schien, erfüllte Faren wieder mit Hoffnung, gab ihm die Kontrolle über seinen Körper zurück – und erlaubte ihm damit, Cathans Lanze auszuweichen. Die Klinge zerteilte den Boden dort, wo er eben noch gekniet hatte. Sein Gegner blickte scheinbar verwirrt und dennoch emotionslos auf den leeren Platz, wo eigentlich eine Leiche liegen sollte und hob dann den Kopf, um ihn anzusehen. Faren wischte sich gerade noch die Tränen aus den Augen, er schmunzelte dabei. „So leicht machst du mich nicht fertig. Du bist nicht mal halb so gut wie das Original.“ Cathan zog die Brauen zusammen – offenbar konnte er tatsächlich wütend werden, wenn man ihn reizte. Im nächsten Moment schoss bereits Wasser aus dem Boden, formte einen Kreis um ihn, nur um dann direkt zu Eis zu erstarren und ihn damit gefangenzuhalten. Als Antwort darauf beschwor Faren ein Schwert, dessen Klinge sich erhitzte und dann das zentimeterdicke Eis zerteilte, als wäre es nicht viel mehr als Butter. Gerade als er die Säule verließ, schoss ein Strom von Magma aus dem Boden hervor. Das Eis schmolz wieder – aber von ihm wäre in diesem Moment schon nicht viel mehr als Asche übrig gewesen, hätte er sich noch in der Säule befunden. Die Zeit lief immer weiter, stets gegen Faren, weswegen dieser beschloss, dass es unsinnig war, sich noch mehr Tricks von Cathan anzusehen. Seine Augen suchten nach dem Feind und fanden ihn schließlich auf einem erhöhten Schutthaufen, von wo aus er auf Faren hinuntersah. „Es wird Zeit, dass wir das beenden“, sagte dieser. „Ich muss noch Kieran retten.“ Er glaubte, wahrnehmen zu können, wie Cathan nickte und erhob sich mit einem Sprung bereits wieder in die Luft. Sein Gegner kam ihm bereits ungeduldig entgegen, indem er sich in die Tiefe stürzte. Als sie sich auf derselben Höhe befanden, war es Faren für einen kurzen Moment möglich, dem anderen direkt in die weißen Augen zu sehen. Aber darin war nichts, kein Mitgefühl, keine Sorge, nicht einmal Hass – und das war es, was ihn nicht zögern ließ, ihm das Schwert in die Brust zu rammen. Eine Bewegung, die viel zu einfach ging, die Klinge glitt, für Farens Geschmack, viel zu leicht durch den Brustkorb seines Feindes, noch mehr als zuvor durch das Eis. Cathan gab ein ersticktes Röcheln von sich, das frei von jedem Schmerz schien. Faren ließ das Schwert los und beobachtete dann, wie der Besiegte zu Boden stürzte – und sich dort in unzählige Aschenflocken auflöste, zwischen denen etwas zu glitzern schien. Warum hat er die Lanze nicht benutzt?, fuhr es Faren allerdings stattdessen durch den Kopf. Er hätte mich ganz einfach besiegen können. Wieder kam ihm Kierans Stimme von zuvor in den Sinn und wie sie ihm geholfen hatte. Vielleicht war es ihm auch möglich gewesen, Cathan zu beeinflussen. Aber im Moment blieb ihm keine Zeit, das weiter zu verfolgen. Geschmeidig landete er zwischen den nutzlos gewordenen Klingen auf dem Boden und ging neben dem glitzernden Gegenstand in die Knie. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es sich dabei um einen Drehschlüssel handelte – und natürlich wusste er sofort, wo er diesen einsetzen musste. Also kehrte er, nach einem letzten, bedauernden Blick – Ich werde Cathan wiedersehen, wenn das alles vorbei ist, ganz sicher, und dann werden wir hierüber nur lachen – zum Haus zurück, ohne einer weiteren Puppe zu begegnen, steckte den Drehschlüssel in das Loch und drehte ihn so oft, wie es ihm möglich war. Kaum hatte er ihn nach der letzten Umdrehung wieder losgelassen, erklang aus dem Inneren des Hauses eine Melodie. Sie war beruhigend, erinnerte an ein Schlaflied – und als gleich danach Granyas sanfte Stimme einsetzte und auch die passenden Worte dazu sangen, fühlte Faren sich darin bestätigt, obwohl er den genauen Text nicht einmal verstand. Er wirkte zerstückelt, als erinnere sich Kieran gar nicht mehr wirklich daran, versuchte aber, die Fetzen zu etwas Sinnvollem zusammenzufügen. Aber zumindest erfüllte es den Zweck, den Faren sich erhofft hatte: Das Zeichen auf der Tür löste sich in Funken auf, die von dem Holz emporschwebten, mit einem Klicken öffnete sich das Schloss und hieß seinen Besucher willkommen. Faren atmete noch einmal tief durch, wagte aber immer noch nicht, sich umzusehen, aus Furcht, irgendwo wieder etwas zu entdecken, das er eigentlich nicht sehen wollte. Dann ergriff er den Knauf und öffnete die Tür, um einzutreten. Innerste Zuflucht – … --------------------- Jemand hatte die Zuflucht betreten. Und er hatte, womöglich unwissentlich, etwas mitgebracht: Freude. Das war das Gefühl, das ihn durchströmte, seit ihm diese Person aufgefallen war. Dieser junge Mann, von dem er glaubte, ihn kennen zu müssen, der irgendwo in dem Geflecht, das einst seine Erinnerungen gewesen sein mochten, verborgen war und den er manchmal in diesen voneinander losgelösten Fetzen ganz besonders deutlich zu erkennen glaubte. Er freute sich darüber, dass jemand gekommen war, um ihn zu besuchen, ihn vielleicht sogar von seiner Existenz zu erlösen, auch wenn er sich einfach nicht entsinnen konnte, wer er eigentlich genau war. Warum er hier, an diesem Ort, fern von seinem eigenen Zuhause, kämpfte. Aber es war diesem Unbekannten möglich gewesen, den Schatten zu zerstören, womit ein Teil der Reue abgeflaut war, sie brannte nun nicht mehr ganz so heiß wie zuvor. Er konnte das vergleichen, er war lange genug an diesem Ort, um zu wissen, wie sie sich eigentlich anfühlen müsste und der letzte Schub war … leichter gewesen, fast schon angenehm, wenn er ihn mit allen zuvor verglich. Dann hatte er ihm noch dieses Lied vorgespielt, das weitere Saiten in seinem Inneren anschlug und ihm auch etwas von der Einsamkeit nahm, ihm versicherte, dass bald alles gut werden würde, weil jemand sich um ihn kümmerte. Das Lied, das noch lange nach seinem Verstummen, Freude durch seinen ganzen Körper strömen ließ. Wer immer dieser Mann war, was auch immer er suchte, er konnte nur hoffen, dass der Unbekannte nicht aufgab und es weitersuchte. Und vielleicht … nur vielleicht, würde er dieser Existenz damit wirklich entkommen. Irgendwann. Außenwelt: 13.12.2023 – Reicht das auch? ---------------------------------------- „Genau sechs Stunden.“ Kaum betätigte Jii den Schalter der Stoppuhr, ließ Faren sich auf die Knie fallen. Den Schmerz spürte er bereits nicht mehr, er war aber auch viel zu sehr damit beschäftigt, tief durchzuatmen und die Kontrolle über seinen Körper zurückzubekommen. Während Jii sich von ihm entfernte, kniete Cathan sich neben ihn und klopfte Faren auf die Schulter. „Nicht schlecht. Du hast dich wirklich gesteigert.“ Das war ihm auch bewusst, aber eine andere Frage beschäftigte ihn dabei mehr: „Reicht das auch?“ Darauf konnte Cathan nur mit den Schultern zucken, weswegen ihre Blicke zu den beiden Männern wanderten, die ein wenig abseits standen – gut, es war nur Jii, der stand. Er hielt die Hände in den Taschen seiner grauen Jacke, holte sie höchstens einmal heraus, um seine Brille zurechtzurücken oder sich durch das schneeweiße Haar zu fahren. Im Verlauf des letzten Jahres war es Faren oft möglich gewesen, Jii, den Arzt der Lazari, zu beobachten, und dabei war ihm aufgefallen, dass er sich oft durch das Haar ging, wenn ihn etwas nervös machte. Man sah es seinem Gesicht nicht an, auch nicht seinen braun-goldenen Augen, die einen stets aufmerksam musterten, aber diese Geste war absolut verlässlich und er war sich dieser nicht einmal bewusst, das war das beste daran. Anders war es bei dem Mann, mit dem er sich gerade unterhielt. Obwohl er saß, war er genauso groß wie Jii, im Gegensatz zu diesem trug er außerdem einen weißen Arztkittel, obwohl er für die Dämonenjäger nicht einmal als Arzt arbeitete, sondern für eine gänzlich andere Gruppe verantwortlich war. Sein braunes Haar war ... lang, aber dennoch äußerst gepflegt, was, wie Faren vermutete, daran lag, dass sich jemand anderes darum kümmerte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann sich Zeit dafür nahm. Genau wie Jii trug er zwar eine Brille, aber seine Augen waren von einem normalen Braun. Dieser Mann war ein Kollege und Freund von Jii und seit Beginn des Projektes dabei – und sein Name war Dr. Vane Belfond. Er zeigte, zumindest in Farens Gegenwart, keinerlei unbewusste Gesten, die einem verrieten, was er dachte oder fühlte. Sein Blick ging von Jii zu Faren, der direkt zusammenzuckte, sich dann aber hastig aufrichtete, obwohl sein gesamter Körper bereits protestierte. Er war sich nicht sicher, ob er nur keinen schlechten Eindruck vor Vane machen oder ob er sich seinen Stolz nicht nehmen lassen wollte, aber innerlich fühlte er sich zumindest besser, als er wieder stand und die Arme vor der Brust verschränkte. Jii sah ebenfalls zu Faren, sprach aber weiter mit Vane: „Was meinst du? Reicht das?“ „Es sollte genügen.“ Seine Stimme stand seinem eindrucksvollen Äußeren in Nichts nach. Faren hatte sich schon oft bemüht, einen Vergleich dafür zu finden, aber alles war angesichts dieser Stimme verblasst. Sie hallte von den Wänden wider, verblieb wie ein Echo im Raum, tanzte über unsichtbare Klavier-Tasten, zupfte selbstsicher an Geigensaiten und befehligte ein ganzes Orchester – und das während er vollkommen ruhig sprach. Wenn Kierans Dämonenwandlung eine positive Sache hervorgebracht hatte, dann jene, dass es Faren damit möglich gewesen war, Vanes Stimme zumindest einmal zu hören. Statt zuzustimmen, verschränkte Jii die Arme vor dem Körper und sah wieder zu seinem Kollegen – und Freund, wie Faren glaubte – hinüber. „Du sagst das nicht nur, damit wir endlich mit dem Dreamdust aufhören, oder?“ Dreamdust galt eigentlich als Droge, wie Faren wusste, früher hatte er sie selbst einmal genommen, damals, als seine Heimat noch die Straße gewesen war. Sie durchströmte einen mit einer alles überwältigenden Euphorie, die einen sogar vergessen ließ, wie furchtbar das eigene Leben war, selbst wenn gerade Dämonen an einem nagten. Wenn man wusste, wie es funktionierte, konnte man dank dieser Droge dann auch gleichzeitig auf Fähigkeiten zurückgreifen, die einem gar nicht gehörten. Dreamdust bestand zu einem großen Teil aus gemahlenen Knochen von Traumbrechern, was auch immer das war, Faren kannte keine Details. Aber er wusste, dass alles, was er unter Einfluss dieser Droge schaffte, jenen zu verdanken war, die dafür gestorben waren, denn die Fähigkeiten hatten einmal diesen gehört. Soweit er wusste, war Vane der Arzt der Traumbrecher, die sich in irgendeiner Organisation zusammengefunden hatten. Natürlich wollte er da nicht, dass Faren noch mehr Dreamdust verschwendete, wenn das nur bedeutete, dass noch mehr seiner Schützlinge darunter zu leiden hatten. Entsprechend warf Vane Jii einen Blick zu, das Gesicht vollkommen neutral, in seinen Augen flackerte aber etwas, das Faren nicht einschätzen konnte. Er sagte nichts, aber Jii verstand es auch ohne jedes Wort. Er ließ die Arme wieder fallen. „Ich bin jedenfalls deiner Meinung. Sechs Stunden sollten ausreichen, um in Kierans Zuflucht etwas zu erreichen.“ „Außerdem“, fuhr Vane fort, wobei das Orchester nun ein wenig verstimmt war, „sind seine Gelenke bereits bis zum Äußersten belastet. Wenn du versuchst, die Zeit noch weiter zu erhöhen, besteht die Gefahr, dass er irreparable Schäden erleidet.“ Faren war kurz davor, zu sagen, dass ihm das ganz recht wäre, solange er damit Kieran helfen könnte, aber ihm war selbst klar, dass er mit beschädigten Gelenken nichts erreichen könnte. Absolut gar nichts, also warf er nichts ein, sondern wartete darauf, dass Jii reagierte, was dieser auch sofort tat: „Das ist richtig. Also muss er sich einfach nur konzentrieren.“ Damit sah er Faren wieder direkt an, worauf dieser sich unwillkürlich die Hacken zusammenschlug, als stünde er gerade vor einem befehlshabenden Offizier. Damit zufrieden, schritt Jii zum Tisch hinüber und kehrte dann mit einer Uhr wieder, die er Faren reichte. Dieser musterte sie verwirrt. Sie sah nur auf den ersten Blick vollkommen normal aus, aber auf den zweiten bemerkte er, dass sie nur über sechs Ziffern verfügte, statt die üblichen zwölf. Dass es zwei verschiedene Kronen, eine blaue und eine rote, gab, machte für ihn auch keinen Sinn. Zumindest verriet das Ziffernblatt aber, dass Jii auch davon ausgegangen war, dass es nicht mehr als sechs Stunden werden würden. Im Moment ruhten beide Zeiger auf der Zwölf. „Was soll ich damit?“ Vane war inzwischen damit beschäftigt, sich wieder Notizen zu machen, so dass es nur Cathan, direkt neben ihm, war, der die Uhr ebenfalls mustern konnte. „Ja. Ich denke, Faren ist alt genug, um die Zeit von seiner eigenen Uhr abzulesen.“ Dabei deutete er auf jene, die Faren bereits am Handgelenk trug. Jii rollte mit den Augen. „Wenn wir Faren hier eine Injektion setzen, verschwendet er damit nur Zeit, die er in der Zuflucht brauchen könnte. Selbst wenn es nur eine halbe Stunde ist – und es wäre unsinnig, ihn extra zu begleiten und ihm unterwegs eine Spritze zu geben. Ganz zu schweigen davon, dass es wohl illegal wäre.“ Faren und Cathan tauschten einen Blick miteinander, in dem deutlich war, dass sie beide dieselbe Frage hatten: Wie sollte diese Uhr dabei helfen? Glücklicherweise mussten sie diese nicht aussprechen, dass Jii sie verstand. Er zeigte auf die blaue Krone. „Damit wird die normale Dosis gespritzt, die für sechs Stunden anhält. Aber denk daran-“ „Alle Aktionen, die ich ausübe, rauben mir noch mehr Zeit“, unterbrach Faren ihn gelangweilt. „Ich weiß, ich weiß.“ Allerdings kam er nicht darum herum, anerkennend eine Augenbraue zu heben, als ihm die schiere Genialität dieser Uhr bewusst wurde. Ein unauffälliges Accessoire, das einem Drogen verabreichte und sogar sagen konnte, wie lange die Wirkung noch anhielt – mit einer solchen Erfindung könnte Jii Millionär werden. Wenngleich vielleicht auch nur im illegalen Bereich. Der Arzt sah ihn nach dieser Unterbrechung mit gerunzelter Stirn an. „Und welche Technik solltest du besser vermeiden?“ „Die Zeit anzuhalten“, antwortete Faren sofort und schmunzelte amüsiert. „Aber frag mich jetzt nicht nach der genauen Relation.“ Jiis Stirn glättete sich wieder, er hob sogar die Mundwinkel, um zumindest ein wenig zu lächeln. „Richtig. Gut aufgepasst.“ „Warum hast du es ihm dann überhaupt beigebracht?“, fragte Cathan brummend. Sicher grämte er sich darüber, dass es ihm wie eine Zeitverschwendung vorgekommen war, Faren etwas beizubringen, das er nie anwenden sollte. Vielleicht hätte Kieran dann früher gerettet werden können. Jii und Faren sahen ihn an und antworteten gleichzeitig: „Man weiß ja nie.“ Während Cathan leise seufzte, hielt Vane sogar einen kurzen Moment inne, in seinen Augen war ein amüsiertes Schmunzeln zu sehen. Faren und Jii tauschten nur einen Blick miteinander, dann wurde der Arzt wieder ernst: „Falls du dennoch in eine Notsituation kommst und die Wirkung vorbei ist, kannst du die rote Krone betätigen. Das setzt eine hochkonzentrierte Dosis an Dreamdust frei. Sie wird nur für 15 Minuten anhalten, aber dafür wesentlich wirkungsvoller sein.“ Faren bemerkte Vanes abfälliges Stirnrunzeln, aber er sagte nichts. Vermutlich hatten sie derartige Diskussionen bereits zur Genüge geführt oder er wollte nur nicht von anderen Anwesenden darüber sprechen. Im Gegensatz zu Jii konnte er diesen Mann einfach nicht durchschauen. „Ich denke mal nicht, dass ich sie brauchen werde“, sagte Faren sehr selbstüberzeugt. „Ich kriege das in sechs Stunden schon hin~.“ Cathan klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, während Jii sehr zufrieden schmunzelte. Er drückte Faren die Uhr endlich in die Hand und steckte seine eigenen dann in die Taschen seiner grauen Jacke. „Wenn du so sehr an dich selbst glaubst, könnte das vielleicht sogar klappen.“ „Du wärst dann der erste, der es geschafft hat, einen Dämon wieder in einen Jäger zu verwandeln“, fügte Cathan noch hinzu. „Das gibt sicher noch ein paar Ehrungen.“ Als ob es mir darum ginge. Nach einem Jahr, in dem er auf Kieran hatte verzichten müssen, mit dem Wissen, dass er zu dem geworden war, was er hasste und sich einst zu bekämpfen geschworen hatte, ging es Faren schon lange nicht mehr um irgendwelche Ehrungen oder Lobreden. Er wollte nur Kieran wieder zurück, um ihm zu erzählen, wie sehr dieser vermisst worden war, was er für ihn empfand und dass er ihn niemals wieder fortgehen lassen wollte. „Muss ich noch an irgendwas denken?“, fragte Faren schließlich. Am Liebsten wäre er sofort aufgebrochen, aber er wusste, dass es sinnlos war. Seine Gelenke protestierten noch immer bei seinen einfachsten Bewegungen, in diesem Zustand würde er in der Zuflucht eher sein Ende finden, als irgendetwas zu erreichen. Aber vielleicht wäre er dann zumindest bei Kieran, selbst nach seinem Tod. Er schüttelte den Gedanken sofort ab und konzentrierte sich auf Jiis Antwort: „Kierans Zuflucht hat vier Siegel, du wirst also vier Welten durchschreiten müssen. Ruh dich heute also gut aus, innerhalb der Zuflucht hast du dafür keine Zeit mehr.“ Faren nickte und unterdrückte das Augenrollen. Als ob er das alles nicht selbst bereits wüsste. „Komm morgen nochmal hier vorbei, bevor du dich auf den Weg zur Zuflucht machst“, fuhr Jii fort. „Ich muss mir erst ansehen, ob du auch fit genug dafür bist.