Doors of my Mind 2.0 von Karo_del_Green (Ihr Freund. Mein Geheimnis) ================================================================================ Kapitel 20: Spiel mir das Lied vom Brot --------------------------------------- Kapitel 20 Spiel mir das Lied vom Brot Mein Vater ist zum Teil noch von der Tür verdeckt. Doch er schiebt sie weiter auf und tritt in den Flur. Für einen kurzen Moment wähnt sich die böse Vorahnung, dass hinter ihm meine Mutter auftaucht, aber er ist allein. Sein Blick huscht von mir, kurz zu Raphael und in meiner Brust bildet sich ein tonnenschwerer Stein. Ich spüre die Tränen, die heiß über meine Wange laufen und dann meinen Blick verschleiern. „Ach Mark,...", seufzt mein Vater leise. Seine Hand greift in meinen Nacken und er zieht mich fest an seine Schulter, während seine Finger über meinen Hinterkopf streicheln. Bei dieser Geste flammen meine Tränen nur noch mehr auf, denn sie weckt die Erinnerungen an meine Kindheitstage. Nie hatte mein Vater gesagt, dass ich nicht weinen dürfe. Nie verhindert, dass ich meinen Gefühlen Ausdruck verlieh. Stattdessen hat er mich jedes Mal so gegriffen und mir beruhigend den Kopf getätschelt, während er mir in manchem Fall klar machte, dass es keinen Grund für Tränen gab. Das Gefühl dieser tröstenden vertrauten Nähe umfängt mich auch jetzt. Sie beruhigt und beängstigt mich zu gleich. Mein Herz rast und der Schreck pulsiert in meinen Gliedern, wie ein höhnendes Donnerwetter. Was habe ich erwartet? Dass ich es ewig geheim halten kann? Dass nie jemand Fragen stellt? Sehr töricht. Das Pulsieren wächst in meinem Kopf zu einem lautstarken Lachen heran. Doch ich lache nicht, sondern fange stattdessen noch einmal stärker an zu weinen. „So habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt", flüstert mein Vater und ich merke, wie sich sein Kinn auf meinen Kopf schiebt und wie seine Hand weiterhin beruhigend über meinen lebenden Rücken streicht. Mit seinen Worten spricht er Raphael an, der wahrscheinlich hilflos hinter uns steht. Sinnfreies Rumgeheule nach Aufmerksamkeit gewöhnte ich mir damals recht zügig ab und glänzte stattdessen mit eisernem Willen und Selbstständigkeit. Es gibt genügend andere Mitglieder in meiner Familie, bei denen es nicht so war. Mein Vater drückt mich etwas fester, streichelt mir sanft über den Kopf und gibt mir dann eine ebenso liebevoll gemeinte und ausgeführte Kopfnuss. „Komm, beruhige dich. Es gibt gar keinen Grund dafür..." Er wiederholt die neckische Geste an meinen Hinterkopf. „Raphael, ich könnte einen Kaffee vertragen und ihr sicher auch. Wärst du so gut?" Raphael bestätigt und ich vernehme leise Schritte, die sich von uns entfernen. Das Öffnen von Schranktüren. Wasserrauschen. Ich brauche zwei Anläufe, bis ich das Schniefen soweit eingestellt habe, dass ich zu sprechen anfangen kann. Okay, sprechen ist total übertrieben. Ich nuschele unverständliches Zeug und das auch noch quer durcheinander. „Papa...Es...wollte... Ich... Es tut... Leid." Okay, langsam wird es erbärmlich. Ich ziehe reichlich unästhetisch die Nase hoch und taste blind nach der Packung Taschentücher, die theoretisch auf meiner Kommode im Flur liegt. Nur finde ich nichts außer Staub und Kekskrümel auf dem glatten Furnier. Ich merke, wie sich der Kopf meines Vaters neigt und dann spüre ich das feine Lachen mehr durch die Nähe seines Körpers, als dass ich es höre. Mein Vater kramt in seinen Hosentaschen herum und drückt mir dann eines dieser alten Stofftaschentücher in die Hand. Ich blinzele dem Stoffteil entgegen. Die Dinger habe ich schon als Kind nicht gemocht, denn sie fühlten sich immer nass und schlabberig an. Außerdem zählt die Vorstellung, dass mein Erzeuger die Dinger wochenlang in seiner Hosentasche herumträgt, nicht zu meinen Favoriten. Nur mit dem linken Auge schaue ich misstrauisch auf das Taschentuch, bis mir mein Vater mit der flachen Hand gegen die Stirn patscht. „Das ist sauber, du Spinner. Frisch von deiner Mutter gewaschen", interpretiert er meinen Blick richtig und ich kann mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, während er mich an den Schultern an sich herandrückt. Diese kumpelhafte Geste, die auch mein Onkel immer macht. Mein Herz schlägt noch immer unruhig. Der Wasserkocher ertönt im Hintergrund und dann höre ich, wie Raphael die zwei Tassen, die ich noch besitze auf das Metall der Spüle stellt. Ich wische mir die Flüssigkeiten aus dem Gesicht und beginne dann unbewusst und automatisch das Taschentuch zu kneten. Ich malträtiere es förmlich so, wie ich es auch mit den Papiervarianten mache. Shari beschwerte sich heute Morgen per SMS, dass sie noch immer Papierkrümel aus ihrer Bettwäsche sammelt. Ich habe ihr noch nicht geantwortet. Ich höre, wie mein Vater hinter sich die Tür schließt und dann seine Jacke auf einen der Garderobenhaken hängt. Auch er macht seine typische Geste, die von Nervosität und Unwohlsein herrührt. Er nimmt seine Brille ab und streicht sich zweimal über den Nasenrücken. Mein Vater wäre ein schlechter Pokerspieler. Genauso, wie ich. Er macht es auch immer, wenn er etwas Unschönes mit der Familie besprechen muss. Damals beim Tod unseres Onkels Ralf hat er sich unentwegt die Nase gerieben, bis sie knallrot leuchtete. Genauso, wie es die Nase des Onkels Olaf