Dunkelstes Reich von Flordelis ================================================================================ Außenwelt: 01.01.2023 – Ich mache es. ------------------------------------- „Es ist schon gut, Faren. Ich bekomme das hin, vertrau mir.“ Das waren Kierans letzte Worte gewesen, vor wenigen Wochen, bevor er sich in einen Dämon verwandelt hatte und dann verschwunden war. Seitdem spukten sie durch Farens Kopf, suchten seine Träume heim und begleiteten ihn durch den Tag. Aber schon nach zwei Wochen konnte er das nicht mehr ertragen. Zu wissen, dass Kieran zu dem geworden war, was er sein Leben lang bekämpft hatte, und das nur, um alle anderen zu beschützen, schmerzte Faren und raubte ihm den Schlaf. So saß er meist nachts an seinem Fenster, blickte in die Dunkelheit hinaus und rauchte, während er sich fragte, wo Kieran wohl gerade war. Dass er sich geopfert hatte, um alle anderen zu retten, setzte Faren schwer zu. Auch wenn Kieran dazu neigte, sich für andere zu opfern und sein eigenes Überleben unter das anderer stellte, war es unmöglich, das zu akzeptieren. Es musste einfach eine andere Lösung geben, davon war Faren überzeugt. Deswegen hatte er so lange auf Cathan eingeredet, bis dieser am Neujahrstag schließlich resignierte und ihn hierher, ins Krankenhaus brachte. So warteten sie nun beide in einem Büro auf den entsprechenden Arzt, aber mehr als Dr. Tharom hatte Faren nicht draußen auf der Namensplakette lesen können. Er war sich nicht sicher, weswegen sie eigentlich hier waren, aber er vertraute darauf, dass Kierans Vater schon wusste, was er tat. Die Januarsonne tauchte den weißen Raum in ein ungemütliches Licht, das Farens Haut wirken ließ, als sei er krank. Jedenfalls hoffte er, dass es sich dabei nur um die Sonne handelte und er nicht wirklich einen derart ungesunden Teint besaß. An den Wänden, jedenfalls dort, wo keine Aktenschränke standen, hingen Poster auf denen die Anatomie eines Menschen erklärt wurde, sowie solche, die ein beschriftetes Skelett zeigten, also nichts, was Faren interessierte oder für einen Arzt außergewöhnlich wirkte. Cathan saß unruhig auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch, während Faren sich dort nicht mehr lange halten konnte. Also war er aufgestanden und an eines der Regale getreten, in dem sich allerlei medizinische Fachbücher befanden. Auf den ersten Blick schien ihm aber zumindest keines davon psychologischer Natur zu sein, also versuchte Cathan ihn wohl eher nicht, in irgendeine Therapie stecken zu wollen. Er überflog die Titel lediglich – bis seine Augen an einem Gegenstand hängenblieben, der nicht in dieses Büro passen wollte. Vorsichtig nahm er die Schneekugel in seine Hand und drehte sie ein wenig, so dass die weißen Flocken durch das Wasser stoben. Im Inneren gab es kein Haus und auch kein Tier, wie in den meisten dieser Kugeln, sondern eine kleine Uhr, die, so sah es zumindest aus, wirklich tickte. Wer immer diesen Gegenstand angefertigt hatte, musste wirklich über viel Fingerspitzengefühl verfügen. Faren konnte sich nicht einmal vorstellen, wie filigran die einzelnen Teile der Uhr gewesen sein müssen. Aber der Gedanke allein erfüllte ihn mit genügend Ehrfurcht, dass er die Schneekugel vorsichtig wieder auf ihren Platz stellte. Er achtete sogar extra darauf, dass sie wieder exakt so dastand, wie zuvor, gleichzeitig schmerzten seine Finger, als er daran dachte, wie sein Vater ihn bestraft hatte, wann immer er ungefragt etwas berührte. Nachdem sichergestellt war, dass die Schneekugel wieder richtig stand, drehte Faren sich um – und erkannte irritiert, dass er und Cathan nicht mehr allein waren. Hinter dem Schreibtisch saß nun ein weißhaariger Mann mit einem gesunden braunen Teint – und goldenen Augen, die ihn finster durch eine Brille hindurch anstarrten. Seine gerunzelte Stirn ließ ihn ein wenig älter erscheinen, aber Faren schätzte ihn nach kurzem Überlegen auf etwa vierzig Jahre alt, so ähnlich wie Cathan also. „Bist du jetzt fertig?“, fragte der Fremde mit knurrender Stimme. Faren setzte sich wieder und schlug betont locker die Beine übereinander. „Klar.“ Der andere – dessen Name Jii Tharom war, wie Faren später erfuhr – musterte ihn mit unverhohlenem Widerwillen. „Du bist sicher ein Freund von Kieran, oder?“ „Woran merken Sie das?