“ „Natürlich.“ Anschließend herrschte für einen kurzen Moment Schweigen, in dem Faren nur das Ticken einer Uhr hören konnte. Ein Geräusch, das Jii stets zu beruhigen verstand, während er selbst nur unruhig dadurch wurde. Deswegen brach er die eingetretene Stille schnell wieder: „Gut, ich gehe dann mal besser. Und macht euch keine Gedanken, morgen werd' ich Kieran in Null-Komma-Nichts gerettet haben.“ Vane reagierte darauf nicht, aber Jii und Cathan nickten zumindest, um ihn in dieser Vorstellung zu unterstützen, wofür er ihnen in diesem Moment äußerst dankbar war. Faren atmete tief durch und und wandte sich dann um. Warte nur, Kieran ... bald wird das alles hier nur noch eine schlechte Erinnerung und alles wieder wie früher sein. Und er konnte kaum abwarten, bis es soweit war. Zweite Welt der Zuflucht – Klar, lass uns spielen. -------------------------------------------------- Unter anderen Umständen hätte Faren dieses Haus bestimmt gemocht. Es war erfüllt von einem angenehmen Geruch, der ihn an Kieran erinnerte. Aber auch an Cathan und Granya, als ob alle Gerüche der kleinen Familie hier miteinander vereint wären, um ein Heim zu bilden. Das erinnerte ihn an die Wohnung seiner Eltern, ein unangenehmer Ort, verbunden mit furchterregenden Erinnerungen, die er gleich wieder zu verdrängen versuchte, indem er sich weiter auf das Haus konzentrierte. Die Bodendielen und die Treppe waren aus dunklem Holz gefertigt, die angenehm fürs Auge waren. Als er den Kopf in den Nacken legte, konnte er bis zu den Dachbalken hinaufsehen, buntes Licht fiel dort durch ein Fenster, das wohl aus Buntglas bestehen musste, und malte wundersame Muster auf die oben liegende Wand, die er von hier unten nicht so recht sehen konnte. Von dort oben war aber auch ein melodisches Summen zu hören, das an das Lied von zuvor erinnerte, mit dem er das Siegel auf der Tür gebrochen hatte. Am oberen Treppenabsatz, zwischen dem kunstvoll geschnitzten Geländer, glaubte er, eine schemenhafte Gestalt zu erkennen, aber als er sie genauer mustern wollte, war sie bereits wieder verschwunden. Dennoch wusste er, dass es nicht nur seiner Einbildung entsprungen war. Alles in diesen Welten war von Kieran geschaffen worden und das alles zu einem Zweck. Doch statt dieser Erscheinung in den ersten Stock zu folgen, wo das Summen noch immer erklang, sah er sich erst einmal genauer im Erdgeschoss um. Nach rechts führte ein Durchgang ins Esszimmer, links ins Wohnzimmer. Ersteres war dem Zweck entsprechend einfach eingerichtet, mit einem Tisch, mehreren Stühlen und auch ein Geschirrschrank. Im anderen Zimmer fiel ihm zuerst der modern aussehende Flachbildfernseher auf, vor dem ein dunkles Sofa, ein dazu passender Sessel und ein niedriger Glastisch standen. Er war versucht, sich hinzusetzen und sich auszuruhen, aber ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass dafür keine Zeit blieb. Also folgte er doch dem Summen nach oben und ignorierte die Zimmer, aus denen nur Stille kam. Er bog um die Ecke und kam vor einer weißen Tür zu stehen, die nur angelehnt war. Faren warf vorsichtig einen Blick hinein. Zuerst entdeckte er ein Bett aus weißem Holz, direkt gegenüber der Tür. Es war frisch bezogen mit schneeweißer Bettwäsche, den Duft des Waschmittels roch er bis zu seiner Position. Dann sah er zu der Gestalt, die auf dem Boden kniete. Es war ein Junge, möglicherweise um die acht Jahre, mit schwarzem Haar, der ihm den Rücken zuwandte, so bemerkte Faren aber zumindest rasch, dass er eine schwarze Jeans und einen roten Kapuzenpullover trug. Eine Kleidung, die er Kieran gar nicht zugetraut hätte, auch nicht als Kind. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass Kieran während des Summens damit beschäftigt war, ein Bild zu malen. Ein großes Blatt Papier befand sich vor ihm auf dem Boden, neben ihm waren mehrere Wachsmalstifte zu sehen. Gerade legte Kieran den roten Stift auf dem Boden ab, ehe er sich den schwarzen nahm und damit weitermalte. Um ihn nicht zu erschrecken, betrat Faren vorsichtig den Raum, umrundete den Jungen und ging dann vor ihm in die Knie. „Hallo. Was malst du denn da?“ Kieran hielt nicht einmal für eine Sekunde inne, der schwarze Stift glitt über das Papier. „Ein Bild von dir.“ Selbst als Kind war seine Stimme schon derart melodisch gewesen, wie Faren feststellte. Aber er konnte das gerade nicht wirklich genießen, da ihn etwas anderes irritierte: „Aber wir kennen uns doch gar nicht, wie kannst du da ein Bild von mir malen?“ „Du bist ein lästiger Vollidiot“, erwiderte Kieran darauf. „Natürlich kenne ich dich.“ Für einen kurzen Moment war Faren verwundert über diese Antwort. Nicht wegen der Bezeichnung lästiger Vollidiot, die kannte er bereits, sondern weil der junge Kieran über ihn Bescheid wusste. Aber dann rief er sich wieder ins Gedächtnis, dass er sich in dem Unterbewusstsein seines Freundes befand und hier natürlich jeder ihn kannte. Schließlich hielt Kieran inne und richtete den Oberkörper auf, so dass Faren ihm endlich ins Gesicht sehen konnte. Als Kind war Kieran wirklich süß gewesen, noch ohne seine Emo-Frisur, dafür mit einem neugierigen und offenen Blick in den Augen – und sein Lächeln war so bezaubernd, dass man ihm sofort mindestens ein Eis kaufen wollte. „Ich mag dich trotzdem“, verkündete der Junge da bereits. „Willst du mit mir Verstecken spielen?“ Eigentlich hatte er dafür absolut keine Zeit, aber er konnte dem Blick nicht widerstehen. Außerdem war es gut möglich, dass ihm das hier weiterhalf. „Klar, lass uns spielen.“ Kierans braune Augen leuchteten begeistert auf. Hastig erhob er sich. „Gut, du bist mit suchen dran. Ich verstecke mich, während du zählst.“ Faren stand ebenfalls wieder auf, drehte sich um, schloss die Augen und begann zu zählen. „Eins. Zwei. Drei ...“ Hinter sich hörte er, wie Kieran hastig davonrannte, seine Schritte entfernten sich rasch, bis sie verstummten. Sie hatten nicht ausgemacht, wie weit Faren zählen sollte, deswegen hörte er bereits nach zehn wieder auf und öffnete die Augen. Zuerst wollte er auf die Uhr sehen, um zu wissen, wie viel Zeit ihm noch blieb – aber sein Blick fixierte sich auf die Wand ihm gegenüber. Als er hereingekommen war, das wusste er noch genau, war die Tapete noch makellos weiß gewesen. Nun standen, mit schwarzer Wachsmalkreide aber Worte dort: Sieh dir das Bild an. Es war unmöglich, dass der junge Kieran es geschrieben hatte, seine Schritte waren zu schnell in der Ferne verstummt. Also musste es von dem Kieran stammen, wegen dem er hier war und er konnte diesen Worten vertrauen. Er drehte sich um und hob das Bild vom Boden auf, um es genauer zu betrachten. Der Großteil des Blattes war mit einem schwarzen Stift ausgemalt worden, lediglich ein runder Bereich in der Mitte war noch mit etwas anderem bedeckt. Zu sehen war eine Figur, die ihn erschreckend an sich selbst erinnerte, auch wenn sie derart stilisiert war, wie es sich für eine Kinderzeichnung gehörte. Aber vielleicht glaubte er auch nur, sich zu erkennen, weil Kieran das zuvor behauptet hatte. Die Gestalt lag auf einer der schwarzen Flächen, aber das wohl eigentlich weiße Hemd war teilweise rot, als wäre es in Blut getränkt worden. Während er sich darauf konzentrierte, bemerkte er plötzlich, dass die schwarze Fläche sich zu bewegen begann und deswegen musterte er sie genauer. Die Farbe waberte, als wäre sie eine Flüssigkeit oder Nebel – und plötzlich tauchte am Rand des weißen Kreises etwas auf. Es war etwas Grünes, das kaum zu sehen war, da es im nächsten Moment bereits das Maul öffnete und damit glänzende silberne Zähne präsentiert, die derart rasiermesserscharf waren, dass sie den Körper des gemalten Faren mit einem Biss in zwei teilten. Der echte betrachtete das machtlos, unfähig, wegzusehen, obwohl es ihm vorkam, als wäre längst jegliches Blut aus seinem Körper gewichen und er müsste eigentlich schon bewusstlos auf dem Boden liegen. Dabei wusste er nicht, was ihn mehr verstörte: dass sich das Bild bewegte oder das Motiv an sich? Mit einem weiteren Happs verspeiste das Monster dann auch noch den Rest von dem gemalten Faren, ehe es wieder verschwand. Zurück blieb nur eine rote Pfütze. Schlagartig kehrte das Leben wieder in ihn zurück. Er ließ das Blatt los, als hätte er sich daran verbrannt. Während es sanft zu Boden schwebte, hörte er ein leises Kinderlachen, das durch das Fenster einzudringen schien. Als Faren hinaussah, entdeckte er einen Wald, durch den ein Pfad führte – und Kieran rannte diesen gerade entlang. „Es wird wohl Zeit, dass ich suchen komme“, murmelte Faren. Mit großen Schritten machte er sich auf den Weg ins Erdgeschoss, wo er eine Glastür fand, die hinter das Haus führte. Grauer Nebel hüllte den Boden ein, aber von hier aus konnte er jenseits der Bäume den Umriss eines Gebäudes erkennen. Warum er es von oben nicht gesehen hatte, war ihm unverständlich, aber er war nicht hier, um die geltenden Regeln der Optik zu hinterfragen, also machte er sich rasch auf den Weg, Kieran über den Pfad zu folgen. Der Wald an sich erschien ihm unheimlicher, als er sein sollte. Von überall her schienen ihn Augen anzustarren, körperlose Stimmen versuchten, ihm Dinge einzuflüstern, die ihn an den Rand der Verzweiflung zu drängen versuchten, obwohl er nicht einmal die genauen Worte verstand. Formlose Hände, Klauen gleich, zogen und zerrten an ihm, aber wann immer er sich umsah, waren es nur die kahlen Äste der Bäume, an denen er vorbeirannte, die sich noch dazu kein Stück bewegten. Faren beeilte sich, diesen Wald hinter sich zu bringen und kam bald vor dem Gebäude an, das er vorhin gesehen hatte. Das spöttische Lachen, das durch das Unterholz zu hallen schien, ignorierte er dabei, das war sicher besser für seine mentale Gesundheit. Das Gebäude vor ihm war eine alte, stillgelegte Fabrik, genau solche wie jene, in denen er früher oft übernachtet hatte. Die staubigen, dunklen Fenster waren zu einem großen Teil bereits zerstört, trotzdem herrschte im Inneren Dunkelheit, dem Eingang fehlte jede Tür und die Bretter, die dazu verwendet worden waren, Schaulustige davon abzuhalten, einzutreten, lagen nutzlos und mit Moos überwuchert auf dem Boden. Dadurch gab es auch nichts, was Faren daran hinderte, hineinzugehen. Nach wenigen Schritten wurde er Teil der Dunkelheit, besonders als sich der Eingang doch noch hinter ihm verschloss. Hinterfrage es nicht!, ermahnte er sich. Dafür hast du gar nicht die Zeit, denk an Kieran! Also bahnte er sich blind einen Weg durch die Finsternis. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, hielt die Arme nach vorne und zur Seite ausgestreckt, in einem Versuch, etwas zu finden, an dem er sich orientieren konnte. Die Stille lastete schwer auf seinen Ohren und ließ ihn nur das Rauschen des Bluts durch seinen Körper hören. Seine Augen waren weit aufgerissen, schafften es aber einfach nicht, sich so weit an die Dunkelheit zu gewöhnen, dass er zumindest Schemen oder Umrisse erkennen könnte. Plötzlich fand sein tastender Fuß keinen Grund mehr, weswegen er ihn wieder zurückzog, um auf dem Boden zu bleiben. Er beugte sich vor, blickte hinab – und entdeckte dabei ein Glühen weit unter sich. Aber er war sich nicht sicher, ob er herausfinden wollte, worum es sich handelte. Während er überlegte, ob er eine Technik kannte, mit der er hinabgelangen könnte, hörte er bereits eine leise Stimme, die aus dem Dunkeln an sein Ohr drang: „Warum springst du nicht einfach?“ Es lief ihm kalt den Rücken hinunter, wie der Finger des Todes, der seine Wirbelsäule entlangstrich, als er diese Stimme erkannte: Es war seine eigene. Während er sich daran erinnerte, wann er das wohl einmal gesagt hatte, baute sich vor ihm eine geisterhafte Szenerie auf. Er sah sich selbst auf dem Balkon seiner Mutter, kurz nach seiner Rückkehr zu ihr. Lucastas Tod war zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange her gewesen, sein Leben hatte in diesem Moment keinen Sinn mehr gemacht – und dann war er dort auf diesem Balkon gestanden, um eine Zigarette zu rauchen. Etwas, das er seit damals inzwischen nicht mehr tat. Er hatte nur hinabgesehen, ohne jeden Grund – und dann war ihm dieser Gedanke gekommen. „Warum springst du nicht einfach?“ Da waren keine Argumente gewesen, die dagegen sprachen, nichts, was ihn noch an diese Welt binden sollte und doch war er geblieben. Rein aus Prinzip, denn solange sein Unterbewusstsein ihm nicht „Spring einfach“ sagte, sondern es als Frage formulierte, war er nicht bereit, aufzugeben. Mit dieser Erkenntnis zerfiel die Szenerie wieder und war zurück in der Dunkelheit. „Dann spring“, forderte eine Stimme, die nicht seine eigene war. „Spring und finde heraus, wie du deine Flügel entfaltest.“ Es war eindeutig jene von Kieran, nicht die des Jungen, nicht die der Illusion, der er in der Bahn gegenübergesessen war. Es war eine Erinnerung an einen Satz, den er tatsächlich einmal gesagt hatte – und Faren beschloss, ihn wirklich beim Wort zu nehmen. Damit machte er einen Schritt nach vorne und ließ sich einfach in die Tiefe stürzen. Die Dunkelheit umfing ihn, hieß ihn willkommen und versprach ihm hier die Ruhe, die er sich schon ewig gewünscht hatte. Unter anderen Umständen hätte er sie auch akzeptiert, aber hier ging es um Kieran – und das bedeutete, dass er nicht aufgeben durfte. Wirbelnde Pistolen erschienen in seinen Händen. Er packte sie und gab damit ungezielte Schüsse in die Dunkelheit ab. Das Mündungsfeuer zerriss den schwarzen Schleier für den Bruchteil einer Sekunde, offenbarte vogelartige Wesen, die ihn umkreisten und auf ihn zustürzen wollten. Immer wieder gab er Schüsse ab, jedes Mal fanden die Kugeln ihr Ziel und zerfetzten die Wesen, ohne dass er das beobachten konnte, es war lediglich zu spüren, wie die Entitäten um ihn herum schwanden. Mit jedem schwindenden Wesen kam es ihm vor, als verlangsamte sich sein Fall, so dass er schließlich nur noch schwebte und sanft auf dem Boden aufkam. Schlagartig schwanden alle anderen Entitäten und dafür erhellte nun Licht, das von keinerlei Quelle zu kommen schien, die Höhle, in der er sich befand. Die Wände dieses kreisrunden Raumes waren mit vertrockneten Ranken überwuchert, die sich scheinbar verzweifelt geradezu am Mauerwerk festkrallten, als fürchteten sie, jederzeit abgerissen werden zu können. Direkt vor ihm, nur wenige Schritte entfernt, stand der junge Kieran, der ihn stolz lächelnd ansah. „Du hast mich gefunden. Gut gemacht.“ Faren konnte darauf nichts erwidern, da seine ganze Aufmerksamkeit viel zu sehr von dem im Beschlag genommen wurde, was sich neben Kieran, direkt in der Mitte des Raumes, befand. Eine riesige Pflanze wuchs von dort aus dem Boden, schien sogar der Kernpunkt aller Ranken zu sein. Der baumstammdicke Stängel endete in einer gekrümmten roten Blüte, die auf den ersten Blick an Lippen erinnerte – und als die Blätter sich für einen kurzen Moment öffneten und dabei messerscharfe Zähne entblößten, zeigte sich ihm auch, dass der Vergleich gar nicht so abwegig war. „Aber es ist trotzdem zu spät.“ Kierans Worte lenkten Farens Aufmerksamkeit wieder auf diesen zurück. „Was meinst du da-?“ Im selben Moment senkte sich die Pflanze über Kieran und verspeiste den Jungen in einem Zug. „Kieran!“ Sein erschrockene Ruf hallte von den Wänden wider und vertrieb schlagartig die Stille Zurück blieb das Echo seiner Stimme, gemischt mit dem Knirschen der Knochen, während das Wesen kaute. In Farens Inneren schien sich in diesem Moment ein schwarzes Loch aufzutun, das alles verschlang, sämtliche Empfindungen und Emotionen – abgesehen von Wut. Diese durchzog seinen gesamten Körper mit Flammen und ließ ihn endlich lebendig werden. Mit einem Schrei stürzte er sich auf das Pflanzenwesen, eine Sense entstand dabei in seinen Händen, um seinen Kampfeswillen zu unterstützen. Eine mit Stacheln bewährte Ranke schoss aus dem Boden, versuchte Faren mit einer gelangweilten Bewegung beiseitezustoßen. Mit einem einfachen Sprung begab er sich auf die Ranke und rannte diese entlang, ein wildes Funkeln in den Augen, die nur ein Ziel kannten. Das Wesen stieß derweil einen Schrei aus, worauf sich erneut zahlreiche dieser vogelähnlichen Monster um Faren versammelten. Bei diesen Lichtverhältnissen konnte er sehen, dass ihr Gefieder schmutzig-braun war, die Schnäbel gebogen wie die eines Geiers, die Beine so lang wie die eines Straußes, aber der Körper an sich war viel kleiner. Unter anderen Umständen hätte Faren das alles gern genauer eruiert, aber dafür hatte er keine Zeit. „Geht weg von mir!“, fauchte er. Ein heller Blitz zuckte und traf alle Vögel auf einen Schlag, worauf sie sich wieder auflösten. Die Ranke zuckte, während Faren noch immer auf ihr entlanglief, versuchte erfolglos, ihn abzuschütteln. Kurz bevor er das Ende erreicht hatte, schwang er die Sense, worauf der Großteil der Ranke abgetrennt wurde. Der schmerzerfüllte Schrei der Pflanze schmerzte in Farens Ohren und fachte seine Wut weiter an. Er stieß sich von dem kümmerlichen Rest der Ranke ab und wirbelte in der Luft noch einmal seine Sense, ehe er diese dem Wesen entgegenschleuderte. Die Waffe drehte sich, unabhängig von ihm, immer weiter, traf auf das Pflanzenwesen – und zerteilte dieses sauber in zwei Hälften. Faren landete wieder auf dem Boden, während das leidvolle Klagen des Gegners verstummte und die Überreste in erstaunlicher Geschwindigkeit vertrockneten und sich dann in Staub verwandelten. „War es das schon?