Castle of lies von AtriaClara (... are you crying?) ================================================================================ Kapitel 13: Ein wenig Improvisation ----------------------------------- Als Midine erwachte, war es seltsamerweise ihr Geruchssinn, der sich als erstes wieder zurückmeldete. Es roch nicht mehr nach Verwesung oder Rosen. Es roch etwas muffig, aber vertraut. Dann meldete sich ihr Tastsinn und sagte ihr, dass sie auf etwas Weichem lag. Es war warm. Verwirrt strich Midine mit der Hand darüber. Das war Stoff, ganz eindeutig. Und es passte nun wirklich nicht zu dem, an was sie sich vor ihrer Ohnmacht noch erinnerte. Du schuldest mir was. Immer noch hallten die Worte durch ihren Kopf, als wäre sie niemals bewusstlos gewesen. Panik erfüllte Midine. Wo war sie hier? Wo hatte Malicia sie hingebracht? An welchen teuflischen Ort- Es roch nach Ahornsirup. Zwar nur sehr schwach, aber trotzdem wahrnehmbar. Diesen Geruch würde Midine immer und überall wiedererkennen. Was geht hier vor? Panisch schlug sie die Augen auf. Sie war... in ihrem Zimmer?! Ungläubig setzte Midine sich in ihrem Bett auf, viel zu schnell. Kurz wurde ihr schwindlig und ihr Blickfeld wurde von Schwärze erfüllt, aber davon ließ sie sich in ihrer Hast nicht aufhalten. Sie sprang auf und rannte zum Fenster, zog in verzweifelter Hoffnung die Vorhänge beiseite- Der Himmel war blau, strahlend blau, wie ein Tag nicht schöner hätte beginnen können. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Midine traten Tränen in die Augen. Kann das sein? Kann es wirklich sein? War das etwa wirklich alles nur ein Traum gewesen? Hatten die Götter Midine endlich erhört und sie aufwachen lassen? Ungläubig kniff Midine sich in den Unterarm, aber bis auf einen leichten Schmerz spürte sie nichts. Es... ist endlich vorbei? "Midine?", fragte eine verschlafene Stimme hinter ihr. "Was machst du da?" Midine zuckte zusammen und fuhr herum. Neben ihr lag Ett. Auf der rechten Seite des Bettes, dort, wo sie immer lag. Sie hatte sich zur Seite gedreht und blinzelte verschlafen ins Sonnenlicht. "Erst meckerst du mich an, ich würde zu wenig schlafen", grinste sie, "und jetzt bist du auf einmal die Frühaufsteherin, oder was?" Midine rieb sich geschockt die Augen. "N-nein, ich habe nur... ach, nichts." Jetzt grub sich doch eine Sorgenfalte in Etts Stirn. "Alles in Ordnung mit dir?", fragte sie vorsichtig. Völlig überfordert schüttelte Midine den Kopf. "Nein... ich meine, ja... ich hatte einen Albtraum." "Schon wieder?", fragte Ett alarmiert. "Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?" Midine verstand die Welt nicht mehr. Was sollte die Frage denn? Wann war Ett zur Traumdeuterin geworden? Ihr vollkommen verwirrter Gesichtsausdruck war wohl Antwort genug. Frustriert setzte Ett sich auf und massierte sich kurz die Schläfen, bevor sie Midine wieder ansah. "Ich meine nicht deinen Traum", sagte sie eindringlich. "Ich meine dein Leben davor. Was ist an dem Abend passiert, an den du dich als Letztes erinnerst?" Ihre Lippen bewegten sich, aber Midine verstand kein einziges Wort. War das etwa wieder einer ihrer seltsamen Scherze? Oder hatte sie den Abend zuvor wirklich vergessen? "Gestern Abend... ? Ich bin nachts noch einmal aufgestanden, weil ich nicht einschlafen konnte. Ich wollte an die frische Luft, aber ich habe dich aus Versehen aufgeweckt. Und dann hast du mir Pfannkuchen gemacht. Mit Ahornsirup. Wir saßen zusammen, haben geredet und gegessen... ähm... ja, und du warst wütend auf mich, weil ich dir nicht gesagt