Castle of lies von AtriaClara (... are you crying?) ================================================================================ Kapitel 9: Die Prophezeihung ---------------------------- "Midine." Wo war sie? Was war passiert? Vorsichtig öffnete Midine ihre Augen, doch es blieb tiefschwarz um sie herum. Ich bin blind, dachte Midine. Ich kann nichts sehen. Ich werde nie wieder etwas sehen können. Ich werde Ett nie wiedersehen können. Ich werde hier sterben. Denn wie soll ich es ohne mein Augenlicht schaffen, das Spiel zu gewinnen? Da war so viel, wegen dem Midine hätte Panik bekommen können, aber seltsamerweise spürte Midine keine Angst. Sie spürte überhaupt nichts. Das machte sie dann doch stutzig. Mit gerunzelter Stirn blickte sie an sich herunter- und erstarrte fassungslos. Ihre Arme, ihre Beine, ihr Körper, alles war noch da. Nur der Rest der Welt schien irgendwie... weg zu sein. Sie war ganz alleine im schwarzen Nichts. Midine stand nicht und sie lag nicht, sitzen konnte man es nicht nennen, aber schweben traf ihren Zustand auch nicht ganz. Es war ein wenig von allem und doch nichts davon. Verwirrt strich Midine sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die ihr ins Gesicht geweht war, obwohl sie keinen Windhauch spürte. Gerade wollte sie sich umdrehen, um nachzusehen, ob auch ihr Umhang in dieser mysteriösen Sturmböe wehte, da hörte sie die Stimme von eben erneut. "Midine!" Alarmiert sah sie sich um, konnte aber niemanden erkennen. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit, ohne dass sie wusste warum. "Hallo?", fragte sie versuchsweise in den leeren Raum hinein. "Wer ist da?" "Ich bin die, die sich selbst sucht." Die Antwort hallte durch das endlose Schwarz, immer leiser werdend. Midine kam die Stimme merkwürdig bekannt vor, aber sie konnte sie einfach nicht einordnen. Männlich oder weiblich? Sie hörte sich nicht einmal menschlich an. "Das ist aber keine Antwort", rief Midine, immer noch vergeblich Ausschau haltend nach einer Person, der die Stimme gehören könnte. "Mein Name hat schon vor langer Zeit an Bedeutung verloren." Midine wusste nicht weshalb, aber irgendwie machte sie dieser Satz extrem wütend. "Lügner!", schrie sie zornig. "Du willst mir nur keine Antworten geben! Wie Malicia! Wie die Bücher! Wie alle hier!" "Oh, ob ich ein Lügner bin, werden wir sehen", antwortete die Stimme und behielt dabei ihren vollkommen neutralen Tonfall bei. "Ach, werden wir das? Werde ich das? Wenn ich nicht gerade jeden Moment getötet werden könnte, weil mir hier niemand erklären will, WAS HIER LOS IST?" Schweigen. Langsam verrauchte Midines unerklärliche Wut wieder. Aber bereit, diese ach-so-geheimnisvolle Stimme ohne Antworten gehen zu lassen, war sie immer noch nicht. "Also. Wer bist du?", fragte sie mit mühsam beherrschter Stimme. Diesmal ließ sich die Stimme Zeit mit der Antwort. "Ich bin jemand, der dir helfen will", sagte sie schließlich. Das klang doch schon viel besser. "Aber wie willst du mir helfen?", fragte Midine, immer noch misstrauisch. "Indem ich es dir zeige." Die Stimme klang feierlich. "Zeigen? Was de-" "Scht. Leise, sonst verpasst du die Show. Lehn dich einfach zurück und entspann dich... dann tut es vielleicht nicht ganz so weh." "Hey!" Midines Stimme überschlug sich beinahe. "Was meinst du damit?" Aber die Stimme antwortete nicht mehr. Entgegen aller Vernunft versuchte Midine zu rennen, in die Richtung, in der sie die Stimme vermutete. Keine