Castle of lies von AtriaClara (... are you crying?) ================================================================================ Kapitel 7: Das Buch der Wahrheit -------------------------------- Ein paar Sekunden noch blieb die Eine mit verschränkten Armen sitzen, ehe sie ihren Ärger herunterschluckte und sich zum Aufstehen zwang. In gewisser Weise hatte Malicia ja Recht. Hier zu sitzen und zu weinen, brachte sie auch nicht wieder nach Hause. Was sie brauchte, war ein wenig Optimismus. Auch wenn das noch nie zu ihren Stärken gehört hatte. Das Wasser in dem Taufbecken war wieder klar und zeigte kein Bild mehr, dennoch mied Midine es, in seine Richtung zu sehen. Sie trat an den Tisch und blickte grübelnd auf die Reste ihrer Mahlzeit hinunter. Was nun? Die Eine fasste einen Plan. Malicia hatte gesagt, ihre Zusammenarbeit wäre beendet, also würde sie wohl eine ganze Weile lang allein zurechtkommen müssen. Vielleicht konnte sie etwas von den Resten einpacken und mitnehmen? Dann müsste sie sich zumindest um die Nahrung keine Sorgen mehr machen. Aber einpacken worin? Midine hatte keine Tasche dabei und auch hier im Raum gab es nichts, worin man Lebensmittel vernünftig aufbewahren konnte. Enttäuscht verwarf Midine die Idee wieder. Sie würde wohl oder übel etwas auf Vorrat essen müssen und darauf hoffen, dass es hier noch irgendwo etwas Essbares gab. Und diesmal setze ich mich zum Essen auf den anderen Stuhl, beschloss sie im Stillen. Ich will nie wieder auf so einem wackligen Schemel sitzen müssen. Gerade, als sie sich auf dem Thron niederlassen wollte, fiel ihr auf, wie düster es in dem Raum geworden war. Die Kerzen in dem Kronleuchter und dem Leuchter auf dem Tisch waren alle heruntergebrannt, als wäre inzwischen sehr viel Zeit vergangen. Mit einem Schlag fühlte Midine sich wieder verfolgt. Unbehaglich sah sich um, konnte in dem schummrigen Licht kaum noch Konturen auszumachen. Mit jeder Sekunde schien es dunkler im Raum zu werden und Midines Nervosität stieg. Hatte es gerade dort hinter ihr geraschelt oder war das nur Einbildung gewesen? Mit viel Mühe riss Midine sich zusammen und tastete sich mit ausgestreckten Armen hinüber zu einem der Fenster. Dabei ging ihr Malicias Rat wieder durch den Kopf. Frische Luft schnappen? Die Idee ist gar nicht mal so schlecht. Midine tastete sich durch die staubigen Falten des Vorhangs, bis sie die Kordel fand, die ihn geschlossen hielt. Sie schloss ihre Hand darum und zog. Grelles Tageslicht flutete von draußen herein, sodass Midine geblendet die Augen schließen musste. Erst, als sie sich nach einigen Sekunden wieder traute, zu blinzeln, erkannte sie, was da auf der Fensterscheibe geschrieben stand. Finde das Buch der Wahrheit. Die Schrift war ungelenk und dunkelrot gefärbt, genau so wie der verwischte blutige Handabdruck darunter. Midine ließ die Kordel fallen und wich einige Schritte zurück. Ihr Herz schlug rasend schnell, viel zu schnell. Und während sie noch versuchte, sich auf dieses Ereignis irgendwie einen Reim zu machen, brach um sie herum das Chaos aus. Wie von selbst fielen die massiven Bücherregale krachend um und wirbelten Unmengen von Staub auf. Die Bücher rutschten heraus und fielen mit flatternden Seiten zu Boden. Als sie hinter sich ein bedrohliches Knarren hörte, drehte Midine sich um- und konnte sich gerade noch mit einem beherzten Sprung vor dem Erschlagenwerden retten. Direkt