habe, dass meine Verletzung wieder aufgegangen ist. Weißt du das etwa nicht mehr?" Die Sorgenfalte auf Etts Stirn vertiefte sich. "Du meinst den 29. Januar 9021, oder?" War das das Datum gewesen? Midine nickte unsicher. Zu ihrer Überraschung stützte Ett auf ihre Antwort hin resigniert den Kopf in die Hände und rieb sich die Augen. "Was ist los?", fragte Midine überrascht. "Was hast du-" "Midine", unterbrach ihre Freundin sie und sah auf. Waren das Tränen, die da in ihren Augen glitzerten? Sie weinte doch nie! Warum weinst du?, wollte Midine fragen, aber ihre Stimme versagte an dem Kloß, der sich in ihrem Hals zusammengeballt hatte. "Midine", fing Ett noch einmal an, während sie versuchte, gefasster zu wirken. "Wir haben Februar. 9025." Jetzt löste sich doch eine Träne aus ihrem Auge und rollte ihre Wange hinunter. Midine starrte sie geschockt an, während ihr Gehirn versuchte, das irgendwie zu verarbeiten. Es war... 9025? Aber wie war das möglich? "Die Heiler sagen, dass es eine Nachwirkung deines Nahtod-Traumas ist", fing Ett an. Immer mehr Tränen strömten über ihre Wangen. "Vor ein paar Wochen bist du aufgewacht und hattest dein gesamtes Leben nach dem Krieg vergessen. Du hast mich angesehen, als wäre ich ein Geist, in der festen Überzeugung, dass du tot wärst." Sie schüttelte den Kopf. "Das werde ich nie wieder vergessen." Stumm wartete Midine, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte und weiterredete. "Seitdem ist es noch ein paar Mal passiert, immer gerade dann, wenn ich dachte, du hättest dich an dieses Leben gewöhnt. Du bist am Morgen aus Albträumen aufgewacht und konntest dich an die vergangenen vier Jahre einfach nicht mehr erinnern." Sie schniefte ein paar Mal. "Und ich habe es dir erklärt. Jeden verdammten Morgen." "D-du lügst!", stammelte Midine ungläubig, ihre Hände zitterten unkontrolliert. "D-das kann nicht sein!" Ett winkte unter Tränen ab. "Das sagst du jedes Mal." "Du lügst!", wiederholte Midine, diesmal lauter. "Du bist doch nur ein weiterer Teil meines Albtraums!" Und auf diesen Albtraum wollte sie nicht noch einmal hereinfallen und ihm glauben, er sei echt. "Halt den Mund!", fauchte Ett zurück, die offenbar ihre Beherrschung wiedergefunden hatte. "Du hast ja keine Ahnung, wovon du sprichst!" Midine zuckte erschrocken zusammen. "Ich werde es dir beweisen", fuhr Ett etwas ruhiger fort. "Sieh dir doch mal bitte deine Wunde an." Normalerweise hätte Midine so einer Aufforderung auf jeden Fall widersprochen, aber sie wollte sich nicht noch einmal mit Ett über ihre Verletzung streiten müssen. Also rollte ihr Oberteil hoch und trat vor den Spiegel, auf das Schlimmste gefasst. Sie traute ihren Augen nicht. Ihre Wunde war verschwunden! Dann entdeckte sie die Narbe. Sie war fein, etwas heller als die Haut darum und zog sich in unregelmäßigen Wellenlinien über ihren ganzen Brustkorb. "Es... ist verheilt?", hauchte Midine ungläubig. "Ja", bestätigte Ett und schaffte es fast wieder, sanft zu klingen. "Es hat uns beide ziemlich Zeit und Nerven gekostet, aber irgendwann war es endlich geschafft." "Ich bin... nicht gestorben?" Midine konnte es immer noch nicht glauben. Ett lächelte unter Tränen. "Nein, Dummerchen. Natürlich nicht. Das habe ich dir doch verboten, weißt du noch?" Und da huschte ein Lächeln über Midines Gesicht, das erste Mal seit Ewigkeiten, wie es sich anfühlte. Sie war zu Hause. "Und... hat sich irgendetwas verändert in den letzten vier Jahren?", erkundigte Midine sich vorsichtig zwischen zwei Bissen Brot. Sie wusste nicht, wie Ett auf so