Sekunde dachte sie daran, wie sie sich in der Schwärze zurechtfinden sollte oder wie sie sich in dieser endlosen Leere fortbewegen sollte, wenn da doch nichts war, worauf man hätte laufen können. Oder vielleicht hatte die Stimme auch gar keinen Körper, den man so lange schütteln konnte, bis Antworten herauskamen. Trotz all dessen versuchte sie zu rennen, nur um zu ihrem Erschrecken herauszufinden, dass sie ihren Körper nicht mehr bewegen konnte. Unter aufsteigender Panik versuchte sie zuerst ihre Finger und Arme, dann ihre Beine zu bewegen. Ohne Erfolg. Midine verstand das nicht. All ihre Gliedmaßen waren noch da und voll funktionsfähig, sie spürte, dass sie da waren. Aber ihr Gehirn schien den Befehl vergessen zu haben, der sie dazu brachte, sich zu bewegen. Sie wollte den Mund öffnen, um zu schreien, aber auch der bewegte sich kein Stück. So gefangen war sie dazu verdammt, still auszuharren und darauf zu warten, dass etwas passierte. Eine ganze Weile nun geschah gar nichts. Midine wollte nur zu gerne glauben, dass die Stimme ganz einfach gelogen hatte, aber sie konnte sich noch immer nicht bewegen, geschweige denn sprechen. Da erschien inmitten des schwarzen Nichts plötzlich ein kleines weißes Licht. Zwar war es noch weit weg von Midine, doch es bewegte sich langsam auf sie zu, dabei immer größer werdend. Die Eine war sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Ein Licht in der Dunkelheit war ja allgemein eher als gutes Zeichen zu sehen, aber was, wenn es der berühmte Lichttunnel in ihren Tod war? Sie wollte noch nicht sterben! Aber als die Lichtkugel näher kam, erkannte Midine, dass das Licht keinen Tunnel, sondern viel mehr eine Brücke darstellte, vom anderen Ende des Raumes bis zu ihr. Erst nach mehrmaligem Blinzeln sah Midine, dass inmitten des blendend hellen Lichtscheins zwei Silhouetten nebeneinander über die Brücke aus Licht schritten, würdevoll wie zwei Könige. Sie gingen noch einige Meter, bevor sie in einiger Entfernung von Midine stehen blieben. Die zwei Gestalten waren in schwarze, sie komplett verhüllende Kapuzenumhänge gekleidet, aber trotzdem ging von ihnen so eine gleißende Helligkeit aus, dass Midine sie nicht direkt ansehen konnte. "Darf ich?", fragte die rechte Gestalt. Sie hörte sich an, als bestünde ihre Stimme aus vielen anderen, Silbe für Silbe auseinandergehackt. Die linke Gestalt deutete eine Verbeugung an. "Nur zu." Ihre Stimme war nicht minder ekelerregend. Sie klang wie der rückwärts abgespielte letzte Atemzug eines Sterbenden, grausam in die Länge gezogen. Die rechte Gestalt trat ein paar Schritte vor, bis sie nur noch etwa drei Meter von Midine trennten. Sie räusperte sich und begann, zu sprechen. "In eurem Land, auf euren Erden Der Welt, die nur den Himmel kennt Wird ein Kind geboren werden, Das, das ihr die Eine nennt." Midine traute ihren Ohren nicht. Das war die Prophezeihung. Die Prophezeihung. Die Prophezeihung, die laut den Legenden von den Göttern selbst vor Tausenden von Jahren erschaffen wurde. Die Prophezeihung, die ihre Geburt vorhergesagt hatte. Selbst Midine hatte die Prophezeihung nur ein einziges Mal in ihrem Leben gehört, doch an ihren Wortlaut erinnerte sie sich bis heute. Aber was hatte die Prophezeihung mit all dem hier zu tun? Und woher kannten diese seltsamen Personen die Prophezeihung überhaupt? Schließlich hatten damals nur sehr wenige Leute überhaupt von ihrer Existenz gewusst. Die Königsfamilie, die das Geheimnis