Magi - The Labyrinth of MMORPG von Seven_Seas_Alliance ================================================================================ Zuflucht -------- Der Salted Caramel Latte war leer. Die Buchstaben auf dem Papier in seiner Hand starrten zurück, ohne einen größeren Sinn zu ergeben. Mit einem ausgibigen Gähnen warf er den Ordner mit den Listen zurück auf den Tisch, wo er hinter seinem Laptop liegen blieb. Träge setzte er die Sonnenbrille ab und rieb sich über die Augen. Die letzten drei Wochen der Ferien und Rufus Acosta würden wohl keine Freunde mehr werden. Es war beinahe so etwas wie der jährliche Besuch zu Thanksgiving bei seiner Mutter und ihrem Robert – eine alte, wenig geliebte Tradition, der man nur deshalb nach kam, weil die Konsequenzen noch ätzender sein würden, wenn man es nicht tat. Sein Blick glitt zu den Büchern, die er neben seinem Laptop gestapelt hatte, zu der Uhr auf dem Desktop und blieb schließlich an der Plastiktüte hängen, die in seiner Umhängetasche steckte. Vermutlich konnte er den Tag ohnehin vergessen. Es hatte schon mit den fehlenden Zeitungen angefangen, die eigentlich hätten in seinem Briefkasten stecken sollen, damit und mit Wiggles' Dackelhinterlassenschaften, in die er nach dem Jogging getreten war. Der kalte Kaffee zum Frühstück, der Stau auf dem Weg zum Einkaufscenter, der dumme, rote Mitsubishi Mirage, der ihm den Parkplatz bei den Fahrstühlen vor der Nase weggeschnappt hatte – alles nur weitere Anzeichen für einen gelungenen Fehlstart in den Tag. Dass die Bibliothek wegen eines Wasserschadens geschlossen hatte, das W–Lan heute besonders stockte und er schon fünf Minuten an einem Youtubevideo der letzten, lokalen Republikaner–Kundgebung lud, darüber regte er sich schon gar nicht mehr auf. Kurzentschlossen griff Rufus nach der Tüte. Eigentlich hatte er ihren Inhalt als Belohnung für eine gute, gelungene Woche Vorbereitungen angedacht. Vielleicht war es stattdessen Zeit für eine Runde gute, alte Frustbewältigung. Das Plastik knisterte, während er seine Hand in die Tüte steckte und die Box herauszog. Einen langen Moment bewunderte er die CD–Hülle, das Cover, den Schriftzug, sogar das Gefühl einer weiteren, überflüssigen Plastikverpackung, die eigentlich niemand brauchte, unter seinen Fingern. Dann riss er die Verpackung auf, warf sie ohne einen weiteren Blick zu dem Ordner mit den Listen und beförderte den Silberling dahin, wo er hingehörte. Mit einem leisen Klicken rastete das Laufwerk ein und begann zu surren. Ein paar Klicks auf dem Touchpad später erschien der Installationsbildschirm, der seine Laune aus dem Keller hoch auf die Treppe in den ersten Stock katapultierte. Dann bebte der Tisch. Jemand schrie. Eine Tasse – die möglicherweise den neuen Salted Caramel Latte beinhaltete – fiel wie in Zeitlupe. Rufus riss den Laptop zu sich. Porzellan klirrte und zerbrach. Salted Caramel Latte verteilte sich auf dem Tisch, bevor er oder die Kellnerin, die er nicht hatte kommen hören, reagierten konnte und flutete seine Unterlagen. Alle. Fasziniert beobachtete er, wie sich die Liste mit den Schülernamen, die Martha ihm erst am Morgen gemailt hatte, voll Milchkaffee sog. Die Brühe schluckte sie alle. Milchig braune Flecken liefen über Zapata, Pratt und Little. Um Jafar Bowden zogen sie für einen Augenblick besonders hübsche, schaumige Ränder, so, als wollten sie ihm etwas sagen. Langsam, ganz langsam blickte er auf. Tatsächlich stand die Kellnerin neben ihm, die ihn seit dem Morgen bediente. Er mochte das Mädchen, mit seinen langen, flammend roten Haaren, die sich in den Spitzen lockten, und den hellen, braunen Augen. Sie konnte hübsch sein, doch momentan waren da nur die Salted Caramel Latte–Sommersprossen. Überall. Sie stützte sich noch immer auf den Tisch, einen Hand mitsamt Uniformärmel im ehemaligen Salted Caramel Latte-Sahnehäubchen, so als habe sie Angst umzufallen. Sie war genauso sprachlos, wie er selbst. „Gib mir dein Taschengeld!