neben ihren Füßen landete krachend die Regalwand und zersplitterte unter der Wucht des Aufpralls in mehrere Teile. Staub stob auf und tanzte in den Lichtstrahlen, die von draußen hereinfielen. Midine versuchte, zur Beruhigung ein paar Mal tief durchatmen, aber der Staub kroch sofort in ihre Lunge und ließ sie kräftig husten. Ich hätte gerade sterben können, dachte sie. Erst jetzt stieg die Panik in ihr hoch. Aber dieses Gebäude war schon sehr alt. Wer wusste schon, wie stabil die Inneneinrichtung hier noch war? Vermutlich war es einfach Zufall gewesen und Midine hatte nur das Pech gehabt, zum falschen Zeitpunkt hier gewesen zu sein. Das erklärte zwar nicht, was diese seltsame Botschaft am Fenster sollte, aber wenn sie so darüber nachdachte, wollte sie das auch gar nicht wissen. Midine machte einen Schritt nach vorn. Sie würde jetzt nach draußen gehen und diese andere Realität erkunden. Nichts würde sie davon abhalten können, nicht einmal- "Aaah!" Die Eine erstarrte. War das gerade... ein Quieken gewesen? Unter ihrem Fuß? Eigentlich wäre sie viel lieber auf der Stelle losgerannt und nach draußen, aber ihre Neugier war größer als ihre Furcht und so wagte sie einen vorsichtigen Blick nach unten. Doch da war nichts. Nur ein Buch. Gerade wollte Midine sich einreden, dass das bestimmt nur Einbildung gewesen sei, da hörte sie die Stimme erneut: "Hey, könntest du deinen Fuß von mir herunternehmen? Das tut weh!" Einen Moment lang stand Midine einfach nur da und starrte auf das Buch unter ihrem Fuß, bis ihr Gehirn die Informationen verarbeitet hatte. Dann sprang sie erschrocken kreischend rückwärts, stolperte über ein Regalbrett, fiel mit rudernden Armen nach hinten und landete in einem Bücherstapel. "D-du kannst sprechen!", stammelte sie. "Da ist sie aber nicht die Einzige." In dem Bücherstapel rührte sich etwas, dann stakste ein Lexikon auf spindeldürren Beinen zwischen Midines Beinen hervor und sah sie wichtigtuerisch an. Die Eine gab nur ein ersticktes Quietschen von sich. Der Bücherstapel begann zu wackeln und in sich zusammenzustürzen, einzelne Bücher rutschten zu Boden. Immer mehr Bücher wühlten sich unter Midine hervor und gesellten sich auf ähnliche Weise wie das Lexikon zu ihren Artgenossen. Midine konnte nichts weiter tun, als fassungslos zuzusehen. Schließlich stand eine ganze Armee von Büchern tuschelnd und murmelnd in einem Halbkreis um die Eine herum. Der Bücherstapel war weg, sie saß nun auf dem nackten Boden. Ist doch praktisch, dass sie leben. Das macht es einfacher, herausfinden, welches das 'Buch der Wahrheit' ist. Ein Teil von Midines Gehirn dachte bereits in höheren Dimensionen, während der andere Teil sich noch weigerte, zu glauben, dass diese Bücher hier lebendig waren. Da plötzlich erklang ein Geräusch. Hart und kalt durchschnitt es die Luft. Dann erklang es wieder. Und wieder. Ein... Ticken? Tick. Tack. Suchend sah Midine sich um, konnte aber keine Uhr entdecken, die so ein Geräusch hätte hervorbringen können. Da war überhaupt keine Uhr. Woher kommt dann- Midine erstarrte. Eine tickende Uhr. Zeit. Ein Zeitlimit. Meine Zeit läuft ab. Ein Rätsel mit Zeitlimit? Midine wurde eiskalt. Die Buchstaben am Fenster tauchten den Raum in ein blutrotes Licht. Sie schienen Midine auszulachen, zu verspotten. Okay, okay. Alles ist gut. Stell ihnen eine Frage. Irgendeine. Dann wirst du schon herausfinden, welches das