um die Prophezeihung über all die Jahrtausende bewahrt hatte, kannte sie natürlich. Ihr früherer Mentor, der sie all die Jahre lang unterrichtet hatte, kannte sie. Malicia hatte sie gekannt, oder zumindest hatte sie das behauptet. Dann war da noch Ett, der Midine einmal im Vertrauen von der Prophezeihung erzählt hatte. Und wenn Ett es wusste, wusste es garantiert auch Avelli. Midine traute ihm durchaus zu, dass er es weitererzählt hatte. Aber auch das brachte sie nicht weiter. Sie hielt es für sehr unwahrscheinlich, Avellis Exfreundinnen hier irgendwo zu begegnen, und unter diesen Umhängen hätte sich alles verbergen können. Außerdem gehörten die Stimmen sicher niemandem, den Midine kannte. Ihre Gedanken verstummten, als die andere Gestalt, die, die sich bisher zurückgehalten hatte, vortrat und die Stimme erhob. "Fremd in eurem Heimatland Die Mutter tot, der Vater unbekannt Gefunden 9000|1 zwischen Gut und Böse Das Kind, das eure Welt erlöse." "Was fällt dir auf, wenn du diese Strophe betrachtest?", hatte ihr Mentor sie einmal gefragt. Midine hatte die Stirn gerunzelt. "Das Reimschema ist ganz anders als das von der ersten Strophe. In der ersten Strophe reimte sich der erste Vers auf den dritten und der zweite auf den vierten. Hier reimen sich jeweils die ersten beiden und die letzten beiden." Ihr Mentor hatte darauf bestätigend. "Richtig, der Wechsel von Kreuzreim zu Paarreim. Gut. Was noch?" "Hm." Midine hatte eine Weile überlegt, bevor sie geantwortet hatte. "Die zweite Strophe ist irgendwie... abgehackter. Also, sie wirkt nicht mehr wie ein Satz wie die erste Strophe, sondern klingt nach aneinandergereihten Stichworten." Ihr Mentor hatte zufrieden gewirkt. "Sehr schön, Midine." Er deutete noch einmal auf die Steintafel, in die die Prophezeihung eingeritzt war. "Also, wie du sehr richtig bemerkt hast, unterscheidet sich die zweite Strophe sehr deutlich von der ersten, beinahe so, als wären sie gar nicht gleichzeitig verfasst worden." Ihr Mentor hatte nie wirklich an die Existenz von Göttern geglaubt und ihr immer zu beweisen versucht, dass die Prophezeihung von Menschenhand über viele Jahrtausende hinweg verfasst worden sei. Er fand es vermessen von Midine zu glauben, die Götter hätten sie erwählt. Allerdings hatte keiner der beiden jemals seinen Standpunkt beweisen können, weswegen es immer bei gelegentlichen Sticheleien geblieben war. "Oder jemand wollte absichtlich, dass sich die Strophen so unterscheiden", hatte Midine eingewendet. Ihr Mentor hatte sich nachdenklich über seinen Bart gestrichen. "Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit", hatte er schließlich zugegeben. Wenn ich mich recht entsinne, war es so, dass die zweite Strophe das Auftauchen der Einen in diesem Land beschreiben sollte, dachte Midine. Tatsächlich war Midine nicht bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen, sondern bei einer Ziehfamilie. Die Frau, Tyra, und ihr Mann, Morgan, hatten ihr das auch nie verschwiegen und obwohl Midine sie nie wirklich als Eltern angesehen hatte, hatte sie sie sehr geliebt. Tyra hatte Midine oft davon erzählt, wie sie sie damals gefunden hatten. Eines Abends, im ersten Monat des Jahres 9000 nach Anbeginn, als die beiden gerade von einem Spaziergang heimkehrten, lag nur wenige Meter vor ihrer Haustür eine bewusstlose junge Frau. Sie trug die blutbefleckten Kleider einer Adligen und in ihrem Arm trug sie ein schreiendes Bündel. Während Tyra bei