“, erkundigte Faren sich lächelnd. „Du bist genauso unverschämt wie er, also passt das zusammen.“ Kieran und unverschämt? Nun, wenn er bedachte, wie Kieran mit ihm manchmal umsprang, besonders wenn Faren ihm gerade wieder auf die Nerven ging, konnte er sich das gut vorstellen. Hieß das also, Kieran mochte diesen Mann nicht sonderlich? Warum brachte Cathan ihn dann überhaupt hierher? Danach fragte auch sofort Jii, indem er sich an diesen wandte: „Was soll er denn hier?“ „Du hast richtig erraten, dass Faren ein Freund von Kieran ist. Er war dabei, als dieser sich in einen Dämon verwandelt hat und verschwunden ist.“ Jii lauschte dem unbewegt, während Faren die Fäuste ballte, sie aber weiterhin auf seinen Oberschenkeln hielt. „Jedenfalls möchte er unbedingt etwas tun, um Kieran zu retten.“ „Das ist unmöglich“, sagte Jii sofort. Dieselbe Reaktion hatte er auch bereits von Cathan erhalten, deswegen entmutigte sie ihn nicht wirklich. „Soweit ich weiß, ist es eben nicht unmöglich. Bislang hat es nur noch niemand versucht.“ Jiis Augen verengten sich noch weiter. „Weil es Wahnsinn ist. Selbst wenn wir es schaffen, Kierans Zuflucht zu finden, ist das Betreten eben dieser gefährlich – tiefer hineinzugehen ist glatter Selbstmord. Und auch wenn ich dich nicht kenne und du mir daher vollkommen egal sein kannst, entspricht es nicht meinem Kodex, andere in ihr Verderben rennen zu lassen.“ „Das habe ich ihm auch schon gesagt“, meinte Cathan. „Auch dass es bislang noch nie jemand überlebt hat, der versuchte, bis zum Kern einer Zuflucht durchzudringen.“ „Was aber nicht bedeutet, dass es unmöglich ist“, beharrte Faren. „Man muss nur ein vernünftiges Ziel und genug Willen aufbringen. Und ein paar Fähigkeiten.“ Und genau an letzterem mangelte es ihm. Als normaler Mensch könnte er eine Zuflucht nicht einmal finden, wie er inzwischen wusste. Selbst wenn er den genauen Aufenthaltsort kannte, gäbe es für ihn keine Möglichkeit das Portal zu öffnen. Und gesetz dem Fall, Kieran ließe ihn freiwillig ein, wäre es ihm unmöglich, sich dort gegen die Gefahren zu verteidigen. Das wusste er alles bereits von Cathan, aber das war für ihn kein Grund, sein Vorhaben aufzugeben. „Es gibt keinen Dämonenjäger, der ein solches Risiko auf sich nehmen würde.“ Dabei sah Jii zu Cathan, der ihm zunickte. Diese Möglichkeit hatte Faren auch bereits eruiert, aber Cathan war ihm mit allerlei Argumenten gekommen, die es ihm unmöglich machten, die Zuflucht von Kieran aufzusuchen. Ganz oben war jenes gewesen, das ihn am meisten überzeugt hatte: Allein seine Anwesenheit könnte Kieran, der ohnehin eine gespannte Beziehung zu Cathan hatte, derart reizen, dass er eine Macht entfesselte, der niemand standhalten könnte. Also war Faren davon abgekommen und hatte für sich einen neuen Plan gefasst. „Ich mache es.“ Jii wandte ihm abrupt wieder den Blick zu. „Lächerlich machst du dich, mehr nicht. Du bist kein Dämonenjäger, als Mensch überlebst du nicht einmal einen Tag in einer Zuflucht.“ „Deswegen sind wir hier“, schaltete Cathan sich wieder ein und erklärte damit endlich auch für Faren, weswegen sie bis in dieses Krankenhaus gefahren waren. „Ich weiß nichts Genaues, aber auf der Straße gibt es Gerüchte über eine Droge, die einem unter speziellen Voraussetzungen besondere Kräfte verleiht.“ Jii murrte unwillig. „Dreamdust. Aber ich rate von einem derartigen Versuch ab.“ Von dieser Droge hatte Faren tatsächlich schon gehört. Bislang war er aber nie dazu gekommen, sie auch wirklich selbst zu nehmen ... jedenfalls nicht mehrmals, immerhin war die Droge teuer, nichts was sich ein einfacher Straßenjunge oft leisten konnte. „Aber du würdest ihn dabei beaufsichtigen“, versuchte Cathan es weiter. „Sieh es doch ganz einfach als Experiment.“ Das weckte wohl endlich Jiis Interesse und seine Neugier, seine Stirn glättete sich wieder ein wenig, während er Cathan ansah. Diesen spornte das Verhalten dazu an, weiterzumachen: „Du hast einen ganz normalen Menschen, an dem du die Auswirkungen von Dreamdust erforschen kannst. Und dann wird er dir sogar in eine Zuflucht gehen, in einem Versuch, einen zum Dämon gewordenen Jäger zu retten. Das gab es noch nie. Stell dir vor, was für Erkenntnisse du gewinnen könntest.