eine Frage reagieren würde. Wenn es tatsächlich stimmte, was sie sagte, hatte sie genau solche Fragen in den letzten Wochen öfter zu hören bekommen. Das musste doch jeden irgendwann innerlich zerstören, oder? Aber ihre Freundin ließ sich nichts anmerken. Nachdenklich kauend sah Ett in die Luft, ehe sie den Kopf schüttelte. "Nein, nicht viel. Sie haben ein paar neue Steuergesetze verfasst, das ist alles." Midine lächelte. "Ich meinte eigentlich eher den Leuchtfeuerturm." "Oh, ach so. Aber da könnte ich dir eigentlich dieselbe Antwort geben, es ist alles beim Alten geblieben." "Avelli ist auch noch da?" "Allerdings. Wo soll er auch sonst hin? Den will doch niemand haben." Ett kicherte. Midine kicherte mit und es war, als würden ihr mit jeder Sekunde mehr Steine vom Herzen fallen. Genau das hatte sie vermisst. Dieses gegenseitige Aufziehen, dieses Gezanke. Normalität. "Und die Königsfamilie?", fragte Midine kauend, nachdem sie den letzten Bissen Brot in ihren Mund geschoben hatte. "Der geht's gut. Wieso fragst du? Kannst es wohl gar nicht mehr abwarten, die Thronfolge anzutreten, was?" Ett grinste. Midine schmunzelte. "Ich habe doch nie gesagt, dass ich die Thronfolge antrete", wandte sie ein. Ett beugte sich vor. "Aber jeder im Königreich wartet darauf!", meinte sie aufmunternd. "Jeder wartet darauf, dass die Eine aus der Prophezeihung endlich Königin wird und das Königreich von allem Bösen befreit!" Als sie Midines Gesicht sah, fügte sie hinzu: "Keine Angst, ich bin sicher, du schaffst das. Sonst würde es doch wohl nicht in der Prophezeihung stehen, oder? Wenn es gar nicht gehen sollte, komme ich rüber und trete dir in den Hintern." Sie lachte. Midine lachte mit, musste aber unwillkürlich daran denken, was sie in ihren Träumen über die Zukunft gesehen hatte. Was für schreckliche Dinge passieren würden, wenn sie Königin werden würde. Doch ihre düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als Ett ihren Stuhl zurückschob und aufstand. "Bist du auch fertig?", fragte sie lächelnd. "Ja", antwortete Midine und erwiderte das Lächeln ihrer Freundin. "Dann räume ich schonmal ab", sagte Ett fröhlich, stapelte die Teller und die Becher aufeinander und ging in die Küche. In Midines Ohren klang das vertraute Scheppern des Geschirrs wie wunderschöne Musik. Satt und zufrieden lehnte sie sich zurück und sah sich um. Die Wohnung sah noch genauso aus wie damals, wirkte gemütlich und vertraut. Der Kleiderständer neben der Tür, der Teppich, der Kamin... alles war noch da und am selben Platz. Fast so, als ob... ... als ob ich nicht in der Zukunft wäre. Midine schrak hoch. Hatte sie das gerade tatsächlich gedacht? Ett, ihre Freundin, wirklich der Lüge bezichtigt? Ett würde sie niemals anlügen und das wusste sie auch. Es sei denn, das hier ist gar nicht Ett. Erneut zuckte Midine zusammen und schalt sich sofort selbst für diesen Gedanken. Sie musste unbedingt aufhören, solche grässlichen Sachen zu denken. Sie war jetzt zu Hause. Aber diese kleine gemeine Stimme in ihrem Kopf wollte einfach nicht verstummen. Woher willst du das wissen? Midine führte sich ein weiteres Mal die Gründe vor Augen, weshalb das hier unmöglich ein weiterer Albtraum sein konnte: Der Himmel war blau, ihre Wunde war verheilt und... es war Ett. Und das reicht aus, um dich zu überzeugen? In Träumen ist vieles möglich. Diese Worte versetzten Midine einen Stich im Herzen. Die Sicherheit, in der sie sich gewähnt hatte, drohte Stück für Stück von ihr abzufallen. Ich. Bin. Zuhause. Midine musste all ihre Anstrengung aufbringen, um