Therapiestunden von KankuroPuppet (( Psychological Affairs )) ================================================================================ Kapitel 10: Fallen ------------------ Zehnter Teil Das Treppenhaus des Gebäudes war alt und ranzig und fügte sich damit geradezu idyllisch in das allgemeine Bild dieses Stadtviertels. Die Stufen waren dreckig und abgelaufen, Lack blätterte an allen Ecken und Enden ab; das Holzgeländer war so alt, dass man die Berührung lieber mied, wollte man sich keinen Splitter einfangen. In einer langgezogenen Spirale zog sich die Treppe nach oben. Auf jeder Etage befanden sich drei Eingangstüren, dekoriert mit neuen und alten Müllbeuteln, deren Inhalt sich teilweise über den Boden verteilte. Eine Katze schlängelte sich ihren Weg nach unten, als sie zwei junge Männer traf und warnend anfauchte. Kid schenkte ihr keine Beachtung, schob sie mit seinem Stiefel zur Seite und zog Law mit sich nach oben. Die Beine des Studenten waren steif, der Rest seines Körpers angespannt und seine Schritte auffallend langsam. „Hast du ein Problem?“ Auf der dritten Etage blieb Kid stehen, als er offensichtlich keine Lust mehr hatte, seine Begleitung weitere Stufen hinter sich herzuzerren. Law sah ihn unsicher an. Nachdenklich fasst er sich an den eigenen Hals, an dem noch immer Reste von getrocknetem Blut klebten. „Ich denke nicht, dass dein Freund mich in seiner Wohnung haben will“, erklärte er, als er erkannte, dass diese Bedrohung zu real war, als dass er sie weiter ignorieren könnte. Kid hob verwundert seine Augenbrauen. Kurz spitze er die Lippen, dachte nach und fuhr sich übers Gesicht, wobei der das Band von seiner Stirn zog, das bis dahin tapfer die wilden Haare gebändigt hatte, nur um am Ende ungeliebt auf dem Boden zu landen. Rebellische, rote Strähnen fielen nun in alle Himmelsrichtungen und gaben ihrem Träger trotz seines Alters das Aussehen eines kleinen, frechen Rotzbengels, der sich am Morgen der Bürste der Mutter verweigert hatte. Gleichzeitig wurde die Narbe auf Kids Stirn umso präsenter. „Hast du Angst?“, fragte der Rotschopf schließlich und schien dabei nicht provokant, sondern aufrichtig interessiert. Angst war zwar kein Wort, das Law gerne mit sich selbst in Verbindung brachte, doch traf es durchaus das Gefühl, das sich gerade in seiner Magengrube ausbreitete und sich in einer straffen Gänsehaut auf seinem Körper manifestierte. „Ich schätze, ich will ebenso wenig sterben wie du – und ganz sicher nicht, weil ich in solch einem Drecksloch abgestochen werde.“ Das Geständnis zauberte ein zufriedenes Grinsen auf Kids Backen, das Law jedoch nicht einzuordnen vermochte. Seine grünen Augen, die selbst im Zwielicht des Treppenhauses zu leuchten schienen, wanderten durch den Raum, suchten dann die eigenen Fußspitzen und vereinten sich schließlich mit Laws. Es schien, als würde er lange nachdenken und seine Antwort mehrfach überdenken wollen. Umso mehr überraschte Law das Ergebnis, als Kid schließlich den Mund öffnete: „Wann hast du das letzte Mal etwas wirklich Dummes getan?“ Der Gefragte schob irritiert die Augenbrauen zusammen. ‚Heute?‘, hallte es durch seine Gedanken, doch fiel ihm im selben Augenblick eine bessere Antwort ein, die der freche Anblick seines Gegenübers geradezu provozierte. Mit zwei Schritten hatte Law die Distanz zwischen ihnen überwunden, funkelte Kid herausfordernd an, legte eine Hand in seinen Nacken, zog ihn zu sich und drückte ihm einen verspielten Kuss auf die Lippen. Sein Gegenpart erwiderte diesen ohne zu zögern. Um sie herum roch es nach Müll und Schimmel unter billiger Tapete; der Boden war dunkel und klebte und dennoch erinnerten ihn Kids noch kühlen Lippen an die frische Herbstluft, durch die sie bis eben gelaufen waren; Lippen, die Spaß, Herausforderung und Abwechslung versprachen: Alles das, was Law in diesem Moment brauchte. Ihr