Dunkelstes Reich von Flordelis ================================================================================ Außenwelt: 14.12.2023 – Dieses Mal werde ich dich retten. --------------------------------------------------------- Faren trat durch die Tür der Bahn, in dem Moment, in dem sie sich schloss. Natürlich nahm das rote Licht, das diesen Vorgang ankündigte, keine Rücksicht auf ihn und so konnte er gerade noch den zweiten Fuß hineinsetzen, bevor die Türen sich endgültig schlossen. Er schwankte nicht einmal, als die Bahn sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, während er bereits einige Schritte zur Seite machte, um sich zu setzen. Zu seiner Erleichterung fuhren abends um diese Zeit nicht mehr sonderlich viele Fahrgäste, weswegen er sofort einen freien Platz in der Sitzreihe neben der Tür fand. Die alte Dame rechts von ihm beachtete ihn nicht einmal, die Jugendliche links von ihm blickte für einen kurzen Moment von ihrem Handy auf, nur um dann zu stutzen und direkt noch einmal zu ihm zu sehen. Er wollte glauben, dass es – im Gegensatz zu all seinen Begegnungen der letzten Wochen – nur an seinem Haar lag, das ihm bis an die Schultern reichte und teilweise in einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden war. Die braune Farbe war schon wesentlich dunkler und intensiver gewesen, inzwischen wurde sie mit erschreckender Geschwindigkeit immer heller. Manchmal erkannte er sich selbst schon im Spiegel nicht mehr, besonders wenn er die Abwesenheit seines Lächelns bemerkte, das früher sein Markenzeichen gewesen war. Aber ich arbeite ja schon daran, es zurückzubekommen. Damit wanderte sein Blick zu seinem linken Handgelenk, an dem sich eine Armbanduhr befand – jedenfalls erschien sie so auf den ersten Blick. Das schwarze Band war auf jeden Fall um einiges breiter und erinnerte viel mehr an ein Schweißband, das Gehäuse ließ Rückschlüsse auf eine Stoppuhr zu, schon allein weil es zwei verschiedene Kronen – eine blaue und eine rote – gab, die man betätigen konnte. Das Ungewöhnlichste war dann allerdings eher das Ziffernblatt, das lediglich aus sechs, statt den üblichen zwölf, Zahlen bestand. Im Moment befanden sich alle Zeiger auf der Zwölf, ihrer Ausgangsposition, keiner von ihnen bewegte sich. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Uhr noch da war, hob er den Blick wieder, um durch das Fenster auf der anderen Seite nach draußen zu sehen. Als er bemerkte, dass es nur noch wenige Sekunden waren, bis sie die nächste Station erreichten, entspannte er sich ein wenig. Dadurch, dass sie sich in einem Tunnel befanden, war es schwer zu sagen, aber er war diese Strecke in den letzten Wochen so oft gefahren, dass er inzwischen jede kleinste Biegung, jedes Kabel, jedes Licht derart auswendig kannte, dass er genau wusste, wo sie waren und wie lange die Fahrt dauerte. Tatsächlich fuhr die Bahn nur wenige Sekunden später in den nächsten Bahnhof, aber auch hier stiegen nicht sonderlich viele Fahrgäste ein. Es war noch nicht wirklich Nacht, gerade einmal neun Uhr abends, aber dennoch zogen die Menschen es vor, nicht auf dieser Strecke zu fahren. Wäre Faren nicht etwas Bestimmtes bewusst, wäre es ihm genauso ergangen. Aber er wusste über das Gefühl Bescheid, das einen überkam, drei Minuten, nachdem diese Bahn den Bahnhof verlassen hatte, und er sehnte sich geradezu danach, deswegen war er so oft hier entlang gefahren. Aber das wird das letzte Mal sein. Eine halbe Minute später fuhr die Bahn bereits weiter. Faren betätigte die blaue Krone an seiner Uhr, worauf er einen leichten Stich in seinem Handgelenk spürte. Etwas strömte in ihn hinein, breitete sich in seinem Körper aus, um ihn zu erfüllen, während er den Kopf in den Nacken legte und die Augen schloss. Für einen kurzen Moment glaubte er, die Welt selbst atmen zu hören, wurde eins mit ihrem Herzschlag, der ihm begreiflich machte, was für ein winziges Sandkorn er war – nur um direkt danach von dem Gefühl übermannt zu werden, dass er mehr als das war. Er war ein Kieselstein, der