“, fragte Faren knurrend. „Du frisst Kieran und hast nicht mehr zu bieten als das?“ Natürlich hatte das Wesen nicht den echten Kieran gefressen, Faren wusste das, und doch stach es ein wenig in seiner Brust, beobachtet zu haben, wie er gestorben war. Ohne etwas dagegen tun zu können … Dafür war der Kampf viel zu kurz gewesen, keine Herausforderung, nicht im Mindesten, und doch war er unfähig gewesen, Kieran zu helfen. Ganz genau wie vor einem Jahr, eigentlich genau wie immer. Er schaffte es einfach nie, ihm zu helfen. Kurzentschlossen entlud er seinen Frust mit einem Tritt gegen den großen Aschehügel, der sich gleich darauf teilte und etwas anderes zum Vorschein brachte. Faren ging in die Knie und hob vorsichtig das Buch auf, das dort lag. Trotz seiner Wut durfte er nicht vergessen, dass er aus einem bestimmten Grund hier war, damit so etwas wie eben nicht noch einmal geschah. Und aus diesem Grund musste er alles untersuchen, was ihm hinterlassen wurde. Es war ein Kinderbuch, das erkannte er sofort. Auf dem Cover war ein schwarzer Hase, umringt von mehreren weißen, zu sehen. Vorsichtig pustete er die Asche weg, um auch den Titel lesen zu können: Little Blacky und die ungewisse Zukunft. Er runzelte die Stirn über diesen Titel und öffnete das Buch. Doch er hatte kaum einen Blick auf die erste Seite geworfen, da wurde er von einem Lichtstrahl abgelenkt, der sich einen Weg hereingebahnt hatte. Er blinzelte mehrmals, bevor ihm bewusst wurde, dass dieses Licht durch die Wand fiel. Da die Ranken an dieser Stelle vertrocknet waren, konnte er nun einen Riss im Mauerwerk erkennen, den das Licht nutzte, um ihm den Weg zu zeigen. „Ich weiß schon“, murmelte er. „Ich habe nicht viel Zeit, nicht wahr, Kieran?“ Damit schloss er das Buch wieder, worauf sich dieses in glitzernde Funken auflöste. Faren lächelte unwillkürlich, dann folgte er dem Lichtstrahl, um wirklich weiterzukommen, während gleichzeitig eine geisterhafte Stimme zu erzählen begann: „Es war einmal ein schwarzer Hase, der zwischen lauter weißen Hasen lebte ...“ Innerste Zuflucht – … --------------------- „Es war einmal ein schwarzer Hase, der zwischen lauter weißen Hasen lebte ...“ Die Stimme schien von überall her und gleichzeitig von nirgendwo zu kommen. Sie hüllte ihn ein wie ein schützender Mantel, wie die Hand einer Mutter, die ihr Kind vor allem schützen wollte. „Die weißen Hasen beäugten den schwarzen misstrauisch und glaubten, er sei ein Unglücksbote. Sie nannten ihn Little Blacky und wollten nicht, dass er ihnen zu nahe kam.“ Er musste unwillkürlich lächeln, während er das hörte und sich gleichzeitig daran erinnerte, als habe er die Geschichte erst gestern zum ersten Mal gehört. Damals, als er noch bei seiner Mutter geborgen gewesen war. Damals, bevor er das erste Mal einem Dämon begegnet war. „Eines Tages ging Little Blacky zu einem weisen Raben, der über das Rudel wachte und fragte diesen, ob er auch in Zukunft immer allein sein müsste.“ Zwischen allen Erinnerungssplittern glaubte er, sich diese Frage einmal ebenfalls gestellt zu haben. „Der weise Rabe sah Little Blacky an und antwortete: 'Niemand weiß, wie die Zukunft wird. Nicht einmal der Wind. Aber wirklich einsam ist in dieser Welt nur, wer aufgibt. Zieh hinaus in die Welt und suche andere wie dich.' Darauf verließ Little Blacky sein Rudel und folgte einer ungewissen Zukunft, um Freunde zu finden.“ Die Stimme hallte nach, selbst als die Geschichte, derart offen, endete. Wie oft hatte er sich vorgestellt, wie es wohl weitergehen mochte? Wen Little Blacky alles unterwegs traf? Seine eigene Zukunft war in diesem Moment ebenso ungewiss, aber jemand war ausgezogen, um ihn zu finden. Jemand war hierhergekommen, um ihm zu helfen. Jemand wollte sein Freund sein. Seine Zukunft mochte ungewiss sein, aber zumindest wusste er, dass er nicht allein war. Und das war ungemein wohltuend. Außenwelt: 10.11.2023 – Ich sollte dann wohl improvisieren. ----------------------------------------------------------- Seit dem letzten Jahr war Faren schon oft in Jiis Labor im ansässigen Krankenhaus gewesen. Inzwischen hatte es sich schon zu einer Art Heimat für ihn entwickelt – und im Grunde war es das auch. Er schlief im Pausenraum der Ärzte, aß in der Kantine, duschte in Stations-Badezimmern. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal draußen gewesen war, wenn es nicht gerade darum ging, Dämonen zu bekämpfen oder in Feldstudien die Zuflüchte anderer Dämonen aufzusuchen oder den Ort zu betrachten, an dem sich der Eingang zu Kierans Zuflucht befand. Aber ihm fehlte auch nichts, abgesehen von Kieran. Selbst Lucasta nicht, die ohne ihn vermutlich wesentlich besser dran wäre. Jedenfalls hatte Cathan den Dämon getötet, der eigentlich ihr Untergang gewesen wäre. Deswegen beschäftigte ihn dieser Gedanke im Moment auch nicht weiter, als er wieder einmal in Jiis Labor saß und an einem Stück Pizza knabberte. Eigentlich hatte Jii ihm bereits verboten, an diesem Ort zu essen, aber Faren hielt sich schlichtweg nicht daran. Bei der vorherrschenden Sauberkeit konnte er zwar gut verstehen, weswegen Jii es nicht gern sah, wenn dort gegessen wurde, aber er achtete eben akribisch darauf, nicht den kleinsten Krümel zu verursachen. Als er das erste Mal in dieses Labor gekommen war, hatte Faren enttäuscht geseufzt, auf Jiis Nachhaken aber nicht geantwortet. Man stellte sich geheime Forschungslabore meist als finstere Verliese vor, in denen zahlreiche Kisten herumstanden, deren Utensilien überall verstreut waren und teilweise auch schon Staub und Spinnweben ansetzten. Aber Jiis Labor war nichts davon. Es befand sich im vierten Stock, Sonnenlicht flutete durch die großen Fenster, alles war derart sauber, dass nur die akkurat aufgereihten Aktenordner in einem der Regale verrieten, dass dieser Raum überhaupt regelmäßig genutzt wurde. Er besaß nicht einmal einen Kessel, um irgendwelche fragwürdigen Tränke zu brauen. Nachdem er sich daran allerdings erst einmal gewöhnt hatte, fand er es eigentlich ganz nett. Ihn störte lediglich, dass, wann immer er von Jii hergerufen wurde, er die Theorie lernen musste, was das Kämpfen anging. Er mochte so etwas normalerweise nicht, er bevorzugte die Praxis, bei allem, was er tat. Aber er sah ein, dass es besser war, sich erst einmal umfassend zu informieren, ehe er sich unnötig in Gefahr begab und Kieran damit nicht im Mindesten nützte. Er ignorierte Jiis gerunzelte Stirn, während er gemütlich auf seinem Stuhl saß, die Beine hochgelegt und eine Pizza essend. Bislang war es ihm gelungen, nicht zu kleckern oder zu krümeln, wofür er sich gern selbst auf die Schulter geklopft hätte. Da er nicht vorhatte, sein Essen zu unterbrechen, gab er Jii mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen, dass er einfach anfangen sollte. Cathan, der ebenfalls anwesend war, aus Respekt vor dem Arzt aber kein Stück Pizza nahm, sah Jii an und hob die Schultern. „Fang lieber an. Ich glaube kaum, dass er so bald fertig wird.“ Wäre Faren nicht gerade mit kauen beschäftigt gewesen, hätte er gesagt, dass er nicht gleichzeitig vorsichtig und schnell essen konnte, aber so blieb ihm lediglich, zu nicken. Jii entfuhr ein Seufzen, offenbar war es ihm zu müßig, sich darum zu kümmern, dass Faren eine anständige Erziehung bekam und ließ stattdessen die Jalousie herab. Schlagartig wurde es noch dunkler im Raum als ohnehin schon, wenn man sich den dauer-bewölkten Himmel dieser Jahreszeit ansah. Mit einem einfachen Klick auf eine Fernbedienung sprang ein Beamer an, der ein vergrisseltes Bild auf die weiße Wand projizierte. Jii nahm ein metallenes Objekt an sich, das an eine Antenne erinnerte, fuhr es aus und deutete damit dann auf das Bild. „Inzwischen warst du ja bereits mehrmals in einer Zuflucht.“ Da erkannte Faren ebenfalls, dass dieses Bild das Innere einer Zuflucht zeigte. Es war reichlich undeutlich zu sehen, weil die Farben in dieser Welt derart verblasst und ineinander übergelaufen waren, dass er bei manchen Schritten gefürchtet hatte, jederzeit in die Tiefe zu stürzen Aber als er seinen Blick endlich fokussieren konnte, erkannte er auch den Ring mit den magischen Symbolen, der am Himmel zu sehen war. Durch die geringe Färbung ging er fast im Hintergrund unter, aber kaum wusste er, dass es diesen gab, konnte er ihn selbst dann sehen, wenn er für kurze Zeit den Blick in eine andere Richtung gelenkt hatte. Jii deutete genau auf diesen Ring. „Anhand dieses Zeichen kannst du sehen, wie viele Welten sich in einer Zuflucht befinden. Die innerste Zuflucht, jener Ort, an dem sich Seele und Körper eines zu einem Dämon gewordenen Jägers befindet, ist stets in der letzten Welt zu finden.“ Faren fragte sich, woher sie das so genau wussten. Vor kurzem noch hatte man ihm gesagt, dass Zuflüchte nicht sonderlich gut erforscht wären und er im Großen und Ganzen auf sich gestellt wäre, was das anging. Und nun kamen sie ihm hier mit diesem Wissen an. Er warf einen kurzen Blick zu Cathan hinüber, der interessiert zuzuhören schien, für ihn war das alles also neu. Möglicherweise waren es brandneue Erkenntnisse, die nicht zuletzt wegen seines Vorhabens erforscht worden waren. „Das ist wichtig zu wissen“, fuhr Jii fort, „denn nur, wenn du bereits nach Betreten der Zuflucht weißt, wie viele Welten es gibt, kannst du in der Lage sein, deine Kräfte entsprechend einzuteilen.“ Das leuchtete ihm ein. Was half es denn, wenn er bereits in der ersten Welt all seine Kraft aufbrauchte, wenn er danach nur noch weitere besuchen musste, dort dann aber nichts mehr ausrichten konnte? „Dein Ziel muss es sein, bis in die innerste Zuflucht vorzudringen“, sagte Jii. „Um das zu erreichen, gilt es, Gegenstände zu sammeln, die mit dem Jäger resonieren und dir erlauben, gleich-schwingende Barrieren einzureißen.“ Diese Erklärung verstand Faren zwar nicht so wirklich, aber zumindest klang es ein wenig nach dem, was er in Videospielen beobachten konnte, also sollte er das auch in der Realität hinbekommen. Daher nickte Faren diese Worte ab, schluckte das inzwischen zermahlene Stück Pizza hinunter und stellte die Frage, die ihn wesentlich mehr interessierte: „Wenn in in der innersten Zuflucht angekommen bin, was mache ich dann, um Kieran zu retten?“ Stille kehrte ein, nur verdrängt von dem leisen Summen des Projektors, der das Bild an die Wand warf. Als Faren zwischen den beiden hin und her sah, bemerkte er die verschlossenen Gesichtern, die ihm auch ohne jedes Wort verrieten, dass keiner von ihnen es wusste. „Ich nehme an, ich sollte dann wohl improvisieren“, sagte er so locker wie möglich, um nicht zu zeigen, dass er von dieser Stille verunsichert wurde. Jii räusperte sich hastig. „Bislang ist es leider noch niemandem gelungen, einen zum Dämon gewordenen Jäger wieder zurückzuverwandeln. Du versuchst da also etwas, das als unmöglich gilt.“ Unwillkürlich musste Faren schmunzeln. „Glücklicherweise stört es mich nicht, Dinge zu tun, die eigentlich unmöglich sind~. Ich bin ein … Vermöglicher.“ Während Cathan leise lachte, runzelte Jii über diese Worte seine Stirn. „Das Ausdenken von Fantasieworten hilft dir aber nicht dabei. Du solltest dich wirklich darauf konzentrieren, dass du deine Fähigkeiten schulst und dich vernünftig einschätzen lernst.“ „Das kriege ich auch schon hin“, meinte Faren. Er blickte wieder auf das kaum zu sehende Bild, stellte sich vor, wie viele Welten Kieran wohl haben mochte und was alles dagegen auszurichten wäre. Für einen kurzen Moment sah er seinen Freund dabei vor sich, mit dem verschlossenen, ernsten Gesicht und dem entschiedenen Funkeln in den Augen, die gleichzeitig still um Hilfe baten. Er würde derjenige sein, der alles tat, um Kieran endlich wieder bei sich zu haben und sicherzustellen, dass es ihm gut ging, egal welches Opfer dafür von ihm gefordert wurde. Er würde derjenige sein, der einen Jäger vor sich selbst rettete. Er würde derjenige sein, der das Unmögliche möglich machte – und das einzig und allein für die Person, die er liebte. Nicht in einer Millionen Jahre würde er das bereuen, davon war er vollkommen überzeugt. Dritte Welt der Zuflucht – Was hast du getan? --------------------------------------------- Eine Schule. Faren konnte es kaum fassen, aber er war tatsächlich in einer Schule gelandet. Und er war hier nicht allein. Jedenfalls nicht wirklich. Auf den langen Gängen, die sich bis ins Unendlich zu strecken schienen, standen überall Schüler vor den Spinden, am Wasserspender, vor Türen, an schwarzen Brettern. Das Summen ihrer vereinten Stimmen schwoll an und ebbte ab, als wäre es eine Welle, die jeden mitzureißen und unter Wasser zu drücken drohte, der nicht dazugehörte. Noch unheimlicher wurde es nur dadurch, dass diese Schüler allesamt kein Aussehen besaßen. Sie waren nur graue Schemen, in unterschiedlichen Größen und Formen, die an Menschen erinnerten. Fast als wollte Kieran sich nicht an diese Leute erinnern – oder als hätte er sie wirklich so gesehen. Er wusste nichts über die Vergangenheit seines Freundes, was die Mittelschule anging. In der Grundschule war Kieran zwei Klassenstufen unter ihm gewesen und er hatte ihn nicht in Erinnerung behalten. Alles, was er noch wusste war, dass Kieran immer schweigsam, aber dafür auch ein guter Schüler gewesen war – jedenfalls schriftlich. Bis in die Mittelschule hinein, so hatte Bellinda ihm erzählt, war von Kieran kein Laut zu hören gewesen. Mit langsamen Schritten durchquerte Faren die Gänge dieser Schule auf der Suche nach dem Gegenstand, der ihm die nächste Welt öffnete, immer darauf bedacht, mit keinem der Schemen zusammenzustoßen, aus Angst, dass dann etwas Schreckliches geschehen könnte. Kieran dürfte inzwischen wissen, dass er ebenfalls hier war, aber er wollte diesem keinen Anlass bieten, wütend auf ihn zu werden. An einer Stelle, an der sich der Gang gabelte, hielt er inne, um zu überlegen, in welche Richtung er weitergehen sollte. Sein Blick fiel dabei auf eines der schwarzen Bretter, an dem mehrere Zettel angebracht waren. Aus seiner eigenen Schulzeit erinnerte er sich daran, dass sie dazu genutzt wurden, um Ankündigungen zu machen oder Gesuche aufzugeben. Aber hier war dem nicht so. What goes around, comes around, stand auf einem der Zettel, untermalt mit einer Kinderzeichnung, die einen Körper in einer Lache aus roter Flüssigkeit zeigte. For whom the bell tolls, Gerechtigkeit ist eine Klinge, Sterben ist schön … Faren musste den Blick abwenden, sein Magen rebellierte. Für einen kurzen Moment spürte er seine Entschlossenheit schwinden, den Wunsch, Kieran zu retten im Erdboden versickern wie Wasser an einem trockenen Tag. Das, was er hier sah, hatte nichts mehr mit dem Kieran gemein, den er kannte. Was, wenn diese Seite irgendwann einmal hervorbrach? Vielleicht war es doch besser, wenn er … Noch während er zweifelte, hörte er plötzlich eine Stimme, als wolle diese Welt ihn davon überzeugen, nicht aufzugeben: „Hey, Lane!“ Faren wandte den Blick nach rechts, den Gang hinunter. Dort waren die einzigen Personen in dieser Schule, die in Farbe zu sehen waren und er erkannte jeden einzelnen wieder. Es war eine Clique von drei Teenagern, wovon zwei allerdings nur die Kumpanen des Anführers waren, wie in jedem schlechten Kinderbuch mit einfachen Charakterformeln, das Faren kannte. Jener Anführer hatte sich vor dem aufgebaut, der wie ein begossener Pudel dastand, den Kopf gesenkt: Kieran. Farens Herz vollführte einen spürbaren Sprung, als er ihn so dastehen sah, der Zweifel zog sich wieder in den hintersten Winkel seines Daseins zurück. Er wusste, er musste ihn einfach retten, selbst mit all diesen Nachrichten und dieser düsteren Seite. „Hast du immer noch deine Zunge verschluckt, Lane?“, fragte der Anführer. „Oder hast du nur nichts zu sagen?“ Kieran machte einen Schritt zur Seite, um an ihm vorbeizugehen, aber einer der Kumpanen stellte sich ihm sofort in den Weg. „Nicht so schnell“, sagte der Anführer. „Ich rede gerade mit dir, also sei nicht so unhöflich.“ Faren näherte sich der Gruppe, um dazwischengehen zu können, aber obwohl er an anderen Schülern vorbeikam, die Wellen ihres Summens durchbrach, schaffte er es nicht, sich ihnen zu nähern. Es war als entfernten sie sich immer weiter, obwohl sie sich nicht bewegten. Der Anführer streckte die Hand aus, um nach Kieran zu greifen, doch dieser duckte sich unter dem Arm hinweg und entging ihm so noch einmal. „Immer noch so widerspenstig, was? Aber keine Sorge, wir haben etwas, um dich abzukühlen.