ihr geblieben war und mit vor Schock zitternden Händen versucht hatte, das Baby zu beruhigen, das einfach nicht aufhören wollte zu schreien, war Morgan zum nächstgelegenen Hospital gerannt und hatte Hilfe geholt. Für die Frau kam jede Hilfe zu spät, sie starb noch auf dem Weg zum Hospital. Doch das Baby überlebte. Tyra und Morgan suchten überall nach dem Vater des Kindes, ließen sogar im Königspalast nachfragen, ob jemand die Frau vermisste. Doch niemand meldete sich, auch nicht nach Jahren der Suche, und so beschlossen sie schließlich, das Kind zu behalten. Tyra sagte, vielleicht sei die Frau aus einem anderen Königreich gekommen. Ihre Kleider hatten nicht ausgesehen, als käme sie von hier. Damals hatte Midine es ziemlich aufregend gefunden, aus einem anderen Königreich zu stammen. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern und ihren Vater zu suchen. Um ehrlich zu sein, tat sie das auch heute noch. Midine schüttelte den Kopf. Sie war einmal wieder in Gedanken abgeschweift. Aber was von der Prophezeihung noch ungelöst blieb, war der dritte Vers. Zwischen Gut und Böse. Was konnte das bedeuten? Midine hatte da so eine Theorie. Tyra hatte doch gesagt, sie hätten die Frau nur wenige Meter vor ihrem Haus liegend aufgefunden, oder? Nun, das Haus ihrer Zieheltern lag zwischen zwei größeren Brücken, der Efraimsallee und der Merosbrücke. Und während Efraim in der Neuzeit ein Priester und Armenhausleiter gewesen war, der überall für seine Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit bekannt war, war Meros ein im Mittelalter gefürchteter Tyrann gewesen. Die Prophezeihung musste sie meinen, da war Midine sich sicher. Sie glaubte nicht an so viele Zufälle auf einmal. Wieder wurde sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als die Gestalt mit der zusammengewürfelten Stimme sich räusperte und erneut zu sprechen begann. "Die Verbindung der Einen zu ihrer Welt Ist ein untrennbares Band, Macht sie zu eurer Königin und sie hält Das Schicksal der Welt in der Hand." Diese Strophe war wiederum im Kreuzreim geschrieben und bestand wie auch die erste aus einem einfachen Satz. Dadurch war sie auch viel einfacher zu verstehen: Die Eine würde ihre wahren Fähigkeiten erst als Königin entfalten können und ihr Land, nein, sogar die ganze Welt aus dem Dunkel heraus zurück ins Licht führen. Keine versteckte Bedeutung, keine eingebauten Rätsel. Es war beinahe schon zu einfach. Die zweite Gestalt, die mit der Atemzug-Stimme, trat noch einmal ein paar Schritte auf Midine zu, um mit bedeutungsvoller Stimme die letzte Strophe zu deklarieren. "Strahlender Engel, vom Himmel gefallen, Begraben unter Tränen, verflucht von allen, Das Buch der Wahrheit bring zu des Königs Thron, Drei Milliarden warten schon." Diese Strophe war immer die gewesen, die scheinbar keinen Sinn ergeben hatte. Aneinanderreihungen von bedeutungslosen Metaphern, gefolgt von einer rätselhaften Aufforderung. Die besten Kryptographen des Landes hatten versucht, darin einen Sinn zu sehen, hatten verschiedenste Entschlüsselungsmethoden und Codes darauf angewandt, aber nichts von alledem hatte funktioniert. Ihr Mentor hatte sogar die Theorie gehabt, dass eben jene vierte Strophe überhaupt nicht zu der Prophezeihung gehörte. Nie hatte jemand die Botschaft der vier Zeilen entschlüsselt. Bis jetzt. Das Buch der Wahrheit. Midine erstarrte. Das Buch der Wahrheit? Natürlich! Das Buch, wegen dem sie den ganzen Horror in dem