Kuss endete, als die Lichter im Treppenhaus mit einem erschreckend lauten Knall ausgingen. Kid reagierte sofort, tastete sich an der Wand entlang, bis er schließlich einen Lichtschalter fand und die Dunkelheit mit leichtem Druck vertrieb. Ein schelmisches Grinsen zierte sein Gesicht, während er sich auf den nächsten Treppenabsatz stellte. „Ich bin mir sicher…“, begann er, legte seine Hände auf beide Seiten des Treppengeländers und stemmte sich nach oben, sodass er die Beine frei über den Stufen baumeln lassen konnte, „…dass viele Menschen ihr Leben um einiges mehr genießen würden, wenn sie nur ab und an bereit wären, eine Dummheit zu riskieren.“ Mit diesen Worten ließ er sich wieder auf den Boden fallen, drehte sich ohne weitere Erklärung um und schritt die Stufen nach oben. Law blieb mit seinen Gedanken zurück. Kid hatte gerade die nächste Etage erreicht, da wurde er bereits von Law eingeholt. „Wieso sollte jemand freiwillig etwas Dummes tun?“, warf er dem Rotschopf neugierig entgegen. Kid grinste breit genug, um seine Zähne zu zeigen mitsamt der kleinen Lücke, die sich aus dem abgebrochenen Eckzahn ergab. Zufrieden drehte er sich zu Law, streckte seinen Arm aus und umklammerte den Knauf einer angelehnten Tür. „Weil es Spaß macht“, antwortete er überzeugt, lehnte sich leicht nach hinten und schritt in die Wohnung. Law sah ihn schweigend an. Für eine Sekunde dachte er an Peng und Shachi und an die Gespräche, die sie nachts, leicht angetrunken in verschiedensten Bars geführt hatten. Er sprach selten, während sich die beiden anderen Jungs versuchten, mit ihren jeweiligen Taten zu brüsten, wobei jedoch immer derjenige zu gewinnen schien, dessen Geschichte die Gruppe am lautesten lachen ließ; dessen Dummheit die glorreichste war. ‚Weil es Spaß macht‘, dachte Law, grinste ergebend und folgte Kid durch die Tür. Das Erste, was der angehende Mediziner erblickte, als er die Wohnung betrat, war das Gesicht des Mannes, der ihm noch vor wenigen Stunden ein Messer gegen den Hals gedrückt hatte. Killers wilden, blonden Haare waren nun zu einem Zopf gebunden, der Schal war verschwunden und eine alte Trainingshose, ein schwarzes, enges T-Shirt und bloße Füße verrieten, dass Kid und Law ihn wohl tatsächlich gerade wachgeklingelt haben mussten. Verschlafen fuhr er sich über das entstellte Gesicht. „Scheiße“, seufzte seine raue Stimme, während er Law missbilligend musterte, „den hatte ich schon wieder vergessen.“ Der Student hielt dem Blick stand, auch wenn er nicht behaupten konnte, dass seine Erinnerung an den Messerfetischisten ebenfalls verblasst war. Kid grinste, als er seinem Freund zur Begrüßung einen Arm um die Schulter legte. „Er sah so traurig aus“, erklärte er, woraufhin Killer frustriert lachte: „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht jeden dreckigen Köter von der Straße einsammeln und mitbringen kannst?“ Die Frage entlockte dem Rotschopf ein lautes Lachen, wobei er Law schelmisch musterte. Kurz darauf schob er schmollend eine Unterlippe nach vorn: „Aber dieses Mal werde ich mich wirklich um ihn kümmern, Papi“, erklärte er und stieg in die Scharade ein. Der Mediziner verdrehte genervt die Augen, verschränkte aber gleichzeitig schützend die Arme vor dem Oberkörper. Nachdem sie die seltsame Situation weitere Sekunden genossen, griff Killer schließlich in die Tasche seiner Trainingshose, hielt seinem Mitbewohner eine gedrehte Zigarette vor die Nase und kommentierte die Geste mit einem emotionslosen: „Hier.