“ Damit erschien aus dem Nichts ein Eimer mit Wasser in den Händen eines der Kumpanen – und dieser leerte ihn über Kieran aus. Er bewegte sich kein bisschen, ertrug stattdessen stoisch den Schwall und auch das anschließende Gelächter der umstehenden Schüler. Es stach geradewegs in Farens Brust, das beobachten zu müssen. Er hatte mitangesehen, wie Kieran Dämonen bekämpfte, die dreimal so groß waren wie er, wie er, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen Wesen gekämpft hatte, die geradewegs einem Albtraum entsprungen schienen. Kieran war stark und dennoch rührte er nicht einmal den kleinen Finger, um sich zu wehren. Faren hätte längst seine Konsequenzen daraus gezogen und gehandelt, aber Kieran ertrug es. Machte ihn das zu einem besseren Menschen? Oder trug es nur zu seinem innerlichen Zerfall bei? Es musste ihm jedenfalls zugesetzt haben, sonst könnte Faren das alles hier gar nicht beobachten. „Idiot“, murmelte er halblaut, obwohl der andere es nicht einmal hören konnte. Plötzlich verschwamm die Szenerie um ihn herum, als ob ein Tropfen auf die Wasseroberfläche getroffen wäre und diese sich kräuseln ließ. Als sich das Bild wieder zusammensetzte, stand Faren immer noch auf dem Gang, aber an einer anderen Stelle diesmal. Er stand vor einem Spind, der mit verschmierter schwarzer Sprühfarbe verunstaltet war. Scheinbar hatte jemand sehr halbherzig einmal alte Graffitis entfernt, denn der graue Spind war um einige Nuancen dunkler als seine Nachbarn. Im Moment stand Go home in ungelenken Buchstaben auf der Tür geschrieben, Flugblätter waren durch die Schlitze gesteckt worden und standen ein wenig hervor. Ohne große Hoffnung streckte Faren die Hand aus – und war erstaunt, als er eines der Blätter zu fassen bekam und an sich nehmen konnte. Doch der Inhalt des darauf Geschriebenen fachte Wut in seinem Inneren an. PETITION-TIME!! Lasst eure Stimme hören, damit wir endlich mal die des Freaks hören! Unterschreibt unsere Petition, damit die Lehrer endlich nicht mehr anders können, als Kieran Lane zum Reden zu zwingen. Findet ihr es nicht auch unfair, dass er sich vor allem drücken darf? Hier könnt IHR darüber entscheiden! Was dachten diese Leute sich eigentlich, wer sie waren?! Kieran mochte schweigsam sein, aber mit Sicherheit hatte er seine Gründe dafür, auch schon damals! Wer waren diese Leute, dass sie sich anmaßten, Kieran zu etwas zwingen zu wollen?! Während er sich noch darüber aufregte, erschien der junge Kieran vor seinem Spind und öffnete diesen. Die Flugzettel kamen ihm wie eine Flutwelle entgegen, gegen die er sich nicht wehrte, fast so als wollte er darin ertrinken. Mit unbewegtem Gesicht nahm er sich ebenfalls einen dieser Zettel, die ihm fast bis an die Knie reichten. Obwohl seine Miene schrecklich starr blieb, sah Faren das Flackern in seinen Augen, diese Gefühlsregung griff direkt nach seinem Herzen. Am liebsten hätte er Kieran umarmt – aber in diesem Moment kräuselte sich die Wirklichkeit wieder und im nächsten befand er sich in einem Klassenzimmer. Hier war bislang niemand zu sehen, egal in welche Richtung er blickte. Die elektrische Tafel am Kopfende des Raums war aus. Auf einem der Einzeltische waren Worte eingeritzt worden, damit sie nicht mehr radiert oder weggewischt werden könnten. Da es sonst keinen weiteren Blickfang gab, betrachtete er den Tisch näher, aber es zeigten sich nur weitere Dinge, die allesamt gegen Kieran gerichtet waren. Er schüttelte seufzend mit dem Kopf – und da hörte er eine Stimme hinter sich: „Es ist furchtbar, oder?“ Faren fuhr herum und entdeckte den Teenager-Kieran, der auf dem Lehrerpult saß und die Füße schwingen ließ. Sich so plötzlich einem Kieran gegenüberzusehen, der mehr dem ähnelte, den er kannte, ließ sein Herz einen Schlag überspringen. Aber sofort rief er sich selbst wieder zur Ordnung. Bislang war alles, was ihm hier begegnet war, darauf aus gewesen, ihn zu töten, es gab keinen Grund, das bei diesem Kieran nicht anzunehmen, also musste er möglichst ruhig bleiben. „Was willst du?“, fragte Faren. Kieran hielt beim Schwingen inne und musterte ihn mit geneigtem Kopf leicht von unten herauf. „Was ich will? Du bist zu mir gekommen, also sollte ich das dich fragen.“ Da Faren schwieg, rutschte Kieran vom Tisch herunter und kam mit langsamen, federnden Schritten auf ihn zu. „Aber ich bin heute in guter Stimmung, also antworte ich dir trotzdem.“ Er glich den Schritt, den Faren rückwärts ging, sofort wieder aus. „Du hast gesehen, was sie mit mir taten. Und das war lediglich ein Bruchteil dessen, was alles geschehen ist.“ Seine Stimme war kalt, frei von jedem Gefühl, selbst von Hass, was Faren erstaunlich fand. Wann immer er selbst von seinem Vater sprach, spürte er noch immer das Brennen von Wut und Zorn, das heiß und zäh wie Lava durch seine Adern zu fließen schien und bei jeder Gelegenheit hervorzubrechen versuchte. Aber in Kieran war davon nichts zu spüren, auch seine Augen blieben frei von jedem verräterischen Funkeln. „Es heißt, jeder erhält seine Strafe“, fuhr er fort, während er in Richtung Tür lief, „aber ich glaube das nicht so recht. Weißt du, weswegen?“ Faren folgte ihm, nachdem ihm signalisiert worden war, dass er genau das tun sollte. Auf dem Gang standen immer noch die grauen namenlosen Schüler herum, aber inzwischen waren sie verstummt. Niemand bewegte sich, außer Kieran, der locker an den Anwesenden vorüberging. Aber kein Geräusch seiner Schritte durchbrach die gespenstische Stille, die Einzug gehalten hatte. Schließlich kamen sie zu einem der Kumpanen, der einzig wirklich passive. Kieran umrundete ihn, während er bedächtig weitersprach: „Jeffrey Rugner wurde in der High School zum Schulsprecher gewählt. Heute hat er unzählige Freunde und ist ein gefragter Investmentberater. Ist das fair?“ Faren schwieg. Nicht im Mindesten davon entmutigt führte Kieran ihn weiter zum nächsten Kumpan, der zuvor den Eimer über ihm ausgeleert hatte. „Randall Jackson hat eine Casting-Show gewonnen und zahlreiche Anhänger und Fans, die dir Stein und Bein schwören würden, dass er der großartigste Kerl ist, den es jemals im Showbusiness gegeben hat. Ist das vielleicht fair?“ Er bekam keine Antwort darauf, setzte seinen Weg aber ungetrübt fort, bis sie schließlich zum Anführer kamen. „Adam Lang hat einen Abschluss von Harvard und ist ein bedeutender Anwalt geworden. Ist das denn fair?“ Faren fragte sich, woher genau Kieran das alles eigentlich wissen wollte. Trug er etwa derart viel Jähzorn diesen Personen gegenüber in sich, dass er sie so genau beobachtet hatte? War ihm denn nicht bewusst, dass es seine Wut nur immer weiter anfachte? Oder war das genau der Effekt, den er sich damit gewünscht hatte? „Nein, ist es nicht“, beantwortete Kieran dann auch schon seine eigenen Fragen. „Es ist überhaupt nicht fair, dass diese Leute ein normales, glückliches Leben führen dürfen, während ich ...“ Die Stimme erstarb ihm, er griff sich an die Brust, als habe er Schmerzen. „Und ich bin verpflichtet, sie zu beschützen. Jede Nacht durch die Straßen zu wandern und Dämonen zu töten, die es auf Leute wie diese abgesehen haben. Ich ruiniere das Leben von Personen wie mir, nur damit solche Subjekte wie diese leben können. Ist das fair?!“ Es lag Faren bereits auf der Zunge, dass er nicht so denken dürfte, dass der Kieran, den er kannte, so nicht redete. Aber er beherrschte sich. Es war immerhin gut möglich, dass Kieran auch so dachte. Nein, es wäre sogar ein tröstlicher Gedanke, wenn er wirklich so dachte, immerhin hieß das nur, dass er trotz allem noch menschlich war. Egal wie Kieran sich selbst sah, im Grunde seines Inneren war er immer noch ein Mensch und würde das auch bleiben, egal was er dagegen tat. „Es ist nicht fair“, gab Faren deswegen stattdessen zu. „Aber was willst du dagegen machen? Das Leben ist nicht zwangsläufig fair. Es ist eine Ansammlung von kosmischen Zufällen und Quantenentscheidungen, die wir dann Schicksal nennen. Wie soll etwas derart Zufälliges denn fair sein?“ Diesmal war es an Kieran zu schweigen. Faren erlaubte es sich für einen kurzen Moment, zu glauben, dass es sich um ein bewunderndes Schweigen handelte, aber dann schnaubte der andere bereits. „Das untermauert nur mein Denken, dass jemand darüber wachen, einen Ausgleich schaffen muss.“ „Und wie willst du das anstellen?“, fragte Faren. Kierans Lippen kräuselten sich zu einem gehässigen Lächeln. Das Licht erlosch, für einen kurzen Augenblick herrschte tiefste Dunkelheit. Aber ehe Faren das richtig erfassen konnte, flammte es umso heller wieder auf – und offenbarte ihm eine Szene, die ihn erschrocken zurückweichen ließ. Sämtliche Schüler, auch die zuvor ausgegrauten, lagen leblos auf dem Boden, die Augen weit offen ins Leere starrend, die Gesichter in Grimassen des grauenvollen Schreckens erzogen, von dem sie am Ende ihres Lebens Zeuge geworden waren. Kieran stand vollkommen unbewegt vor ihm, über und über mit Blut besudelt. „Was hast du getan?“, fragte Faren fassungslos, seine Stimme war kaum noch ein Hauchen. „Das siehst du doch.“ Kieran ließ zufrieden den Blick schweifen. „Ich schuf einen Ausgleich, indem ich alle, die mir derart unrecht getan haben, tötete. Das nenne ich einen Ausgleich~.“ „Das ist kein Ausgleich!“ Faren war sich sicher, dass seine Augen geradewegs Funken sprühten, so wütend fühlte er sich. „Das ist grauenvoll!“ Kieran stieß ein unglückliches, schweres Seufzen aus. „Unsere Ansichten sind wohl zu verschieden. Ich fürchte, unter diesen Umständen kannst du nicht mehr hier bleiben.“ Ohne jedes Wort ließ Faren eine Sense in seiner Hand erscheinen, aber sein Gegenüber lachte nur amüsiert. „Mir liegt nichts daran, dich zu bekämpfen. Jedenfalls nicht hier.“ Damit lief er bereits rückwärts, entfernte sich von Faren, der ihn wachsam im Auge behielt. Selbst ohne hinzusehen, schaffte Kieran es, auf keinen der Toten zu treten. Nach wenigen Schritten fuhr er herum und eilte lachend davon. Dieser Ton erschütterte Faren bis in sein tiefstes Inneres, da es derart unheimlich war, dass er es nicht im Mindesten mit Kieran in Einklang bringen konnte. Doch statt sich noch weiter mit diesem Gedanken zu befassen, rannte er Kieran hinterher, um ihn nicht noch aus den Augen zu verlieren. Sein schauriges Lachen hallte durch die Gänge, trug nur noch zu der unheimlichen Atmosphäre bei, die nach Faren zu greifen versuchte, und der er sich lediglich durch seine großen Schritte entziehen konnte. Eine Tür klapperte und Faren stürzte hindurch, um Kieran zu folgen. Irritiert blieb er auf der anderen Seite erst noch einmal stehen. Er befand sich in einem langen Gang, zu beiden Seiten waren Spiegel angebracht, die er aber nicht weiter beachtete, da er Kieran in der Ferne entdecken konnte. Ohne weiter nachzudenken, folgte er ihm – doch kaum stand er zwischen den ersten beiden Spiegeln, wurde sein Körper von einem schrecklichen Gefühl der Angst erschüttert. „Du Nichtsnutz!“, donnerte die Stimme seines Vaters wie von tausend Verstärkern getragen durch den Gang. „Habe ich dir nicht schon zigmal gesagt, dass du das lassen sollst?!“ Im nächsten Moment erklang das klatschende Geräusch eines Schlags, gefolgt von dem leisen Weinen eines Jungen. „Es tut mir leid, Dad …“ Ein weiteres Klatschen. Farens Blick huschte umher, kam auf einem der Spiegel zu liegen, in dem er ein Abbild seines Vaters sehen konnte, nein, eigentlich nur ein Schemen, der seinem Vater ähnelte, aber bereits furchteinflößend genug war. Die Angst wollte ihn lähmen, es erforderte Faren unendlich viel Anstrengung, weitere Schritte zu machen. Seine Beine waren wie aus Blei. „Was denkst du dir nur dabei?!“ Ein weiteres Klatschen, das ihn schließlich in die Knie zwang. Er hörte sich selbst schreien und presste sich die Hände auf die Ohren, um es auszublenden. Sein ganzer Körper zitterte, während er all die Schrecken seiner Kindheit wieder durchlebte. Vorbei war der Gedanke, dass er Kieran retten müsste, fort all sein Mut, der ihn bis hierher gebracht hatte. „Willst du mir etwa widersprechen?!“ „Nein, Dad, nein!“ Das erneute Klatschen schien Farens Körper wirklich zu treffen. Er wankte unter der Wucht des Aufpralls, spürte den Schmerz in allen Knochen, die sich plötzlich gebrochen anfühlten. Er konnte nicht mehr. Wenn das so weiterging … „Fang jetzt bloß nicht an zu heulen!“ Diesmal wartete er nicht, bis noch etwas kam. Ruckartig holte er tief Luft und entlud diese dann in einem Schrei: „Hör auf damit!“ Er schien von überall her zurückgeworfen und dabei verstärkt zu werden, so dass er in seinen eigenen Ohren zu schmerzen begann. Aber er erfüllte die gewünschte Wirkung: Die Spiegel zersprangen klirrend in unzählige Teile, die Splitter schwebten für einen kurzen, wundervollen und doch seltsam mystischen Augenblick, in der Luft, ehe sie zu Boden fielen. Im selben Moment sackte Farens Blutdruck nach unten, was seinen Tribut forderte und ihn vornüberstürzen ließ. Das letzte, was er hörte, war Kierans amüsiertes, fast schon schadenfrohes Lachen, ehe alles um ihn herum in Dunkelheit und Stille versank. Außenwelt: 30.08.2023 – Mir geht’s bestens. -------------------------------------------- „Ich habe immer noch ein paar Schwierigkeiten, mich einzugewöhnen.“ Obwohl sie durch das Telefon ein wenig blechern klang, konnte Faren deutlich die Fröhlichkeit von Lucasta heraushören, jene, wegen der er sich einmal in dieses Mädchen verliebt hatte. „Aber ich denke, das wird schon werden.“ „Davon bin ich überzeugt“, unterstützte Faren sie sofort. „Und wenn du dich erst einmal mit den anderen im Wohnheim angefreundet hast, wird es noch besser.“ Er liebte Lucasta immer noch, spürte eine zarte Zuneigung, die sich um sein Herz gelegt hatte und ihn nie wieder loslassen wollte. Es war nicht genug, dass er für sie Kieran aufgeben könnte, aber noch immer genug, dass er nicht wollte, dass sie starb. Er erinnerte sich an seine Zeitachse, daran wie sie dort vor seinen Augen von einem Dämon zerfleischt worden war, das wollte er nicht noch einmal erleben. Deswegen hatte er sich Anfang des Jahres mit einem überraschten Vincent in Verbindung gesetzt und diesen nach einer kurzen Erklärung darum gebeten, Lucasta einen Platz in einem Wohnheim zu sichern. Solange sie nicht auf der Straße lebte, nachts also nicht draußen war, dürfte ihr nichts geschehen. Das hoffte Faren jedenfalls. Lucasta gab ein leises Geräusch von sich, dann schwieg sie einen kurzen Moment. In dieser Stille lauschte er andächtig ihrem Atmen am Telefon und fragte sich, wie es nur möglich sein konnte, jemanden mehr zu lieben als sie – wie war es Kieran nur gelungen, sich an Lucasta vorbeizuschmuggeln und den Platz einzunehmen, den er eigentlich auf ewig für sie reserviert hatte? „Faren“, sagte sie schließlich, „geht es dir auch gut?“ „Mir geht’s bestens“, antwortete er. „Ich bin gerade mit Mr. Lane und Dr. Tharom essen.“ Er sah zu den beiden Männern, die ihm gegenübersaßen, auf einer mit roten Leder bezogenen Sitzbank, und die sich bemühten, in die Karte zu sehen und so zu tun, als hörten sie ihm nicht zu. Gemeinsam in einem Diner Abend zu essen, war Farens Idee gewesen, aber er war nicht davon ausgegangen, dass Jii wirklich zustimmte. Umso größer war seine Freude aber gewesen, als er mit beiden Männern das Krankenhaus verlassen hatte, in dem Jii arbeitete. „Störe ich dann gerade?“ „Aber nein, du störst nie, Luc~. Es freut mich immer, wenn du dich bei mir meldest.“ Auch wenn seine Liebe nun Kieran galt, wollte er sie nicht aus seinem Leben streichen. Sie war ein wichtiger Teil von diesem und so sollte es auch immer bleiben. Besonders weil sie verstand, wie wichtig ihm Kieran war. Sie war eindeutig verwirrt gewesen von seiner Erklärung, aber sie hatte auch gesagt, dass sie spüren konnte, wie sehr er an Kieran hing und sie nicht im Weg stehen wollte. Dennoch waren sie Freunde geblieben, denn sie wollte Faren genauso ungern aus ihrem Leben streichen. „Ich mache jetzt trotzdem lieber Schluss“, sagte er. Im Hintergrund hörte er, wie jemand etwas zu Lucasta sagte. Sie reagierte mit einem knappen Laut und sprach dann wieder in den Hörer: „Faren, ich muss auch Schluss machen. Guten Appetit und meld dich ab und an mal, ich mache mir Sorgen um dich.“ Er glaubte nicht, dass es dafür einen Grund gab, aber wenn sie darauf bestand, konnte er nicht ablehnen. „In Ordnung, mache ich. Pass gut auf dich auf, Luc.“ „Du auch, Faren.“ Damit beendeten sie das Gespräch und Faren steckte das Handy wieder ein. Ohne etwas an seine Begleiter zu sagen, nahm er seine eigene Karte und schlug sie auf. Obwohl er sich bereits in das Menü vertieft hatte – und dafür einfach mal die teuren Preise ignorierte – spürte er Jiis bohrenden Blick. Ohne seine Augen von dem Bild zu nehmen, das einen köstlichen Cheeseburger zeigte, richtete er das Wort an Jii: „Stimmt etwas nicht, Doc?“ „Ich habe“, erwiderte der Angesprochene spitz, „nur gerade darüber nachgedacht, wie wenig Erziehung deine Eltern dir haben angedeihen lassen. Es ist immerhin ziemlich unhöflich, zu telefonieren, wenn du noch zwei Tischgäste hast.“ Faren warf einen flüchtigen Blick zu Cathan, der den Kopf gesenkt hielt, aber das Schmunzeln war auch so deutlich zu sehen. Da von diesem aber keine Hilfe zu erwarten war, richtete Faren seine Aufmerksamkeit wieder auf Jii. „Na ja, meiner Mutter waren meine Tischmanieren immer ziemlich egal, solange ich überhaupt was gegessen habe.