Bücherhaus auf sich genommen hatte, das Buch, das sie mit letzter Kraft nach draußen hatte retten können! Also muss ich nur das dämliche Buch zum Königspalast bringen. Ha! Den Weg dorthin kenne ich im Schlaf! Hätte Midine sprechen können, wäre sie in diesem Moment in Jubel ausgebrochen, so erleichtert war sie. Jetzt, wo sie wusste, was sie zu tun hatte, fühlte sie sich schon wieder viel sicherer. Zwar wusste sie immer noch nicht, was die drei übrigen Verse bedeuten sollten, aber in ihrem Freudenrausch ignorierte sie das völlig. "Schön gesagt", bemerkte die erste Gestalt, an die vor Midine stehende zweite Gestalt gerichtet. "Ja, nicht wahr?", fragte diese und trat ein paar Schritte zurück, bis sie wieder nebeneinander standen. "Wir bedanken uns sehr für den Applaus", erklärte die erste feierlich. "Wir bedanken uns auch für eure ungeteilte Aufmerksamkeit", sagte die zweite mit einer angedeuteten Verbeugung. "Aber nun müssen wir weiter", sagte die erste und griff in die Falten eines gigantischen Vorhangs aus dunkelroter Seide. Eines Vorhangs? Midine traute ihren Augen nicht. Wo war der denn auf einmal hergekommen? Oder war er schon die ganze Zeit da gewesen? "Weiter in die Zukunft", stimmte die zweite zu und ergriff die andere Seite des Vorhangs. "Die Zeit vergeht und wir vergehen mit ihr." "Kein Weg, davor zu fliehen!" "Kein Weg zurück!" "Viel Vergnügen!", rief die zweite Gestalt mit fröhlicher Stimme. Und bei diesen Worten traten sie beide urplötzlich auseinander und rissen mit scheinbar übermenschlicher Kraft den schweren Vorhang auseinander. Dann waren sie verschwunden. Verwirrt wollte Midine um sich blicken, aber sie konnte sich immer noch nicht bewegen. Also wartete sie. Wartete darauf, dass etwas passierte. Sie musste nicht allzu lange warten. "Ich weigere mich, das hinzunehmen!", brüllte eine Stimme wütend. Der dazugehörige Mensch erschien gleich darauf, ein junger Mann in einem weiten Gewand mit weißblonden Haaren und braun gebrannter Haut. Sein Gesicht war rot vor Wut. Midine erinnerte sich. War das nicht der Kronprinz von Alm, dem Königreich südlich von hier? Ihr Mentor hatte ihr einmal von ihm erzählt. "Ich sehe keinen anderen Weg, unseren Disput beizulegen", entgegnete eine andere Stimme mühsam beherrscht. Eine weitere Person erschien neben dem Kronprinzen. Midines Herz setzte einen Schlag aus. Es war, als würde sie in einen Spiegel blicken und sähe dort nicht sich selbst, sondern ihr zukünftiges Ich. Die Midine, die dort stand, wirkte größer, reifer, erwachsener. Ihre Haare waren länger und auf ihrem Kopf trug sie die goldene Krone einer Königin. Ihr Gesicht war blass vor Zorn und ihre rechte Hand umklammerte das Zepter so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. "Warum steht Ihr dann noch hier und redet?" Die Stimme des Kronprinzen -Ashril war sein Name, glaubte Midine sich zu erinnern- klang beinahe höhnisch. "Vielleicht, weil ich hoffe, dieses Schicksal doch noch abwenden zu können." "Wer den Karren in den Dreck setzt, zieht ihn auch wieder heraus- so ging das Sprichwort doch, oder? Nun, in Eurem Falle war es ein Moor, und der Karren ist längst unrettbar versunken." "Erspart mir Eure Sprichworte! Ihr wart es doch, der mit der ganzen Sache angefangen hat!" Jetzt war Midines Beherrschung endgültig dahin, mit sich überschlagender Stimme schrie sie Ashril an. "Angefangen hat, Euch zu widersprechen? Allerdings!", donnerte Ashril. "Nun, dann ist es also abgemacht?", fragte