Buch der Wahrheit ist. Komm schon, du schaffst das! Midine räusperte sich vernehmlich und wartete dann ungeduldig, bis die Bücher einigermaßen still waren. "Also: Wer von euch ist das Buch der Wahrheit?" Sofort brach ein Sturm der Entrüstung aus. "Iiich!" "Ich natürlich!" "Nein, ich!" "Ich bin das einzig wahre Buch der Wahrheit!" "Du? Dass ich nicht lache! Du lügst doch, sobald du den Mund aufmachst!" "Na, das sagt ja der Richtige!" So fingen die Bücher an, miteinander zu streiten. Erst noch in erträglicher Lautstärke wurden ihre Anfeindungen immer lauter, bis sie sich nur noch gegenseitig anschrien. Innerlich schlug Midine sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich, bei so einer Frage antworten sie alle mit der gleichen Antwort. So finde ich das Buch der Wahrheit nie. Tick. Tack. Langsam wurde sie nervös, denn das Ticken der unsichtbaren Uhr schien immer lauter und immer bedrohlicher zu werden. Es schien sich auf sie zuzubewegen. Gut. Gut, ich muss eine Frage finden, bei der ich leicht herausfinden kann, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Komm schon, Midine, du kannst das! Aber ihr Gehirn schien wie festgefahren. Wie ein Tiger im Käfig lief sie im Zimmer auf und ab, während sich in ihrem Kopf einige wenig hilfreiche Fragen immer wieder im Kreis drehten. Tick. Tack. Das Ticken wurde lauter. Verzweifelt presste sie sich die Finger gegen die Schläfen, raufte sich die Haare- da hatte sie es. Aus tiefster Seele erleichtert riss sie die Augen auf und rief: "Welche Haarfarbe habe ich?" Ihre Taktik ging auf. Die Bücher verstummten abrupt. Eine Zeit lang herrschte Stille unter ihnen, dann meldete sich die näselnde Stimme eines Lexikons: "Blond." "Nein, Schwarz, das erkennt doch jeder", widersprach ein dicker Wälzer mit gewichtiger Stimme. "Quatsch, Rot!", quäkte eine dünne Novelle dazwischen. Auf einmal brach ein erbitterter Streit aus, wer von den dreien nun Recht habe. Die Bücher kreischten und keiften sich gegenseitig an, einige wurden sogar gewalttätig und fielen übereinander her. Der Lärm übertönte alles, auch das Ticken der nicht vorhandenen Uhr. Midine hockte sich auf den Boden, den Kopf in den Händen vergraben, während um sie herum das Chaos tobte. Ihr war das alles zuviel: Sprechende Bücher, streitende Bücher, Bücher, die logen und welche, die die Wahrheit sagten... Ihr drehte sich der Kopf von alldem und und vermutlich wäre sie an Ort und Stelle wahnsinnig geworden, hätte sie nicht in diesem Moment eine weitere Stimme gehört, dünn, aber klar: "Braun." Alarmiert sprang Midine auf. "Wo bist-", fing sie an, stockte dann aber, weil sie sich daran erinnerte, dass dann wieder alle Bücher antworten würden. Stattdessen lief sie, ohne weiter zu überlegen, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und fand sich vor drei noch stehenden Bücherregalen wieder. Offenbar waren sie eben verschont geblieben. Gefährlich schief standen sie da, nach vorn gebeugt, als wollten sie sich gleich auf Midine stürzen. Alle Regalbretter waren bereits leer, alle Bücher herausgefallen. Nein. Nicht alle. Dort oben, auf dem obersten Brett des rechten Regals lag ein dicker Wälzer, in schwarzes Leder gebunden und teilweise noch von Staub bedeckt. Natürlich gerade so weit oben, dass Midine es beim besten Willen nicht erreichen konnte. Sie hüpfte ein paar Mal an dem Regal auf und ab, verzweifelt darum bemüht, das