“ Er erinnerte sich daran, wie oft er die Nahrung verweigert hatte, wenn er dafür mit seinem Vater am selben Tisch sitzen musste. Zwar hatte seine Mutter sich bemüht, ihm dann heimlich etwas zuzustecken, damit er wenigstens etwas aß, aber zu seinen Tischmanieren trug es natürlich nicht bei. „Und ich habe mich tunlichst bemüht, alles zu vergessen, was mein Vater mich lehrte.“ Denn jede einzelne Lektion war mit Schmerzen verbunden gewesen, manchmal aus den nichtigsten Gründen. Egal wie oft Faren versucht hatte zu ergründen, was schiefgelaufen war, wenn er wieder einmal geschlagen oder ans Bett gefesselt worden war, es war ihm nie gelungen. Von seiner Warte aus, waren all seine Taten richtig gewesen. Es hatte ihn viel Zeit gekostet, von dem Gedanken, dass er ein einziger Fehler war, wieder loszukommen, aber seitdem fühlte er nur noch brennenden Hass in sich, wann immer er sich an diese Zeiten zurückerinnerte. „Dann müssen wir ausbaden, dass dein Vater ein furchtbarer Kerl war?“, fragte Jii. „Ist“, korrigierte Faren. „Er ist ein furchtbarer Kerl.“ In seiner Zeitachse war Timothy – der Name seines Vaters – bei einem Autounfall gestorben. In dieser hatte Kieran ihm das Leben gerettet. Dafür hatte er sich tränenreich bei Faren entschuldigt und ihm erklärt, dass er keinen sterben lassen könne, egal wie abscheulich die entsprechende Person auch sein mochte. Diese Worte rührten immer noch Farens Herz, wann immer er an sie dachte, und sie überzeugten ihn davon, dass es notwendig war, Kieran zu retten. „Habt ihr eigentlich inzwischen herausgefunden, wo sich unser Problemkind aufhält?“ Faren hielt es für besser, das Thema zu wechseln, und wenn er schon gedanklich bei Kieran war, konnte er diesen auch direkt ins Gespräch einbinden. Cathan hob endlich den Kopf von der Menükarte und lächelte ihm keck entgegen. „Ich denke, es sitzt hier mit uns am Tisch.“ Er warf einen um Zustimmung heischenden Blick zu Jii, der tatsächlich schmunzelte. „Ja, ich würde ihn auch als unser Problemkind bezeichnen.“ „Ach kommt, so schlimm bin ich nicht.“ Davon war Faren überzeugt, denn wenn sie ihn als derart schlimm einstuften, würden sie ihn erst gar nicht trainieren. Glücklicherweise wurde Cathan nun auch wieder ernst. „Wir haben herausgefunden, wo sich Kierans Zuflucht befindet.“ Dann beschrieb er ihm eine Bahn-Strecke, die Faren nur allzugut kannte, und noch bevor Cathan an der exakten Stelle angekommen war, wusste er bereits, wo Kieran sich versteckt hielt. „Das ist aber ziemlich abgelegen“, bemerkte Faren. Er hatte gelernt, dass Dämonen diese Zuflüchte nicht nur erschufen, um sich vor Jägern zu schützen, sondern auch, weil sie auf diese Weise an Nahrung kamen. Sie suchten sich Seitengassen belebter Gegenden aus, in die sich irgendwann Fußgänger verirrten, die eine Abkürzung suchten, sich einfach nicht auskannten oder betrunken waren. Jene Personen luden die Dämonen in ihre Zuflüchte ein und verspeisten sie dann. Es erinnerte ihn ein wenig an das Prinzip der Hexen in einem Anime, den er vor einer Weile gesehen hatte – aber möglicherweise war der Schöpfer dieser Serie selbst ein Jäger oder war einmal damit konfrontiert worden. Reiß dich zusammen!, schalt er sich selbst. Deine Gedanken müssen bei Kieran bleiben. „Da wird er jedenfalls nicht viel Futter bekommen“, fügte er direkt hinzu. Cathan nickte. „Den Gedanken hatte ich auch schon. Aber ich glaube, Kieran will einfach niemanden verletzen. Erinnerst du dich, warum er ein Dämon geworden ist?“ Wie sollte Faren das denn nur vergessen? Noch immer sah er Kierans tränenüberströmtes Gesicht vor sich, hörte seine Stimme, die so schwach klang, wie noch niemals zuvor. „Er wurde ein Dämon, um uns zu beschützen.“ „Richtig“, sagte Cathan zufrieden, Stolz blitzte in seinen Augen. „Selbst als Dämon kann Kieran sich noch so weit beherrschen, dass er niemandem Schaden zufügt. Erstaunlich, oder?“ „Er ist nicht umsonst das Mirakel“, bemerkte Jii trocken, fast beiläufig, den Blick immer noch auf der Karte. „Dennoch würde ich mich nicht darauf verlassen, dass er auch so friedlich bleibt, wenn du erst einmal in der Zuflucht bist … Aber können wir vielleicht über etwas anderes sprechen? Ich habe keine Lust, auch noch meine Mittagspause damit zu verbringen, über dieses Thema zu reden.“ Für Faren gab es kaum ein anderes, weswegen er jeden Tag bei Cathan oder Jii oder sogar beiden aufschlug, um mit ihnen darüber zu sprechen oder sie von einer Lehrstunde zu überzeugen. Ginge es nach ihm, wäre er schon längst in die Zuflucht eingedrungen – und vermutlich glorreich gescheitert. Aber er konnte auch verstehen, dass es besonders Jii langsam anödete, immer nur darüber sprechen zu können. Immerhin mochte er Kieran ohnehin nicht sonderlich, da musste es ihn natürlich stören, wenn nur über diesen gesprochen wurde. „Ja, wechseln wir das Thema“, stimmte Cathan zu. „Am besten reden wir darüber, was wir nun essen wollen, ich verhungere nämlich – und wenn die Bedienung noch einmal vorbeiläuft, weil wir noch nicht fertig sind, muss ich einen von euch aufessen.“ Jii mühte sich ein Schmunzeln ab, während Faren ein halbherziges Lachen von sich gab. So sehr er Kieran auch vermisste und ihn am liebsten schnellstens wieder befreien wollte, wusste er doch auch, dass es notwendig war, einmal innezuhalten, wie an diesem Abend, und über etwas anderes nachzudenken. Sie mussten sich entspannen – und wenn das nur ging, während sie in einem Diner zusammen Burger und Pommes aßen, Cola tranken und über irgendwelche unbedeutenden Kleinigkeiten sprachen, wollte Faren dem gewiss nicht widersprechen. Am Ende diente das alles seinem ultimativen Ziel, dem er sich bereits zu diesem Zeitpunkt mit Leib und Seele verschrieben hatte. Dritte Welt der Zuflucht – Eine Sackgasse. ------------------------------------------ Als Faren wieder erwachte, befand er sich immer noch in diesem Gang, umgeben von unzähligen Splittern der Spiegel, von denen nur noch die Rahmen standen. Kierans Lachen schien immer noch von den Gängen widerzuhallen, aber sonst war niemand mehr hier. Es erfüllte Faren mit einiges an Genugtuung, diese Scherben zu sehen. Es schien ihm gleichbedeutend mit einem Sieg über seinen Vater, den er niemals erringen könnte. Immerhin war Timothy schon vor einigen Jahren gestorben – und einen Toten konnte man nicht besiegen. Um sich nicht zu schneiden, wischte Faren die in seiner Nähe liegenden Scherben weg, ehe er sich aufrichtete. Von der Tür, durch die er gekommen war, gab es keinerlei Spuren mehr, lediglich jene, durch die er hatte gehen wollen, ehe er von diesem Flashback getriggert worden war. Zumindest war das Gefühl gebrochener Knochen verschwunden, so dass er sich wieder uneingeschränkt bewegen konnte – was er direkt dafür nutzte, einen Blick auf seine Uhr zu werfen. „Nur noch zwei Stunden.“ Das könnte knapp werden, er konnte es sich nicht mehr leisten, noch öfter bewusstlos zu werden oder einfach nur in der Gegend herumzustehen. Also setzte er sich lieber wieder in Bewegung, ignorierte das knirschende Glas unter seinen Schuhen und durchquerte die Tür. Auf der anderen Seite fand er sich in einem Raum wieder, der nicht so wirklich in eine Schule passen wollte – wenn er sich überhaupt noch in einer solchen befand. Vielleicht passte er aber in eine Tanzschule, jedenfalls wenn er die Größe bedachte, so wie den Spiegel, der sich an einer Wand entlangzog. In Horrorspielen, so wusste er, geschahen immer eigenartige Dinge, wenn man in derartige Spiegel sah oder man entdeckte, dass etwas in der Reflektion anders war, als in der Realität, aber hier traf das nicht zu. Die Stühle waren fein säuberlich an der anderen Wand aufgereiht, direkt vor den Tischen, auch befand sich außer ihm sonst niemand im Raum, weder hier noch im Spiegel. Auch der schwarze Flügel zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Faren stellte sich vor die schwarzen und weißen Tasten und spielte probehalber ein paar Akkorde, die er einmal aufgeschnappt hatte. Die Saiten waren alle gestimmt, die Töne kamen klar hervor, weswegen er es bedauerte, dass er selbst kein Klavier spielen konnte – und eine Geige fand er spontan nicht. Er blickte durch die Fenster nach draußen, aber dort sah er nur Schwärze, die ihm nicht sonderlich willkommend aussah. Doch die Fenster ließen sich ohnehin nicht öffnen, also war es unerheblich. Es gab auch keine weitere Tür. Alles in allem sah es aus wie- „Eine Sackgasse“, stellte er fest, während er ein wenig ratlos im Kreis lief. Sollte er wieder durch jene Tür gehen, durch die er hereingekommen war? Hatte Kieran ihn vielleicht nur an der Nase herumgeführt? Er wandte sich gerade ab, um wirklich zurückzugehen – als er eine Bewegung im Spiegel bemerkte, die nicht zu seiner passen wollte. Misstrauisch ging er näher, bis er direkt vor seinem Spiegelbild stand und dieses genauer betrachten konnte. Auf den ersten Blick wirkte alles, wie es sein sollte. Wenn man keine Horrorspiele oder derartige Filme konsumierte, schöpfte man wohl auch keinen Verdacht, aber Faren fiel durchaus auf, dass sein Spiegelbild all seine Bewegungen nur verzögert imitierte, als müsste es erst einmal darauf warten, was er tat, um entsprechend reagieren zu können. Faren wich einige Schritte zurück und ließ eine Pistole in seiner Hand erscheinen. Nicht jene, die Traumbrecher einsetzten, sondern eine richtige Waffe, mit der er auch direkt auf den Spiegel schoss. Doch statt splitterndem Glas war lediglich ein helles Blitzen zu sehen, wonach die Kugeln zu Boden fielen, ohne Schaden zu verursachen. „Also ist es kein normaler Spiegel.“ Was nur noch einmal dadurch bestätigt wurde, dass sein Spiegelbild zwar ebenfalls mit einer Waffe dastand, aber nicht geschossen hatte und ihn stattdessen lediglich mit einem überheblichen Grinsen ansah, das, so fand er, gar nicht zu ihm passen wollte. Farens Blick traf sich mit dem seines Spiegelbildes, es schmunzelte – und betätigte dann ebenfalls den Abzug seiner Waffe. Die Kugeln schlugen auf das Glas und zerbrachen es diesmal tatsächlich. Die Splitter flogen Faren entgegen, der sich schützend einen Arm vor die Augen hielt. Doch bevor sie ihn erreichen konnten, fielen sie wie glitzernde Juwelen zu Boden und blieben dort liegen. Hinter dem Spiegel befand sich ein Hohlraum und dort befand sich eine schattenhafte Gestalt, die selbst in ihrem jetzigen, detaillosen Zustand noch immer Ähnlichkeit zu Faren aufwies. Sie trat aus diesem Hohlraum heraus in das große Zimmer und wirkte dabei alles andere als friedlich. „Ich habe mal ein Videospiel gespielt, in dem das so ähnlich passiert“, meinte Faren schmunzelnd. „Aber diesmal habe ich nicht das Glück, einen Gefährten mit einer heilenden Kette zu haben.“ Doch das sollte ihn nicht aufhalten, nicht wenn es um Kieran ging. Der Platz reichte nicht für seine Sense, also beschwor er einen Speer – und stürmte dann direkt auf das fremdartige Wesen zu. Dieses wich mühelos zur Seite aus, hinterließ aber eine Spur aus Feuer, die Faren mit einem einzigen Drehen seiner Waffe direkt ersticken konnte. Dann setzte er dem Wesen nach, das ein amüsiertes Lachen von sich gab. Es klang erschreckend nach seinem eigenen, das von dem Lachen seines Vaters überlagert wurde, aber er konnte sich auch davon nicht beeindrucken lassen. Nicht in diesem Moment. Er stieß den Speer direkt in den Oberkörper seines Feindes – doch dort, wo die Klinge in ihn eindrang, teilte sich einfach die Masse wie zähflüssiger Teer und schloss sich dann sofort wieder, so dass die Waffe feststeckte. Egal wie stark Faren zog oder schob, sie gab nicht mehr nach. Die Situation ließ seinen Feind in hysterisches Gelächter ausbrechen, Teer tropfte scheinbar von ihm herunter, bewegte sich über den Boden und versuchte nun auch, Faren an Ort und Stelle zu fixieren. Um dem zu entgehen, ließ er die Waffe los und sprang rückwärts, um sich in Sicherheit zu bringen. Im selben Moment, in dem seine Hände den Griff verließen, zerbrach dieser auch schon bereits in mehrere Glieder, die von einer Kette zusammengehalten wurden. Ohne sein Zutun schlangen die Teile sich um den Körper des Wesens, und das Ende verkantete sich im Boden, um es an Ort und Stelle zu halten. Dennoch breitete sich ein siegessicheres Grinsen auf dem Gesicht seines Feindes aus. Die Masse öffnete sich direkt im Gesicht, was es zu einem furchterregenden Anblick machte – besonders als in diesem Mund ein Licht erstrahlte, was auf einen weiteren Angriff hindeutete. Statt auszuweichen, zog Faren an einem imaginären Umhang, der im nächsten Moment tatsächlich erschien und ein Schutzschild vor seinem Körper bildete. Und das keinen Augenblick zu früh. Der Lichtstrahl schoss aus dem Mund des Wesens und prallte direkt gegen den Schild, der ein leises Knacken von sich gab. Faren fokussierte mehr Energie in die Erhaltung seines Schutzes – und atmete erleichtert durch, als der Strahl endlich wieder erlosch. Sofort ließ er den Schild verschwinden und lenkte seine Energie dafür in den Boden um. Eine dünne Eisschicht breitete sich rasch auf diesem aus, kroch an dem Wesen empor, erstickte sogar die Flammen, die dieses aufbrachte, um sich davor zu schützen. Innerhalb kürzester Zeit war sein kompletter Feind in einen Eisblock eingehüllt, derart kalt, dass es in der ansonsten warmen Umgebungsluft dampfte. Faren ließ wieder eine Pistole in seiner Hand erscheinen und deutete damit direkt auf den bizarr geformten Eisklotz, in dem sich auch irgendwo sein Speer befinden müsste. „Jackpot~.“ Ein einzelner Schuss genügte, die Skulptur zerfiel in unzählige zarte Splitter, die sich nie mehr zusammenfügen und nichts mehr von dem einstmals starken Feind erahnen ließen. Faren löste seine Waffe wieder auf, ehe er sich mit einem zufriedenen Lächeln dem Hohlraum zuwandte, aus dem dieses Wesen herausgekommen war. Wenn er sich nicht vollends täuschte, müsste er dort einen weiteren Weg finden, um Kieran folgen zu können. Dabei trat er mit besonders viel Genugtuung auf die einzelnen Eisbrocken, die ihm noch so unterkamen, nur um nochmal ganz sicher zu gehen. Der Hohlraum war nicht beleuchtet, aber undeutlich konnte er die Metallschnur einer Lampe erkennen. Also zog er daran, worauf eine nackte Glühbirne aufflammte. Faren blinzelte in die ungewohnte Helligkeit, dann ließ er den Blick schweifen. Dieser Hohlraum sah aus … wie ein Schrank. Eine Stange war hier angebracht auf der sogar einige Kleidungsstücke aufgereiht waren. In der Ecke standen einige Kartons, deren Inhalt ihn aber nicht interessierte, schon allein deswegen weil er versuchte, der Enttäuschung in seinem Inneren Herr zu werden. Es gab keine Tür, keinen geheimen Gang, nichts. Es war eine weitere Sackgasse. Seufzend lehnte Faren sich mit dem Rücken gegen die Wand des Schranks und blickte zurück in den großen Raum. Das Eis begann bereits zu schmelzen, aber von der schwarzen Masse war nichts mehr zu sehen. „Was soll ich jetzt tun?“, fragte er leise. Kieran wäre bestimmt eingefallen, wie er weiterkommen könnte. Egal in welcher Situation er gewesen war, Kieran hatte immer einen Ausweg gefunden – selbst aus seiner letzten Notlage, auch wenn das Ergebnis Faren nun hierher geführt hatte. Aber ein Ausweg ist ein Ausweg. Ich habe im Moment nicht einmal das. Er verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte zu verhindern, dass er gerade jetzt wieder in einer gedanklichen Situation versank, die ihn dazu zwingen könnte, sich frustriert in eine Ecke zu setzen und seinen Gedanken nachzuhängen. Stattdessen ließ er seine Überlegungen wieder zu dem eben besiegten Feind wandern – und die Stirn runzeln. Bei den vorigen beiden Feinden hatte es einen Gegenstand gegeben, der ihm weitergeholfen hatte, aber hier war er leer ausgegangen. Bedeutete das etwas? War der Feind dieser Ebene vielleicht noch gar nicht wirklich besiegt? „Zu spät“, zischte eine Stimme hinter ihm. Noch ehe er sich umdrehen oder sich auch nur von der Wand entfernen konnte, wurde er plötzlich gepackt und mit einem heftigen Ruck geradewegs zurückgezogen. Davon bekam er aber nicht mehr sonderlich viel mit, denn gemeinsam mit der Berührung floss eine eisige Kälte direkt in seinen Körper hinein, die auch rasch sein Innerstes erfüllte – und ihm das Bewusstsein rauben wollte. Doch ehe er vollkommen in die Schwärze versank, sah er noch einmal Kieran vor sich, seinen Kieran, der ihn leicht genervt ansah, wie immer eben. Plötzlich lächelte er aber tatsächlich, wenn auch nur ganz leicht. „Es ist schon gut, Faren. Ich bekomme das hin, vertrau mir.