Midine durch zusammengebissene Zähne hindurch und streckte ihre rechte Hand aus. Ashril aber sah sie nur voller Hass an und spuckte ihr ins Gesicht. Nicht nur die ältere Midine zuckte zusammen, geschockt über dieses Ausmaß an Frechheit. Auch die jüngere Midine spürte unbändige Wut in sich hochsteigen. Wie kann er es wagen? Wie kann er es wagen, MICH anzuspucken? Midine die Ältere stand noch eine ganze Weile dort, zitternd vor Wut, auch noch nachdem Ashril sich längst umgewandt hatte und davonstolziert war. Die Dienstboten, die besorgt herbeigeeilt kamen, um ihr das Gesicht abzuwischen, wies sie ab. Sie hob ihren Arm und wischte sich mit dem Ärmel sorgfältig über die Wange. Dann hob sie den Blick und sah Ashril voll rasender Wut und Rachsucht hinterher. Doch bevor Midine die Jüngere Ashril noch mehr stumme Beleidigungen an den Kopf werfen konnte, veränderte sich das Bild. Jetzt war sie im Krieg. Es wirkte tatsächlich, als sei sie mitten im Kampfgeschehen. Soldaten wirbelten zu allen Seiten um sie herum, Schwerter blitzten blutig in der Sonne auf, Pfeile sirrten durch die Luft, Rüstungen klirrten, die Luft roch nach Schweiß und Blut. Zwar war Midine damals selbst im Krieg gewesen und hatte dort um ihr Leben gekämpft, aber das hier war so viel intensiver. Sie konnte die Gefühle von jedem einzelnen Soldaten auf diesem Schlachtfeld spüren, konnte ihre Gedanken hören, während sie sterbend am Boden lagen, während sie ihre Gegner abschlachteten. Die alte Furcht kroch wieder in ihr hoch, die Furcht vor Kampfschreien und Waffen und Blut und Tod und- Ruhig bleiben, beschwor Midine sich selbst. Ich bin nicht wirklich dort. Das ist nur eine Illusion. Genau in diesem Moment erblickte sie ihr älteres Ich, wie es auf einem schneeweißen Pferd mitten durch das Kampfgetümmel ritt und zu beiden Seiten gegnerische Soldaten niederschlug. Dann riss es seinen Mund auf und ein markerschütternder Kampfschrei löste sich von seinen Lippen. Ruhig bleiben, sagte ich! Die Furcht wuchs zwar nicht weiter, aber sie blieb, während Midine zusehen musste, wie Blut durch die Luft spritzte, wie Köpfe mit leeren Augen über den Boden rollten, wie Soldaten qualvoll verblutend auf dem Boden lagen. Sie hätte sich nur zu gerne übergeben, aber selbst das schien ihr nicht vergönnt zu sein. Wieder veränderte sich das Bild. Diesmal war ihre Heimat zu sehen, die Stadt über den Wolken. Aber etwas war... anders. Häuser waren eingerissen oder zerbombt worden, Brücken besaßen riesige Löcher oder fehlten ganz. Nirgends war auch nur ein lebender Mensch zu sehen und der Himmel war tiefgrau, als würde selbst er die Tragödie betrauern. Wir… haben den Krieg verloren? Doch noch bevor der Schock einsetzen konnte, wechselte die Szene wieder. In einem der Häuser, die noch standen, hatte sich eine kleine Gruppe von etwa fünfzig Menschen einquartiert. Alle von ihnen waren schmutzig und blutbefleckt, ob es nun ihr eigenes war oder das von jemand anderem, vermochte niemand mehr zu sagen. Einige von ihnen waren Soldaten, die meisten aber waren ganz normale Bürger. An den Wänden lagen auf schmutzigen Decken die Kranken und Verletzten, um die die übrigen Menschen sich zu kümmern versuchten. Ein kleines Mädchen saß neben einem groß gewachsenen Soldaten, der mit fiebrigen Augen an die Decke starrte, und versuchte unter Tränen, ihm Medizin einzuflößen. Ein reicher Händler in nunmehr zerlumpter Kleidung krümmte sich in einer Ecke, in panischer