immer durch den extremen Alkoholkonsum getan hat. Ich erinnere mich an Familienfeiern, die des Öfteren in phänomenalen Katastrophen endeten. Tatsächlich noch ein Grund mehr Raphaels Bitte nach eingeschränktem Alkoholgenuss nachzukommen. Ich sehe, wie mein Vater zu sprechen ansetzt, abbricht und noch einmal sein Ritual wiederholt. Unangenehme Gespräche sind auch meine Schwachstelle. Es ist seltsam, wenn man erkennt wie viele Eigenarten man wirklich von seinen Erzeugern mitbekommen hat. Wie viele Dinge und Reaktionen man bei sich selbst erkennt. Wie muss es wohl für meinen Vater sein, sie dauernd bei mir zu sehen? „Wieso hast du nicht mit uns geredet?", fragt er mich, nachdem er seine Brille wieder in seinem Gesicht positioniert. Ich spüre, wie meine Schultern als allererstes nach oben zucken als Verdeutlichung meiner fehlenden Antwort. Ich weiß, was er sagen wird, wenn ich ihm erkläre, dass ich mich einfach nicht getraut habe, dass ich nicht den Mut hatte. Jahre lang nicht. Er wird es nicht verstehen können. Ich tue es ja selbst nicht. Meine Eltern sind stets aufgeschlossen und nur in einem verständnisvollen Maß streng gewesen. Sie haben mich immer unterstützt. Selbst bei den verrücktesten Verrücktheiten. „Mark, seit wann hast du Probleme damit, mit uns zu reden? Hast du das Gefühl mir und deiner Mutter nicht vertrauen zu können?", setzt er fort. Ich möchte ein deutliches Nein aussprechen, aber ich tue es nicht. Es wäre nicht ganz ehrlich. Ich vertraue meinen Eltern. Mehr als es andere Kinder je tun würden. Aber das Thema ist mein blinder Fleck, der anscheinend jegliche vertrauensvolle Beziehung bröckeln lässt. Ich höre ein Klappern und wir schauen beide zur Küche. Raphaels Schatten erscheint im Türrahmen und dann höre ich, wie sein Handy zu klingeln beginnt. Bei dem Klingelton bekomme ich sofort Magenschmerzen. Sie packen mich, reißen meine Gedärme hin und her und hinterlassen das Gefühl als würde man mich durch einen Fleischwolf drehen. Auch mein Vater erkennt den Song. Maya hört ihn zu Hause andauernd. Dem schmerzvollen Unwohlsein folgt schleichend die Wut. Sie darf ihre Macht über uns nicht weiter ausbauen. „So ist es nicht. Ich... Ich vertraue euch, aber...ich wusste einfach nicht, wie ich es euch sagen soll...", gestehe ich und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. Wir stehen mitten im Flur und führen so ein Gespräch. Aberwitzig. Mein Vater streicht sich durch die kurzen Haare. Seine Finger zucken erneut zu seiner Brille, doch diesmal lässt er sie wieder sinken. Für ihn ist das keine Erklärung. Wahrscheinlich für niemand. „Wolltest du es uns überhaupt irgendwann sagen?" Gute Frage. Nächste Frage. „Meinst du nicht, dass wir irgendwann mal nachgehakt hätten, warum unser Sohn keine Beziehung führt oder warum er uns niemanden vorstellt? Nicht, dass wir uns nicht schon, die ganze Zeit darüber wundern." Guter Einwand. Zudem hat er Recht. Sie hätten jederzeit jemanden an meiner Seite willkommen geheißen. Ein hübsches, höfliches Mädchen. Das ohne Probleme. Auch Raphael haben sie sehr gut aufgenommen. Offen und interessiert. Aber hätten sie das auch als Freund ihres Sohnes getan? Daran zweifele ich. „Ich wusste doch nicht, wie ihr reagieren würdet. Weißt du, du stehst hier, so ruhig und gefasst, und ich kann nicht einschätzen, ob du zutiefst enttäuschst, wütend oder beschämt bist." Positive Gefühlsregungen kamen in den Szenarien sowieso nicht vor, deshalb lasse ich sie auch jetzt beiseite. „Um Himmelswillen, Mark, du bist mein Sohn und ich liebe dich, egal ob du hetero- oder homosexuell bist. Mir wäre es sogar egal, wenn du objektophil wärst", stößt er energisch aus. Über den Scherz lachen wir beide nicht, obwohl es mich ungemein beruhigt. Ich hätte Interesse an der Chinesischen Mauer, aber meinem Wissen nach ist sie schon vergeben. In meinem Kopf entstehen seltsame Bilder von Menschen, die irgendwelche Dinge umarmen. Ich könnte ab und zu meinen PC umarmen. Aber auch nur manchmal. Shari würde wahrscheinlich zu den Baumumarmern gehören. Ich zwinge mich zurück in die Realität. „Mich enttäuscht nur, dass du nicht ehrlich warst und von der Sache mit Raphael will ich gar nicht anfangen", setzt mein Vater fort und lässt seinen Blick über mein Gesicht wandern. Meine Gedanken wandern zurück zu den Bäumen. Unbewusst neige ich meinen Kopf zur Seite. „Er ist der Freund deiner Schwester, Mark." Als ob mir das nicht bewusst genug ist. „Was denkt ihr euch..." Er bricht ab als Raphael aus der Küche tritt. Die Stimmung ist unterirdisch, als wir zu dritt in der Küche Platz nehmen. Raphael stellt sich und meinem Vater eine Tasse Kaffee vor die Nase. Mir ein Glas Wasser. Ich greife fahrig danach, trinke aber nicht. Es dürstet mich nach einem warmen Tee, aber aus Ermangelung an genügend Geschirr muss ich darauf verzichten. Ich beschwere mich nicht. „Meine momentane Ruhe begründet sich darauf, dass ich es schon länger weiß", sagt er, nachdem er einen Schluck des Kaffees genommen hat. Seine Lippen berühren noch immer den Rand der weißen Keramik. Erst als er sie absetzt, blickt er auf. Erneut erfasst mich eine eiskalte Welle der Ungläubigkeit. Wie kann das sein? Unbewusst sehe ich kurz zu Raphael, doch auch er schaut überrascht zu meinem Erzeuger und lässt wie in Zeitlupe die