Dunkelstes Reich von Flordelis ================================================================================ Außenwelt: 13.12.2023 – Reicht das auch? ---------------------------------------- „Genau sechs Stunden.“ Kaum betätigte Jii den Schalter der Stoppuhr, ließ Faren sich auf die Knie fallen. Den Schmerz spürte er bereits nicht mehr, er war aber auch viel zu sehr damit beschäftigt, tief durchzuatmen und die Kontrolle über seinen Körper zurückzubekommen. Während Jii sich von ihm entfernte, kniete Cathan sich neben ihn und klopfte Faren auf die Schulter. „Nicht schlecht. Du hast dich wirklich gesteigert.“ Das war ihm auch bewusst, aber eine andere Frage beschäftigte ihn dabei mehr: „Reicht das auch?“ Darauf konnte Cathan nur mit den Schultern zucken, weswegen ihre Blicke zu den beiden Männern wanderten, die ein wenig abseits standen – gut, es war nur Jii, der stand. Er hielt die Hände in den Taschen seiner grauen Jacke, holte sie höchstens einmal heraus, um seine Brille zurechtzurücken oder sich durch das schneeweiße Haar zu fahren. Im Verlauf des letzten Jahres war es Faren oft möglich gewesen, Jii, den Arzt der Lazari, zu beobachten, und dabei war ihm aufgefallen, dass er sich oft durch das Haar ging, wenn ihn etwas nervös machte. Man sah es seinem Gesicht nicht an, auch nicht seinen braun-goldenen Augen, die einen stets aufmerksam musterten, aber diese Geste war absolut verlässlich und er war sich dieser nicht einmal bewusst, das war das beste daran. Anders war es bei dem Mann, mit dem er sich gerade unterhielt. Obwohl er saß, war er genauso groß wie Jii, im Gegensatz zu diesem trug er außerdem einen weißen Arztkittel, obwohl er für die Dämonenjäger nicht einmal als Arzt arbeitete, sondern für eine gänzlich andere Gruppe verantwortlich war. Sein braunes Haar war ... lang, aber dennoch äußerst gepflegt, was, wie Faren vermutete, daran lag, dass sich jemand anderes darum kümmerte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann sich Zeit dafür nahm. Genau wie Jii trug er zwar eine Brille, aber seine Augen waren von einem normalen Braun. Dieser Mann war ein Kollege und Freund von Jii und seit Beginn des Projektes dabei – und sein Name war Dr. Vane Belfond. Er zeigte, zumindest in Farens Gegenwart, keinerlei unbewusste Gesten, die einem verrieten, was er dachte oder fühlte. Sein Blick ging von Jii zu Faren, der direkt zusammenzuckte, sich dann aber hastig aufrichtete, obwohl sein gesamter Körper bereits protestierte. Er war sich nicht sicher, ob er nur keinen schlechten Eindruck vor Vane machen oder ob er sich seinen Stolz nicht nehmen lassen wollte, aber innerlich fühlte er sich zumindest besser, als er wieder stand und die Arme vor der Brust verschränkte. Jii sah ebenfalls zu Faren, sprach aber weiter mit Vane: „Was meinst du? Reicht das?“ „Es sollte genügen.“ Seine Stimme stand seinem eindrucksvollen Äußeren in Nichts nach. Faren hatte sich schon oft bemüht, einen Vergleich dafür zu finden, aber alles war angesichts dieser Stimme verblasst. Sie hallte von den Wänden wider, verblieb wie ein Echo im Raum, tanzte über unsichtbare Klavier-Tasten, zupfte selbstsicher an Geigensaiten und befehligte ein ganzes Orchester – und das während er vollkommen ruhig sprach. Wenn Kierans Dämonenwandlung eine positive Sache hervorgebracht hatte, dann jene, dass es Faren damit möglich gewesen war, Vanes Stimme zumindest einmal zu hören. Statt zuzustimmen, verschränkte Jii die Arme vor dem Körper und sah wieder zu seinem Kollegen – und Freund, wie Faren glaubte – hinüber. „Du sagst das nicht nur, damit wir endlich mit dem Dreamdust aufhören, oder?