eine Mühle anhielt, der einzelne Ast, der einen Fluss staute, der Biber, der ein ganzes Ökosystem erschaffen konnte. Er war eine kleine Figur aus Sternenstaub und hielt die Fäden für das Schicksal der gesamten Welt in der Hand. Er war nichts und gleichzeitig alles. Und das erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl, das ihn glauben ließ, dass er sogar Berge versetzen könnte, wenn er es sich nur fest genug vornahm. Mit diesem Gedanken öffnete er die Augen wieder und fand sich in einer leicht veränderten Bahn wieder, die sich aber immer noch bewegte, wenngleich deutlich langsamer als zuvor. Außer ihm befand sich niemand mehr hier, alles war hell erleuchtet, in einem grellen Licht, das ihm eigentlich in den Augen schmerzen sollte, das aber nicht tat. Jenseits der Fenster existierte nur ein strahlendes Weiß, das nicht von dieser Welt sein konnte. Sein Innerstes war erfüllt von Glück, das einst eine unbändige Freude gewesen war, bevor er sich daran gewöhnt hatte. Der Blick auf seine Uhr war eigentlich überflüssig, aber rein aus Gewohnheit tätigte er ihn dennoch. Dabei stellte er wieder einmal fest, dass der Sekundenzeiger sich in Bewegung gesetzt hatte und bereits fast eine Minute verstrichen war. Sein erster Moment, wenn die Wirkung einsetzte, kam ihm nie derart lang vor, weswegen er auch an diesem Tag wieder verwundert blinzeln musste. „Du solltest deine Euphorie wirklich nicht für mich verschwenden.“ Die andere Stimme, die ihm so vertraut war, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Als Faren den Blick hob, entdeckte er, dass auf der Sitzbank ihm gegenüber eine Person erschienen war, die sich im vergangenen Jahr kein bisschen verändert hatte. Das schwarze Haar fiel ihm immer noch über sein linkes Auge, womit es den Blick des anderen nur umso eindrucksvoller erschienen ließ. Durch seine Kombination aus weißem Hemd und grauer Jacke – und wenn man seine feingliedrigen Finger betrachtete – erschien er immer noch ein wenig feminin, niemand vermutete hinter ihm wirklich jemanden, der geradezu meisterhaft mit einem Schwert – oder jeder anderen Waffe, was das anging – umgehen konnte. Diese Person sah Faren geradezu vorwurfsvoll an, auch wenn in seinem dunkelbraunen Auge etwas wie Sehnsucht mitzuschwingen schien – aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein, weil er es sehen wollte. „Ich verschwende gar nichts, Kieran“, erwiderte Faren, statt ihn zu begrüßen, wie er es eigentlich gern getan hätte. „Ich tue genau das, was ich tun will.“ „Ich weiß, was du tun willst.“ Kierans Stimme, die sonst so melodisch und klangvoll war, hörte sich an diesem Tag einfach nur hart und unnachgiebig an, vielleicht ein wenig verständnislos sogar. „Aber ich finde das nicht gut. Willst du etwa alles wegwerfen, was ich dir geschenkt habe?“ Wäre Faren nicht noch immer von der überschäumenden Freude erfüllt gewesen, die durch Kierans Auftauchen noch verstärkt worden war, hätte er nun verärgert erwidert, dass er nie gefragt worden war, ob er dieses Geschenk, vor allem zu diesem Preis, überhaupt haben wollte. Aber so konnte er nur sanft lächeln. „Ich werfe überhaupt nichts weg. Ich weiß zu schätzen, was du getan hast, aber du hast dabei etwas Wichtiges aus den Augen verloren.“ „Und was?“ Kieran klang durchaus ernsthaft verärgert, was früher eigentlich recht selten zu hören gewesen war; immer war es ihm gelungen, sich unter Kontrolle zu halten, stets waren die Emotionen so tief verborgen gewesen, dass es ihm irgendwann wohl selbst nicht mehr möglich gewesen war, sie zu erreichen. „Dich selbst“, antwortete Faren ruhig. „In deiner Selbstlosigkeit hast du vollkommen vergessen, dass du auch glücklich werden musst.“ „Ich bin glücklich.“ Der Nachdruck in seiner Stimme sollte Faren wohl überzeugen, aber dabei ignorierte er seine eigene Klangfarbe, die seinem Gegenüber verriet, dass er vieles war, aber glücklich gehörte mit Sicherheit nicht dazu. Zumindest schaffte er es aber, dass seine Mimik vollkommen neutral blieb und seine Gestik quasi gar nicht vorhanden war. Er hatte noch nicht ein einziges Mal, bei keinem Wort, etwas anderes bewegt als seinen Mund oder ein Augenlid. Deswegen fiel es Faren auch nicht schwer, zu kontern: „Das glaube ich dir nicht. Ich kann spüren, dass du unglücklich bist.