Therapiestunden von KankuroPuppet (( Psychological Affairs )) ================================================================================ Kapitel 16: Seelensplitter (1/2) -------------------------------- Sechzehnter Teil Wie eine Prothese für einen irreparablen Geist... Law erinnerte sich daran, dass Killer in der S-Bahn Kid die Falafeltasche gegeben hatte. Ebenso dachte er an die Dinge, die Killer in ihrem kurzen Gespräch erwähnt hatte. Eigentlich erzähle ihm Kid alles, eigentlich wusste Killer über alles Bescheid; eine Beziehung gab er auf, wenn es seinem geistig gestörten Kumpel nicht gefiel. Er verdiente das Geld, hielt den exzentrischen Rotschopf über Wasser… So betrachtet wurde der seltsame Kerl zu dem Teil in Kids Leben, der den Anforderungen der Gesellschaft entsprechen und eine Existenz ermöglichen konnte. Ein zweiter Teil. Es verwunderte ihn nicht länger, dass Kid die kurze Episode über seine Familie mit Killer abschloss; dass Killer die letzte und wichtigste Person war, die er in seiner Vita erwähnen wollte. Damals im Park hatte Law gefragt, ob Kid von seinen Eltern misshandelt worden war und ihn hatte die Gewissheit erfüllt, dass Kids Verneinung eine Lüge sein müsse. Doch er hatte Unrecht gehabt. Es war eine durchschnittliche Familie, die sich nicht sonderlich von seiner eigenen unterschied. Nichtsdestotrotz war es wohl gerade diese Normalität, die Kid trotz aller Liebe zu einem Fremdkörper machte, von dem niemand wusste, wie mit ihm umzugehen sei. Die Begegnung mit Killer wurde damit zum Lichtblick am Ende eines langen, verwirrenden Tunnels und im Wunderland war es auf einmal nicht mehr einsam. Ein zweiter Teil, der den Wahnsinn erträglich machte… Gedankenversunken legte Law den Kopf schief und blickte auf den kleinen Brandfleck im alten Holzboden. Wenn Kid also seinen Freund als einen Teil seiner selbst ansah, mussten einige Dinge neu erörtert werden. Ein solcher Perspektivwechsel machte eine Gewalttat zu einem Akt der Selbstzerstörung, erkannte Law, während er zurückdachte an die Narben, die Killers Gesicht übersäten. So wenig er Kids aggressiven Freund leiden konnte, die Erkenntnis machte ihn zu einer tragischen Figur in diesem abstrusen Spiel. Kids Intention musste ebenfalls neu interpretiert werden. Wieso sollte er jemanden angreifen, den er als eine Erweiterung seiner selbst bezeichnete? Als jemanden, der ihm half, seinen eigenen Wahnsinn unter Kontrolle zu halten? „Ich denke, ich verstehe was du meinst“, murmelte Law schließlich und empfing ein dankbares Lächeln. Gleichzeitig überlegte er, was sein Onkel von all diesen Informationen halten würde und ärgerte sich darüber, dass er die Krankenakte nicht gelesen hatte. Immer stärker rüttelten die Sturmböen gegen das alte Fenster des dunklen Raumes und schenkten der Stille zwischen den beiden jungen Männern eine unheilvolle Melodie. Kurze Zeit später winkelte Kid ein Bein an und setzte sich mit Schwung auf, um abermals nach dem Wein zu greifen, der bis dahin ungeachtet neben der Matratze verweilt hatte. Nachdenklich kreiste er mit der Daumenspitze über die runde Öffnung am Flaschenhals, bis er schließlich traurig seufzte. „Mein Vater denkt, ich bin nen Risiko für meine Schwester und wahrscheinlich hat er Recht… Scheiße man… Ich hab sie fünf Jahren nicht gesehen.“ Erneute Stille. Nachdem er Kid eine Zeit lang gemustert hatte, entschloss sich Law eine Hand auf dessen Schulter zu legen. Zwar war er noch nie ein empathischer Mensch gewesen und bisweilen fiel es ihm schwer, sich vollends in andere Menschen hineinzuversetzen, doch spürte selbst er, dass Kid in diesem Moment die Nähe eines Menschen brauchte. Hatte er ihm deshalb geschrieben? Kurze Zeit später fuhr sich Law unsicher durchs Gesicht. „Das tut mir Leid“, sagte er und wunderte sich über das Kichern, das er Kid damit entlockte. Als sich dieser wieder beruhigt hatte, drehte er sein Gesicht und funkelte Law nahezu herausfordernd an. Neugierde glitzerte in seinen grünen Augen, während der Mediziner spürte, wie sich seine Atmung beschleunigte. „Ist das alles, was du wissen willst?