“ Dann verschwand er hinter einem schwarzen Schleier – und Farens Bewusstsein versank in einem tiefen Meer, auf dessen Grund ihn nichts mehr erreichen konnte. Innerste Zuflucht – … --------------------- Faren. Das war der Name dieses Besuchers, des Kämpfers. Er kannte diesen Namen, sah ihn oft in seinen aufblitzenden Erinnerungen – und die letzte, die er gesammelt hatte, ehe er hierher gekommen war, vor scheinbar endlos langer Zeit, hatte es ihm endlich verraten. Er war derjenige, nach dem er sich so sehr sehnte, den er vermisste und wegen dem er dieses Gefühl der Reue verspürte. Er war für ihn hierhergekommen, aber gleichzeitig wollte er auch bei ihm sein und bereute es, sich von ihm getrennt zu haben. Aber Faren gab nicht auf. Er war für ihn in diese Welt gekommen. Er kämpfte für ihn. Das musste bedeuten, er war Kieran. Denn für einen Kieran war er gekommen. Noch erinnerte er sich nicht im Mindesten daran, konnte sich nicht sicher sein, ob er wirklich diese Person war. Er konnte nur hoffen, darauf vertrauen, dass seine Erinnerungssplitter, richtig angeordnet und miteinander verbunden, ihm wirklich offenbarten, dass er Kieran sei. Denn wenn es so war, könnte er mit Faren gehen und diese Welt verlassen. Faren müsste dafür lediglich hier ankommen, das Herz erreichen und ihn befreien. Seine Hoffnung wurde weiter angefacht, verdrängte die Reue und erhöhte die Freude, die er schon nach Farens Eintritt in diese Welt gespürt hatte. Faren würde ihn befreien – und es gab keinen Grund, daran auch nur im Mindesten zu zweifeln, egal wie aussichtslos es für diesen gerade aussehen musste. Außenwelt: 01.01.2023 – Ich mache es. ------------------------------------- „Es ist schon gut, Faren. Ich bekomme das hin, vertrau mir.“ Das waren Kierans letzte Worte gewesen, vor wenigen Wochen, bevor er sich in einen Dämon verwandelt hatte und dann verschwunden war. Seitdem spukten sie durch Farens Kopf, suchten seine Träume heim und begleiteten ihn durch den Tag. Aber schon nach zwei Wochen konnte er das nicht mehr ertragen. Zu wissen, dass Kieran zu dem geworden war, was er sein Leben lang bekämpft hatte, und das nur, um alle anderen zu beschützen, schmerzte Faren und raubte ihm den Schlaf. So saß er meist nachts an seinem Fenster, blickte in die Dunkelheit hinaus und rauchte, während er sich fragte, wo Kieran wohl gerade war. Dass er sich geopfert hatte, um alle anderen zu retten, setzte Faren schwer zu. Auch wenn Kieran dazu neigte, sich für andere zu opfern und sein eigenes Überleben unter das anderer stellte, war es unmöglich, das zu akzeptieren. Es musste einfach eine andere Lösung geben, davon war Faren überzeugt. Deswegen hatte er so lange auf Cathan eingeredet, bis dieser am Neujahrstag schließlich resignierte und ihn hierher, ins Krankenhaus brachte. So warteten sie nun beide in einem Büro auf den entsprechenden Arzt, aber mehr als Dr. Tharom hatte Faren nicht draußen auf der Namensplakette lesen können. Er war sich nicht sicher, weswegen sie eigentlich hier waren, aber er vertraute darauf, dass Kierans Vater schon wusste, was er tat. Die Januarsonne tauchte den weißen Raum in ein ungemütliches Licht, das Farens Haut wirken ließ, als sei er krank. Jedenfalls hoffte er, dass es sich dabei nur um die Sonne handelte und er nicht wirklich einen derart ungesunden Teint besaß. An den Wänden, jedenfalls dort, wo keine Aktenschränke standen, hingen Poster auf denen die Anatomie eines Menschen erklärt wurde, sowie solche, die ein beschriftetes Skelett zeigten, also nichts, was Faren interessierte oder für einen Arzt außergewöhnlich wirkte. Cathan saß unruhig auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch, während Faren sich dort nicht mehr lange halten konnte. Also war er aufgestanden und an eines der Regale getreten, in dem sich allerlei medizinische Fachbücher befanden. Auf den ersten Blick schien ihm aber zumindest keines davon psychologischer Natur zu sein, also versuchte Cathan ihn wohl eher nicht, in irgendeine Therapie stecken zu wollen. Er überflog die Titel lediglich – bis seine Augen an einem Gegenstand hängenblieben, der nicht in dieses Büro passen wollte. Vorsichtig nahm er die Schneekugel in seine Hand und drehte sie ein wenig, so dass die weißen Flocken durch das Wasser stoben. Im Inneren gab es kein Haus und auch kein Tier, wie in den meisten dieser Kugeln, sondern eine kleine Uhr, die, so sah es zumindest aus, wirklich tickte. Wer immer diesen Gegenstand angefertigt hatte, musste wirklich über viel Fingerspitzengefühl verfügen. Faren konnte sich nicht einmal vorstellen, wie filigran die einzelnen Teile der Uhr gewesen sein müssen. Aber der Gedanke allein erfüllte ihn mit genügend Ehrfurcht, dass er die Schneekugel vorsichtig wieder auf ihren Platz stellte. Er achtete sogar extra darauf, dass sie wieder exakt so dastand, wie zuvor, gleichzeitig schmerzten seine Finger, als er daran dachte, wie sein Vater ihn bestraft hatte, wann immer er ungefragt etwas berührte. Nachdem sichergestellt war, dass die Schneekugel wieder richtig stand, drehte Faren sich um – und erkannte irritiert, dass er und Cathan nicht mehr allein waren. Hinter dem Schreibtisch saß nun ein weißhaariger Mann mit einem gesunden braunen Teint – und goldenen Augen, die ihn finster durch eine Brille hindurch anstarrten. Seine gerunzelte Stirn ließ ihn ein wenig älter erscheinen, aber Faren schätzte ihn nach kurzem Überlegen auf etwa vierzig Jahre alt, so ähnlich wie Cathan also. „Bist du jetzt fertig?“, fragte der Fremde mit knurrender Stimme. Faren setzte sich wieder und schlug betont locker die Beine übereinander. „Klar.“ Der andere – dessen Name Jii Tharom war, wie Faren später erfuhr – musterte ihn mit unverhohlenem Widerwillen. „Du bist sicher ein Freund von Kieran, oder?“ „Woran merken Sie das?“, erkundigte Faren sich lächelnd. „Du bist genauso unverschämt wie er, also passt das zusammen.“ Kieran und unverschämt? Nun, wenn er bedachte, wie Kieran mit ihm manchmal umsprang, besonders wenn Faren ihm gerade wieder auf die Nerven ging, konnte er sich das gut vorstellen. Hieß das also, Kieran mochte diesen Mann nicht sonderlich? Warum brachte Cathan ihn dann überhaupt hierher? Danach fragte auch sofort Jii, indem er sich an diesen wandte: „Was soll er denn hier?“ „Du hast richtig erraten, dass Faren ein Freund von Kieran ist. Er war dabei, als dieser sich in einen Dämon verwandelt hat und verschwunden ist.“ Jii lauschte dem unbewegt, während Faren die Fäuste ballte, sie aber weiterhin auf seinen Oberschenkeln hielt. „Jedenfalls möchte er unbedingt etwas tun, um Kieran zu retten.“ „Das ist unmöglich“, sagte Jii sofort. Dieselbe Reaktion hatte er auch bereits von Cathan erhalten, deswegen entmutigte sie ihn nicht wirklich. „Soweit ich weiß, ist es eben nicht unmöglich. Bislang hat es nur noch niemand versucht.“ Jiis Augen verengten sich noch weiter. „Weil es Wahnsinn ist. Selbst wenn wir es schaffen, Kierans Zuflucht zu finden, ist das Betreten eben dieser gefährlich – tiefer hineinzugehen ist glatter Selbstmord. Und auch wenn ich dich nicht kenne und du mir daher vollkommen egal sein kannst, entspricht es nicht meinem Kodex, andere in ihr Verderben rennen zu lassen.“ „Das habe ich ihm auch schon gesagt“, meinte Cathan. „Auch dass es bislang noch nie jemand überlebt hat, der versuchte, bis zum Kern einer Zuflucht durchzudringen.“ „Was aber nicht bedeutet, dass es unmöglich ist“, beharrte Faren. „Man muss nur ein vernünftiges Ziel und genug Willen aufbringen. Und ein paar Fähigkeiten.“ Und genau an letzterem mangelte es ihm. Als normaler Mensch könnte er eine Zuflucht nicht einmal finden, wie er inzwischen wusste. Selbst wenn er den genauen Aufenthaltsort kannte, gäbe es für ihn keine Möglichkeit das Portal zu öffnen. Und gesetz dem Fall, Kieran ließe ihn freiwillig ein, wäre es ihm unmöglich, sich dort gegen die Gefahren zu verteidigen. Das wusste er alles bereits von Cathan, aber das war für ihn kein Grund, sein Vorhaben aufzugeben. „Es gibt keinen Dämonenjäger, der ein solches Risiko auf sich nehmen würde.“ Dabei sah Jii zu Cathan, der ihm zunickte. Diese Möglichkeit hatte Faren auch bereits eruiert, aber Cathan war ihm mit allerlei Argumenten gekommen, die es ihm unmöglich machten, die Zuflucht von Kieran aufzusuchen. Ganz oben war jenes gewesen, das ihn am meisten überzeugt hatte: Allein seine Anwesenheit könnte Kieran, der ohnehin eine gespannte Beziehung zu Cathan hatte, derart reizen, dass er eine Macht entfesselte, der niemand standhalten könnte. Also war Faren davon abgekommen und hatte für sich einen neuen Plan gefasst. „Ich mache es.“ Jii wandte ihm abrupt wieder den Blick zu. „Lächerlich machst du dich, mehr nicht. Du bist kein Dämonenjäger, als Mensch überlebst du nicht einmal einen Tag in einer Zuflucht.“ „Deswegen sind wir hier“, schaltete Cathan sich wieder ein und erklärte damit endlich auch für Faren, weswegen sie bis in dieses Krankenhaus gefahren waren. „Ich weiß nichts Genaues, aber auf der Straße gibt es Gerüchte über eine Droge, die einem unter speziellen Voraussetzungen besondere Kräfte verleiht.“ Jii murrte unwillig. „Dreamdust. Aber ich rate von einem derartigen Versuch ab.“ Von dieser Droge hatte Faren tatsächlich schon gehört. Bislang war er aber nie dazu gekommen, sie auch wirklich selbst zu nehmen ... jedenfalls nicht mehrmals, immerhin war die Droge teuer, nichts was sich ein einfacher Straßenjunge oft leisten konnte. „Aber du würdest ihn dabei beaufsichtigen“, versuchte Cathan es weiter. „Sieh es doch ganz einfach als Experiment.“ Das weckte wohl endlich Jiis Interesse und seine Neugier, seine Stirn glättete sich wieder ein wenig, während er Cathan ansah. Diesen spornte das Verhalten dazu an, weiterzumachen: „Du hast einen ganz normalen Menschen, an dem du die Auswirkungen von Dreamdust erforschen kannst. Und dann wird er dir sogar in eine Zuflucht gehen, in einem Versuch, einen zum Dämon gewordenen Jäger zu retten. Das gab es noch nie. Stell dir vor, was für Erkenntnisse du gewinnen könntest.“ Jii wirkte plötzlich wesentlich entspannter als noch zuvor. Er legte die Fingerspitzen aneinander und sah Cathan an – hatte aber bereits wieder die Stirn gerunzelt. Offenbar gab es noch eine Sache, die ihm zu denken gab. Faren wollte verzweifelt aufschreien und ihn fragen, was er denn zu tun gedenke, während Kieran dort draußen ganz alleine litt und möglicherweise sogar Leute tötete. Aber er konnte sich bereits denken, dass er mit einem solchen Verhalten auf Granit stieße, also blieb er sitzen, wippte jedoch nervös mit dem rechten Fuß. Glücklicherweise war Cathan aber noch da und kannte Jii wohl schon wesentlich länger, denn er konnte die Bedenken des Arztes direkt kontern: „Und wenn er vorher stirbt, kannst du ihn obduzieren und auch die Einwirkung der Droge auf die inneren Organe untersuchen.“ Warum ihn das locken sollte, verstand Faren zwar nicht – aber es funktionierte: Plötzlich hoben sich Jiis Mundwinkel ein wenig, so dass es aussah, als lächele er, aber seine goldenen Augen funkelten lediglich voller Vorfreude. Mit „Bist du auch damit einverstanden?“ wandte er sich wieder Faren zu. Dieser nickte sofort, auch wenn ihm der Gedanke, zu sterben und dann von diesem seltsamen Arzt aufgeschnitten zu werden, nicht wirklich behagte. Aber wenn es ihm diente, Kieran zu helfen, akzeptierte er das mit Freuden. Außerdem ging er auch nicht davon aus, dass er sterben könnte. Er würde überleben und Kieran sicher nach Hause bringen, wenn er schon der einzige war, der das tun konnte. Jii schloss die Augen und atmete tief durch. Dabei kam es Faren fast so vor, als empfände er großes Vergnügen bei dem Gedanken möglicherweise bald jemanden aufschneiden zu dürfen. Vielleicht sollte Faren in naher Zukunft aufpassen, damit er nicht in einer Badewanne voll Eis erwachte. Es war vielleicht nur eine urbane Legende, aber das musste diesen Mann ja nicht davon abhalten, sie in die Tat umzusetzen. „In Ordnung, Faren.“ Jiis plötzliche Worte holten ihn wieder aus seinen düsteren Gedanken. „Ich stimme zu, ich werde dir bei diesem Vorhaben helfen, auch wenn ich nach wie vor darauf bestehe, dass es absoluter Wahnsinn ist.“ „Ist notiert.“ Beeindruckt war er davon allerdings schon lange nicht mehr, dafür musste er gerade viel zu sehr strahlen. „Und du wirst mir vorher ein Dokument unterschreiben, dass das alles aus deinem eigenen Willen heraus geschieht und ich für die Folgen nicht haftbar gemacht werden kann.“ „Ist so gut wie unterschrieben.“ Nun fiel Jii wohl nichts mehr ein, was er noch als Bedingung hinzufügen könnte, egal wie sehr er darüber nachdachte. Also nickte er schließlich. „Gut. Dann komm morgen wieder, bis dahin habe ich alles vorbereitet.“ Faren nickte enthusiastisch. Auch wenn es anfangs schlecht ausgesehen hatte, war es am Ende doch leichter gewesen als gedacht. Zum Glück wusste Cathan wohl, welche Knöpfe man bei Jii betätigen musste. Irgendwie schade, dass Kieran diesen Wesenszug seines Vaters nicht geerbt hatte. Aber dann hätte er Faren bestimmt niemals gebraucht. Dieser erhob sich rasch, nachdem er gesehen hatte, dass auch Cathan aufstand. Allerdings ignorierte Jii die Verabschiedung der beiden und vertiefte sich lieber direkt in das Schreiben einer Notiz, wobei Faren ihn nicht stören wollte und lieber seinem Begleiter hinausfolgte. Dabei fiel sein Blick noch einmal für einen kurzen Moment auf die Schneekugel und wieder stellte er sich die Frage, was ein solch wunderschöner Gegenstand im Büro dieses Mannes machte. Auf dem Gang brachten sie einige Schritte schweigend hinter sich, ehe Cathan die Stille durchbrach: „Das hat gut funktioniert, oder?“ „Ja, danke, Mr. Lane.“ Dieser winkte allerdings rasch ab. „Schon gut. Das war noch der leichte Teil, den schweren hast du nun vor dir. Das ist dir hoffentlich bewusst.“ „Natürlich ist es das.“ Auch wenn er nun vielleicht noch nicht wirklich erfassen konnte, was genau da alles auf ihn zukäme, immerhin kannte er die Dämonenjagd nur von Kieran und bei dem hatte es so einfach ausgesehen, weil er immerhin sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet gewesen war. Für ihn dürfte es wesentlich anstrengender werden. Aber er war vollkommen bereit, dies auf sich zu nehmen. Zwei Wochen ohne Kieran waren schon schwer genug gewesen, ein ganzes Leben könnte er das nicht ertragen. Nun hatte er aber den ersten Schritt getan, um diesem Zustand abzuhelfen – und das fühlte sich wirklich überragend gut an. Vierte Welt der Zuflucht – Ich bin gekommen, um dich zu retten. --------------------------------------------------------------- Dieses Mal war sein Erwachen wesentlich schmerzhafter. Sein Kopf fühlte sich an, als könne er jeden Moment einfach zerplatzen, entsprechend war seine Sicht getrübt und als er versuchte, sich aufzusetzen, bemerkte er, dass sich alles um ihn herum drehte. Also blieb er erst einmal liegen, würgte trocken und zählte innerlich mehrmals bis zehn, in der Hoffnung, dass sein Gehirn sich dann wieder soweit beruhigt hatte, dass er mehr machen könnte. Statt sich zu fragen, wo er eigentlich war, wurde er nur von dem Gedanken beherrscht, weswegen das Dreamdust nicht mehr funktionierte. Als er sich endlich hinsetzen konnte, blickte er auf sein Handgelenk hinunter – und bemerkte erschrocken, dass die Uhr fehlte. Nur noch die Einstichstellen der Nadel waren zu sehen. Damit waren die Kopfschmerzen vergessen, sein Blick ging stattdessen suchend umher. Er befand sich in einer Höhle, die nicht sonderlich gut beleuchtet war, aber dennoch konnte er, in dem bisschen, was er erkennen konnte, sehen, dass es nichts gab. Nicht einmal Steine, die auf dem Boden lagen. Noch dazu war außer ihm niemand hier. Lediglich der Wind pfiff durch das Gestein und von irgendwoher konnte er den salzigen Geruch von Meerwasser wahrnehmen. Sich an der Wand abstützend, gelang es ihm schließlich sich aufzurichten und auch einige Schritte zu gehen, ehe seine Beine zu wackeln aufhörten. Kaum war dieser stabile Zustand erreicht, löste er sich von der Wand und ging mit raschen Schritten vorwärts. Schon bald hörte er neben dem Wind auch das Rauschen von Wellen und kurz darauf war in der Entfernung ein Licht sichtbar, das in regelmäßigen Abständen verschwand und dann wiederkehrte. Er lief noch schneller, was ihn fast stolpern ließen, bewegte sich aber unablässig auf den Ausgang zu. Wie erwartet fand er sich an einem Strand wieder, Gewitterwolken verfinsterten den Himmel, aber trotz diesen und dem wehenden Wind, lag das Meer still. Der Sand war überraschend dunkel, fast schwarz, so wie das Wasser, dessen Wellen Muster zu formen versuchten. Faren beobachtete die Brandung eine Weile, bis ihm auffiel, dass sie Armen gleichkam, die sich hilfesuchend nach dem Land streckten, nur um dann erbarmungslos wieder auf die See hinausgezogen zu werden. Er wusste, griffe er danach, erginge es ihm mit Sicherheit genauso. Sein Blick wanderte weiter und er entdeckte, dass er sich in einer halbmondförmigen Bucht befand, auf einer der Klippen, die bis ins Meer hinausragte, fand er auch endlich den Grund für das Licht: Ein dunkel aussehender Leuchtturm stand dort, die darin befindliche hell strahlende Lampe drehte sich in einem ruhigen Rhythmus, um verirrte Schiffen zu leiten. Aber auf dem Meer war nichts zu sehen. Dafür entdeckte er nun auch einen Felsen, der mitten auf dem Strand stand. Und auf diesem befand sich eine Person, die erstaunlich stark an Kieran erinnerte. Dennoch überkam Faren keine Erleichterung, stattdessen spannte sich sein ganzer Körper an, da er eine weitere Falle vermutete. Als er näherging, erkannte er, dass es der erwachsene Kieran war, der dort saß, jener, in den er sich verliebt hatte. Aber etwas an seinen Augen war falsch. Das Glitzern darin war nicht jenes, das er von dem echten Kieran kannte. Dass er außerdem mit übereinandergeschlagenen Beinen dasaß und sich mit dem Ellenbogen auf seinem Knie abstützte, passte auch nicht zu ihm. Von der schwarzen Kleidung wollte er lieber gar nicht erst anfangen. „Hallo, Faren.