Fehlende Erinnerung von Yosephia (Wenn das Leben falsch ist) ================================================================================ Kapitel 8: Urvertrauen ---------------------- Erschöpft seufzend ließ Makarov sich auf seinem Lieblingsplatz nieder. Nach einer äußerst strapaziösen Sitzung beim Rat war er sofort hergekommen. Das und die vorangegangenen Tage hatten ihn völlig ausgelaugt, sowohl körperlich als auch mental. „Also Meister, was habt Ihr herausgefunden?“, fragte Erza ernst. Genau wie beinahe alle anderen Gildenmitglieder stand sie abwartend vor ihm. Sie alle konnten sich jetzt wieder an Lucy erinnern. Mirajane hatte geweint, als sie es Makarov über dem Kommunikationslacrima erzählt hatte. Selbst Laxus, der den Drahtzieher hinter all dem zum Rat befördert hatte, hatte aufgewühlt gewirkt. Obwohl in seinem Fall wohl eher die Wut ob dieses unverhohlenen Angriffs auf die Gilde vorgeherrscht hatte. So verhielt es sich in der gesamten Gilde, soweit Makarov das bisher überblicken konnte: Entweder waren die Mitglieder wütend oder schuldbewusst. Makarov konnte Beides nur zu gut nachvollziehen. „Lucys Entführer nennt sich selbst Lorik“, begann Makarov grimmig. „Er gehörte mal zu einer Gilde, die sich die Erforschung der Magie zum Ziel gesetzt hat. Vor zwanzig Jahren wurde die Gilde aufgrund gesetzeswidriger Experimente verboten. Damals verschwanden einige der damals bekannten Mitglieder von der Bildfläche. So auch Lorik.“ „Ein verrückter Wissenschaftler also“, fasste Gray es düster zusammen. „Genau so wirkte er auch auf mich“, meldete sich Laxus zu Wort, die Miene angewidert verzogen. „Und was genau wollte er dabei ausgerechnet von Lucy?“, fragte Mirajane. „Er hat sich eingebildet, er könnte mit Hilfe von Stellargeistern einen Weg zu unerschöpflicher Magie finden“, erklärte Makarov weiter. „Er hat wohl vor Lucy bereits an anderen Stellargeistmagiern herumexperimentiert. Dank seiner Fähigkeit, die Erinnerungen an eine Person zu löschen, konnte er seine Machenschaften bisher immer vertuschen.“ „Wenn Lucy ihm nicht entkommen und zu Säbelzahn gelangt wäre, wäre ihm das womöglich auch dieses Mal gelungen“, murmelte Erza bitter. „Wie geht es Lucy jetzt?“, wechselte Makarov das Thema, der nicht wollte, dass seine Schützlinge schon wieder in Schuldgefühlen untergingen. So gut er sie alle auch verstehen konnte, diese Schuldgefühle machten auch nichts ungeschehen. Wie aufs Stichwort ging in diesem Moment die Tür auf und Polyushka betrat die Halle. Ihre Miene war so undurchschaubar wie eh und je, doch auf Makarov wirkte sie ernster und verschlossener als sonst schon. Als die Heilerin die Blicke um sich herum bemerkte, hielt sie inne. „Sie lebt“, beantwortete sie schlicht die Frage, die allen in Gesicht geschrieben stand. „Mehr schlecht als recht, aber sie lebt. Es grenzt an ein Wunder, dass sie den Blutverlust, die Gifte, den Nahrungs-, Wasser- und Schlafmangel und die Infektionen so lange überlebt hat, aber sie hat durchgehalten. Doch ich weiß immer noch nicht, ob sie es schaffen wird. Ihr Körper hat mehr durchgemacht, als ich heilen könnte. Vieles wird nur die Zeit heilen können.“ Makarov musste sich zusammenreißen, um Haltung zu bewahren. Um sich herum hörte er vielfach Zähneknirschen, aber auch schweres Atmen. Der Gedanke, was Lucy alles durchgemacht hatte, setzte allen hier zu. Nach allem, was Makarov von Mirajane erfahren hatte, hatte Lucys Anblick viele Gildenmitglieder vollkommen aus der Bahn geworfen. „Es wird Zeit, dass ich sie auch besuche“, entschied Makarov und richtete sich wieder auf. „Danke für deine Hilfe, Polyushka.