angesetzte Tasse zurück auf den Tisch sinken. Er war es also nicht. In meinem Kopf beginnt es heftig zu rotieren, Wann könnte er es erfahren haben? Ich kann es mir nicht erklären. Bis auf die wenigen verdächtigen Male mit Raphael habe ich meine Neigung stets weit von meinem Elternhaus entfernt ausgelebt. Selbst außerhalb der Schule. Na gut, dass eine Mal mit Jake. Ist es doch Maya gewesen, die sich gegenüber meinem Vater verplappert hat? Ob es meine Mutter auch schon weiß? Panik. Sie scheint meine Brust in diesem Moment auseinanderzureißen. Ich habe das Gefühl, das mir mit einem Mal sämtliches Blut in die Füße sackt. Ich taste nach dem Tischbein und umklammere es. Nein, sie kann es nicht wissen. Meine Mutter ist nicht gut darin Geheimnisse zu bewahren. Sie will immer und ständig über alles reden. Sie weiß es nicht und dann besteht mir noch immer ein Outing bevor. Der Schmerz in meine Brust nimmt weiter zu. „Woher?", kommt es wenig inhaltlich von mir, nachdem ich mich wieder gefangen habe „Ich habe versehentlich einen Brief von Raphael an dich geöffnet. Ich habe es zunächst nicht richtig verstanden und war ehrlich schockiert." Meine Finger werden mit jedem seiner Worte klammer. Ich lasse das Tischbein los, reibe meine Hände nervös gegeneinander, dann an der Hose und danach über meine nackten Unterarme. Meine Fingerspitzen sind eiskalt. Er hat die Briefe genommen. Ich kann es nicht fassen. In meinem Kopf ist es Maya gewesen, die Raphaels Handschrift erkannt und die Briefe abgefangen hat. Nicht mein Vater. Er hat es die ganze Zeit gewusst. Selbst zu dem Zeitpunkt, als ich noch zu Hause gewohnt habe, war es ihm bereits bekannt. Die Fassungslosigkeit packt mich mit jeder Sekunde mehr. „Ich war mir nicht sicher, wie ich damit umgehen soll, aber irgendwann habe ich nur noch darauf gewartet, dass du ehrlich bist", setzt mein Vater ehrlich fort. Ich stehe ruckartig auf. „Du hast die Briefe? Wie konntest du...", breche ich mitten im Vorwurf ab, weil Raphael nach meiner Hand greift. Er zwingt mich damit, mich wieder hinzusetzen. „Briefe? Mark, ich habe nur diesen einen versehentlich geöffnet. Ja, es tut mir sehr leid, aber ich wusste selbst nicht, wie ich am besten mit der Situation umgehen soll. Es ist ja nicht nur die Tatsache, dass ich plötzlich mit deiner Homosexualität konfrontiert wurde, sondern auch..." Sein Finger wandert zwischen mir und Raphael hin und her. Raphael lässt meinen Arm wieder los. Mein Vater legt seine Brille zur Seite und fährt sich einmal mit der Hand über das komplette Gesicht. "Mark, er ist der Freund deiner Schwester. Raphael... Was denkt ihr euch eigentlich?" Gut, dass er es noch mal sagt, ich hätte es fast vergessen. Der Freund meiner Schwester. Die Titelmelodie meine ganz eigenen Dramödie. Ich kann es nicht mehr hören. „Maya hat…", setze ich an, doch mein Vater unterbricht mich schnell. Seine Hand signalisiert einem eindeutigen Stopp. „Nein, ich will nicht hören, was Maya deiner Meinung nach getan hat. Ich will auch nicht von dir hören, dass sie angefangen. Du...Nein, ihr beide seid alt genug, um anders mit solchen Dingen umzugehen." „Und Maya nicht oder was? Warum soll ich eigentlich immer einstecken, nur weil sie die Jüngere ist?", pampe ich zurück. Wenig erwachsen, aber ich bin es so leid. „Mark, ausgerechnet er! Dostatochno!", wiederholt er, deutet dabei auf den Mann, denn ich seit 5 Jahren begehre und weiß gar nicht, wovon er spricht. Genug, schallt es in meinem Kopf. Die Tatsache, dass er zum Schluss ins Russische verfällt, zeigt mir deutlich, wie ernst es ihm ist. Dennoch müsste eigentlich ich das 'Ausgerechnet er' ansprechen. Mein Vater spricht selten in die Sprache seiner Kindheit und das verletzt mich. Er weiß nicht, was alles dahintersteckt. Er kann nicht ahnen, wie lange ich mich schon hin und hergerissen fühle, wie schwierig und nervenaufreibend die letzten Monate gewesen sind. Nicht nur für mich. Für uns alle. Doch anscheinend sieht er nur das Eine. Raphael ist bei mir, also muss ich ihn meiner armen kleinen Schwester abspenstig gemacht haben. Prima! Sdorowo! Zum Kotzen. Auch, wenn es grob gesagt wirklich so ist. Diesmal ist es Raphael, der die Stimme erhebt. „War!" „Wie bitte?", kommt fragend von meinem Vater. „Ich war ihr Freund. Ich habe mich kurz nach meiner Rückkehr aus den USA von ihr getrennt, aber Maya wollte es nicht verstehen. Aber vor allem akzeptiert sie nicht, dass Mark nicht der Grund dafür ist. Ich weiß, dass es wahrscheinlich seltsam aussieht, aber es ist einzig eine Sache zwischen Maya, Mark und mir." „Raphael, ich bitte dich! Du kannst nicht nach Belieben zwischen meinen Kindern hin und her tanzen und denken, dass ich das einfach so billige. Das erlaube ich einfach nicht!" Die mit Nachdruck gesprochenen Worte meines Vaters lassen mich schlucken. Er weiß, womöglich durch den Brief, wie lange dieses Hin und Her zwischen uns bereits schwelt. „Papa, Raphael trifft keine ...", setze ich an, doch Raphael greift erneut meine Hand, verschränkt unsere Finger sanft miteinander. Diesmal deutlich auf dem Tisch. Die Augen meines Vaters haften sich auf diese Geste. „Doch, Mark, das tut es und mir ist sehr wohl bewusst, dass ich damit Kummer und Ärger in eure Familie bringe, aber ich finde nicht, dass wir uns rechtfertigen