“ Routiniert nahm Kid den eingewickelten Tabak entgegen und hielt ihn, zwischen Zeigefinger und Daumen gepresst, an seinen Mund, griff in die Bauchtasche seiner Sweaterjacke und holten ein Feuerzeug heraus. Neugierig beobachtete Law, wie sich der Rotschopf von seinem Mitbewohner wegdrehte, bevor er die Zigarette mit einer kleinen Flamme entzündete und einatmete, bis erster Qualm aus einer Nase entwich. Kid wendete sich erst wieder zu ihnen, als er den entzündeten Suchtstängel seinem Freund zurückgab. Killer nahm ihn kommentarlos entgegen. Wieder war der junge Student verwundert, denn bis eben war er sich sicher gewesen, dass es Killer war, der Befehle entgegennahm. Nun konnte er sich dessen nicht mehr sicher sein und diese Feststellung veränderte alles. „Wie auch immer… Schick dein Hündchen wieder zu seinem Herrchen, bevor ich ihm in den Arsch trete“, erklärte Kids Freund schließlich, als er sich einen ersten Zug genehmigt hatte. Auffordernd sah er zu dem jungen Mann neben sich, während er das glühende Ende der Zigarette weit von seinem Körper entfernt hielt. Law schluckte schwer, spürte, wie sich seine Fingerspitzen aggressiv in seine Handballen bohrten und seine Arme vor Anspannung zu zittern begannen. Er hatte sich an diesem Abend eindeutig genug Beleidigungen von diesem nichtsnutzigen Abschaum anhören müssen. „Komm doch her und versuch’s. Aber heul nicht rum, wenn dich das Hündchen am Ende beißt“, konterte er. Killer stutzte, schaute ihn für einen Moment überrascht an und trat daraufhin einem Schritt auf ihn zu. Seine nackten Füße knirschten auf dem alten Parkett. Als sich die beiden Männer im Rahmen der Eingangstür gegenüber standen, musste Law bereits seinen Kopf in den Nacken legen, um dem blonden Muskelberg ins Gesicht zu schauen. Er tat es jedoch ohne auch nur ein einziges Mal zu zwinkern. Entschlossen blickte er in blaue Augen inmitten vernarbter Haut. Killer antwortete, indem er sich - Law abschätzig ignorierend - an Kid wandte: „Deine kleine Bazille ist lebensmüde. Entweder schmeißt du ihn raus oder ich werde mich darum kümmern.“ Seine verbrannten Lippen umspielte ein vorfreudiges Grinsen. Law konterte im selben Augenblick: „Als ob ich mir von einem Trottel wie dir sagen lasse, wo ich zu schlafen habe…“ Auch wenn der Mediziner nicht verstand, woher mit einem Mal sein Leichtsinn und sein Spaß an der Provokation kamen: Er genoss jedes einzelne Wort, das er in Killers Gesicht spuckte. Er wollte sich mit diesem Kerl anlegen, der gerade alles zu verkörpern schien, was Law in dieser Welt hasste. „Ist mir scheiß egal, was Kid von dir will. Ich lass einen verkackten Dreckshaufen wie dich sicherlich nicht meine Wohnung verseuchen“, erklärte Killer mit rauer Stimme, wobei das Grinsen auf seinen Lippen immer breiter wurde. Heraufordernd beugte er sich weiter nach vorn und stützte sich mit einer Hand gegen den Türbalken, sodass Law nur zu deutlich das Zucken in den Fingern seines Gegenübers erkennen konnte. Der Mediziner zwar inzwischen jedoch zu entschlossen, als dass er sich davon würde einschüchtern lassen. „Ach ja? Ist es das oder hast du vielmehr davor Angst, dass ich dein Schätzchen heute ficken könnte?“ Der Atem auf seinem Gesicht stockte für einen Augenblick und entlockte Law damit ein triumphierendes Lachen. Killer war zu schlau, als dass er übersehen würde, was zwischen Law und Kid gelaufen war. Gleichzeitig konnte er aber nichts darüber wissen, was Law wirklich dachte und wollte – und das er ganz sicher nicht vorhatte, irgendeinem Kerl zu nahe zu kommen… Zumindest näher, als die Küsse in der Bar. Warum also diesen kleinen Informationsspielraum nicht gegen Killer nutzen? Die Hand des blonden Koloss schnellte nach vorn, um Laws Kragen zu packen und diesen näher zu sich zu ziehen. „Mein Schätzchen ficken? So?“, wiederholte er in rhetorisch provokanten Fragen und festigte seinen Griff. Law riss in diesem Augenblick einen Ellenbogen zurück, ballte seine Hand zu einer festen Faust und ließ sie gegen Killers Gesicht schnellen. Dieser war allerdings flinker und stoppte ihn mit seiner noch freien Hand, wobei der Zigarettenstummel zwischen den Fingern die Haut des Angreifers verbrannte. Eine Sekunde später spürten alle beide eine warme Berührung, die sie sachte auseinanderschob. „Leute…“, seufzte Kid genervt aus, als er sich zwischen sie schob. „Ich bin echt zu müde für diesen Mist…“, fuhr er fort und schmatzte verschlafen, um seine Worte gestisch zu untermalen, „Außerdem wissen wir ja wohl alle, dass ich ganz sicher von niemanden hier gefickt werde. Ich werde nicht gefickt, ich ficke… verstanden?