“ „Als ob ich da hätte Nein sagen können“, brummte die Heilerin und verließ die Halle mit der knappen Ankündigung, sie werde morgen wieder nach der Patientin schauen. Nachdem er den Anderen bedeutet hatte, in der Halle zu bleiben, ging Makarov ins Behandlungszimmer. Lucy lag im Krankenbett, aber allzu viel konnte der Gildenmeister nicht von ihr erkennen, weil Natsu vor ihrem Bett saß. Der Drachentöter wirkte schrecklich erschöpft, aber er wandte nie den Blick von seiner Kameradin ab. Seltsamerweise wirkte er jetzt weder schuldbewusst, noch wütend, noch verzweifelt. Stattdessen schien er voller Zuversicht zu sein. Wieder einmal schien er mehr zu wissen als alle anderen Gildenmitglieder. Makarov fragte sich, ob der Zauber von Lorik immer noch latent wirkte und vor ihnen ein besonderes Detail in Bezug auf Natsus und Lucys Freundschaft verbarg. „Sie hält durch, Meister“, erklärte Wendy, die sich von ihrem eigenen Schlaflager erhob. Makarov brachte sie mit einem kurzen Wink dazu, sitzen zu bleiben. Die Drachentöterin war noch immer schwer erschöpft. Die lebensrettenden Sofortmaßnahmen hatten ihr viel abverlangt. Beinahe zu viel. Dass Lucy dennoch in einer so kritischen Verfassung war, sagte viel über ihren Zustand bei ihrer Befreiung aus. „Die Infektionen haben wir im Griff und die Gifte konnten wir absaugen“, fuhr Wendy pflichtschuldig fort. „Aber… es könnte… bereits zu viel für ihren Körper gewesen sein…“ „Unsinn“, widersprach Natsu und drehte endlich den Kopf in Makarovs und Wendys Richtung. „Lucy wird wieder gesund. Sie hat so lange durchgehalten, weil sie wusste, dass wir sie befreien. Sie wird jetzt nicht sterben. Sie weiß, dass wir auf sie warten.“ Das klang mehr nach Wunschdenken als nach Vernunft, aber etwas an der Art, wie Natsu es sagte, verlieh auch Makarov Zuversicht. Ja, seine Kinder waren allesamt zäh. Sie ließen sich nicht so einfach unterkriegen. Auch Lucy nicht. Es tat gut, sich an diesem Glauben festzuhalten… Tage und Nächte verstrichen, ohne dass Lucy erwachte. Die Infektionen verheilten und ihr Körper wurde dank der Nährlösungen, die man ihr einflößte, wieder kräftiger, aber jedweder Versuch, sie aufzuwecken, scheiterte kläglich. Nach zwei Wochen kam Polyushka zu dem Schluss, dass das Trauma der Monate langen Folter zu viel für Lucys Psyche gewesen sein musste – und der Geist ließ sich nicht so einfach heilen, wie sie bitter anmerkte. Sie müssten sich mit der Möglichkeit auseinander setzen, dass Lucy vielleicht nie wieder aufwachen würde. Keiner wollte das wahrhaben, aber die meisten zweifelten Polyushkas medizinisches Urteil nicht an. Immerhin hatte die Heilerin jahrzehntelange Erfahrungen. Solch eine Prognose fällte sie unter Garantie nicht leichtfertig. Der Einzige, der weiterhin unermüdlich an Lucys Seite ausharrte, war Natsu. Selbst nach drei Wochen saß er jeden Tag neben ihrer Schlafstatt. Er schlief neben ihrem Bett, er aß neben ihrem Bett. Nie sprach er zu ihr, wie die Anderen es anfangs immer wieder versucht hatten. Nie ergriff er ihre Hand. Er saß einfach nur neben dem Bett und beobachtete Lucy mit Argusaugen. Manch einer in der Gilde glaubte mittlerweile daran, dass Natsu