müssen. Zumal, das Ganze hier zu einer einseitigen Beschuldigung wird." Raphaels Worte beeindrucken mich, aber im gleichen Maß fördern sie mein Unwohlsein. „Hör bitte auf. Papa, Raphael hat Recht, auch wenn du es nicht hören willst. Maya trägt ihren Teil dazu bei und das müssen wir unter uns klären. Ich habe nicht gewollt, dass es so eskaliert, aber es lässt sich nicht mehr ändern." Ein Appell und eine Bitte. Mein Vater blickt weiterhin auf unsere ineinander verschränkten Hände. „Eure Beziehung, ihr meint es ernst?" Mein Vater schaut auf. Sieht zuerst zu mir und dann zu Raphael. „Ja", antworte ich leise, aber bestimmt, sehe zu ihm, während Raphael meine Hand drückt. „Ich werde so lange an Marks Seite bleiben, wie er es möchte.", sagt der Mann an meiner Seite. Seine grünen Augen drücken eine Ernsthaftigkeit aus, die mich voller Hoffnung erschaudern lässt. Die Brille schiebt sich zurück auf die Nase meines älteren Ebenbilds. Dann blickt er auf. Nur zu dem Mann, der mir seit 5 Jahren schlaflose Nächte bereitet. „Ich kann es nicht gutheißen, wie es passiert ist", kommt es dann von meinem Vater. Er schiebt die halbleere Tasse mit Kaffee von sich und steht sich auf. „Das verstehe ich", antwortet Raphael. Zwischen den Beiden scheint damit alles geklärt, aber für mich hat sich nur ein weiterer Abgrund geöffnet. Im Grunde nimmt er es nur hin, dass Raphael an meiner Seite ist. Obwohl das eine, der im Schatten schwelenden Möglichkeiten gewesen ist, trifft sie mich hart. In den Augen meiner Eltern wird Raphael immer der sein, der zuvor mit ihrer Tochter liiert gewesen ist. Ein höhnisches Lachen in meinem Kopf als mir der neuste dramödientaugliche Eklat deutlich wird. Ein weiteres dunkles Kapitel unserer Familiengeschichte. Wie erklärt man den entfernten Verwandten, dass der Freund der Tochter nun der Partner des Sohnes ist? Mein Vater nickt hinnehmend und verlässt die Küche. Ich folge ihm in den Flur. „Und Mama...weiß sie...es?", frage ich aufgeregt und atme erst wieder ein, als mein Vater verneint. „Nein." Erleichterung, der fast sofort schwere Ernüchterung folgt. Ich fühle mich wieder, wie der kleine Junge, der genau weiß, dass er etwas falsch gemacht hat und trotzdem nicht den Mut hat es zugestehen, obwohl das vernünftiger und im Endeffekt und glimpflicher wäre. „Ich denke, es wäre das Beste, wenn du es ihr selbst sagst." Ich spüre, wie er mich ansieht und ich weiß, was er mit diesem intensiven Blick bezwecken will. Ein baldiges Geständnis. Doch nur der Gedanke daran lässt das Blut in meinen Adern gefrieren. Diese andauernde Mutlosigkeit irritiert und verärgert mich ungemein, aber ich schaffe es einfach nicht, gegen dieses beklemmende Gefühl in meiner Brust vorzugehen. Bevor er die Wohnung verlässt, dreht er sich noch einmal um. „Du hast die Briefe nicht bekommen?", fragt er und ich sehe, wie sich seine Stirn kräuselt, als ich es verneine. Alles spricht dafür, dass Maya sie hat. Mein Vater nickt, so als würde er auch plötzlich verstehen, was passiert sein muss. „Es hätte alles definitiv besser laufen können...", sagt mein Vater. Der stille Vorwurf trifft mich hart, auch wenn er ihn nicht nur gegen mich richtet. Er tätschelt mir im nächsten Moment den Kopf, aber das mindert die Schwere nicht. „Lasst uns heute Abend noch mal in Ruhe miteinander reden. Auch mit deiner Mutter. Ich werde ihr sagen, dass ihr es erst zum Abendbrot schafft." Noch während er spricht öffnet er die Wohnungstür. Im Hausflur brennt Licht. Der Geruch von Zigaretten hängt in der Luft. „Wir essen zu sieben Uhr." Damit schließt er die Tür und lässt mich und Raphael im Flur zurück. Erst jetzt atme ich richtig aus und spüre nur noch ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Raphael kommt auf mich zu und ich sehe auf. „Es tut mir leid. Alles. Das ganze Chaos und... und...", flüstere ich und breche ab, weil ich gar nicht auszudrücken vermag, wie leid es mir tut. Durch meine Feigheit ist Raphael zum Bösewicht geworden. Das habe ich nicht gewollt. Raphael Hände legen sich an meine Hüfte und er zieht mich in seine Arme, während sich seine Lippen gegen meine Schläfe drücken. Er gibt mir nicht die Schuld, das weiß ich. Dennoch fühle ich mich so. Ein weiterer sanfter Kuss und ich schließe meine Augen. Ich sehe, wie er in der Küche verschwindet und höre dann das Klirren und Klappern von Geschirr. Ich lasse mich kraftlos auf die Couch fallen und starre an die Decke. Mein Vater hat einen der Briefe gelesen. Auch, wenn ich nicht weiß, was Raphael darin geschrieben hat, kann ich mir lebhaft vorstellen, wie verwirrt für meinen Vater gewesen sein muss. Ich bin sofort peinlich berührt. Wie muss es erst für Raphael sein? Ich lasse mich seitlich auf die Couch fallen, bette meinen Kopf in die Hand und lehne mich gegen die Rückenlehne. Ich ziehe die Beine hoch und bleibe halb zusammengerollt sitzen. Raphael lässt sich neben mir nieder. Ich spüre, wie das Kissen unter meinem Hintern nachgibt. Raphaels Duft, der langsam den Raum erfüllt. Ich schließe meine Augen. Ich merke, wie sich Raphael sachte an mich heranlehnt. Ein sanftes Stupsen seiner Schulter in meinem Rücken. Mein Kinn drückt sich stärker in meine Handfläche. Kribbelnder Schmerz, der meine Hand durchzieht. Ich ignoriere ihn. Ich bin mit meinen Gedanken immer noch bei den