alle bis auf diesen Gedanken aus ihrem Bewusstsein zu verbannen. Aber als sie dann mit einem erzwungenen Lächeln aufsah, um ihre Umgebung ein weiteres Mal zu betrachten, war da keine Wärme mehr. Keine Gemütlichkeit und keine Zufriedenheit. Es schien, als wären innerhalb von Sekunden alle Farben aus der Wohnung gewichen und hätten nur ein trostloses Grau zurückgelassen. Diese verfluchte Stimme hat alles kaputtgemacht!, dachte Midine zornig. Eben noch war alles gut! Warum muss ich mich überhaupt davon überzeugen, dass dies hier mein Zuhause ist? Kann ich nicht einfach hier sitzen und den Moment genieße- Die Küchentür schwang auf und Ett trat wieder ins Zimmer. "Entschuldige, dass es so lange gedauert hat. Ab jetzt hast du meine volle Aufmerksamkeit." Sie grinste. Midine lächelte zurück, wenn auch etwas unbehaglich. Hier war sie, die Chance, ihrem Unterbewusstsein endgültig zu beweisen, dass das hier die Realität war. "Ähm... Sag mal, Ett", fing sie unsicher an, "Kannst du mir irgendetwas über die neuen Steuergesetze sagen?" Ett runzelte verwundert die Stirn. "Das ist aber eine seltsame Frage. Nein, nicht wirklich, du weißt doch, wie wenig ich mich für Politik interessiere." "Oh, ja, stimmt." Innerlich verfluchte Midine sich für so eine dämliche Frage. Sie hatte gehofft, dass Ett irgendetwas erzählen könnte, aber es war wirklich so, ihre Freundin interessierte sich kein Stück für Politik. So würde sie unmöglich herausfinden, ob das hier die Realität war. "Hatte... hatte Avelli in der Zwischenzeit irgendwelche Freundinnen?" Aber tief in ihrem Inneren wusste Midine bereits, dass auch diese Frage kein Ergebnis bringen würde. "Können Vögel fliegen?" Ett lachte. "Klar, und eine ganze Menge. Die letzte hieß... Rina, glaube ich, könnte aber auch Rayress gewesen sein." Wieder war Midine ihrem Beweis kein Stück näher gekommen. Es wäre typisch für Ett, die Namen von Avellis Freundinnen zu vergessen, aber genauso gut konnte sie sich das gerade ausgedacht haben. Midine zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einer brauchbaren Frage. Ihr gefiel es nicht, sich so um einen Beweis bemühen zu müssen, aber sonst würde ihr Unterbewusstsein sie nie in Ruhe lassen, das wusste sie. Dann durchfuhr sie ein Geistesblitz. Sofort sah sie unwillkürlich hinunter auf die Tischplatte, aber ihre Antwort fand sie dort nicht. Sie biss sich auf die Lippe. "Ett, zeig mir deine linke Hand. Bitte." Ihre Stimme zitterte leicht, als sie das sagte. "Meine... linke Hand? Warum das denn?", fragte Ett belustigt. "Deine linke Hand. Zeig sie mir. Bitte!" Midines Stimme bekam einen flehentlichen Unterton. "Okay, okay. Hier hast du meine Hand." Ett klang gleichermaßen verwirrt und besorgt, als sie ihre linke Hand auf den Tisch legte. "Warum bist du so merkwürdig?" Ein Blick reichte Midine, um zu wissen, dass rein gar nichts in Ordnung war. All die mühsam aufgebaute Sicherheit fiel innerhalb von Sekundenbruchteilen von ihr ab und sie schnappte schockiert nach Luft. "Was ist los mit dir? Midi?" "Nenn mich nicht Midi!", fuhr die Eine sie an, während sie vom Tisch aufsprang und mit vor Angst geweiteten Augen zurückwich. "Du bist nicht Ett! Wer bist du? Was hast du mit ihr gemacht?!