“ Mit etwas mehr Kraft presste er mit einer Hand gegen jeweils eine Schulter der Kontrahenten und stellte sich mit verschränkten Armen zwischen sie. Die schamlos unangemessene Bemerkung brachte nicht nur Law zum Grinsen, sondern ließ auch Killer ungläubig den Kopf schütteln. Kurz darauf sah der Rotschopf bestimmt zu seinem Mitbewohner: „Law bleibt heute hier. Komm damit klar.“ Der Medizinstudent verfolgte nun gespannt die Reaktion. Killer atmete tief ein, ließ danach alle Luft aus seinen Lungen entschwinden und fuhr sich kopfschüttelnd durch die blonden Haare. Kurz darauf begann er amüsiert zu kichern, während er nachdenklich und mit leichter Enttäuschung im Blick Kid anstarrte: „Scheint ja ganz so, als wären deiner kleinen Freundin auf dem Rückweg ein Paar Eier gewachsen“, feixte er ihm entgegen. Ein letztes Mal traf sein Blick Laws kalte, blaue Augen, dann schnipste er die Reste des Zigarettenstummels nach einem letzten Zug auf den Flur, drehte sich um und verschwand in der Wohnung. Kid sah seinem Mitbewohner zunächst hinterher, dann drehte er sich unvermittelt zurück und nutzte den Schwung der Bewegung, um Law mit der Faust gegen die Schulter zu schlagen. „Ahh!“, entwich es erschrocken der Kehle des Studenten, während er beleidigt aufsah und verfolgte, wie Kid mit verzerrtem Mund seine Hand ausschüttelte – weniger wegen des kurzen Angriffs, sondern vielmehr, weil der den Arm mit dem lädierten Ellenbogen genutzt hatte. „Wie beschränkt kann man sein?“, zischte der Rotschopf mit gedämpfter Stimme und begutachtete sein Gegenüber dabei skeptisch: „Ich hatte dir doch gesagt, du sollst ihn nicht provozieren!“ Laws Lippen zierte unterdes ein abenteuerlustiges Lächeln. „Ja. Hatte ich gehört“, entgegnete er beherzt, drückte sich an Kid vorbei und betrat die Wohnung. Geräumig konnte man es trotz der offensichtlich billigen Lage der Behausung nicht nennen. Insgesamt waren es vielleicht an die 50 bis 60m², die sich in einen zentralen Raum untergliederten, von dem die Türen zur Küche und zum Badezimmer abgingen, welche offen standen. Eine dritte war nur angelehnt, doch da nirgends eine blonde Mähne auszumachen war, musste sich dort Killers Zimmer befinden. „Du hast mir besser gefallen, als du noch alles getan hast, was ich dir gesagt habe“, erklärte eine erheiterte Stimme hinter ihm, deren Besitzer die Wohnungstür mit einem leisen Klicken schloss, schnurstracks in die Küche ging und den Wasserhahn aufdrehte, um etwas zu trinken. Law ignorierte den letzten Satz und nutzte die Gelegenheit, um sich weiter umzusehen. Zu seiner Rechten stand ein Regal ohne Rückwand, in welchem einige Bücher lehnten und als eine Art Raumteiler auf dem Weg zur Küche fungierten. Darüber hinaus gab es ein altes Ledersofa vor einem Fenster mit ehemals weißen Streben. Ein Röhrenfernseher stand auf dem Boden. Neben diesem ruhten leere Papppackungen, die den penetranten Geruch nach alter Pizza erklärten. Ansonsten verteilten sich zahlreiche Notizblätter um einen Kaktus, welcher alleine in einer Ecke stand, umringt von einzelnen Werkzeugteilen, die hier und da das verkratzte Parkett bedeckten. Auf der anderen Seite des Regals lag eine breite Matratze auf dem Boden, mit einer zerknüllten Decke und drei oder vier unterschiedlichen Kissen. Neben ihr stand eine Kiste mit Wäsche, die ihre Kapazitäten jedoch vor längerer Zeit bereits überschritten hatte. Law drehte sich ein letztes Mal um sich selbst, während er seine Tasche ablegte, die er überraschenderweise