“ Rufus blinzelte. Die Kellnerin öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder und zog stattdessen die gefärbten Augenbrauen zusammen. Er schüttelte den Kopf. Betont langsam setzte er seinen Laptop auf einem der Stühle ab, der milchkaffeefrei geblieben war, und stand auf. Im Stehen konnte er die beiden Jungen sehen, die hinter der Kellnerin auf dem Boden lagen, der eine die Faust zum Schlag erhoben, der andere wimmernd. Dollarnoten und Münzen lagen überall verstreut. Sein Unterbewusstsein bemühte sich einen langen Augenblick lang, die beiden Unruhestifter zu erkennen, sah aber erst einmal nur Blut. Insgeheim hoffte er wirklich, dass er weder den einen noch den anderen kannte. Natürlich hatte er dieses Glück nicht. Es war der Fluch der letzten drei Ferienwochen. Es musste der Fluch der letzten drei Ferienwochen sein. Rufus rieb sich die Schläfen. „Norman Carter“, murrte er. Träge umrundete er den Tisch. „Ich dachte, ich sei eindeutig gewesen, als ich sagte ‚Ich will euch bis nach Labour Day nicht mehr sehen!‘ Ist heute Labour Day?“ Zufrieden bemerkte er, dass der Junge tatsächlich zögerte. Carter wandte seinen Blick nicht von seinem Opfer ab, aber immerhin schlug er nicht noch einmal zu. „Muss ich dich daran erinnern, dass ich die Handynummer deiner Mutter auf der Kurzwahl habe?“ Carter stockte. Seine Ohren verfärbten sich rot. Kurz wirkte er, als wolle er etwas sagen, hob dann aber doch nur den Kopf, um ihn finster anzufunkeln. Seine Wangen standen seinen Ohren in nichts nach. Das kurze Flackern, mit dem er nach seiner Verstärkung Ausschau hielt, war beinahe unterhaltsam. Unterhaltsam vor allem, weil es entweder keine Verstärkung gab oder sie beim Anblick des Paukers reflexartig das Weite gesucht hatte. „Das haben Sie nicht.“ Carters Stimme klang zu hoch für einen Footballspieler, der sich seiner Sache sicher war. „Willst du es ausprobieren? Sie freut sich bestimmt über meinen Anruf. Ihre Kekse sind lecker.“ „Sie–“ Rufus wusste, was kommen würde, bevor es geschah. Als Carter hochschnellte, war er bereit. Seine Hand schloss sich wie ein Schraubstock um Carters Oberarm. Der Junge zappelte, traute sich aber offenbar nicht, seinem Lehrer die Nase zu brechen. Lag vielleicht an den anderen Café–Gästen, die sich mittlerweile zu ihnen umgedreht hatten. Nicht, dass er sich die Nase hätte brechen lassen, hätte Carter es ernsthaft versucht. „Du schuldest mir einen Salted Caramel Latte.“ „Mister Acosta–“ „Einen großen.“ „Fails hat–“ „Mit Ferienaufschlag.“ Carters Ohren glühten. Langsam, ganz langsam griff er in seine Hose und beförderte einen Fünf–Dollar–Schein zutage. Ein reichlich zerknitterter Abraham Lincoln erschien nicht sonderlich erfreut, wechselte aber dennoch den Besitzer. Rufus ließ los. Mehr brauchte Carter nicht, um im Eiltempo Richtung Parkdeck zu verschwinden. Kopfschüttelnd wandte sich Rufus dem verbleibenden Unruhestifter zu. Dieser saß mittlerweile auf dem Boden, während die Kellnerin das verstreute Geld aufsammelte. Ein mit Milchkaffee gesprenkeltes Handtuch verdeckte den Großteil seines Gesichts, doch Rufus hätte ihn vermutlich auch an den in alle Richtung abstehenden, blonden Haaren erkannt, hätte er nicht längst gewusst, mit wem er es zu tun hatte. Ihre Blicke trafen sich. „Mister Acosta–“, nuschelte Anthony Fails durch das Handtuch. Seine Worte klangen nicht nur mehr nach einer Frage als nach einer Begrüßung, sondern überdies ziemlich nasal. „Stets zu Diensten, General Sharrkan.“ Rufus verneigte sich. „Ist noch alles dran? Kannst du alles bewegen?“ „Äh–“, Anthony stockte. Wenn er sich durch die seltsame Anrede irritiert fühlte, sprach er es zumindest nicht aus. „Nein, aber ich glaube, bei meiner Nase muss das so.“ Rufus lachte. „Argument.