Briefen und meinem Vater. Dass er ihn überhaupt öffnen würde. Ein Versehen, wiederholt sich in meinem Kopf. Ich seufze schwer. Ein verdammtes Versehen. „Sieh mich mal an...", bittet Raphael, streicht mit dem Zeigefinger sachte meine Wange entlang, doch ich rühre mich nicht. „Mark...", flüstert er. Mein Name ist so gesprochen, dass er mir jedes Mal aufs Neue Gänsehaut verursacht. Sein Arm bleibt auf meiner Schulter liegen und ich sehe, wie seine Finger sanft hin und her wippen. Ich seufze fahrig. „Nein, ich sehe gerade furchtbar dämlich aus...", brumme ich in meine bandagierte Handfläche und schließe geschafft meine Augen. „So, wie du beim Volleyball immer ausgesehen hast?", witzelt er mir entgegen und schafft es, dass ich ihn nun doch verärgert anschaue. Schnell wende ich mich wieder ab, bleibe aber mehr zu ihm geneigt sitzen. Ich seufze ermattet und streiche mir fahrig über die Lippen. Ich fühle mich schrecklich ausgelaugt und zu gleich merke ich, wie mit jedem Gedanken an das bevorstehende Treffen mit meiner Mutter, mein Herz heftiger schlägt. Ich habe das Gefühl um etliche Jahre gealtert zu sein und das nur in den letzten paar Monaten. Kein guter Schnitt für mein biologisches Alter. Ich zupfe mir ein imaginäres graues Haar aus dem vorderen Haarbereich und seufze schwer. Raphaels streckt ein weiteres Mal seine Hand nach mir aus. Sein Daumen streicht sanft über meinen Kiefer, über mein Kinn und tippt gegen meine Lippen. Seine Hand verweilt dort, zieht mich in eine ihn zu sich sehende Position. Raphaels lächelndes Gesicht, seine zärtliche Berührung und das herrlich warme Gefühl, welches er in mir auslöst, wischen für einen Moment alles Negative davon. Sanftes Kribbeln erfasst mich, lässt meine Haut pulsieren und wärmt mich von innen. Ich schließe meine Augen und versuche mir diese wunderbaren Empfindungen zu erhalten, doch das ganze Drumherum holt mich zu schnell wieder ein. Ein Seufzen entflieht meinen Lippen und Raphaels Hand gleitet tiefer. Sein Daumen ruht über der Vene meines Halses. Ich spüre deutlich, wie sie gegen seine Haut pulsiert und sich der heftige Rhythmus auf seinen Körper überträgt. Er beugt sich vor und legt seine Lippen sanft auf meine. Ich genieße das erfüllende Gefühl. Den sanften und doch so intensiven Rausch, den diese wunderbare Berührung in mir auslöst. Ein leichtes Schnurren entrinnt meiner Kehle und Raphael löst schmunzelnd den Kuss. „Ich werde fahren...aber allein...", flüstere ich, klinge dabei gefasster, als ich es wirklich bin. Raphaels beruhigendes Streicheln stoppt. „Bist du sicher?", fragt er mich und ich nicke. Vorsichtig. Im Grunde bekomme ich nur ein angedeutetes Kopfwippen zustande. Ich bin mir ganz und gar nicht sicher. Ich bin mir, aber darüber im Klaren, dass mir Raphael nicht helfen kann und ich ihm diesem Drama nicht aussetzen will. Es ist der Geruch von frischgebackenem Brot, der mir entgegen strömt, als ich mein Elternhaus betrete. Das Auto meines Vaters stand nicht in der Einfahrt, also wird er noch unterwegs sein. Ich lege leise meinen Schlüssel auf die Kommode im Flur, ziehe den Geruch der frischen Teigware in mich ein. In meinem Mund bildet sich der Geschmack des saftigen Teiges. Das Aroma süßer Hefe, welche durch Wärme und Zucker diese einmalige Lockerheit zaubert. Ein Hauch Olivenöl. Feinherb und aromatisch. Das fein saure und würzige Bukett von Sauerteig. Brot ist etwas Herrliches. Ich lege meine Jacke über das Treppengeländer, wische mir symbolisch den Speichel von den Lippen und schleiche in die Küche. Ein vertrautes Bild bietet sich mir. Meine Mutter samt Schürze und Pantoffeln steht an der Spüle. Ihre schlanken Hände sind tief in warmem Wasser versunken. Unwillkürlich bildet sich ein leichter Schmerz in meiner noch immer malträtierten Handfläche. Ich vermeide einen Blick unter den Verband, weil mir nicht gefällt, was ich dort sehe. Mein Gefühl sagt mir, dass sich die Wunde leicht entzündet hat, aber mein Kopf schimpft es eine Einbildung. So oder so, kann ich nicht abstreiten, dass ich sehr unachtsam damit umgegangen bin. Zu selten habe ich den Verband gewechselt und wahrscheinlich hätte ich die Wunde auch öfter desinfizieren sollen. Es geschieht mir also ganz recht. Vielleicht sollte ich bei dieser Gelegenheit nach meinem Impfpass fragen. Das Wort Tetanus geistert seit einiger Zeit durch meinen Kopf, gefolgt von Blutvergiftung. Ein gutes Wort für das Galgenmännchen-Spiel. Obwohl Polymerasekettenreaktion noch immer der unschlagbare Sieger ist. Natürlich hat mich die Neubiologin Shari damit fertiggemacht. Sie ist knallhart, was solche Spiele angeht und ein ganz schlechter Verlierer. Ich taste nach meinem Handy, weil mir einfällt, dass ich ihr noch immer nicht geantwortet habe. Sanftes Licht dringt aus der Ofentür. Es taucht die langen, offenen Haare meiner Mutter in einen feinen Honigton. Fast, wie Gold. Wunderschön. Das Brot steht kurz vor der Vollendung. Ich rege mich erst, als meine Mutter aufschaut und ihr dabei mein Name von den Lippen perlt. Fast sofort lässt sie den gespülten Teller zurück in das Becken gleitet und angelt nach einem Handtuch. „Hey Mama", begrüße ich sie und klinge dabei seltsam bedrückt. Sie scheint es nicht zu bemerken oder sie überspielt es. Denn sie streckt wie gewohnt ihre Hände nach mir