“, fragte er und stützte seine rechte Schläfe auf die Flasche in seinen Händen. Law hob verwundert die Augenbrauen, setzte anschließend seinen Hut ab und wuselte nachdenklich durch seine pechschwarzen Haare, während er konzentriert die Kratzer im alten Fußboden verfolgte. Der angehende Mediziner wusste nur zu gut, was er fragen wollte; welche Antworten er von anfangt an gesucht hatte. Dennoch spürte er, dass eine seltsame Atmosphäre im Raum lag und es noch nicht an der Zeit war, sein Glück und Kids Geduld auf die Probe zu stellen. „Du hast mir das Buch vor die Haustür gelegt, weil du mir damit etwas sagen wolltest. Stimmt’s?“, fragte er schließlich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Kaum hatte er das Spiel eröffnet, funkelte kindliche Aufregung in Kids Augen, als er die Flasche wieder neben sich stellte und sich zu Law drehte. Das letzte Mal war beim Austausch im Park jeder erdenkliche Punkt an Kid gegangen, während Law blind im Dunklen gestochert hatte. Doch mit den neuen Informationen könnte er die zweite Runde eventuell für sich entscheiden. Gleichzeitig wurde er neugierig auf die Dinge, die Kid vermuten würde; die Dinge, die Kid an ihm interessierten „Stimmt.“ Law bekam seine Antwort mit fester Stimme, bevor Kid ohne zu zögern den nächsten Satz formulierte: „Du hast dich gefreut, als du meine Nachricht bekommen hast.“ Der Student stutzte über die Wahl des Themas, genoss allerdings, dass es sich um ihre Beziehung zueinander handelte. „Stimmt“, entgegnete er mit einem Lächeln, das Kid allerdings nicht erwiderte. Stattdessen betrachtete er Laws blaugrauen Augen ohne jeden Ausdruck im Gesicht, als würde er eine Matheaufgabe lösen. Irritiert legte Law die Stirn in Falten. Es war nicht untypisch für schizophrene Patienten mit unpassenden Emotionen zu reagieren oder auch vollkommen emotionslos, allerdings war er sich bei Kid immer noch nicht sicher, wann es sich um ein Symptom und wann um schiere Berechnung handelte. Wieder einmal fühlte er die Faszination, die ihn geradezu magisch an den irren Rotschopf fesselte. Als sich auch kurze Zeit später keinerlei Veränderung in Kids Gesichtsausdruck abzeichnete, entschloss sich Law in die nächste Runde zu gehen. Nachdenklich drehte er eine schwarze Haarsträhne um seine Fingerkuppe, während seine Augen im Schutz der Dunkelheit die Rechnungen an den Zimmerwänden betrachteten. „Du hast das Buch ausgesucht, weil du denkst, dass du zu Unrecht für die Sache mit Killers Gesicht verantwortlich gemacht wirst.“ Zufrieden biss er sich auf die Unterlippe. Ganz geschickt hatte er es geschafft, die Unterhaltung auf das langersehnte Thema zu lenken, ohne dabei zu offensiv vorzugehen. „Hmmm…“, murmelte Kid in einem erschöpften Lächeln, wandte seinen Blick von Law ab, musterte die grüne Flasche am Boden, zog seine Beine so weit wie möglich an den eigenen Körper und umklammerte seine nackten Fußspitzen mit den Händen. Nachdem er Kafkas Buch aufmerksam gelesen hatte, konnte Law zu keiner anderen Schlussfolgerung kommen. Nach allem was er über Kid erfahren hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass dieser tatsächlich seinem besten Freund, den er als Teil seiner selbst ansah, absichtlich das Gesicht in Brand gesetzt hatte. Zu gerne würde Law zum Verteidiger in dieser kleinen Horrorshow werden und sich, seinem Onkel und der Welt beweisen, dass Kid in keinster Weise eine Bedrohung für sich selbst oder für andere darstellte. Als dem