“ Eines musste er Anthony lassen – immerhin tat er, was man ihm sagte. Langsam, wimmernd und blutend zwar, aber er tat es. Und auf einem der Café–Stühle sitzend, das Taschengeld wieder in den Taschen und den Kopf im Nacken konnte er auch keine ernsthaften Probleme verursachen. Davon hatte Rufus, nach einem kurzen Faktencheck, schon genug, auch ohne dass der Junge sich gerade jetzt daran erinnerte, dass Lehrer auch zwischen den Schuljahren Lehrer waren. Immerhin, der Laptop war noch trocken. Der größte Schwall Salted Caramel Latte war an den Büchern vorbei gegangen, hatte dafür aber den Rest seiner Unterlagen geflutet. Die Schülerlisten schwammen, der wasserfeste Stift, mit dem er diverse Notizen geschrieben hatte, war definitiv nicht so wasserfest, wie er es hätte sein sollen, und die Plastikverpackung, die er vorhin achtlos dazu geworfen hatte, klebte an allem. Die Servietten, die ihnen eine zweite Kellnerin gebracht hatte, halfen nur leidlich. Wenn er vor zehn Minuten nur geschätzte drei Stunden hinter seinem Zeitplan hinterher gehangen hatte, hing er jetzt ... nein, das wollte er sich eigentlich gar nicht so genau ausrechnen. Die Notizen würde er neu schreiben müssen und Martha würde ihn fressen, wenn er sie ein drittes Mal um Kopien bat. Und er würde diese Kopien brauchen. Mit Glück hatte er zumindest einen Teil davon als Mailanhang ... Missmutig warf er die Servietten in den bereitgestellten Mülleimer und schlug den Ordner mit den Listen zu. Das Plastik der Verpackung knisterte schadenfroh, aber er hatte keine Muße, den Ordner noch einmal zu öffnen und es den Servietten hinterher zu werfen. Stattdessen griff er nach dem Buch, das auf seinem Stapel obenauf lag und musterte es kritisch. Keine großen Flecken, aber sichtbare Sprenkel. Wundervoll. „Ich wusste gar nicht, dass Sie Magi spielen.“ Ganz langsam schielte Rufus im Augenwinkel zu Anthony, der den Kopf ganz sicher nicht mehr im Nacken hatte. Das Handtuch hatte er sinken lassen, sodass Rufus jetzt einen guten Blick auf die rot gefärbte Haut und die aufgeplatzte Lippe hatte. Darauf und auf den Fokus von Anthonys Aufmerksamkeit – sein Laptop. Shit. Rufus unterdrückte ein Stöhnen. Betont langsam legte er das Buch zurück auf seinen Stapel und drehte sich um, ohne den Jungen dabei aus den Augen zu lassen. Ebenso langsam griff er nach dem Laptop, um ihn aus Anthonys Reichweite zu holen und sich anschließend selbst zu setzen. Vielleicht sollte er den Jungen doch noch für den verschütteten Kaffee übers Knie legen. Vielleicht sollte er auch Profit aus der Situation schlagen. Er entschied sich für letzteres. „Ich dachte, ich könnte es einmal ausprobieren, Sharrkan“, antwortete er mit einem dünnen Lächeln. „Immerhin spielen es erstaunlich viele deiner Mitschüler.“ „Echt? Ich dachte, ich bin der einzige! Das heißt, vorhin bin ich an einem Mädchen vorbei gekommen, die hat gerade erst angefangen. Sie hat behauptet, ihr Bruder Conan sei schon auf Level 84 und hätte das Kou–Empire, aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Hey, soll ich Ihnen beim Erstellen helfen?“ Schneller, als er hätte gucken – oder geschweigedenn „Nein!“ sagen – können, hatte er Anthonys Finger auf dem Touchpad. Einen Augenblick später besaß er einen falschen Namen, einen Account und einen Avatar. Mit Brüsten. Er hätte nein sagen sollen, wirklich, aber eigentlich gefiel ihm das Set erstaunlich gut. Versonnen drückte er eine der Pfeiltasten und ließ Leila damit um die eigene Achse rotieren. Vielleicht etwas zu blond für seinen Geschmack, aber eigentlich ganz süß. Nur das Standard–Anfänger–Outfit, das musste weg. Dringend. „So, jetzt brauchen Sie noch eine Klasse, und dann können sie loslegen. Sie könnten Krieger werden oder Abenteurer, die beiden Klassen sind für den Einstieg ganz einfach. Von Magier würde ich abraten, die sind ätzend–“ „Ich nehme den Assassinen.“ „Immer meckern sie, wenn man bei den Zaubern im Weg steht, aber selbst können sie echt nichts – äh, was?“ „Ich nehme den Assassinen, Sharrkan. Du weißt schon, das ist die Klasse, die auch Jafar hat.“ Das saß. Zufrieden schob er Anthonys Finger vom Touchpad, um anschließend selbst die Klasse seiner Wahl anzusteuern. Zwei Klicks später und er konnte die Kraftpunkte verteilen, die jedem Anfänger zur Verfügung standen. Zuerst welche auf Geschick, dann auf Geschwindigkeit und zu den Rest auf Glück. Er mochte Glück. „Mister Acosta?“ „Ja, Sharrkan?“ „Sie haben mich Sharrkan genannt.“ „Habe ich, ja“, stimmte er nickend zu. „Vier Mal.“ „Sie kennen Jafar.“ „Ja.“ „Wie lautet Ihr Nickname?“ Mit einem breiten Grinsen drehte er sich Anthony zu um. „Rate.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)