nicht in der Bar verloren hatte. Erschöpft stellte er sie auf den Boden und schluckte. Alles in allem spiegelte diese Wohnung ziemlich genau das wider, was er erwartet hatte. Allein die Wände vermochten ihn zu faszinieren, waren sie fast vollständig mit Zahlen, Formeln und Rechnungen übersät, die mit einem schwarzen Edding überall verteilt worden waren, sodass der Raum den Anschein eines dreidimensionalen Mathebuchs machte. Anders als die Tafel im Sprechzimmer seines Onkels ließen sich diese Aufzeichnungen allerdings nicht mit nur einem Wisch beseitigen. Der Mediziner in ihm begann abzuwägen: Entweder war der Rotschopf vollkommen wahnsinnig oder ein Genie. Er lächelte noch unter diesem Gedanken, als sich Kid mit einem Mal neben ihn stellte. In der Hand hielt er eine Packung Cornflakes, dessen Inhalt er selig knabberte. „Ich mag Zahlen“, erklärte er ruhig, ohne den Blick von seinem kleinen Kunstwerk zu nehmen. „Sie beruhigen mich, weißt du.“ Mit fragendem Ausdruck hielt er die Schachtel in seinen Händen zu Law, doch dieser lehnte sie mit höflichem Kopfschütteln ab. „Jede Aufgabe, die ich heute rechne, hat Morgen das gleiche Ergebnis. Hat man einmal die Logik verstanden, dann ist es einfach, ergibt Sinn und Zusammenhang. Ein Mediziner denkt vielleicht, die Welt bestünde aus Zellen und Blut und anderem ekligen Kram… Aber in Wirklichkeit… sind alles Zahlen.“ Der Rotschopf lachte zufrieden, blickte von den Rechnungen weg und auf den jungen Mann neben sich. Dieser schüttelte den Kopf: „Klingt wie mein alter Physiklehrer.“ Er schmunzelte und verfolgte, wie Kid zu der Matratze auf dem Boden schlenderte. „Wie schlau von ihm. Guck!“ Ohne weiteren Kommentar ließ sich Kid rückwärts fallen und verteilte dabei einige Flakes auf seinem Schlafplatz. „Alles Mathematik.“ „Die Krümel?“ „Die Schwerkraft.“ „Idiot.“ Gähnend überquerte nun auch Law den letzten Meter und legte sich neben Kid auf das Bett, wo er sogleich müde die Augen schloss; müde genug, dass es ihm beinahe egal wurde, dass sich Killer irgendwo in dieser Wohnung befand und auch, dass die Laken um ihn herum nach Zigarettenqualm rochen. „Es wundert mich irgendwie, dass gerade du die Tatsache genießt, dass Zahlen immer gleich sind“, nuschelte er leise vor sich hin. Seine Augenlider waren zu schwer, um sie zu öffnen und auch seine Lippen ließen nur noch halbherzige Bewegungen zu. In seinem Kopf tanzten die Bilder des Tages: Kekse, Mauern, Bierflaschen. Fahrräder, Laub, Drachen; Straßenbahnen, Messer und Bars; Ein Einkaufswagen; Kid. Eine Stimme kämpfte sich aus der Ferne an Laws Ohr. „Jeder braucht das“, erklärte sie in aller Weisheit. Der Student drehte seinen Kopf und schaffte es mit letzter Kraft zumindest sein linkes Auge zu öffnen, um neben sich zu schauen. „Kontinuität?“, schlussfolgerte er, doch bekam als Antwort nur ein halbherziges Grinsen zu sehen. Müde öffnete Kid den Mund und gähnte, während er sich eines der Kissen schnappte und sein Gesicht darin vergrub. „Eine Erinnerung“, nuschelte er in die weichen Laken hinein. Laws Blick wanderte abermals über die unzähligen Zahlen, die in einer absurden Mischung aus Beruhigung und Wahnsinn die Wände zierten. Soweit es Kids Körpergröße zuließ, schien jeder Zentimeter genutzt worden zu sein. „Woran?“, fragte er interessiert mit einem Flüstern, als würden die beiden ein wichtiges Geheimnis austauschen wollen. Allerdings zogen sich Kids Mundwinkel lediglich weiter nach oben, dann drehte er sich auf die Seite, betrachtete für einen kurzen Moment seinen Bettnachbarn und fuhr diesem schlussendlich mit vorsichtigen Fingern sanft durch die Haare. Inzwischen kannte Law den Jungen mit der leuchtenden Frisur gut genug, um zu wissen, dass er keine Antwort bekommen würde. Behutsam streichelte Kids Hand über Laws Kopf und hinterließ mit jeder Berührung ein leichtes Kribbeln, das den Studenten