“ Jii wirkte plötzlich wesentlich entspannter als noch zuvor. Er legte die Fingerspitzen aneinander und sah Cathan an – hatte aber bereits wieder die Stirn gerunzelt. Offenbar gab es noch eine Sache, die ihm zu denken gab. Faren wollte verzweifelt aufschreien und ihn fragen, was er denn zu tun gedenke, während Kieran dort draußen ganz alleine litt und möglicherweise sogar Leute tötete. Aber er konnte sich bereits denken, dass er mit einem solchen Verhalten auf Granit stieße, also blieb er sitzen, wippte jedoch nervös mit dem rechten Fuß. Glücklicherweise war Cathan aber noch da und kannte Jii wohl schon wesentlich länger, denn er konnte die Bedenken des Arztes direkt kontern: „Und wenn er vorher stirbt, kannst du ihn obduzieren und auch die Einwirkung der Droge auf die inneren Organe untersuchen.“ Warum ihn das locken sollte, verstand Faren zwar nicht – aber es funktionierte: Plötzlich hoben sich Jiis Mundwinkel ein wenig, so dass es aussah, als lächele er, aber seine goldenen Augen funkelten lediglich voller Vorfreude. Mit „Bist du auch damit einverstanden?“ wandte er sich wieder Faren zu. Dieser nickte sofort, auch wenn ihm der Gedanke, zu sterben und dann von diesem seltsamen Arzt aufgeschnitten zu werden, nicht wirklich behagte. Aber wenn es ihm diente, Kieran zu helfen, akzeptierte er das mit Freuden. Außerdem ging er auch nicht davon aus, dass er sterben könnte. Er würde überleben und Kieran sicher nach Hause bringen, wenn er schon der einzige war, der das tun konnte. Jii schloss die Augen und atmete tief durch. Dabei kam es Faren fast so vor, als empfände er großes Vergnügen bei dem Gedanken möglicherweise bald jemanden aufschneiden zu dürfen. Vielleicht sollte Faren in naher Zukunft aufpassen, damit er nicht in einer Badewanne voll Eis erwachte. Es war vielleicht nur eine urbane Legende, aber das musste diesen Mann ja nicht davon abhalten, sie in die Tat umzusetzen. „In Ordnung, Faren.“ Jiis plötzliche Worte holten ihn wieder aus seinen düsteren Gedanken. „Ich stimme zu, ich werde dir bei diesem Vorhaben helfen, auch wenn ich nach wie vor darauf bestehe, dass es absoluter Wahnsinn ist.“ „Ist notiert.“ Beeindruckt war er davon allerdings schon lange nicht mehr, dafür musste er gerade viel zu sehr strahlen. „Und du wirst mir vorher ein Dokument unterschreiben, dass das alles aus deinem eigenen Willen heraus geschieht und ich für die Folgen nicht haftbar gemacht werden kann.“ „Ist so gut wie unterschrieben.“ Nun fiel Jii wohl nichts mehr ein, was er noch als Bedingung hinzufügen könnte, egal wie sehr er darüber nachdachte. Also nickte er schließlich. „Gut. Dann komm morgen wieder, bis dahin habe ich alles vorbereitet.“ Faren nickte enthusiastisch. Auch wenn es anfangs schlecht ausgesehen hatte, war es am Ende doch leichter gewesen als gedacht. Zum Glück wusste Cathan wohl, welche Knöpfe man bei Jii betätigen musste. Irgendwie schade, dass Kieran diesen Wesenszug seines Vaters nicht geerbt hatte. Aber dann hätte er Faren bestimmt niemals gebraucht. Dieser erhob sich rasch, nachdem er gesehen hatte, dass auch Cathan aufstand. Allerdings ignorierte Jii die Verabschiedung der beiden und vertiefte sich lieber direkt in das Schreiben einer Notiz, wobei Faren ihn nicht stören wollte und lieber seinem Begleiter hinausfolgte. Dabei fiel sein Blick noch einmal für einen kurzen Moment auf die Schneekugel und wieder stellte er sich die Frage, was ein solch wunderschöner Gegenstand im Büro dieses Mannes machte. Auf dem Gang brachten sie einige Schritte schweigend hinter sich, ehe Cathan die Stille durchbrach: „Das hat gut funktioniert, oder?“ „Ja, danke, Mr. Lane.“ Dieser winkte allerdings rasch ab. „Schon gut. Das war noch der leichte Teil, den schweren hast du nun vor dir. Das ist dir hoffentlich bewusst.“ „Natürlich ist es das.“ Auch wenn er nun vielleicht noch nicht wirklich erfassen konnte, was genau da alles auf ihn zukäme, immerhin kannte er die Dämonenjagd nur von Kieran und bei dem hatte es so einfach ausgesehen, weil er immerhin sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet gewesen war. Für ihn dürfte es wesentlich anstrengender werden. Aber er war vollkommen bereit, dies auf sich zu nehmen. Zwei Wochen ohne Kieran waren schon schwer genug gewesen, ein ganzes Leben könnte er das nicht ertragen. Nun hatte er aber den ersten Schritt getan, um diesem Zustand abzuhelfen – und das fühlte sich wirklich überragend gut an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)