“ "Was?" Die Person, die genauso aussah wie Ett, klang entsetzt. "Wie kommst du denn darauf? Natürlich bin ich Ett! Ich habe dir doch nur meine Hand gezeigt!" Sie stand auf und streckte ihre Hände aus. "Sieh nur, da ist nichts!" "Es geht nicht darum, was da ist", sagte Midine mit zitternder Stimme. "Es geht darum, was nicht da ist!" "Das... verstehe ich nicht", meinte Ett hilflos und machte einen Schritt auf Midine zu. "Midine, hör zu-" "Bleib weg von mir!", schrie Midine panisch und wich noch weiter zurück. Wieder füllten sich Etts Augen mit Tränen. "Was hast du? Was habe ich dir denn getan?" Midine tat es weh, das Gesicht ihrer Freundin so verletzt zu sehen, aber sie schüttelte dieses Mitgefühl ab, indem sie sich sagte, dass das hier nur eine billige Kopie von Ett war. Sie atmete einmal tief ein und fing an, der Kopie ihre Erkenntnis zu erklären. "Damals, als ich aus dem Koma aufgewacht bin und bei Ett einzog, fragte sie mich, ob ich ihre Frau werden wolle. Natürlich sagte ich ja, aber ich sagte ihr auch, dass wir mit der Hochzeitsfeier warten müssten, bis mein Zustand wieder stabil und die Wunde verheilt ist. Ett war einverstanden. Tatsächlich besserte sich mein Zustand langsam mit der Zeit. Wäre dieser verdammte Albtraum nicht dazwischengekommen, hätten wir sicher in absehbarer Zeit geheiratet. Und das hier soll das Jahr 9025 sein, richtig? Meine Wunde ist verheilt, wie es aussieht, schon sehr lange. Wir hätten längst verheiratet sein müssen!" Midine stieß mit dem Rücken gegen die Wand, aber sie war viel zu vertieft in ihre Rede, um das zu merken. "Und du", sie zeigte anklagend mit dem Finger auf die Kopie, "trägst keinen Ring!" "W-warte, Midine, das kann ich erklären!", stammelte Ett. "Ich... Wir... Wir haben-" "Du klingst wie eine Schauspielerin, die ihren Text vergessen hat!", fauchte Midine, während sie sich mit zitternden Händen an der Wand entlangtastete. Angriff war im Moment ihre beste Verteidigung. Solange diese Kreatur noch versuchte, Ett zu spielen, konnte sie ihr nicht gefährlich werden... hoffentlich. Endlich spürte Midine den rettenden Türrahmen unter ihren tastenden Fingern. Doch noch bevor sie die Flucht ergreifen konnte, fing die Ett-Kopie an zu kichern. Fassungslos starrte Midine sie an. Alle Anzeichen dafür, dass sie eben noch am Rande der Verzweiflung gewesen war, waren wie wegradiert, so plötzlich, als hätte sie nur eine Maske ausgezogen. Ihr prustendes Kichern, als würde sie mit aller Macht versuchen, nicht laut loszulachen, klang genauso wie Etts Kichern, wenn Midine ihr einen Witz erzählt hatte. Es irritierte und schockierte sie gleichermaßen, dieses einst so vertraute Geräusch in einer solch unpassenden Situation wieder zu hören. Die falsche Ett hatte Midines Entsetzen bemerkt. Sie gluckste noch ein paar Mal amüsiert, ehe sie sich wieder unter Kontrolle hatte. "Das ist lustig", grinste die Kopie. "Was?", fragte Midine angsterfüllt. Sofort verfluchte sie sich dafür, diese Frage überhaupt gestellt zu haben, sie würde die Antwort doch wahrscheinlich sowieso nicht wissen wollen. "Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht früher loszulachen. Ihr Menschen seht einfach so lustig aus, wenn ihr Angst habt. Und dann noch die Bemerkung mit der Schauspielerin, ich kann nicht mehr!" Sie fing an, schallend zu lachen, verstummte aber schon nach ein paar Sekunden abrupt. Alles, was blieb, war ein undefinierbares Lächeln auf ihrem Gesicht. "Ja, ich bin Schauspielerin", gab sie zu, während sie das Küchenmesser vom Tisch aufhob und es durch ihre Finger gleiten ließ. "Und ja, ich habe meinen Text vergessen. Aber keine Sorge, das kriege ich wieder hin. Alles, was ich brauche, ist ein wenig IMPROVISATION!" Das letzte Wort schrie sie so laut heraus, dass Midine erschrocken zusammenzuckte. Blitzschnell und scheinbar mühelos schleuderte die Kopie den Tisch beiseite, der ihr noch im