“ Dreamdust galt eigentlich als Droge, wie Faren wusste, früher hatte er sie selbst einmal genommen, damals, als seine Heimat noch die Straße gewesen war. Sie durchströmte einen mit einer alles überwältigenden Euphorie, die einen sogar vergessen ließ, wie furchtbar das eigene Leben war, selbst wenn gerade Dämonen an einem nagten. Wenn man wusste, wie es funktionierte, konnte man dank dieser Droge dann auch gleichzeitig auf Fähigkeiten zurückgreifen, die einem gar nicht gehörten. Dreamdust bestand zu einem großen Teil aus gemahlenen Knochen von Traumbrechern, was auch immer das war, Faren kannte keine Details. Aber er wusste, dass alles, was er unter Einfluss dieser Droge schaffte, jenen zu verdanken war, die dafür gestorben waren, denn die Fähigkeiten hatten einmal diesen gehört. Soweit er wusste, war Vane der Arzt der Traumbrecher, die sich in irgendeiner Organisation zusammengefunden hatten. Natürlich wollte er da nicht, dass Faren noch mehr Dreamdust verschwendete, wenn das nur bedeutete, dass noch mehr seiner Schützlinge darunter zu leiden hatten. Entsprechend warf Vane Jii einen Blick zu, das Gesicht vollkommen neutral, in seinen Augen flackerte aber etwas, das Faren nicht einschätzen konnte. Er sagte nichts, aber Jii verstand es auch ohne jedes Wort. Er ließ die Arme wieder fallen. „Ich bin jedenfalls deiner Meinung. Sechs Stunden sollten ausreichen, um in Kierans Zuflucht etwas zu erreichen.“ „Außerdem“, fuhr Vane fort, wobei das Orchester nun ein wenig verstimmt war, „sind seine Gelenke bereits bis zum Äußersten belastet. Wenn du versuchst, die Zeit noch weiter zu erhöhen, besteht die Gefahr, dass er irreparable Schäden erleidet.“ Faren war kurz davor, zu sagen, dass ihm das ganz recht wäre, solange er damit Kieran helfen könnte, aber ihm war selbst klar, dass er mit beschädigten Gelenken nichts erreichen könnte. Absolut gar nichts, also warf er nichts ein, sondern wartete darauf, dass Jii reagierte, was dieser auch sofort tat: „Das ist richtig. Also muss er sich einfach nur konzentrieren.“ Damit sah er Faren wieder direkt an, worauf dieser sich unwillkürlich die Hacken zusammenschlug, als stünde er gerade vor einem befehlshabenden Offizier. Damit zufrieden, schritt Jii zum Tisch hinüber und kehrte dann mit einer Uhr wieder, die er Faren reichte. Dieser musterte sie verwirrt. Sie sah nur auf den ersten Blick vollkommen normal aus, aber auf den zweiten bemerkte er, dass sie nur über sechs Ziffern verfügte, statt die üblichen zwölf. Dass es zwei verschiedene Kronen, eine blaue und eine rote, gab, machte für ihn auch keinen Sinn. Zumindest verriet das Ziffernblatt aber, dass Jii auch davon ausgegangen war, dass es nicht mehr als sechs Stunden werden würden. Im Moment ruhten beide Zeiger auf der Zwölf. „Was soll ich damit?“ Vane war inzwischen damit beschäftigt, sich wieder Notizen zu machen, so dass es nur Cathan, direkt neben ihm, war, der die Uhr ebenfalls mustern konnte. „Ja. Ich denke, Faren ist alt genug, um die Zeit von seiner eigenen Uhr abzulesen.“ Dabei deutete er auf jene, die Faren bereits am Handgelenk trug. Jii rollte mit den Augen. „Wenn wir Faren hier eine Injektion setzen, verschwendet er damit nur Zeit, die er in der Zuflucht brauchen könnte. Selbst wenn es nur eine halbe Stunde ist – und es wäre unsinnig, ihn extra zu begleiten und ihm unterwegs eine Spritze zu geben. Ganz zu schweigen davon, dass es wohl illegal wäre.“ Faren und Cathan tauschten einen Blick miteinander, in dem deutlich war, dass sie beide dieselbe Frage hatten: Wie sollte diese Uhr dabei helfen? Glücklicherweise mussten sie diese nicht aussprechen, dass Jii sie verstand. Er zeigte auf die blaue Krone. „Damit wird die normale Dosis gespritzt, die für sechs Stunden anhält. Aber denk daran-“ „Alle Aktionen, die ich ausübe, rauben mir noch mehr Zeit“, unterbrach Faren ihn gelangweilt. „Ich weiß, ich weiß.“ Allerdings kam er nicht darum herum, anerkennend eine Augenbraue zu heben, als ihm die schiere Genialität dieser Uhr bewusst wurde. Ein unauffälliges Accessoire, das einem Drogen verabreichte und sogar sagen konnte, wie lange die Wirkung noch anhielt – mit einer solchen Erfindung könnte Jii Millionär werden. Wenngleich vielleicht auch nur im illegalen Bereich. Der Arzt sah ihn nach dieser Unterbrechung mit gerunzelter Stirn an. „Und welche Technik solltest du besser vermeiden?“ „Die Zeit anzuhalten“, antwortete Faren sofort und schmunzelte amüsiert. „Aber frag mich jetzt nicht nach der genauen Relation.