aus und nimmt mich in den Arm. Mein Herz wird schwer. Angst und Mutlosigkeit erfüllen mich, scheinen sich wie tonnenschwere Steine durch meine Adern zu arbeiten und ziehen mich fast zu Boden. Ich sauge das warme Gefühl ihrer Umarmung in mich auf und ich wünschte ich hätte eine Vorratsspeicherungsfunktion. Ihre Hände tasten sich über meinen Rücken. Eine stille und wiederkehrende Geste, um zu überprüfen, wie es um mein körperliches Befinden steht. Wahrscheinlich unterliegt sie noch immer der Vorstellung, ich würde elendig verhungern, wenn sie nicht ab und an ein Stück Speck nach mir wirft. Diesmal verkneift sie sich ein Kommentar und ich bin ihr dankbar. Sie drückt mir einen Kuss gegen die Schläfe und reckt dann ihren Hals. „Kommt Raphael mit Maya her?" „Nein...Er kommt nicht..." Ein Hauch Enttäuschung flackert auf. Sie mag ihn wirklich. Sie mag ihn als Freund ihrer Tochter. Wird sie ihn auch noch als Freund ihres Sohnes mögen? Der Gedanke ernüchtert mich. Was, wenn sie genauso reagiert, wie Papa? „Oh, wie schade. Ich habe ihn fest für das Abendbrot mit eingeplant. Nun gut, dann nimmst auf jeden Fall etwas mit. Ich hatte große Lust zu backen, aber da ihr es nicht zum Kaffee geschafft habt, habe ich nun Brot gebacken. Das Sauerteigbrot, was du so magst und ein Ciabatta für deine Schwester." Ihr Enthusiasmus lässt mich schmunzeln. „Es riecht schon fantastisch", gebe ich lobend von mir und lächele. Meine Mutter streicht mir eine verirrte Haarsträhne von der Stirn und sieht mich dann forschend an. Intensiv. Lesend. Das hat sie auch früher gern getan, weil ich selten sofort mit der Sprache herausrücke. Wie bereits erwähnt, waren derlei Gespräche noch nie meine Stärke. Nicht einmal, wenn es nur darum ging, dass ich Kaugummi gekaut habe, obwohl ich es nicht durfte. Bevor ich etwas antworten muss, höre ich den Schlüssel in der Tür und Mayas sonore Stimme. Lachend. Amüsiert. Der letzte Rest guter Stimmung verschwindet gen Jordan. Ich wende mich von meiner Mutter ab und lehne mich gegen die Arbeitsplatte. Unbewusst verschränke ich die Arme vor der Brust als Maya noch immer lachend die Küche betritt. Sie widmet mir nur einen kurzen Blick, schnuppert und macht einen Laut des Wohlgefallens als sie das Brot im Ofen entdeckt. „Hier riecht es wunderbar! Und Mama, du siehst fantastisch aus. Hast du etwas mit deinen Haaren gemacht?", trällert sie fröhlich in den Raum. „Vielen Dank, aber nein. Haben du und Nina noch schön gefeiert?", fragt meine Mutter mit geschmeichelter Röte auf ihren Wangen. Sie wandert über den Nasenrücken bis zur Spitze. Maya geht an mir vorbei, drückt unserer Mutter einen Kuss auf die Wange. „Ausgiebig." Die blauen Augen meiner Schwester wandern direkt zu mir. Ihren Blick kann ich nicht deuten, also ich ignoriere ich ihn. „Ach, welch Seltenheit. Beide Kinder allein und gemeinsam im Haus." Sie lächelt dieses mütterliche Lächeln, welches deutlich zeigt, wie oft sie an die früheren Zeiten denkt. Wie sie uns im Arm hielt, tröstete, wenn wir weinten und wie oft sie uns daran erinnern musste, unsere Zimmer aufzuräumen. Oft vergeblich. „Kinder werden nun mal erwachsen und werden flügge, mein Schatz, wenn auch manchmal in Etappen und mit Fehlentscheidungen." Der Glückskeksspruch des Tages. Ich sehe zu meinem Vater, der, während er an mir vorüber geht, seine Hand über meinen Kopf streichen lässt und dann seiner Frau einen Kuss gibt. Maya kichert als würde sie seinen Kommentar verstehen, aber ich bezweifele es. „Und wie heißt es so schön? Aus Fehlern lernt man? Nun gut, das Essen ist in ein paar Minuten fertig, also wascht euch die Hände", gibt meine Mutter zum Besten und ich fühle mich prompt wieder, wie ein Kind. „Ja, aber auch nicht alle", kichert Maya überheblich. „Musst du ja wissen, schließlich bist du da vom Fach", kommentiere ich und stoße mich von der Arbeitsplatte ab, um dem Wunsch meiner Mutter nach zu kommen. Maya folgt mir. „Und, hast du meinen Geburtstag noch schön gefeiert?" Ihre Stimme ein einziges, zynisches Quietschen. Ich hätte gern die Fähigkeit sie einfach auszublenden. Sie folgt mir bis in das kleine Badezimmer. Im Türrahmen gelehnt, bleibt sie stehen, während ich mir die Hände einseife. Ihr Abbild beobachtet mich im Spiegel. In ihrem perfekt geschminkten Gesicht zeichnet sich die Oberflächlichkeit in Form eines höhnischen Grinsens der Arroganz. Ich antworte nicht, weil ich nicht vor dem Essen schon schmutzige Wäsche waschen will. „Wie ich gehört habe, warst du vorgestern so derbe betrunken, dass man dich nach Hause bringen musste. Mein, sonst so beherrschter Bruder. Völlig besinnungslos. Ich hätte es gerne gesehen..." Ihre Mundwinkel zucken nach oben. „Bist du fertig?", frage ich lieblos, spüle mir die Hände mit kaltem Wasser und wende meinen Blick ab. Maya kichert siegessicher. „Du hast es geglaubt, oder? Ich und Raphael. Du hast es gehört und dann hast du gezweifelt. Deshalb bist du so abgestürzt, nicht wahr?" Ihre helle Stimme schneidet sich in meinen Körper mit messerscharfen Klingen. „Wenn du glaubst, dass ich mich von dir beeinflussen lasse, dann sind dir die Acetondämpfe deines Nagellackentferners zu sehr in den Kopf gestiegen." Ich versuche weiterhin ungerührt zu klingen, weil ich ihr auf keinen Fall zeigen will, dass mich ihr perfides Verhalten