Weg stand, bevor sie übermenschlich schnell auf Midine zurannte. Die Eine verschwendete keine weitere Zeit mit Fragen, Flucht war jetzt die oberste Priorität. Nachdenken konnte sie später- wenn sie dann noch lebte. Mit einem entsetzten Aufschrei fuhr sie herum und lief durch die offene Tür in den Flur. Sie warf die Tür hinter sich zu, um Zeit zu gewinnen, und stürmte weiter, am Waschraum vorbei. Ihre Schritte klangen dumpf auf dem Teppichboden, ihr Herz hämmerte vor Angst. Hinter ihr flog die Tür auf und schlug krachend an die Wand, aber Midine drehte sich nicht um. Das wäre ein tödlicher Fehler und das wusste sie. Stattdessen rannte sie keuchend weiter. "Weißt du, was ich mich schon immer gefragt habe?", rief Etts Stimme hinter ihr. Keinerlei Anzeichen von Anstrengung oder sogar Erschöpfung war in ihrer Stimme zu hören, als wäre das alles hier nur ein Spiel für sie. "Warum ihr Menschen solche verdammten Fluchttiere seid! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie anstrengend es ist, seinem Essen ständig hinterherlaufen zu müssen?!" Midine versuchte verzweifelt, ihre Stimme zu ignorieren. Sie wollte gar nicht erst anfangen, darüber nachzudenken. Sie erreichte die Treppe nach oben und sprang hastig hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. "Nicht stolpern, kleines Dessert, sonst kriiiege ich dich!" Die Kreatur hinter ihr lachte manisch, während ihre Schritte die Treppe erzittern ließen. Keuchend erreichte Midine das obere Stockwerk. Die Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer stand einladend offen und so stürmte sie einfach hinein, ohne weiter darüber nachzudenken. "Nur zu, leg dich schlafen. Du musst müde sein vom vielen Rennen!" "Halt den Mund!", schrie Midine verzweifelt zurück und warf die Tür hinter sich zu. Die nun folgenden Sekunden schienen sich in die Länge zu ziehen wie zähes Kaugummi. Midine klammerte sich an der Kante des schweren Wandschranks fest und stemmte sich mit all ihrer Kraft dagegen. "Beweg dich!", presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Na los!" Gerade, als ihre schwitzigen Hände von dem Holz abzurutschen drohten, bewegte sich das Möbelstück tatsächlich. Mit einem widerwilligen Knarren und einem schrillen Quietschen rutschte es über den Boden und blockierte nun die Tür. Midine blieb keine Zeit, um ihr Werk zu bestaunen. Mit ein paar schnellen Schritten durchquerte sie das Zimmer, bis sie vor Etts Nachttisch stand. Nur einen Augenblick lang zögerte sie, dann fegte sie mit einer einzigen Armbewegung die so vertraut erscheinenden Dinge vom Tisch. Etts Lieblingsbücher, allesamt Liebesromane, fielen polternd zu Boden, die Seiten zerknickt. Ihr heißgeliebtes Lesezeichen rutschte aus einem der Bücher und segelte zu Boden. Die paar Münzen Kleingeld, mit denen sie morgens immer zur Bäckerei ging, folgten klirrend. Die gläserne Flasche Parfüm, die Midine ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, blitzte noch einmal im hereinfallenden Sonnenlicht auf, bevor sie mit einer erschreckenden Endgültigkeit am Boden zerschellte. Ein betörender Rosenduft breitete sich im Zimmer aus. Midine blinzelte und merkte, dass Tränen in ihren Augen lagen. Dafür ist keine Zeit, verdammt! Hastig fuhr sie sich mit dem Ärmel über die Augen, dann bückte sie sich und hob den Tisch an. Er war erstaunlich schwer, doch Midine schleppte ihn mit eisernem Willen zurück zum Schrank und stellte ihn mit einiger Mühe in der Lücke zwischen dem Schrank und ihrem Bett ab. Das war alles, was sie im Moment tun konnte, denn die Kreatur