“ „Das kannst du nicht.“ Etwas in Kierans Auge blitzte auf, nur für einen Sekundenbruchteil, aber es war eindeutig Hass, der ihm da entgegengeschleudert wurde, obwohl seine Stimme vollkommen monoton blieb. „Hör endlich auf, dich aufzuspielen und tu nicht so, als würdest du mich kennen, Faren.“ „Aber ich kenne dich nun einmal“, erwiderte dieser vollkommen ruhig, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. „Ich weiß, dass du noch nie wirklich glücklich warst, weil es dich nie ernsthaft interessiert hat – und deswegen hast du dich auch geopfert. Du wolltest, dass alle anderen glücklich werden können und glaubtest, das ginge in diesem Moment nur durch dein Opfer.“ Kieran schwieg darauf, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sein Gesprächspartner im Recht war. Eigentlich hätte Faren diesen Moment noch gern ausgekostet, aber er konnte ein leises Rauschen hören, das ihm anzeigte, dass er sich schon fast an der Stelle befand, an der er das Gespräch unterbrechen musste. „Aber“, fragte er dennoch amüsiert, „glaubst du nicht, es geht ein bisschen zu weit, gleich ein Dämon zu werden? Nachdem du sie so lange selbst gejagt hast?“ Kieran stieß einen genervten Laut aus und wandte den Blick nach rechts, so dass Faren ihm nicht mehr ins Auge sehen, nicht mehr erkennen konnte, was in ihm vorging, auch wenn das ohnehin schon deutlich wenig gewesen war. „Ich habe getan, was ich tun musste. Akzeptiere es doch einfach.“ Obwohl er sich deutlich bemühte, zitterte seine Stimme ein wenig, kaum wahrnehmbar. Aber Faren registrierte es dennoch und in gewisser Weise freute er sich darüber. Es war ein Jahr her, seit er zuletzt mit Kieran gesprochen hatte, ein furchtbar langes Jahr, aber er schaffte es noch immer, ihn zu erreichen. Es war noch nicht alles verloren. „Das kann ich aber nicht. Einer von uns beiden muss egoistisch sein und wenn du es nicht sein kannst, werde ich diese Rolle übernehmen.“ „Ich hätte dir niemals sagen sollen, was ich für dich fühle“, murmelte Kieran abweisend. Aber er senkte dabei den Blick ein wenig und hob eine seiner Hände leicht an. Es war deutlich, dass er sich diese vor das Gesicht legen wollte, ihm wurde dieses Gespräch bereits zu viel und er wollte nicht mehr zeigen, was er fühlte. Aber er traute sich nicht, diese Geste zu einem Ende zu führen oder er schaffte es nicht. Doch wie auch immer, dies allein war eine Erkenntnis, die Faren innerlich jubeln ließ, da sie ihn erneut in seinem Vorhaben bestätigte. „Selbst wenn du es nicht gesagt hättest“, erwiderte er, „dachtest du, ich würde dich einfach diesem Schicksal überlassen?“ War Kieran in seiner Selbstlosigkeit wirklich derart verblendet, dass er glaubte, niemanden würde es kümmern, wenn er den Rest seines Lebens als das verbrachte, was er einst verachtet hatte? Dachte er wirklich, man würde mit den Schultern zucken und nicht einmal ernsthaft versuchen, ihm zu helfen? Kieran wandte wieder den Blick in seine Richtung, um ihn regelrecht damit zu durchbohren, sein sichtbares Auge war nun nicht mehr dunkelbraun, sondern ging bereits in einen leicht rötlichen Ton über. Irgendetwas musste ihn wirklich ärgern – und auf eine seltsame Art freute es Faren, dass er wieder einmal derjenige war, der Emotionen aus ihm hervorholen konnte. „Wenn du dort hingehst, werde ich dich nicht beschützen können!“ Erstmals war deutlich etwas in seiner Stimme wahrzunehmen und es passte zu der Empfindung in seinem Auge: Zorn. „Ich werde dich nicht retten kommen, wenn du in Schwierigkeiten gerätst! Alles, was dort geschieht, wirst du dir ganz allein zuschreiben dürfen!