“ Selbst seine Stimme, so ähnlich sie dem Original auch klingen mochte, war nicht richtig, sondern besaß einen klirrenden Unterton, der ihm nicht behagte. „Wie schön, dass du es bis hierher geschafft hast.“ „Du hast es mir ja nicht gerade einfach gemacht.“ Besser war, er spielte erst einmal mit. „Ich hätte erwartet, du rollst mir einen roten Teppich aus oder sowas.“ Kieran zog die Mundwinkel ein wenig nach oben, aber seine Augen blieben kalt. Faren wollte zurückweichen, gleichzeitig aber auch keine Schwäche zeigen. Vor allem als ihm auffiel, was in der Hand des anderen war. „Das ist übrigens meine Uhr“, sagte Faren und deutete darauf. „Gibst du sie mir wieder?“ Kieran blickte auf den Gegenstand hinunter. „Dieser billige Tand? Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Wozu solltest du das denn noch brauchen?“ Ohne hinzusehen, warf er die Uhr über seine Schulter, Faren konnte nur hilflos mitansehen, wie sie im Wasser versank, regelrecht von der Dunkelheit verschluckt wurde, um niemals wieder aufzutauchen. Sein einziges Hilfsmittel war verschwunden und das gab ihm das unangenehme Gefühl, dass er nun schutzlos ausgeliefert war. „Da das jetzt geklärt ist“, fuhr Kieran fort, „kommen wir zu wichtigeren Themen. Ich habe dich sicher nicht eingeladen, also warum sollte ich dir den roten Teppich ausrollen?“ „Ich bin gekommen, um dich zu retten. Da hätte ich ein wenig mehr Freude erwartet.“ Besonders wenn er an ihr Gespräch im Zug zurückdachte. Aber vielleicht war dies nur das Ergebnis eines plötzlichen Schubs gewesen und nicht real. Wenn er es genau betrachtete, war es auch eher unwahrscheinlich, dass- „Ich sagte dir, dass ich glücklich bin“, erwiderte Kieran. „Du mischst dich hier in mein Leben ein, ungefragt, ohne darum gebeten worden zu sein, wie du es immer tust.“ Faren sagte nichts darauf, so dass er fortfahren konnte, scheinbar geradewegs genussvoll: „Du denkst, nur weil du es schwer hattest, gäbe dir dies das Recht, dich überall einzumischen, ohne auf die Gefühle jener zu achten, die du ja angeblich beschützen oder retten willst. Aber so funktioniert das nicht, Faren. Du solltest langsam die Quittung dafür bekommen.“ Diese Worte, die ganz offensichtlich dazu dienen sollten, ihn zu demoralisieren, funktionierten nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Sie stachen ein wenig in seiner Brust, schon allein, weil sie von Kieran kamen, aber sie richteten keinen dauerhaften Schaden an, sondern verklangen in seinem Inneren. „Es mag so sein“, antwortete Faren schließlich, „dass ich den Eindruck erwecke, dass ich mich aus egoistischen Gründen einzumischen versuche. Aber bei allem, was ich tue, geht es mir nur darum, jenen zu helfen, die mir am Herzen liegen. Wenn ich ihnen dafür manchmal auf die Füße treten muss, dann tut mir das leid, aber ich bereue es nicht.“ So wie er bei dieser Hilfsaktion in Kierans Innerem herumstocherte und mehr über ihn erfuhr, als er je geahnt hätte. Es tat ihm wirklich leid, dass er so viel erfahren hatte, ohne Kierans Zustimmung, aber er tat es mit einem höheren Ziel, also gab es keinen Grund für Reue. Sein Gegenüber sah das aber offensichtlich anders, sein Gesicht verfinsterte sich bereits. „Ich kann wirklich nicht fassen, wie egoistisch und engstirnig du bist.“ „Vor einem Jahr schien es dich nicht zu stören.“ Nicht vor dem Krankenhaus, als er Faren gesagt hatte, dass er ihn brauchte. Nicht in seinem Zimmer, als er Faren gesagt hatte, dass er ihn liebte. Nicht in dem Moment, in dem er zu einem Dämon geworden war und sich bei Faren für die gemeinsame Zeit bedankt hatte. Die Erinnerungen an diese Momente verdrängten das Gefühl der Schutzlosigkeit und bestätigten ihn nur noch mehr darin, dass diese Person vor ihm nicht Kieran sein konnte. Stattdessen fühlte er eine Verbindung zu einer Seele, die sich ebenfalls an diesem Ort befand, aber noch konnte er nicht ausfindig machen, wo genau sie eigentlich war. Kieran zog die Brauen zusammen und funkelte ihn wütend an. „Damals war ich in einer ganz anderen Situation. Ich war durch das Werk einer Hexe in der Vergangenheit gelandet, war ganz allein und ohne Verbündete – natürlich klammerte ich mich da an dich. Was immer ich dir damals gesagt habe, hatte nichts zu bedeuten.“ Sein Gesicht verzog sich wieder zu einem spöttischen Grinsen. „Außerdem wusste ich da noch nicht wirklich, wie aufdringlich du sein kannst. Das habe ich erst heute erfahren.“ „Unsinn“, erwiderte Faren. „Du wusstest schon immer, dass ich aufdringlich bin und meine Nase gern dort hineinsteckte, wo sie nicht hingehört.“ Das war immerhin einer der Gründe, weswegen Kieran früher so sehr von ihm genervt gewesen war. Und gleichzeitig war es auch der Grund, wegen dem Faren überhaupt erst zu seinem Assistenten geworden war – er hatte einfach nicht lockergelassen, nachdem ihm bewusst geworden war, dass es sich bei Kieran um einen Dämonenjäger handelte. Offenbar gingen ihm langsam die Argumente aus, denn statt einer direkten Antwort, erhob Kieran sich von seinem Sitzplatz. Dabei enthüllte sich ein weiteres Argument dafür, dass er nicht der wirkliche Kieran war: Er war genauso groß wie Faren, obwohl er kleiner sein müsste. Dieser versuchte noch immer, die Verbindung zu verfolgen, die an der Klippe entlang verlief, er spürte sie nicht nur, er sah sie, wie eine leuchtende Linie, die sich mit ihrem weißen Glühen von der Dunkelheit abhob und ihm Hoffnung zu spenden versuchte. „Wie auch immer“, sagte Kieran. „Was damals geschehen ist, liegt in der Vergangenheit. Ich gehöre hierher, du nicht. Also lass mich dir nicht die Entscheidung abnehmen, ob du leben oder sterben willst.“ Faren reagierte nicht, bewegte sich nicht einmal ein wenig, um anzuzeigen, ob er überhaupt zuhörte. Kierans braune Augen funkelten wieder wütend. „Entweder du verschwindest sofort oder ich werde dich töten!“ Im selben Moment, in dem sein Gegenüber diese Worte äußerte, fand Faren den Ursprung der Verbindung und fühlte sich endgültig bestätigt. Das gab ihm genug Kraft, Kieran amüsiert anzulächeln, was diesen zurückweichen ließ. „Du hast recht, du gehörst hierher.“ Diese Bestätigung ließ wohl erneut Selbstsicherheit durch ihn strömen, denn Kieran stellte sich wieder aufrecht hin. Aber bevor er etwas sagen konnte, schnitt Faren ihm bereits das Wort ab: „Allerdings liegt das nur daran, dass du nicht der richtige Kieran bist. Wer oder was auch immer du bist, du hast nichts mit ihm gemein. Auch wenn du versuchst, wie er auszusehen, macht dich das noch lange nicht zu meinem Kieran.“ Das verschlug diesem wohl die Sprache, denn er stand nur mit leicht geöffnetem Mund stumm vor Faren, unfähig, ihm eine passende Erwiderung zu liefern. Faren, angefüllt mit Siegessicherheit, holte derweil tief Luft, wandte sich in Richtung des Leuchtturms – und begann so laut zu rufen, wie er nur konnte: „Kieran, hörst du mich?! Ich bin hier! Ich werde dich retten!“ Innerste Zuflucht – … --------------------- Er hörte Farens Worte. Zum ersten Mal, seit er hier war, hörte er eine Stimme, die nicht nur aus seinen Erinnerungen herrührte. Diese Worte, diese Stimme, erreichten sein Herz, sprangen die Ketten, die sich darum gelegt hatten. In diesem Moment erkannte er, dass er wirklich Kieran war. Er war der Grund, wegen dem Faren in diese Welt gekommen, wegen dem er kämpfte und sein Leben riskierte. Er musste es nicht mehr nur hoffen, er war wirklich der Grund dafür, er war Kieran. Mit dieser Erkenntnis begann sein Bewusstsein, sich wieder zusammenzusetzen, offenbarte ihm Erinnerungen, verbunden mit Stimmen und Geräuschen, die ihm nur noch mehr bestätigten, dass er wirklich Kieran war. Er war derjenige, der sich geopfert hatte, um zu einem Dämon zu werden und damit alle anderen zu beschützen. Aber entgegen seiner Vermutung hatte man ihn nicht aufgegeben, man hatte aktiv daran gearbeitet, ihn zurückzuholen. Diese Erkenntnisse ließ ihn die Augen öffnen, die sofort mit blendendem Licht überschattet wurden, ohne dass ihn diese Helligkeit schmerzte. Es war gut und richtig so, er gehörte ins Licht, genau wie Faren, der nun nur noch ein einziges Hindernis überwinden müsste, um zum Herzen zu kommen. Vierte Welt der Zuflucht – Es ist schon gut. -------------------------------------------- Es war als explodiere der Leuchtturm. Das reine, weiße Licht, das aus seinem Inneren nach draußen strömte, war derart wundervoll, dass Faren direkt hineinstarren musste – und er wurde dabei nicht einmal geblendet. Anders als Kieran, der seine Augen mit den Armen zu schützen versuchte und dabei einen lauten, frustrierten Laut ausstieß, der nicht menschlichen Ursprungs war. Faren musste schon sehr genau hinhören, dass er schließlich noch etwas anderes in seinem Schrei hörte, etwas durchaus menschliches: „Das kann nicht sein! Das darf nicht …!“ Seine restlichen Worte gingen in einem lauten Knurren unter, dessen Ursprung Kieran selbst zu sein schien. Sein Körper verformte sich, verlor alles menschliche, wurde zu einer Masse ohne jeden festen Umriss – und nur einen Augenblick später dehnte sie sich aus, gewann rapide an Größe, gewann immer mehr eigene Form. Faren wurde in diesem Moment überdeutlich klar, dass er gerade vor einem finalen Bosskampf stand – und er in seinem derzeitigen Zustand nur unterlegen sein konnte. Doch in seinen Überlegungen, was er nun tun könnte, hörte er plötzlich ein Ticken, das sich dem Lärm zu widersetzen schien, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war und entdeckte, dass sich etwas von dem schwarzen Wasser zurückgezogen hatte, als fürchtete es sich, diesem Licht ausgesetzt zu sein. Und dort, auf dem freigelegten Stück Strand, lag seine Uhr. Faren hastete hinüber und griff danach, ohne innezuhalten. Mit einer geübten Handbewegung brachte er das Band wieder an seinem Arm an, ein kurzer Blick sagte ihm, dass die Zeit bereits abgelaufen war, das erklärte, weswegen er sich so schwach fühlte. In angemessener Entfernung blieb er wieder stehen und sah zu Kieran zurück. Inzwischen war schon wesentlich mehr zu erkennen, die Masse hatte die Form eines schlangenförmigen Drachen angenommen, der sich wie von Schmerzen geschüttelt wand. „Armer Kerl“, kommentierte Faren. „Ich werde dir helfen.“ Ohne zu zögern, betätigte er die roten Krone an der Uhr. Er spürte den Einstich, aber der kurze Schmerz war sofort vergessen, als die hochkonzentrierte Menge an Dreamdust in seine Blutbahn schoss und direkt zu wirken begann. Es war nicht wie zuvor, als er glaubte, den Herzschlag der Welt wahrnehmen zu können, ein Sandkorn zu sein – nein, er spürte eine enorme Welle von geradezu überwältigender Macht, die ihn derart erfüllte, dass selbst seine Haarspitzen zu knistern schienen. Er war bereit, etwas zu zerstören, um gleichzeitig zu erschaffen, selbst wenn ihm dafür nur 15 Minuten blieben. Inzwischen hatte das Wesen auch seine endgültige Form erreicht, es war nicht mehr schwarz, sondern besaß eine gut definierbare Masse, die mit dunkelblauen und grauen Schuppen bedeckt war. Das Maul war gespickt mit rasiermesserscharfen Zähnen, die allerdings derart willkürlich angeordnet waren, dass es ihm nicht möglich war, den Mund zu schließen, ohne sich dabei nicht gleichzeitig zu verletzen. Ketten waren an seinem langgezogenen Körper befestigt und klirrten bei jeder seiner Bewegungen als wäre er ein Schreckgespenst. Faren schmunzelte ein wenig über diesen Vergleich, dann sprintete er bereits auf das Wesen zu. Mit einem wütenden Knurren schnappte es nach ihm, Faren nutzte die Gelegenheit des Ausweichens und sprang direkt auf den Kopf des Ungetüms. Ein roter Schimmer breitete sich unter seinen Füßen aus, der Faren verriet, dass eine Art Magnetismus dafür sorgte, dass er erst einmal vollkommen sicher auf dem Körper seines Feindes war. Ohne innezuhalten lief er weiter, kopfüber an dem Schlangendrachen hinunter, der versuchte, ihn zu schnappen, kaum kam er in die Nähe der ersten Kette. Faren beendete den Magnetismus, sprang von dem Körper ab, um dem Angriff auszuweichen und bekam eine der Ketten zu fassen. Es gelang ihm, genug Kraft in seine Arme zu legen, um derart heftig daran zu ziehen, dass sie sich vom Körper des Drachen löste. Dieser stieß ein lautes, schmerzerfülltes Kreischen aus und stürzte zu Boden. Auf seiner Stirn löste sich dabei eine Schuppe, darunter kam ein rotes Glühen zum Vorschein, das geradezu danach schrie, sein Schwachpunkt zu sein. Faren wollte sich dem Kopf nähern, um kurzen Prozess zu machen, doch der Schwanz des Wesens zuckte bereits wie in einem Fiebertraum, zerwühlte den Boden und sorgte dafür, dass er ausweichen musste, statt angreifen zu können. Mit jedem Sprung entfernte er sich weiter von dem Kopf, aber der Schwanz ließ ihm auch nicht einmal den Hauch einer Chance, ihn zu erreichen. „Du nervst!“, stieß Faren frustriert aus. Er ließ eine rot-glühende Axt in seiner Hand erscheinen und teilte den Schwanz kurzentschlossen vom Rest des Körpers ab, worauf er sich in schwarzen Sand auflöste. Der Drache stieß einen Schrei aus und richtete sich ruckartig wieder auf, das rote Glühen verschwand dabei. Diesmal machte der Drache nicht denselben Fehler wie zuvor, er schnappte nicht mehr nach ihm, starrte ihn nur mit seinen golden glühenden Augen an. Als Reaktion darauf, begann der Boden unter Faren zu erbeben, im Sand zeigten sich erste Risse, die es wirken ließen, als sei es eine einzige Masse, die jeden Moment auseinanderzubrechen drohte. Mittels eines spontan erscheinenden Enterhakens schaffte er es, sich nicht nur in Sicherheit zu bringen, sondern auch wieder auf den Körper des Drachen zu springen. Das geschah derart schnell, dass sein Feind es nicht einmal schaffen konnte, ihn im Flug zu schnappen. Kaum stand er sicher auf dem Ungetüm, griff er bereits nach einer weiteren Kette, schnellte davon und riss mit einem heftigen Ruck auch diese aus dem Drachen, der mit einem erneuten Schrei wieder auf dem Boden landete. Auch diesmal verschob sich wieder eine Schuppe und gab das rote Glühen auf der Stirn frei. Doch ein leises Quietschen lenkte Farens Aufmerksamkeit davon ab. Im nächsten Moment wurde er bereits zu Boden geschleudert und – nur einen Atemzug später – prallte er mit dem Rücken gegen die Klippen. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb ihm die Luft weg, durch die Tränen hindurch erkannte er die schattenhafte Umrisse von Cathan und den kleinen Granya-Puppen. Sie waren nicht wirklich da, nur schwarze Schemen, aber sie genügten offenbar, um ihm zu schaden. Das leise Lachen des kleinen Kierans erklang, was Faren endlich dazu brachte, sich aufzurichten und wegzuspringen. Keinen Moment zu früh, denn da explodierte der Bereich gerade und der Sand, auf dem er soeben noch gelegen hatte, wurde von zahlreichen Felsen unter sich begraben. Der Schatten der beiden Kierans, denen er in der zweiten und der dritten Welt begegnet war, gesellten sich zu Cathans und den Puppen, und schnitten ihn effektiv von dem Kopf ab. „Ernsthaft?“, fragte Faren. Kein Wunder, dass es noch nie jemandem gelungen war, einen zum Dämon gewordenen Jäger zurückzuholen. Nicht jeder würde in einer solchen Situation einfach weitermachen. Auch Faren hätte sich gern zurückgezogen, aber ihm blieben weniger als zehn Minuten. „Augen zu und durch.“ Faren sprintete vor, direkt auf die Reihe seiner Feinde zu. Eine blaue Sense erschien dabei, die ohne sein Zutun um ihn herumwirbelte und die Schatten zerteilte, die lediglich ein letztes, nervöses Lachen von sich geben konnten. Selbst Cathan und die Puppen hielten der blauen Schneide nicht stand, die durch alles schnitten, als wäre es Schnee. So kam er an ihnen vorbei, im selben Moment, in dem der Drache sich bereits wieder aufrichten wollte. Ehe ihm das gelang, schnappte Faren sich die letzte Kette, trieb ein Schwert durch eines der Glieder und nagelte sie damit im Boden fest, da der Sand immer noch eine einzige Masse war. Der Drache schrie wütend, während er immer wieder versuchte, sich loszureißen und doch noch zu entkommen. Aber das Schwert, das blau glühte, hielt jeder Bewegung stand, egal wie kraftvoll sie geschah. Faren ignorierte diese Bemühungen und begab sich auf den Kopf des Wesens, das zu beschäftigt war, um sich um ihn zu kümmern. Das gab ihm die Gelegenheit, die Schuppe zu entfernen und das rote Glühen zu betrachten. Inmitten eines leuchtenden Edelsteins sah er nicht Kieran, nicht einmal den falschen, sondern eine junge Frau, deren langes schwarzes Haar sich so um ihren Körper schmiegte, dass ihm, trotz ihrer fehlenden Kleidung, jeder Blick auf ihre Haut verwehrt wurde. Sie hatte die Hände vor der Brust gefaltet, als wäre sie in ein Gebet vertieft, aber ihr Gesicht war derart gelöst, dass er direkt sehen konnte, dass sie tot war. Auch wenn er die Hexe, die Kieran zu seinem Schritt, ein Dämon zu werden, bewogen hatte, nur einmal kurz gesehen hatte, wusste er sofort, dass es sich bei dieser Frau um sie handelte. Und damit war ihm auch klar, dass es sich hierbei um den Kern der Bosheit handelte. Ein kurzer Blick zu dem Schwert hinunter, verriet ihm, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Die Klinge wackelte bereits ein wenig, für immer konnte sie sich dem Zerren nicht widersetzen. Außerdem blieben ihm noch weniger als fünf Minuten. Er legte eine Hand auf den Kristall, ehe er sanft sagte: „Es ist schon gut. Ich werde dich jetzt erlösen. Dann musst du nicht mehr derart viel Bosheit verbreiten.