Angst vor etwas, das nur er allein sehen konnte. Eine junge Frau in schwarzer Kleidung saß einfach nur da und starrte auf den Boden. Im Zentrum von allem stand Tyra. Die tiefen Ringe unter ihren Augen und der Verband um ihren Kopf verrieten, dass sie selbst verletzt war, aber dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, überall Decken und Medizin zu verteilen, Verbände zu wickeln und sich um die Verletzten zu kümmern, die sonst niemanden mehr hatten. Eine schwarzhaarige junge Frau in ehemals weißer Militärkleidung schritt durch die Tür und ging geradewegs auf Tyra zu. Beinahe niemand im Haus schien ihr Beachtung zu schenken, aber Midines Augen klebten förmlich an ihr. Ett. Was machte sie denn hier? Sobald Tyra Ett erkannte, unterbrach sie ihre Arbeit und eilte auf sie zu. "Wo ist Midine, Ett?" Ett blieb stumm. Tränen glitzerten in ihren Augen. Tyra packte sie an den Schultern und schüttelte sie. "Ett! Was ist passiert? Wo ist Midine?" Auch ihre Stimme klang tränenerstickt. "Midine ist-", begann Ett, stockte und brach ab. Sie blinzelte ein paar Mal, dann versuchte sie es erneut. "Sie ist-" Aber sie brachte den Satz nicht zuende, sondern sank in sich zusammen und begann zu schluchzen. Tyra drückte sie an sich, geschockt und erschüttert. Nun weinten sie beide. Szenenwechsel. Ett stand vor einem recht kümmerlichen Grabstein. In ihrer Hand hielt sie ein paar abgerissene Efeuranken, in dieser zerstörten Welt hatte sie wohl nichts Besseres finden können. Unaufhörlich strömten Tränen über ihr Gesicht, als sie sich bückte und die Ranken auf das Grab legte. Nur schwach registrierte sie, dass hoch über ihr ein Loch in den schwarzen Wolken aufging und ein schwacher Lichtstrahl auf das Grab fiel. Sie wischte sich über die Augen, wobei sich den Dreck von ihrer Uniform mit ihren Tränen vermischte, und zog die Nase hoch. Dann sah sie nach oben und erstarrte. Der Himmel über ihr war nicht blau. Er war rot. Blutrot. Die Erkenntnis traf Midine im selben Augenblick, in dem der Boden unter ihren Füßen wegklappte und sie zu fallen begann. "Na, hast du ihn genossen?", begrüßte sie die Stimme von eben wieder. "Deinen Blick in die Zukunft?" Midine konnte ihr nicht antworten, wollte ihr nicht antworten, sie wollte nur noch schreien, schreien, schreien, wie man das normalerweise macht, wenn man irgendwo herunterfällt. Sie wollte weinen und schreien und um sich schlagen, bis irgendjemand sie aufweckte und ihr sagte, dass alles nur ein Traum gewesen sei. "Das heißt", überlegte die Stimme, "von da aus, wo du jetzt bist, ist es eher eine Reise in die Vergangenheit. Verdammt, dieses ganze Zeitreisen ist so kompliziert!" LÜGNER wollte Midine schreien, doch ihre Kehle war wie ausgetrocknet und sie brachte keinen Ton heraus. Selbst ihre Stimme hatte sie nun verlassen. "Wie auch immer", sagte die Stimme. "War nett, mit dir zusammenzuarbeiten! Man sieht sich... oder auch nicht." Und dann war das schwarze Nichts plötzlich verschwunden und alles war wieder da: die kaputten Brücken, die zerbombten Häuser, die menschenleeren Straßen. Der blutrote Himmel. Midine war wieder zurück in ihrer Alptraumwelt. Ihr schwirrte noch der Kopf von alldem und Tausende widersprüchlicher Gedanken schossen durch ihr Gehirn. Doch ein Wort, ein einziges Wort hob sich in dem Durcheinander über alles andere hinweg und drängte sich geradezu gewaltsam in Midines Bewusstsein. Zukunft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)