angehenden Mediziner bewusst wurde, welche Gedanken ihn gerade beschäftigten, zuckte er verwundert zusammen. Ein erschrockener Blick legte sich auf Kids schlanken Körper, der nun lethargisch vor und zurück wippte. Law schluckte schwer. Er wollte nicht, dass Kid schuldig war. Er wollte nicht, dass Kid das psychotische Wrack war, zu dem ihm die Aussagen seines Onkels in Laws Augen hatten werden lassen. Er verfolgte Kids Blick, bis auch er die halbvolle Weinflasche musterte und seufzte. Vielleicht wollte er auch nur vor sich selbst rechtfertigen, weshalb er abermals in dieser Wohnung saß und sich über Werkstätten und abgebrochene Zähne unterhielt, anstatt an seiner Karriere zu arbeiten. „Stimmt nicht.“ Der Student schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er die resignierende Antwort neben sich vernahm. Irritiert riss er seine Augen auf, hielt den Atem an und starrte gebannt auf Kid. Die feuerroten Haare des Mannes, die sonst wild und durcheinander vom Kopf abstanden, schienen nun müde auf die blasse Haut seines Gesichts zu fallen, wobei sie tiefschwarze Schatten über die grünen Augen warfen. Kids bis dahin leere Mimik verwandelte sich indes in ein breites Grinsen, während er seinen Kopf langsam über die Schulter drehte und Law voller Vorfreude angrinste. Der Anblick jagte unmittelbar einen Schauer über Laws Rücken. „Das Feuer war meine Schuld“, erklärte er und als Law bereits der Kiefer nach unten klappte, fügte er noch ein zufriedenes: „War Absicht“, hinzu. Anschließend griff er nach der Weinflasche, schwenkte sie in seinen Händen und beobachtete amüsiert Laws vor Entsetzen verzerrtes Gesicht. „Du lügst“, stieß der Student mit einem Mal hervor und versuchte seine Stimme dabei möglichst ruhig zu halten. Seine Gedanken drehten sich, während er versuchte einzuschätzen, ob er sich gerade in Gefahr befand. Jetzt hing alles davon ab einen ruhigen Kopf zu bewahren, sagte er sich und fuhr sich durch seine dunklen Haarsträhnen. Trotz der klirrenden Kälte im Raum hatte sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn gebildet. Langsam atmete er ein, bis seine Lungen vollständig mit frischer Luft gefüllt waren, dann blies er durch die Nase aus und versuchte seinen Herzschlag zu kontrollieren. Das Geständnis löste in Law etwas aus, mit dem er nicht gerechnet hätte, doch war er sich nicht sicher, ob es blanke Panik oder reine Enttäuschung war. „Wieso solltest du dein…“, begann er, wurde aber von einem schleifenden Geräusch unterbrochen. Als er seinen Blick drehte, identifizierte er den Laut als das Schnappen eines Feuerzeugs, das Kid mit der Weinflasche ausgetauscht hatte. Nun drehte sein Daumen den Zünder, sodass in unregelmäßigen Abständen ein kleines Licht den Raum erhellte. „Würd‘ ich lügen, könnten wir das verdammte Spiel in die Tonne treten, Idiot“, entgegnete der Rotschopf zufrieden und verfolgte hingebungsvoll das Flammenspiel in seinen Händen. Law betrachtete es hingegen zunehmend alarmiert, versuchte jedoch seinen angeborenen Fluchtinstinkt zu unterdrücken. „Den Scheiß hier machst du doch mit Absicht“, schlussfolgerte er und deutete wenig amüsiert auf das Feuerzeug. Kid kicherte vergnügt. „Ich bin dran“, feixte er. Immer noch legte sich das Lichterspiel über den Raum, zuckte spastisch über die Wände und erschuf bedrohliche Schatten auf dem Gesicht seines Schöpfers. Law hielt den Atem ab, während er angespannt verharrte. Er hatte keine Ahnung, worauf ihn der Rotschopf absprechen würde und gab es auf, nach weiteren Antworten zu suchen. Seine Idee über den jungen Mann hatte in den letzten Minuten eine Kehrtwende gemacht, alle seine Hoffnungen waren in einer winzigen Flamme verglüht. Zurück blieben Irritation und ein ungutes Gefühl im Magen. Kid ließ sich unterdes alle Zeit