oberste Brett zu erreichen, aber es blieb außerhalb ihrer Reichweite. Genausogut hätte es in zehn Metern Höhe schweben können. Zum ersten Mal in ihrem Leben bereute Midine es, keine hochhackigen Schuhe zu besitzen. Nervös wippte sie auf ihren Sohlen auf und ab, das schwarze Buch hypnotisch anstarrend, als wollte sie es mittels Gedankenkraft zur Erde befördern. Tick. Tack. Es musste doch einen anderen Weg geben... Das ist es! Euphorisch drehte Midine sich um und rannte zu der festlich gedeckten Tafel hinüber, wobei sie sorgsam darauf achtete, auf keins der immer noch miteinander streitenden Bücher zu treten. Ich habe ja sogar noch eine Auswahl, dachte sie frohlockend, lief dann kurzerhand zum Thron und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Aber der königliche Stuhl bewegte sich keinen Zentimeter. Midine versuchte es noch einmal, stärker diesmal. Immer noch nichts. Nun gut, damit war zu rechnen gewesen. Midine war noch nie die Stärkste gewesen und vermutlich war so ein Thron aus reinem Silber und Gold sehr schwer. Damit blieb also nur noch die zweite Option übrig: der Holzschemel. Das hatte Midine eigentlich lieber verhindern wollen, ihr war nicht wohl bei der Idee, sich auf einen derart wackeligen Stuhl zu stellen. Aber wenn sie keine andere Wahl hatte... Tick. Tack. Sie schluckte einmal, dann stellte sie sich mutig vor den Schemel und hob ihn mit beiden Händen an. Das heißt, das wollte sie. Doch der Schemel war wie am Boden festgeschweißt und rührte sich nicht. Midine verlor das Gleichgewicht und wäre fast vornübergefallen. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, starrte sie den Stuhl ungläubig an. Das verstehe ich nicht. Sie wagte einen weiteren Versuch, mit demselben Ergebnis. Dabei war sie sich sehr sicher, dass der Schemel eben noch fröhlich vor sich hin gewackelt hatte und sich leicht hatte zurückschieben lassen. Aber natürlich müssen sie es mir wieder so schwierig wie möglich machen. Am liebsten hätte Midine an dieser Stelle vor lauter Frust gegen den dämlichen Holzschemel getreten, um ihrer Wut auf diese dubiosen "sie" Ausdruck zu verleihen. Tick. Tack. Doch das hätte nur Zeit gekostet und Midine hatte das Gefühl, bereits sehr spät dran zu sein. Sie fuhr herum und lief wieder zurück zu den Regalen, wobei sie erneut gegen die aufsteigende Panik ankämpfen musste. Was mache ich jetzt, was mache ich jetzt... ? Es gab da eine weitere Möglichkeit, aber sie war riskant, vielleicht sogar lebensgefährlich. Tick. Tack. Aber andererseits wollte Midine nicht wissen, was nach dem Ticken kam. Sie ergriff das nächsthöhere Regalbrett. Ganz ruhig. Kein Grund, hysterisch zu werden. Es ist alles genau wie früher, da hast du doch auch immer versucht, dein Spielzeugregal hochzuklettern. Stimmt. Aber das war auch ein wenig kleiner und ein wenig freundlicher gewesen mit seinen bunt gestrichenen Holzbrettern. Midine zwang sich dazu, den Gedanken daran nicht weiterzudenken, da auch diese Geschichte letztlich im Krankenhaus geendet hatte. Und das trug nun nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern. Vorsichtig trat sie auf das erste Brett. Schon jetzt musste sie höchste Körperspannung aufbringen, um nicht sofort herunterzufallen. Sofort schob sie ihre Füße noch ein Brett höher und hangelte sich entsprechend vorwärts, um ihrem Körper gar keine Gelegenheit zu geben, das Gleichgewicht zu verlieren. Tick. Tack. So