wirklich verletzt. Ich schließe den Wasserhahn und greife nach einem der weichen Frottierhandtücher, die wunderbar aussehen, aber im Grunde keinen Tropfen Wasser einsaugen. Mit noch immer feuchten Fingern wende ich mich zum Gehen. Maya steht ungerührt im Türrahmen und versperrt mir den Weg. Ihre überhebliche Art macht mich so wütend. „Ist er deshalb nicht hier?", fragt sie grinsend. Mit der Faust schlage ich kurz über ihrem Kopf gegen den Türrahmen. Das erschrockene Zucken ist eine geringe Genugtuung. Ihre blauen Augen weiten sich. Ich kann dabei zusehen, wie sich ihr Atem beschleunigt, wie die feine Ader an ihrem Hals deutlicher hervortritt. Sie verspürt Angst und weicht vor mir zurück. An der Treppe zum Obergeschoss hole ich sie ein. „Bist du noch ganz bei Trost, Maya? Ist das alles nur ein Spiel für dich?" Ich halte sie zurück, aber so fest, dass sie mit ihren schuhlosen Füßen zwei Stufen nach unten rutscht. Ihre Finger krallen sich in das Treppengeländer. Es hat bestimmt wehgetan, aber das ist mir in diesem Moment völlig egal. „Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, was deine beschränkten Aktionen anrichten?" Ich bin mir sicher, dass sie nie weiter als bis zu dem Moment gedacht hat, in dem sie mir schadet. Oder Raphael. Sie versteht nicht, was alles daran hängt. Unser Familienfrieden. Unsere Beziehungen zueinander. Unser gegenseitiges Vertrauen. „Verdammt, Maya, was versprichst du dir hiervon? Ich bin nicht der alleinige Grund für eure Trennung. Es hat schon vorher nicht gestimmt...und das weißt du.", zische ich leise. „Doch, du bist schuld. Du hast ihn ...infiziert... mit dieser widerlichen Verirrung. Und dann sahen wir dich mit diesem Kerl und Raphael flehte mich fast an, es nicht zu verraten. Dabei hatte ich es so gern ausgeplaudert und dich als perfekten Sohn diskreditiert. Ich dachte er wurde zur Besinnung kommen. Immerhin hatte er sich für mich entschieden... Pff. So lächerlich." Während sie spricht, steigt sie die zwei Stufen wieder hoch, so dass sie von oben auf mich herabblicken kann. Ihre Wortesorgen bei mir für Fassungslosigkeit, die sich in mir ausbreitet, wie eine tosende Welle, die mit voller Kraft gegen meine Selbstbeherrschung kracht. „Maya. Mark, kommt ihr dann bitte essen." Nur kurz steckt unsere Mutter ihren Kopf durch die Tür zum Flur. Ihre langen blonden Haare fallen dabei über ihre Schultern. Maya schaut zu ihr, lächelt und schiebt sich an mir vorbei. „Weißt du, das Einzige, womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass Raphael so viel Mut hat. Er hat es seinen Eltern gesagt... Einfach so", flüstert sie. Sie hat seine Eltern nur dazu geladen, damit eine weitere unangenehme Situation entsteht. Anscheinend hat sie gehofft, damit Raphaels Entscheidungskraft zu brechen, aber das hat nicht funktioniert. „Hat er dir je etwas bedeutet?", frage ich, packe sie am Arm und halte sie zurück. Das erste Mal erkenne ich ein verunsichertes Flackern in ihrer überheblichen Mimik. Ein Zögern. Sie löst ihren Arm aus meinem Griff, während ihre Augen auffällig nach unten gehen. Sie weicht mir aus. „Mark, Maya..." Die Stimme meines Vaters. Maya folgt der Aufforderung sofort. Ich nicht. „Mark, komm..." Ich höre es nur noch dumpf und lausche eine Weile meinem brausenden Herzschlag bevor ich ihnen ins Esszimmer folge. Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich schweige, während Maya ihre lächerlichen Schulmädchenanekdoten über ihre total überraschende Geburtstagsfeier bei ihrer Freundin zum Besten gibt. Mega. Großartig. Hammer. Fabulös. Ob sie das wirklich schreiben kann? Deluxe. Aha. Phat. Was? Ich bin ehrlich erstaunt über die Vielfältigkeit ihrer sinnlosen Gut- Beschreibungen. Wahrscheinlich steht sie oft vor dem Spiegel und wirft sich diese grandiosen Wortartouvertüren selbst zu. Ich kann nicht verhindern, dass ab und an eine meiner Augenbrauen nach oben zuckt. Mein Vater nickt hin und wieder, ist wahrscheinlich froh darüber, dass seine Frau die inhaltliche Fragerei übernimmt. Ich kann nicht einmal einschätzen, wie viel von ihrem Gesagten wirklich der Wahrheit entspricht. Tanzen und spaßige Gespräche unter Frauen? Aha. Gutes Essen und witzige Showeinlagen? Interessant, seit wann isst Maya? Als sie dann aber beginnt über den nachhaltigen und verantwortungsbewussten Alkoholkonsum auf ihrer Party zu sprechen, reicht es mir. „Reichst du mir, bitte das Brot?", quatsche ich dazwischen und muss mich noch immer extrem zusammenreißen. Meine Schwester bedenkt mich mit einem undefinierbaren Blick, greift, ohne ihre Augen von mir zu entfernen zum Brotkorb. Sie zuckt zurück, kurz bevor sie mir die Teigwaren wirklich aushändigt. Ich möchte sie erwürgen. So etwas Kindisches. Ich schmiere etwas Butter auf das frische Sauerteigbrot. Ein Biss. Normalerweise könnte ich ein halbes Brot allein vertilgen. Die saftige und zu gleich fluffige Konsistenz des Teiges verströmt einen atemberaubenden Geruch, denn nur ein Frischgebackenes hat. Doch heute kaue ich elendig lange darauf rum. Alles in meinem Mund wird überdeckt von diesem faden Geschmack der Fassungslosigkeit. Mir ist der Appetit schon vor Beginn des Abendbrots abhandengekommen, doch nun schlägt mir jeder Happen mehr und mehr auf den Magen. „Das Brot ist vorzüglich, Mama", schmeichelt