der Welt, spielte mit dem Feuerschein in seinen Händen und verfolgte fasziniert die Funken, welche sich um seine Hand versprühten. Kurze Zeit später hielt sein Daumen den kleinen Plastikknopf gedrückt, erhielt die Flamme am Leben, bis sie das Metall unter sich stark genug erhitzt hatte, um die Haut daneben zu verbrennen. Kids Hand zuckte; ließ das Feuerzeug mit einem leisen Klirren auf den Holzfußboden fallen. Währenddessen steckte sich der Rotschopf seinen verbrannten Daumen in den Mund und starrte gedankenverloren an die gegenüberliegende Wand. Für Law verstrich eine gefühlte Ewigkeit der Stille, bis Kid schließlich seinen Mund leerte, die Spucke auf seinem Finger an der Hose abstrich und mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen zum jungen Mann neben sich sah. „Du denkst, du könntest mir helfen“, murmelte er; flüsterte beinahe. Law setzte sich überrascht auf. Kurz dachte er zurück an den Moment, als er Kids Nachricht erhielt und die Hektik, mit der er versucht hatte, in die Südstadt zu gelangen. Vorsichtig strich er mit dem Mittel- und Zeigefinger über die Innenfläche seiner rechten Hand und ließ sie über der Verletzung ruhen, die der Holzsplitter auf der Treppe verursacht hatte. Was willst du wissen? Kids Frage rauschte in seinen Ohren, während er spürte, wie ein Gemisch aus Ärger und Scham heißes Blut in seinen Kopf pumpte. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er war Mediziner, träumte von weißen Kitteln und der Macht im Operationssaal über Leben und Tod zu entscheiden mit fremden Blutflecken auf lindgrünen Handschuhen. Er hatte seinen Onkel oft belächelt, als dieser von seiner Arbeit sprach, hatte eine Karriere innerhalb der Psychotherapie niemals in Erwägung gezogen. Nun saß er hier, auf einer alten Matratze in einer kalten Wohnung und realisierte, wie ohnmächtig er war ohne sein Skalpell; wie frustrierend und zermürbend die Arbeit war, der sich sein Onkel jeden Tag widmete. Nein. Er konnte Kid nicht helfen. Nein. Er hatte absolut keine Ahnung, was er tat; hatte es nicht einmal vollbracht Kid die richtige Frage zu stellen. Anstatt Kid zu helfen, hatte er sich seiner eigenen, narzisstischen Neugierde hingegeben. Nein. Er hatte schon zu viele Fehler begangen seit dem Tag, an dem er Kid das erste Mal begegnet war. Nun war es Zeit dafür geradezustehen. Hoffentlich war es noch nicht zu spät… „Stimmt nicht“, presste Law zwischen angespannten Lippen hervor, vermied es allerdings Kid ins Gesicht zu schauen. Er brauchte einen Moment des Schweigens und der Isolation, um endlich das Richtige zu tun. Immer noch brannte die Neugierde in ihm und er schämte sich dafür; besonders da er wusste, wie sehr Kid diese Thematik verabscheute. Law wollte immer noch wissen, wie es zu Killers Narben kam. Ebenso wollte er eine Antwort zu den tiefen Spuren auf Kids Stirn. Dies waren die Dinge, die ihn wirklich interessierten, doch hatte er im Laufe des Gesprächs gemerkt, dass ihm etwas viel Wesentlicheres entgangen war. Was willst du wissen?, hatte ihn Kid gefragte. Seine Antwort war schierer Egoismus gewesen und obwohl Kid sich dessen mit Sicherheit bewusst war, hatte er Law nicht darauf aufmerksam gemacht. Er sollte selbst drauf kommen: Es ging schon lange nicht mehr darum Neugierde zu stillen. Kurz wanderten seine graublauen Augen zu den Schneeflocken, die erbarmungslos gegen die Fensterscheibe geschleudert wurden, ohnmächtig ihrem fatalen Schicksal zu entrinnen. Law drehte sich zu Kid. Der Student verstand zunehmend, was die richtige Reaktion auf Kids Frage gewesen wäre und es ärgerte ihn, dass er es nicht direkt begriffen hatte. Er hätte diesen Raum betreten, Kid ansehen und ohne zu zögern diese eine Frage stellen müssen – wäre er nur kein narzisstischer Idiot. Egal ob Trick oder Ernst, er hätte diese Frage von Anfang an stellen müssen. „Wie denkst du, könnte ich dir helfen?