ging das eine quälend lange Weile. Midine wusste nicht, wie hoch sie bereits über dem Boden war, weil sie sich entschlossen hatte, auf gar keinen Fall nach unten zu sehen. Zum Einen, weil sie dann sicher endgültig das Gleichgewicht verlieren würde und zum Anderen, weil sich nach unten sehen in dieser Welt noch nie als eine gute Idee erwiesen hatte. Alles, was zählte, war, dass sie das Buch bald erreichen würde. Doch so einfach war das nicht. Schweißtropfen liefen ihre Stirn hinab und fingen zunehmend an, sie in ihrer Konzentration zu stören. Die Regalbretter wurden immer rutschiger unter ihren schwitzigen Fingern und ihre Bauchmuskeln schmerzten, als hätte sie einen heftigen Lachanfall erlitten. Aber das Gegenteil war der Fall, Midine war im Moment überhaupt nicht zum Lachen zumute. Sie biss die Zähne zusammen und schob sich weiter Stück für Stück das Regal hinauf. Tick. Tack. Da. Da endlich war es, das ersehnte Buch der Wahrheit. Es lag nur noch ein Regalbrett entfernt. Mühsam löste Midine den Klammergriff ihrer rechten Hand um das Regalbrett und streckte sie nach dem Buch aus. Tastete blindlings und zunehmend panisch auf dem Brett herum. Ihre Finger stießen auf das Buch, ertasteten den Einband- und rutschten ab. Midine entfuhr ein halb frustriertes, halb zorniges Knurren, zu mehr Worten war sie gerade nicht fähig. Verzweifelt klammerte sie sich mit der linken Hand an dem Regalbrett fest, auch wenn sie wusste, dass das nichts bringen würde. Ihre Finger würden trotzdem abrutschen. Lange würde sie sich nicht mehr mit nur einer Hand halten können. Beruhige dich, verdammt! Du schaffst das! Midine atmete einmal tief ein und aus, dann erhob sie den rechten Arm erneut. Versuchte, den Einband des Buches mit ihren zittrigen Fingern zu ergreifen. Mit zwischen die Lippen geklemmter Zunge schaffte sie es irgendwie, das Buch aus dem Regal herauszuziehen und ihre Finger darum zu schließen. Dann verlor sie endgültig den Halt und fiel hintenüber. Noch im Fallen behielt sie einen erstaunlich klaren Kopf, als hätte ihr Gehirn noch überhaupt nicht begriffen, dass sie abgerutscht war. Was ihr als Erstes auffiel auf ihrem Weg nach unten, war: Es ist so still hier. Haben sie etwa aufgehört, sich zu streiten? Tatsächlich, es war so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Midine wunderte sich noch darüber, als sie selbst auf dem Boden aufprallte. Parkett krachte und Staub wirbelte auf. Ein jäher Schmerz schoss Midines Rücken hinauf. Sie wollte schreien, bekam aber nur ein heiseres Keuchen heraus. Alle Luft war bei ihrem Aufprall aus ihren Lungen gewichen. So lag sie da, panisch nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihre Augen tränten und nur undeutlich bekam sie mit, wie die Bücher sich raschelnd um sie herum versammelten. Schweigend starrten sie die Eine an. Bis eins von ihnen das Wort ergriff. "Sie hat es gewählt", stellte das Lexikon fest, beinahe angewidert klingend. "Ja, es !", kreischte ein Wörterbuch aus der Mitte der Menge. "Wir hassen es !" Ohne Vorwarnung begannen die Bücher zu toben. "Sie hätte mich wählen sollen!", heulte die Novelle wie von Sinnen. "Nein, MICH!" "Michmichmichmiiiiiich!" Die Bücher kreischten alle durcheinander. "Ruhe!", donnerte das Lexikon. Sofort verstummte die Menge. "Uns gegenseitig zu attackieren, bringt uns keinen Vorteil. Stattdessen sollten wir all unsere Anstrengungen