“ Mit einem Sprung schwang er sich wieder in die Luft, ein blaues Glühen um seinen Körper half ihm dabei, die Schwerkraft zu überwinden, so dass er schweben konnte. In seiner ausgestreckten Hand erschien ein Raketenwerfer, den er sich auf die Schulter schwang, um ruhiger zielen zu können. „Schlaf gut, Hexe – und gib Kieran endlich wieder frei.“ Er verkniff sich jedes Tiro Finale, das ihm gerade auf der Zunge lag und schoss. Im selben Moment zersprang die Klinge, der Drache riss sich los und brüllte der auf ihn zurasenden Rakete entgegen. Letztendlich wusste er aber wohl ebenfalls nicht, was er nun tun sollte oder vielleicht wollte er auch gar nichts mehr tun – denn einen Atemzug später traf das Geschoss auf den Kristall auf und explodierte in einem gleißenden Licht. Diesmal war es Faren, der sich schützend einen Arm vor die Augen hielt, so dass er lediglich das Kreischen des Drachen hören konnte, während dieser von den Flammen verzehrt wurde. Gerade als das Schreien endlich verebbte, wurde Faren von der Druckwelle der Explosion erfasst und direkt gegen eine der Klippen geschleudert. Er hörte ein unangenehmes Splittern, spürte aber keinen Schmerz und landete dann auf dem Sand, wo er sich sofort auf den Rücken rollte. Hastig tastete er seinen Körper ab, konnte aber keinerlei Verletzung feststellen, was ihn erleichtert aufatmen ließ. Die Frage nach dem Ursprung des Splitterns wurde ihm auch sofort beantwortet, als sein Blick auf die Uhr fiel – oder jedenfalls das, was davon übrig geblieben war. Das Ziffernblatt war komplett zerstört und zur Unkenntlichkeit verbrannt, sogar das Band war tiefschwarz geworden und zerfiel unter seiner Berührung zu Asche. Schade, ich mochte die Uhr … sie hätte ein hübsches Andenken gemacht. Ein gleichmäßig über den dunklen Himmel wanderndes Licht, erinnerte ihn dann daran, dass er hier noch etwas zu tun hatte. Er richtete sich auf, überprüfte sich dabei noch einmal selbst auf Verletzungen, die immer noch ausblieben und ließ dann den Blick schweifen. Der Drache war verschwunden, lediglich einige rote Kristallbrocken, die im Sand verstreut lagen, erinnerten noch daran, dass es hier zu einem Kampf gekommen war. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, vereinzelt waren Sterne zu sehen – aber am wichtigsten war immer noch der Leuchtturm, den er auf der Klippe sehen konnte und der immer noch sein strahlendes Licht verbreitete. „Kieran ...“ Mit diesem voller Sehnsucht ausgestoßenen Wort, setzte Faren sich in Bewegung, um den Leuchtturm – und damit sein Ziel – zu erreichen. Innerste Zuflucht – Danke, Faren. --------------------------------- Er hatte den Kampflärm hören können, ohne den Ursprung dessen zu sehen. Dafür war es ihm endlich möglich gewesen, sich anzusehen, was sich mit ihm in diesem Raum befand. Jenseits des Wassers, in dem er schwebte, war alles von einer überragenden Reinheit, die Wände waren weiß, genau wie die großen Blumentöpfe und auch die darin befindlichen Pflanzen. Er befand sich mitten im Licht, genau wie es sein musste. Aber sein Glück war vollkommen, als eine Person in den Raum trat, die er, dank seiner Erinnerungen, als Faren erkannte. Sein Haar war weiß geworden und hing ihm offen über die Schulter, statt zusammengebunden zu sein, aber es war eindeutig Faren – und das beschleunigte Kierans Herzschlag rapide. Nur eine Sekunde später griffen Farens Hände bereits ins Wasser und zogen ihn vorsichtig heraus. An der Luft fiel es Kieran kurzzeitig schwer, wieder atmen zu können, aber dass der in die Hocke gesunkene Faren ihn in seinen Armen barg, so dass Kieran seinen vertrauten Geruch einatmen konnte, beruhigte ihn und ließ ihm gar nicht erst die Möglichkeit, in Panik zu geraten. „Endlich habe ich dich gefunden“, hörte er Farens Stimme an seinem Ohr. „Ich bin so froh ...“ Nach einer scheinbar endlos langen Zeit, in der es ihm nicht mehr möglich gewesen war, sich zu bewegen, dauerte es eine Weile, bis Kieran die Arme heben und um Faren legen konnte. „Ich bin auch froh. Ich habe immer gehofft. Immer gehofft, dass du kämst.“ „Natürlich. Ich hatte es dir doch versprochen. Und ich halte immer, was ich verspreche.“ Kierans Erinnerungen bestätigten ihm das. Aber er konnte nicht mehr angemessen darauf reagieren. Sein Brustkorb hob und senkte sich immer schwerer, es schien ihn unendlich viel Kraft zu kosten, am Leben zu bleiben. „Danke, Faren.“ Erschöpft schloss er die Augen, seine Arme sanken kraftlos herab und zum ersten Mal seit einem Jahr, versank sein Bewusstsein in tiefer, unendlicher Schwärze. Außenwelt: 14.12.2022 – Das ist kein kleiner Gefallen! ------------------------------------------------------ „Du kannst das nicht machen.“ Kieran schüttelte mit dem Kopf. „Das kannst du nicht von mir verlangen.“ Voller Abscheu betrachtete er jene Person, die vor ihm stand, vollkommen ruhig, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der stets in einem nicht spürbaren Wind flatterte. Sie hatte darauf bestanden, Kieran hier auf diesem Dach zu treffen, was ihm zwar nicht behagte, aber er war dennoch gekommen. Die Verbindung, die diese Hexe geschaffen hatte, als sie ihn aus seiner Zeitachse in die Vergangenheit gezogen hatte, verhinderte, dass er sich ihr widersetzte. Außerdem gab es so auch keinen Ort, an dem er sich vor ihr verstecken könnte. Unbeteiligt zuckte sie mit den Schultern. „Ich sagte es dir bereits, dir bleibt nur diese Wahl. Entweder, du tötest mein altes Ich oder ich töte alles, was dir am Herzen liegt.“ Dabei deutete sie mit dem Finger wieder auf ein junges Mädchen, das eindeutig sie in jüngeren Jahren war. Es lief auf der Straße unter ihnen, sich nicht der Tatsache bewusst, dass es gerade beobachtet wurde. „Sie zu töten ist der einzige Weg, den Kreislauf des Leids aufzuhalten.“ Sie verschränkte die Arme wieder. „Hexen werden zu Flüchen. In einem solchen Fall ist es besser, einfach nur zu sterben, bevor man eine Hexe wird, das weiß ich nun.“ Kieran wollte sie fragen, weswegen sie sich dann nicht selbst tötete, aber eigentlich wusste er es bereits. Nahm sie sich das Leben, würde sie zu keinem Fluch, dafür aber ein Suizid-Dämon, dazu verdammt, ihr Leiden auf ewig zu durchleben, niemals ausbrechen zu können. Aber galt das auch dafür, wenn sie sich selbst in der Vergangenheit tötete? „Es wird ein Paradoxon entstehen, wenn ich das versuche“, erklärte sie. „Zeit ist ein sehr empfindliches Geflecht, weißt du?“ Sie lächelte ihn an, milde, wie man es bei einem Kind tat, das wissen wollte, weswegen Äpfel von den Bäumen fielen. Kieran hasste dieses Lächeln, er kannte es zu gut von anderen Erwachsenen, Jägern, all jenen, die ihn herabsetzen und demütigen wollten. Da er immer noch nicht gewillt war, etwas zu tun, griff sie sich an die Brust, worauf eine Kette erschien, die von dort direkt bis zu seinem Hals verlief. „Wenn du stattdessen versuchst, mich direkt zu töten, stirbst du auch. Und was denkst, welchen Schmerz das in all denen auslöste, die dir nahestehen?“ Tatsächlich hatte sie ihm damit sein schlagkräftigstes Argument genommen. Er konnte dieses Mädchen nicht töten, weil es gegen seine Prinzipien verstieß, aber auch nicht die Hexe, die das von ihm verlangte, weil er damit nur Schmerz über die anderen brachte. Er müsste etwas tun, das ihn am Leben erhielt, aber die Hexe gleichzeitig handlungsunfähig machte. Zumindest lächelte sie aber zufrieden über seine Tatenlosigkeit, sie wusste wohl ganz genau, dass sie ihn damit gerade in der Hand hatte. „Ich habe dich in diese Welt geholt“, erinnerte sie ihn. „Du hast sie zu deinem Spielplatz gemacht und geändert, was du geändert haben wolltest. Ich finde, du schuldest mir zumindest diesen kleinen Gefallen, denkst du nicht?“ „Das ist kein kleiner Gefallen!“, erwiderte er hitzig. „Du erwartest hier von mir, jemanden zu töten!“ Und so ganz verstand er auch noch nicht, warum das Paradoxon ausbleiben sollte, wenn er derjenige war, der sie in der Vergangenheit tötete. Sie hatte ihm zwar etwas von Schicksalslinien verschiedener Zeitachsen erklärt, die sich nicht derart kreuzen durften, aber er war eben doch besser darin, zu denken, während er kämpfte. Ihre goldenen Augen schienen sich langsam grün zu färben, an ihrem Hals war ein sanftes, grünes Glühen zu sehen. Kieran starrte beides einen Moment lang an, bis ihm bewusst wurde, dass es Zeichen ihrer Unzufriedenheit waren. Er sollte eine Entscheidung fällen – und das bald. Während er noch darüber nachdachte, hörte er plötzlich, wie eine metallene Tür aufgeworfen wurde, gefolgt von hastigen Schritten. Kieran blickte hinüber und entdeckte Faren, der atemlos stehenblieb und versuchte, wieder Luft zu bekommen. Sein Magen zog sich zusammen, Faren sollte nicht hier sein. Das war nur eine Sache zwischen ihm und der Hexe, niemandem sonst. Er wollte ihm auch gerade sagen, dass er verschwinden sollte, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnte. Die Hexe hatte den Arm erhoben und deutete mit geöffnete Hand auf Faren. Eiszapfen schossen aus dem Nichts hervor und schossen direkt auf seinen Freund, der noch immer nicht zu verstehen schien, in welcher Gefahr er sich befand. Kieran handelte schnell und zerstörte die Geschosse mit einem Schwert, was bei der Hexe nur für ein amüsiertes Lachen sorgte. „Oh, denkst du wirklich, auf diese Weise kannst du ihm ewig helfen? Du solltest einsehen, dass es nichts gibt, was du tun kannst, außer mir zu gehorchen.“ „Wovon spricht sie?“, fragte Faren. Kieran antwortete ihm nicht, seine Gedanken waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich noch immer zu fragen, was er tun sollte, um sie von ihren Plänen abzuhalten. „Es gibt nichts, was du tun kannst“, erwiderte sie, als könne sie seine Gedanken lesen. „Diese Welt wurde durch mich geschaffen, ich bin ihre Herrscherin.“ Diese Worte waren es, die ein bislang vergessenes Zahnrad in Kierans Inneren in Bewegung setzten. Er wusste nun, was zu tun war, ohne dabei ebenfalls sterben zu müssen. Mit langsamen Schritten ging er auf die Hexe zu, die ihn mit gerunzelter Stirn musterte. „Du hast recht“, sagte er dabei. „Das hier ist deine Welt, in der du alles beherrschst und nach eigenem Gutdünken handeln kannst.“ Seine Worte ließen sie zufrieden lächeln, aber er war noch nicht fertig: „Deswegen muss ich dich eben in meine Welt sperren, um zu gewinnen.“ Noch ehe sie diese Worte verarbeiten konnte, packte er sie bereits am Arm. Sie versuchte, zurückzuweichen, sich loszureißen, aber sein Griff wurde nur noch etwas fester, um sie davon abzuhalten. Gleichzeitig spürte er, wie sich Ketten um sein Herz zu schließen versuchten. Erinnerungen, die er am liebsten verdrängt hätte, traten langsam an die Oberfläche – aber es wirkte, sowohl er als auch die Hexe glühten bereits in einem blauen Licht. „Was tust du da?“ Kieran wandte den Blick zu Faren, der sich hartnäckig in seinen Erinnerungen hielt, obwohl etwas in seinem Inneren versuchte, sie auszulöschen und jegliche Bindung, die nicht von Reue geprägt war, zu vernichten. Allerdings fand dieses Wesen auch direkt neue Nahrung in dieser Bindung, denn Kieran spürte bereits jetzt schon Reue, dass er Faren zurücklassen müsste. Faren, der im Moment nicht einmal zu verstehen schien, was eigentlich gerade geschah. „Es ist schon gut, Faren“, sagte Kieran, wobei er selbst bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte, obwohl er gleichzeitig lächelte. „Ich bekomme das hin, vertrau mir.“ Noch einmal hörte er die Stimme seines Freundes, die verzweifelt seinen Namen rief, dann schwand das Bewusstsein des Kieran Lane und wurde durch etwas anderes ersetzt, das gefüllt war mit Reue und unbändigem Zorn auf jene Hexe, die ihn erst zu diesem Schritt getrieben hatte und nun auf ewig zur Stille in seiner Welt, seiner Zuflucht, verdammt sein sollte. Epilog: Außenwelt: 19.12.2023 – Das habe ich gern getan. -------------------------------------------------------- Faren grüßte die Krankenschwester im Vorbeigehen lächelnd, als er die Station betrat und sie diese gerade verließ. „Dein Haar sieht schon wieder viel besser aus“, sagte sie noch, als sie sich bereits wieder halb nach vorn gedreht hatte. „Danke, finde ich auch~.“ Als er aus der Zuflucht wieder in die Außenwelt zurückgekehrt war, hatte er sich beim Blick in den Spiegel sehr erschrocken. Sein Haar war schneeweiß gewesen, eine der Nebenwirkungen, vor denen Jii ihm gewarnt hatte. Aber in den letzten fünf Tagen war bereits ein großer Teil seiner eigentlich braunen Farbe wieder zurückgekehrt, worüber er sich ziemlich freute. Seine Gelenke schmerzten nun auch endlich nicht mehr, es war fast so, als hätte er niemals Dreamdust genommen. Glücklicherweise hatte sich die Zuflucht nach Kierans Befreiung wieder aufgelöst. Es war schwer genug gewesen, den leblosen Körper durch den U-Bahn-Tunnel zu transportieren, bis zu jener Stelle, an der Cathan und Jii auf ihn gewartet hatten. Es wäre ihm nicht möglich gewesen, ihn auch noch durch alle Welten der Zuflucht zu tragen. Entgegen seiner Befürchtung war Kieran nicht gestorben. Er war in eine tiefe Bewusstlosigkeit versunken und erst am nächsten Tag wieder im Krankenhaus aufgewacht – scheinbar ohne jede Erinnerung an das, was in der Zuflucht geschehen war. Faren schwankte deswegen immer noch zwischen Erleichterung – immerhin musste das eine Jahr furchtbar gewesen sein – und Enttäuschung, denn so wusste Kieran selbstverständlich auch nicht mehr, was Faren für ihn getan, wie erbittert er gekämpft hatte, um ihn zurückzubekommen. Aber es war okay, sagte er sich immer wieder. Die Hauptsache war doch, dass es Kieran gut ging und er sich endlich in Freiheit und Sicherheit befand. Er war auch kein Dämon mehr. Offenbar war der Kern der Zuflucht der Mensch und befreite man diesen ... nun, dann schwand der Dämonen-Status anscheinend. Jii konnte es sich auch noch nicht so ganz erklären, Faren daher auch nicht. An Kierans Zimmertür angekommen, klopfte er kurz, ehe er eintrat. Wie üblich saß der Patient auf seinem Bett und sah aus dem Fenster hinaus. Gestern hatte es zu schneien begonnen und noch immer fielen große Flocken vom Himmel herab, die von Kieran aufmerksam gemustert zu werden schienen. Es war schwer zu sagen, da er so dasaß, dass Faren nur sein linkes, vom schwarzen Haar verdecktes Auge sehen konnte. Oder eben auch nicht. Er setzte sich ungefragt auf den Stuhl neben dem Bett. „Hey, Kieran.“ Im ersten Moment ignorierte dieser ihn, als wäre ihm gar nicht bewusst, dass er gar nicht mehr allein war. Normalerweise dauerte es einige Sekunden, bis er ihm den Blick zuwandte, doch heute blieben Kierans Augen auf das Fenster gerichtet und kein Laut kam über seine Lippen. „Alles okay?“, fragte Faren direkt besorgt. „Ja.“ Dass Kieran endlich reagierte, erleichterte ihn ein wenig. „Faren ...“ „Hm?“ Zu seinem eigenen Erstaunen bemerkte er, dass Kieran seine Finger in seine weiße Bettdecke gekrallt hatte. Das Sprechen schien ihm schwerzufallen, aber dennoch fuhr er fort: „Ich erinnere mich. Ich habe es erst vergessen, aber jetzt erinnere ich mich wieder.“ „Woran?“ Eigentlich kam ihm die Frage selbst überflüssig vor, denn eine große Wahl blieb gar nicht. „Ich weiß wieder, was du alles für mich getan hast“, antwortete Kieran. „Wie sehr du um mich gekämpft hast, als ich allein in der Zuflucht war. In welcher Gefahr du dabei warst ...“ Faren musste sich davon abhalten, erfreut zu lächeln. Er wollte immerhin nicht auf Kosten des anderen sein Heldentum ausnutzen – erst recht nicht, wenn Kieran eigentlich der wesentlich größere Held von ihnen beiden war. Endlich wandte er Faren den Blick zu, wobei dieser verwundert feststellte, dass Tränen über Kierans Gesicht liefen. In all der Zeit, in der er den anderen nun kannte, hatte Faren ihn erst einmal weinen gesehen – dies war nun das zweite Mal. „Ich dachte, es wäre okay, mit der Reue zu leben, aber als du gekommen bist, um mich zu retten, war ich so unendlich, unbeschreiblich glücklich …“ Ohne etwas zu sagen, setzte Faren sich auf das Bett und schloss Kieran vorsichtig in die Arme, worauf sich dieser an ihn schmiegte. Wärme strömte durch Farens Körper und versicherte ihm endgültig, dass er alles überlebt und sein Ziel erreicht hatte, gegen alle Wahrscheinlichkeiten, die er dafür herausgefordert hatte. „Ich danke dir so sehr, Faren. Für alles.“ „Das habe ich gern getan, Kieran. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht.“ Und sie nun beide für ein Leben bereit sein könnten, das weit abseits jeder Zuflucht spielte, selbst wenn diese sie mehr zusammengeschweißt hatte, als alles andere, was sie je gemeinsam erlebt hatten. Fortan, da war sich Faren sicher, gäbe es nichts mehr, was sie trennen könnte. Keine Dämonen, keine Flüche, keinen Hexen. Nichts. Niemals. Nicht so lange er lebte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)