würde sicher gleich- Ein dumpfes Krachen ertönte, als hätte etwas sehr Schweres die Tür gerammt. Der Schrank erzitterte und der Tisch wackelte, aber noch hielt Midines improvisierte Barrikade stand. "Clever, Midi", höhnte die Kopie auf der anderen Seite der Tür. "Dich in deinem Zimmer einzusperren, meine ich. Diese lächerlichen Möbelstücke werden mich nicht lange aufhalten, weißt du? Und dann töte ich dich, Midine End Morathess. Hast du gehört? Ich TÖTE dich!" Ein Lachen war draußen zu hören. Dann krachte es wieder, der Stuhl geriet ins Wanken und fiel klappernd zu Boden. Verzweifelt sah Midine sich nach einem Ausweg um. Die Kopie hatte recht, wenn sie es nicht schaffte, irgendwie von hier zu fliehen, würde sie noch als Dessert enden. Es musste doch eine Möglichkeit geben- Das Fenster! Natürlich! So schnell sie konnte, lief Midine zum Fenster. Hektisch versuchte sie, das Fenster zu öffnen, rutschte allerdings wegen ihren schweißnassen Fingern ab und drehte deswegen innerlich fast durch. Mach das verdammte Fenster auf! Los, mach schon! MACH SCHON! Endlich gelang es ihr, das Fenster aufzureißen. Das Krachen wurde immer lauter, ebenso wie das manische Lachen der falschen Ett. Midine schwang sich auf das Sims. In diesem Moment erinnerte sie sich daran, dass sie genau das schon einmal getan hatte, ganz zu Anfang des Albtraums. Es kam ihr vor, als sei das schon Wochen her, dabei war es vermutlich nicht einmal ein Tag. Sie sah hinunter auf den Gehsteig, halb in der Erwartung, dort die Müllsäcke zu erblicken. Aber da war nichts, der Gehsteig war leer. Natürlich, sie isst ihre Opfer. Midine war schockiert darüber, wie einfach sie das akzeptieren konnte. Was sollte dann hier noch liegen? Kurz zögerte sie noch, aber das Geräusch von splitterndem Holz hinter ihr überzeugte sie restlos und sie stieß sich vom Sims ab. Mit den Füßen voran fiel sie nach unten. Da sie sich dieses Mal nicht mehr auf die Müllsäcke verlassen konnte, versuchte sie, ihren Aufprall im letzten Moment noch irgendwie abzufedern. Dass das nicht funktionierte, wurde ihr spätestens in dem Moment klar, in dem das hässliche Knacksen ertönte. Glühende Schmerzen zuckten ihr linkes Bein hoch und ließen sie gequält aufschreien. Dann knickten ihre Knie ein und sie sank zu Boden. So lag die Eine da, wimmernd, fluchend und ihren anschwellenden Knöchel haltend. Tränen strömten ihre Wangen hinunter und fielen auf die Steinplatten des Gehsteigs. Aber diesmal waren es keine Tränen des Schmerzes oder der Wut, sondern Tränen der Verzweiflung. Ich habe gekämpft, ich habe schon so viele Schmerzen erlitten. Ich bin gerannt. Und als ich nicht mehr rennen konnte, bin ich gesprungen. Was verlangt diese verdammte Welt denn noch von mir? Und wozu überhaupt? Sie blieb liegen und ließ ihren Tränen freien Lauf, selbst als über ihr Glas splitterte und ein schadenfrohes Kichern ertönte. "Was ist, hast du dir wehgetan? Zu schade." Midine ignorierte sie einfach. Sie hatte es so satt, vor irgendetwas wegrennen zu müssen. Sich zu verstecken und jede Sekunde, die sie hier verbrachte, um ihr Leben zu fürchten. Ich will, dass es endlich vorbei ist. Mir egal, wie. Schniefend kauerte sie sich auf den Boden und schlang die Arme um ihre Beine, während die Kopie oben auf das Sims kletterte. Gleich ist es vorbei. Midine lächelte unter Tränen, als sie das dachte. Ihr Atem wurde wieder regelmäßig und ihr Herzschlag verlangsamte sich, als sie sich auf ihren Tod vorbereitete. "END!" Und dann hielt die Welt an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)