auf unseren gemeinsamen Feind richten!" Es erntete zustimmendes Geheul von allen Seiten. Midine hatte von all dem nichts mitbekommen. Noch immer dröhnte ihr Herzschlag in ihren Ohren. Als sie wieder einigermaßen Luft bekam, blinzelte sie sich die Tränen aus den Augen und sah sich um. Die Art, wie die Bücher sie anstarrten -oder vielmehr das, was sie immer noch fest umklammert hielt- machte ihr Angst. Sofort setzte sie sich auf und drückte das Buch der Wahrheit an ihre Brust. Das Lexikon drängelte sich nach vorne , erkletterte den Bücherstapel, zu dem sich ein paar seiner Artgenossen sofort aufschichteten und baute sich vor ihr auf. "Gib uns das Buch.", sagte es und betonte dabei jedes Wort so sorgfältig, dass es fast bedrohlich klang. "Warum sollte ich?" Midine hielt es für eine gute Idee, sich aufzurichten, um diesen Büchern zu zeigen, wer hier der Stärkere war. Das Buch hielt sie weiter fest an sich gepresst. "Weil wir dich sonst töten werden." Dieser Gedanke war nun so absurd, dass Midine ein nervöses Glucksen entfuhr. Gut so, dachte sie. Zeig diesen dämlichen Lügenbüchern, dass du über sie nur lachen kannst. Midine dachte an Malicia und versuchte es mit einem spöttischen Lachen. Was dabei herauskam, klang aber so hysterisch, dass sie sofort damit aufhörte. "Du hast Angst", stellte das Lexikon fest, dass sich nun genau auf der Höhe von ihren zitternden Knien befand. "Gib uns einfach das Buch, dann lassen wir dich gehen." "I-ich habe keine Angst", sagte Midine, um eine sichere Stimme bemüht. "Ich bin total panisch." Sie holte aus und trat das verblüffte Lexikon in hohem Bogen von seinem Bücherstapel. "Und wenn man Panik hat, dann tut man oft Dinge, die man später bereuen wird." Nach diesen gemurmelten Worten drehte sie sich um und rannte. Hinter ihr ertönte ein rasendes Zischeln aus vielen Zungen, wütende Kampfschreie. Das Klackern von den spinnenartigen Beinen auf Holz. Ein Krachen, etwas fiel um. Midine wollte sich nicht umdrehen, um zu sehen, was es war. Sie rannte, sprang mit einem Satz die Stufen zur Empore hinunter. Lief auf die rettende Eingangstür zu. Tick. Tack. War der Raum nicht eben noch viel kleiner gewesen? Midine hatte das Gefühl, schon seit Minuten zu laufen. Es war wie in einem dieser Albträume, in denen man rennt, aber das Gefühl hat, keinen Schritt vorwärts zu kommen. Das Zischen kam näher, immer näher. Midine glaubte, den Atem der Bücher an ihren Waden zu spüren. Ihr eigenes dumpfes Keuchen klang in ihren Ohren wieder. Ihre Beine schmerzten noch von der Kletterpartie eben und ihr Herz hämmerte. Ihr Ziel schien zwischenzeitlich vor ihren Augen zu verschwimmen, aber sie hielt durch. Midine war körperlich fast am Ende, als sie die Tür erreichte, geistig aber stieß sie schon Jubelrufe aus. Sie ergriff hastig den Türknauf, drehte ihn, zog- Die Tür war verschlossen. Mit blutroter Farbe war auf dem Holz ein Satz geschrieben. Es gibt kein Zurück. Zuviel war zuviel. Das war der Moment, in dem Midines Panik ein Limit erreichte. Nun gab es für ihr Hirn zwei Möglichkeiten: Entweder sie verlor auf der Stelle den Verstand oder aber sie rastete völlig aus. Das Gehirn traf eine Entscheidung. "Es gibt kein Zurück?! Ihr könnt mich alle mal!", brüllte Midine und trat gegen das Holz. Die Tür schien das nicht besonders zu stören, aber dafür schoss ein heißer Schmerz durch Midines großen Zeh und trieb ihr die Tränen in die