“ Das Rauschen wurde langsam lauter und trieb Faren damit an, sich bald zu verabschieden, obwohl er das gar nicht wollte, nicht nachdem er hier nun endlich mit Kieran beisammensaß. Aber es muss sein. Nur für die nächsten sechs Stunden, dann ist es endlich vorbei. Dann gehen wir wieder zusammen auf die Jagd, er wird mich als lästigen Idioten beschimpfen und wir werden über diese Ereignisse nur noch lachen. „Das ist schon in Ordnung“, sagte er sanft. „Ich habe es dir damals bereits gesagt, oder? Dieses Mal werde ich dich retten.“ Kieran öffnete bereits den Mund, doch fand er offenbar keine Widerworte, denn er blieb vollkommen still und sah Faren einfach nur an. Der rote Schimmer in seinem Auge verschwand wieder, bis es genauso aussah wie zuvor, so wie es schon immer ausgesehen hatte. Aber im Gegensatz zu früher, lag heute ein hoffnungsvoller Schimmer darin, einer, der sich wünschte, dass Faren zu seinem Wort stand, selbst wenn es ein Jahr gedauert hatte, um es zu erfüllen. „Fein“, brachte Kieran schließlich hervor. „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber beklag dich hinterher nicht bei mir, wenn du verletzt wirst.“ Damit verschwand er bereits, so dass Farens folgende Worte keinen Zuhörer mehr fanden: „Mach dir keine Sorgen, ich kriege das schon hin.“ Im selben Moment, in dem das Rauschen geradezu ohrenbetäubend wurde, erhob Faren sich von seinem Sitz – und in genau dieser Sekunde geschahen zwei Dinge auf einmal: Er kehrte wieder in die gewöhnliche Bahn zurück und die Welt hielt den Atem an. Alle anderen Fahrgäste verharrten in ihren Positionen, über ihre Handys gebeugt, mitten im Gespräch, eine Frau war sogar gerade mit einem sanften Lächeln beim Stricken eines Schals eingefroren. So gern Faren das alles auch ausführlicher bewundert hätte, seine Zeit drängte, die Uhr zeigte, dass bereits drei Minuten seiner Frist verstrichen waren. Also begab er sich ans Ende des Wagens und öffnete dort die Tür, um einfach auf die Gleise zu springen. Solange er sich in dieser Phase der Zeitlosigkeit befand, musste er sich keine Sorgen um etwaige andere Züge machen, aber dennoch hastete er weiter voran, bis er zu einer Nische im Tunnel kam. Es war eine vollkommen uninteressante Vertiefung in der Wand, höchstwahrscheinlich einmal eingebracht, damit Arbeiter sich hier in Sicherheit bringen könnten, aber für Faren war sie an diesem Tag wesentlich mehr. Mit weißer Kreide hatte irgendjemand das Wortspiel Nobody's happy auf den Beton geschrieben, was ihm nur noch einmal deutlich vor Augen führte, dass er sich am richtigen Ort befand. Das ist so typisch für dich, Kieran. Du musst erst ein Dämon werden, um das einzusehen. Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk, ließ er eine Pistole erscheinen, die er sofort ergriff, um dann damit dreimal auf die Wand zu schießen. Es gab keinen lauten Knall, es wurden nicht einmal Kugeln verschossen, aber die Energiebälle taten genau das, was er gewollt hatte. Sie nahmen jeweils drei nicht zu sehende Punkte, rund um die Worte herum, ein, dann verbanden sie ihre Energie miteinander – und im nächsten Augenblick gähnte bereits ein pechschwarzes Portal vor ihm. Kälte, Einsamkeit und Schmerz strömte ihm entgegen, wollte ihn davon abhalten, auch nur einen winzigen Schritt hineinzuwagen. Unwillkürlich erinnerte Faren sich daran, wie viel Angst er empfunden hatte, als er das erste Mal den Zugang zu einer sogenannten Zuflucht gesehen hatte. Wäre er damals allein gewesen, so wie heute, hätte er niemals auch nur einen Fuß hineingesetzt. Aber nun war da keine Angst mehr. Sie war durch Entschlossenheit ersetzt worden, den unbändigen Wunsch, sein Versprechen zu halten und die Person zurückzuholen, die er liebte. „Ich komme, um dich zu holen, Kieran“, murmelte er. „Ob du willst oder nicht.“ Er atmete noch einmal tief durch, dann schritt er durch das Portal, hinein in eine Welt, deren Aussehen ihm noch vollkommen unbekannt war, die er aber erst wieder verlassen würde, wenn sich der Gesuchte in Sicherheit befand. Ganz egal, was geschehen würde. Hinter ihm schloss sich das Tor wieder, als wäre es nie da gewesen und die Zeit dieser Welt lief ganz normal weiter, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)