dazu veranlasste entspannt auszuatmen. Um sie herum wurde es vollkommen still, der alte Parkettboden hörte auf zu knarren, der Wind blies nicht mehr gegen die Fenster, die Flakes auf der Matratze zerbrachen nicht und sogar das Licht schien dunkler zu werden, als wolle es diese friedliche Szene einer eigentlich verbotenen Verbindung nicht unterbrechen. Law ergab sich den Zärtlichkeiten der fremden Fingerspitzen, spürte ganz bewusst Kids Atemhauch auf seinen Wangen und stellte sich vor, mit welchem Ausdruck ihn dieser gerade ansah. Und kaum hatte er begonnen loszulassen - sich und die eigene Vernunft, nur um endlich den Boden des Kaninchenbaus zu erreichen und aus dem verführerischen Fläschchen zu trinken – da traf es sein Bewusstsein wie ein Schlag und er konnte nicht anders, als zu lachen. Von der unpassenden Reaktion verunsichert, zog Kid seine Hand zurück und hob fragend beide Augenbrauen. „‘Nen Problem?“, fragte er baff. Laws Kichern wollte nicht verebben. „Sag mir“, begann der Student, „Wird mich dein Mitbewohner heute Nacht abstechen?“ Der Gefragte legte verwundert den Kopf zurück, schüttelte diesen und fuhr sich zweifelnd durch die widerspenstige Frisur. „Und ich soll hier der Patient sein“, murmelte er schließlich, schaute kurz um sich und griff nach einem Buch, das neben ihrer Matratze lag. Während Law sich langsam beruhigte, setzte Kid sich auf und zog einen Arm nach hinten. „Nur, wenn du es verdient hast“, beantwortete er daraufhin die Frage, holte aus und warf das Buch gegen einen Lichtschalter an der angrenzenden Wand. Schlagartig wurde es dunkel im Zimmer, gefolgt von einem Hall, als das Wurfobjekt auf den Boden knallte. Im Nebenraum raschelte es kurz. Für Law waren die wenigen Gegenstände im Raum nun zu einer wunderlichen Mischung aus unterschiedlichsten Silhouetten geworden. Er war zu erschöpft, um die Antwort ernst zu nehmen und zu ausgelaugt, um auch nur ein weiteres Wort mit seinen müden Lippen zu formen. Selbst sein Körper schien die Herstellung von weiterem Adrenalin eingestellt zu haben, welches ihn hätte wachhalten können. So schloss er die Augen und ergab sich schließlich der Finsternis und der Gnade all der Dummheiten, die er heute ohne Rücksicht auf Verluste begangen hatte. Und während er langsam in die Hilflosigkeit entschlummerte, erreichte ihn dabei immer wieder das erfüllende Bewusstsein, dass er heute zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit wieder lebendig gewesen war. Lustvoll lebendig. Er hatte das Leben - sein eigenes und einziges Leben, die Freude, Spannung, Frustration und Herausforderung spüren dürfen. Er lebte… Als er aufwachte, war es immer noch dunkel. Orientierungslos blinzelte Law mehrere Male, zog die Stirn in Falten und rümpfte die Nase. Gerade als er verschlafen einatmete, ließ ihn eine unerwartete Berührung zusammenfahren. Warm und sanft streifte etwas seinen Nacken und kitzelte ihn mit einem sinnlichen Hauch. Erschrocken spannte er daraufhin seinen Oberkörper an, als eine fremde Hand sich langsam gegen seine Brust drückte und mit neugierigen Fingerspitzen ertastete, was sich unter seinem T-Shirt verbarg. Sein Herz klopfte alsbald mit aller Kraft und pumpte Blut in jede Faser seines Körpers, als sein Gehirn verstand, was gerade passierte – er schmunzelte. Auffällig langsam legte Law seinen Kopf in den Nacken und überspannte seinen Hals, um die fordernden Liebkosungen noch intensiver wahrzunehmen. War es falsch? Seine Gedanken waren zu vernebelt, als dass er diese schwere Frage hätte beantworten können. Wollte er eine Antwort hören? Zu verführerisch war es, alle Rationalitäten für diesen einen Tag beiseite zu legen. Eine erneute Berührung ließ ihn leise seufzen. Er lächelte - normalerweise war er es selbst, der sie verteilte, diese eindeutigen, fordernden Küsse… ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)