“ Jiis Stirn glättete sich wieder, er hob sogar die Mundwinkel, um zumindest ein wenig zu lächeln. „Richtig. Gut aufgepasst.“ „Warum hast du es ihm dann überhaupt beigebracht?“, fragte Cathan brummend. Sicher grämte er sich darüber, dass es ihm wie eine Zeitverschwendung vorgekommen war, Faren etwas beizubringen, das er nie anwenden sollte. Vielleicht hätte Kieran dann früher gerettet werden können. Jii und Faren sahen ihn an und antworteten gleichzeitig: „Man weiß ja nie.“ Während Cathan leise seufzte, hielt Vane sogar einen kurzen Moment inne, in seinen Augen war ein amüsiertes Schmunzeln zu sehen. Faren und Jii tauschten nur einen Blick miteinander, dann wurde der Arzt wieder ernst: „Falls du dennoch in eine Notsituation kommst und die Wirkung vorbei ist, kannst du die rote Krone betätigen. Das setzt eine hochkonzentrierte Dosis an Dreamdust frei. Sie wird nur für 15 Minuten anhalten, aber dafür wesentlich wirkungsvoller sein.“ Faren bemerkte Vanes abfälliges Stirnrunzeln, aber er sagte nichts. Vermutlich hatten sie derartige Diskussionen bereits zur Genüge geführt oder er wollte nur nicht von anderen Anwesenden darüber sprechen. Im Gegensatz zu Jii konnte er diesen Mann einfach nicht durchschauen. „Ich denke mal nicht, dass ich sie brauchen werde“, sagte Faren sehr selbstüberzeugt. „Ich kriege das in sechs Stunden schon hin~.“ Cathan klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, während Jii sehr zufrieden schmunzelte. Er drückte Faren die Uhr endlich in die Hand und steckte seine eigenen dann in die Taschen seiner grauen Jacke. „Wenn du so sehr an dich selbst glaubst, könnte das vielleicht sogar klappen.“ „Du wärst dann der erste, der es geschafft hat, einen Dämon wieder in einen Jäger zu verwandeln“, fügte Cathan noch hinzu. „Das gibt sicher noch ein paar Ehrungen.“ Als ob es mir darum ginge. Nach einem Jahr, in dem er auf Kieran hatte verzichten müssen, mit dem Wissen, dass er zu dem geworden war, was er hasste und sich einst zu bekämpfen geschworen hatte, ging es Faren schon lange nicht mehr um irgendwelche Ehrungen oder Lobreden. Er wollte nur Kieran wieder zurück, um ihm zu erzählen, wie sehr dieser vermisst worden war, was er für ihn empfand und dass er ihn niemals wieder fortgehen lassen wollte. „Muss ich noch an irgendwas denken?“, fragte Faren schließlich. Am Liebsten wäre er sofort aufgebrochen, aber er wusste, dass es sinnlos war. Seine Gelenke protestierten noch immer bei seinen einfachsten Bewegungen, in diesem Zustand würde er in der Zuflucht eher sein Ende finden, als irgendetwas zu erreichen. Aber vielleicht wäre er dann zumindest bei Kieran, selbst nach seinem Tod. Er schüttelte den Gedanken sofort ab und konzentrierte sich auf Jiis Antwort: „Kierans Zuflucht hat vier Siegel, du wirst also vier Welten durchschreiten müssen. Ruh dich heute also gut aus, innerhalb der Zuflucht hast du dafür keine Zeit mehr.“ Faren nickte und unterdrückte das Augenrollen. Als ob er das alles nicht selbst bereits wüsste. „Komm morgen nochmal hier vorbei, bevor du dich auf den Weg zur Zuflucht machst“, fuhr Jii fort. „Ich muss mir erst ansehen, ob du auch fit genug dafür bist.“ „Natürlich.“ Anschließend herrschte für einen kurzen Moment Schweigen, in dem Faren nur das Ticken einer Uhr hören konnte. Ein Geräusch, das Jii stets zu beruhigen verstand, während er selbst nur unruhig dadurch wurde. Deswegen brach er die eingetretene Stille schnell wieder: „Gut, ich gehe dann mal besser. Und macht euch keine Gedanken, morgen werd' ich Kieran in Null-Komma-Nichts gerettet haben.“ Vane reagierte darauf nicht, aber Jii und Cathan nickten zumindest, um ihn in dieser Vorstellung zu unterstützen, wofür er ihnen in diesem Moment äußerst dankbar war. Faren atmete tief durch und und wandte sich dann um. Warte nur, Kieran ... bald wird das alles hier nur noch eine schlechte Erinnerung und alles wieder wie früher sein. Und er konnte kaum abwarten, bis es soweit war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)