vielleicht einer Art Wahnsinn verfallen war. Nicht einmal darum scherte Natsu sich. Er erklärte weiterhin seine Überzeugung, dass Lucy wieder aufwachen würde. Doch die Zuversicht, welche diese Worte anfangs in den Anderen geweckt hatten, war schon längst der zunehmenden Verzweiflung gewichen. Die Besuche an Lucys Krankenlager wurden seltener. Viele waren einfach nicht in der Lage, sich weiterhin mit diesem Anblick zu konfrontieren. Nur wenige hielten dem stand und besuchten die Kameradin tagtäglich. Wortlos betrachtete Natsu wie immer Lucys Gesichtszüge. Der Sonnenuntergang zauberte ein mysteriöses Lichtspiel auf diese Züge. Jede Kontur wirkte verschwommen und schien mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Als würde Lucys Gesicht sich in Luft auflösen. Benommen blinzelte Natsu und schüttelte den Kopf, um dieses Trugbild aus seinem Kopf zu kriegen. Er war erschöpft, aber er wollte nicht schlafen. Nicht jetzt. Heute hatten wieder nur Gray, Erza, Wendy, Happy und Charly einen Besuch hier abgestattet. Es war Tage her, seit auch jemand anderes hier gewesen war. Die meisten hatten sich irgendwann angewöhnt, an Lucys Bett nur noch zu wispern, als würde sie im Sterben liegen. Nur das alte Team, mit dem Natsu und Lucy so viele Aufträge ausgeführt hatten, ließ sich nicht beirren – und Natsu wusste, dass Lucy das spürte. Dabei war das alles für ihn genauso verwirrend wie für alle anderen. Er hatte keine Ahnung, woher er diese Gewissheit nahm. Sie war einfach da. Und sie bewahrte ihn davor, dem Wahnsinn anheim zu fallen. Ohne diese Gewissheit würden ihn die Schuldgefühle regelrecht zerfressen… Als Natsu aus dem Schlaf schreckte, war es stockfinster. Er hatte gar nicht bemerkt, wann er eingeschlafen war. Schnell richtete er sich auf seinem Stuhl wieder gerade auf und betrachtete erneut Lucys Gesicht, welches in der herrschenden Dunkelheit nur noch zu erahnen war. Und dennoch fiel Natsu sofort auf, dass etwas anders war. Es war ihm unmöglich, diese Andersartigkeit zu artikulieren, dennoch war er sich ihrer gewiss. Und genauso sicher wusste er, was er jetzt zu tun hatte. Ganz vorsichtig stand er auf und schob den Stuhl fort, ehe er sich auf Lucys Bettkante setzte. Behutsam – als bestünde sie aus Glas – zog er Lucys Körper in seine Arme. Er bettete ihren Kopf an seiner Brust, stützte ihren Körper auf seinem Schoß ab und schlang einen Arm um ihren Rücken, damit sie in dieser halb sitzenden Position verharrte. Dann drückte er behutsam sein Gesicht in ihre Haare und atmete ihren Geruch ein. Ob nur Minuten oder doch Stunden verstrichen, wusste er nicht, doch er konnte spüren, wie sich der Rhythmus von Lucys Körper veränderte. Ihr Herzschlag wurde mehrmals schneller und wieder langsamer und ihre Augen zuckten unter den Lidern. Die Glieder zuckten immer wieder, die Hände ballten sich zu Fäusten und die Lippen bewegten sich lautlos, formten Namen. Schließlich drückte Natsu sie noch ein wenig enger an sich und lehnte seine Stirn vorsichtig gegen Lucys Stirn. Aufmerksam betrachtete er ihr Gesicht. Der Zeitpunkt war gekommen. Das wusste er jetzt mit völliger Gewissheit. „Lucy“, wisperte er kaum hörbar. „Wach’ auf.“ Und ohne ein weiteres Zögern schlug sie die Augen auf und blickte in die seinen mit einem solchen Urvertrauen, als wäre sie schon tausendmal in seinen Armen aufgewacht… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)