“, formulierte er schließlich. Es war so naheliegend und doch schien Laws Sucht nach Diagnosen und medizinisch verwertbaren Antworten zu groß, um diese einfache, zwischenmenschliche Brücke zu überschreiten. Kids Augen weiteten sich vor Überraschung, während sein Blick erstarrte und er verunsichert auf sein Gegenüber sah. Langsam hob er seinen Kopf; biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Plötzlich wandte er sich ab und fuhr sich mehrmals durch die eigenen Haare, als könnte er nicht glauben, was gerade passierte; als wäre er unfähig, auf diese Frage zu reagieren. Kids Oberkörper begann mit einem Mal verräterisch zu zittern, während er seinen Mund immer wieder öffnete, als würde er etwas sagen wollen, doch versagten die Worte ihren Dienst. „Warum hast du mir geschrieben?“, bohrte Law weiter nach, rückte näher zu Kid und wollte gerade einen Arm um dessen bebenden Körper legen, als er zurückgeschupst wurde. „Nicht anfassen“, forderte Kid mit atemloser Stimme, als hätte er gerade einen Marathon bewältigt. Law wich überrascht zurück, kam der Bitte aber augenblicklich nach. Um Abstand zwischen sich und Kids Körper zu bringen, stand der angehende Mediziner auf, torkelte unbeholfen zur gegenüberliegenden Wand und widmete seinen Blick den aufgezeichneten Zahlen. Er wusste nicht, ob er Kid anschauen sollte, also beschloss er, mit der Spitze seines Zeigefingers konzentriert die gekritzelten Formen auf der abblätternden Tapete nachzuzeichnen. Es kränkte ihn ein wenig, dass es Kid so sehr überraschte, dass es sich auf einmal für mehr als dessen Vergangenheit interessierte, doch andererseits hatte er keine andere Reaktion verdient. „Das klingt vielleicht, als ergäbe es keinen Sinn, aber es ist so…“, begann Law und fuhr die Linien eines Omegas entlang. „Ich denke nicht, dass ich dir helfen kann. Mein Onkel vielleicht… Oder andere Menschen… Ich hab da echt keine Ahnung von. Tut mir Leid…“ Entschlossen drückte er daraufhin seine Handfläche auf den festen Untergrund der Wand und drehte sich zu Kid. „Aber wenn du denkst, dass ich dir trotzdem oder zumindest irgendwie helfen kann, dann musst du mir sagen wie“, seine Stimme wurde ungewollt leiser für die letzten Worte: „…und ich tu’s.“ Zu Beginn bedeckten die roten Haare sein Gesicht, doch als Kid schließlich seinen Blick hob, konnte Law das wenige Licht der Nacht in dessen Augen glitzern sehen. Seine Muskeln hatten sich inzwischen wieder entspannt, doch seine Mimik war weiterhin von Verständnislosigkeit gezeichnet. Nachdem sich die beiden jungen Männer für eine Weile schweigend angesehen hatten, folgte Kid Laws Beispiel und stand auf. Erschöpft schlich er zur Wand und bedachte seine mathematischen Werke mit einem prüfenden Blick, der mit einem Kichern endete. „Bevor dein Onkel…“, begann er, zog jedoch nachdenklich die Augenbrauen zusammen und verstummte einen Moment, bis er neu ansetzte. „Nach der Sache mit Killer, als ich in die Irrenanstalt gesteckt wurde, fragte mich der Doc dort irgendwann, was ich mal machen will, also Job und so…“ Er sprach konzentriert, sah allerdings nicht zu Law. „Ich sagte, ich würde in die Wissenschaft gehen, künstliche Intelligenz, Roboter bauen, die Welt verändern…“ Während er lauschte, huschte ein Lächeln über Laws Lippen. Mit Blick auf die Rechnungen an den Wänden würde er nur zu gerne wissen, wozu Kids Verstand tatsächlich im Stande war. „Was war die Antwort?“, fragte er interessiert. Kid schnaubte belustigt. „Sie hat genickt. Ne Woche später hab ich nen Chemiebaukasten bekommen.