Maya großmütig und ich unterdrücke meinen Würgereiz. „Es fühlt sich so wunderbar luftig und leicht an", schwärmt sie weiter und ich bete drum, dass sie alsbald in ihrer glitschigen Schleimspur ersäuft. „Du musst es ja wissen, Schwester. In deinem Kopf sieht es ja nicht anders aus", kommentiere ich mit übertrieben fröhlicher Stimme ihre platten Schleimereien. Mayas blaue Augen blicken mir sofort verwirrt entgegen. Meine Schwester war noch nie die Schnellste. Die Augen meiner Mutter bedenken mich mit einem Hauch Warnung. Mein Vater ist erstaunlich ungerührt. „Ich finde, wir sollten Mama für ihre tollen Kochkünste öfter loben. Das machen wir viel zu wenig. Mama, du kochst mega." Sie lächelt der Angesprochenen entgegen. So ein Miststück. „Gut, Mama, ich finde auch, dass du in ausreichenden Mengen kochst", kommentiere ich diese wahnwitzige Tollbeschreibung meiner Schwester mit der eigentlichen Wortbedeutung und bringe meine Mutter zum Kichern. Maya blickt uns verwirrt entgegen. Wieder dauert es einen Moment bis sie es versteht, wenn überhaupt. „Das sagt man, heute so. Vielleicht solltest du öfter mal vor die Tür gehen." Maya greift sich ein neues Stück Brot. „Damit ich auch sagen kann das Mamas Essen phat ist? Nein, danke und ich glaube, dass sie das auch nicht als Kompliment ansieht." „Phat bedeutet toll!" „Vielleicht solltest du dir angewöhnen zu hinterfragen. Phat ist ursprünglich die Abkürzung für 'pretty hot and tempting' und bezeichnet attraktive Frauen. Was so oder so nicht auf Essen und auch nicht auf dich zu trifft." Dass das Wort tatsächlich auch im Zusammenhang mit Speisen verwendet werden kann, sage ich ihr nicht, weil sie es sowieso nicht gewusst hat. Maya schweigt „Was soll man da noch sagen? Dumm wie Stulle und frisst trotzdem Brot", komplettiere ich meine Ansicht von Mayas geistigen Zustand und kaue auf einem weiteren Bissen besagter Teigware rum. „Mark!" Beide Erzeuger gleichzeitig. Synchronisation in Reinform. Wahrscheinlich haben meine Eltern unsere Namen absichtlich so kurzgehalten, weil man sie dadurch so perfekt mahnend auswerfen kann. Sie können es nach 20 Jahren auch meisterlich. „Was?", frage ich, spüre die immer stärker brodelnde Wut. Meine Fassungslosigkeit hatte mich vorhin gelähmt und nun spüre ich den Zorn und die Angriffslust umso mehr. „Reiß dich, bitte etwas zusammen", mahnt meine Mutter weiter. Ungerührt steckt sich Maya den letzten Happen ihres Brotes in den Mund. „Schon gut, Mama. Mark steckt momentan in einer Krise, nicht wahr, Bruderherz? Mich verwundert auch, wie du auf die Idee kommst, Attraktivität bei einer Frau erkennen zu können?" „Mich wundert, dass du das Wort aussprechen kannst", gifte ich zurück und störe mich nicht daran, wie plump es war. „Du weißt doch gar nicht, was Schönheit und Attraktivität bei einer Frau ist." Ich erinnere mich daran, dass wir so ein ähnliches Gespräch bereits bei dem Essen mit Raphaels Eltern hatten. Es langweilt mich. „Du doch auch nicht. Warum sonst kleisterst du dir jeden Tag dein Gesicht mit diesem Kram zu. Mehr Schein und Künstlichkeit geht ja gar nicht." Mein Zeigefinger umkreist aus der Entfernung ihr überzogen puppenhaftes Gesicht. Sie trägt sogar falsche Wimpern. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich meine Schwester mal ohne Make-up gesehen habe. Leider muss ich mir auch eingestehen, dass sie es im Grunde nicht nötig hat. Sie kommt nach unserer Mutter und ist wirklich hübsch. Ich weiß, dass auch sie nicht sehr glücklich mit Mayas übertriebener zur Schau gestellter Weiblichkeit ist. „Du könntest wirklich weniger geschminkt sein, mein Schatz. Das ist auch nicht gut für deine Haut", sagt meine Mutter lächelnd und ruhig. Ihre Hand streicht durch Mayas blondes Haar. „Ich mag es aber so und ich höre garantiert viel mehr Komplimente als du." Den letzten Teil widmet sie eindeutig wieder mir. Damit könnte sie Recht haben, aber ich möchte nicht wissen, mit welcher Intention sie diese Höflichkeiten bekommt. „Jeder pubertierende Möchtegern zwingt sich ein Kompliment heraus, wenn er vor Mädchen, wie dir steht. Du siehst aus als wärst du dadurch noch leichter zu haben." „Nun, ist aber gut", mischt sich mein Vater ein. „Du bist ätzend, Mark." Tadamm. Darauf habe ich nur gewartet. „Du bist falsch und hinterhältig." „Du hast meinen Freund verführt und ich bin hinterhältig?", brüllt sie mir aufgebracht entgegen. Ich zucke unwillkürlich zusammen. Diese Worte aus ihrem Mund zu hören, erschreckt mich. Ich starre sie perplex an, vernehme nur, wie meine Eltern beide ihr Besteck an den Teller lehnen. „Ach Mama, weißt du schon das Neuste? Mark vögelt meinen Freund", schmettert meine Schwester gnadenlos in den Raum. „Maya,...", entfährt es meinem Vater, denn auch er hätte ein ruhiges Gespräch dieser Katastrophe vorgezogen. Mamas schlanke Hand berührt ihren Hals, so als würde sie dadurch verhindern können, dass sich ihr weiter die Luft abschnürt. „Mama,...", setze ich an, doch sie stoppt mich, in dem sie ihre Hand hebt. „Mark und Raphael haben mich betrogen...", kommt es derweil schluchzend von Maya. „Sie haben..." Unsere Mutter steht abrupt auf, bringt Maya damit zum Schweigen und streicht ihren Rock glatt. Nur minimal sieht sie auf und blickt zu mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)