“ Kaum schloss er seinen Satz, suchten Kids grüne Augen die seines Gegenübers, warteten neugierig auf eine Reaktion, bis Law schließlich zu Lachen begann und Kid einstimmte. „Hoffentlich hast du dich bedankt“, meinte Law mit einem ironischen Grinsen, während er sich mit dem Rücken an die Wand lehnte und amüsiert zu Kid sah. „Ich war so angepisst, dass ich das Scheißteil genommen und im Gruppenraum nen Feuer gelegt hab.“ Die Augen des Mediziners weiteten sich vor Überraschung, dann musste er erneut lachen – was hatte er anderes erwartet? Auch Kid schmunzelte. „Macht sich zwar nicht gut in der Akte, aber dafür habe ich dann deinen Onkel bekommen.“ Es überraschte Law wenig, dass sich Therapeut und Patient aufgrund von Kids penetrant antisozialem Verhalten kennengelernt hatten, schließlich hörte er nur allzu oft seinen Onkel von seiner Leidenschaft zu den hoffnungslosen Fällen reden. Kids Verstand war die perfekte Spielwiese für einen intelligenten Tüftler, wie sie es alle in seiner Familie waren. „Was hat mein Onkel anders gemacht?“, fragte Law interessiert, lehnte sich mit seiner linken Schulter gegen die Wand und legte den Kopf schief. Nachdem der Student begriffen hatte, wie unentschuldbar viele falsche Entscheidungen er in Bezug auf Kid getroffen hatte, war er gespannt auf eine alternative Herangehensweise. Kid verzog nachdenklich den Mund, lief an Law vorbei zum Fenster und betrachtete einige Zeit das gewaltige Schneetreiben, bis er sich abwandte und zum Regal schlenderte, das den Raum in zwei Hälften teilte. „Stell dir vor, du stehst eines Morgens auf, alles ist wie immer, nicht perfekt aber in Ordnung…“, begann er, als würde er eine Geschichte erzählen. Law drehte sich zu ihm und verfolgte mit ausdrucksloser Miene, wie Kids Finger über die wenigen Buchrücken des Regals glitten. Wie damals im Arbeitszimmer… Er lauschte, als Kid fortfuhr. „Und auf einmal schaut dich jeder an, als wärst du ein völlig andrer Mensch… Nen Alien oder so und sie alle erklärn dir, du bist krank. Dein Kopf funktioniert nicht richtig…“ Kid erzählte voller Konzentration und Law begann zu begreifen, dass er nun erfahren würde, was es mit dem Buch auf sich hatte. „Du bestehst drauf, dass alles ok ist, du bist ok…“, vorsichtig hob er seinen Blick, um den Studenten mit seinen grünen Augen zu fixieren. Seine Stimme war düster, als würde allein der Gedanke an den folgenden Satz jede kindliche Freude aus ihm saugen und nichts als leblose Kälte zurücklassen: „Du hast in dem Moment verloren, in dem es Teil deiner verfickten Krankheit ist, dass du verdammt noch mal nicht weißt, dass du krank bis…“ Kids Gesicht war gezeichnet von Schmerz und Verzweiflung, als er unbeirrt auf Law starrte und dessen Reaktion verfolgte. Ein Prozess, den man nicht gewinnen kann, schlussfolgerte Law in Gedanken, zog die Mundwinkel nach unten und nickte, um Kid zu zeigen, dass er begriff. Schizophrene Patienten waren sich zumeist nicht bewusst, dass etwas mit ihnen nicht stimmte: „Jedes Argument und jeder Satz wird als Symptom angesehen.“ Es ratterte laut, als eine starke Windböe die brüchige Fensterrahmung erzittern ließ. Kid hielt Laws Blick nur wenige Sekunden stand, dann schnappte er sich ein altes, zerfleddertes Buch aus dem Regal und blätterte durch einige Seiten. „Ein Arzt sagt etwas und schon biste verdammt zu einer lebenslangen Teeparty mit deinen besten Kollegen Schizophrenie und psychotischer Episode und da es immer sechs Uhr ist, hast du keine Chance, die beschissene Teegesellschaft jemals zu verlassen, bis du irgendwann selbst nicht mehr weißt, was real und was dein persönlicher Wahnsinn ist.“, seufzte er und ließ das Buch fallen. Kurz nachdem es auf dem Boden landete, erkannte Law das weiße Kaninchen und das kleine Mädchen auf dem Umschlag. Als er den Blick anschließend wieder hob, musste er überrascht schmunzeln... ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)