Augen. Von ihrem Schmerz nur noch weiter angestachelt, fuhr Midine herum. "Und ihr!", schrie sie gegen die heranstürmende Büchermeute an. "Ihr!" Sie nahm Anlauf und trat ein paar Bücher in die entgegengesetzte Richtung davon. "Werdet!" Ein Buch sprang sie kreischend an, doch Midine holte aus und schlug es aus seiner Flugbahn. "Mich!" Sie schüttelte wütend die Bücher ab, die ihre Beine hochkrabbeln wollten. "Nicht!" Sie trat auf alle Bücher, die sich zu nah an ihre Füße wagten und stampfte sie in den Boden. "Töten!" Midine ergriff das Buch der Wahrheit mit beiden Händen, hielt es hoch über ihren Kopf und ließ es dann auf das Lexikon niedersausen, das nicht den Hauch einer Chance hatte. Einen Moment lang stand sie so da und bewunderte ihr Werk. Dann sah sie auf und erblickte etwas am anderen Ende des Raumes. Die drei Bücherregale, die eben noch gestanden hatten, hatten sich offenbar in ihr Schicksal ergeben und waren ebenfalls umgestürzt. Dahinter befand sich eine weitere Tür, über der mit derselben blutroten Farbe To happiness geschrieben stand. "Klingt ja verlockend", murmelte Midine. Und gerade, als sie diesen Gedanken zu Ende geführt hatte, hörte sie wieder das Zischen. Ganz langsam drehte sie sich um. Offenbar war sie nicht ganz so gründlich gewesen, wie sie gedacht hatte. Hinter ihr hatte sich lautlos eine große Gruppe Bücher versammelt, die Midine für tot gehalten hatte. Ein paar lagen zwar immer noch mit zertretenen Gliedmaßen auf dem Boden, die meisten aber waren wieder aufgestanden und blickten sie mit Mordlust in ihren Augen an. "Oh", entfuhr es Midine. Sie wich einen Schritt zurück. Das wollte sie jedenfalls. Aber ihr Fuß stieß gegen die Leiche des Lexikons, das Midine völlig vergessen hatte. Sie stolperte und fiel entsetzt hintenüber. Das Buch der Wahrheit glitt ihr aus der Hand. Sobald ihr Rücken den Boden berührte, waren die Bücher über ihr. Ein paar besonders schwere Exemplare stapelten sich auf ihren Armen übereinander, um sie am Herumzappeln zu hindern. Sofort krabbelte ein ganzes Dutzend Bücher auf ihren Körper, bohrten ihre dünnen Beine in Midines Haut. Midine schrie in einer Mischung aus Panik und Ekel. Sie trat mit den Beinen um sich und schaffte es tatsächlich, ein paar der Kreaturen zu erwischen, ehe auch ihre Beine von den Büchern besetzt wurden. Nun waren es nur noch vier Bücher, die auf ihrem Oberkörper herumkrabbelten. "U-und was wollt ihr jetzt machen?", fragte Midine und schaffte es fast, spöttisch zu klingen. "Wollt ihr mich zu Tode pieksen?" Was mache ich da?, dachte sie verzweifelt. Klar, stachle sie auch noch weiter an. Warum nicht? Ein mageres Taschenbuch mit zerfledderten Seiten hielt inne und schaute Midine an. "Zeig's ihr", befahl es schließlich einem seiner Artgenossen. Gehorsam trippelte der Angesprochene von Midines Brustkorb herunter und hielt neben ihrem Oberarm. Er prüfte kurz seine Seiten, holte dann aus und schnitt einmal probeweise durch ihr Fleisch, bis Blut herauslief. Habt ihr euch je beim Lesen oder Aktensortieren an einem Blatt Papier geschnitten? Dann wisst ihr, wie weh so etwas tut. Midine sog zischend Luft ein und biss ihre Zähne zusammen, während Tränen in ihre Augen traten. Blut färbte ihren ehemals blauen Ärmel. Während sie noch versuchte, sich die Tränen aus den Augen zu blinzeln, hörte sie auf einmal das Rascheln von Papier und die schemenhafte rechteckige Gestalt eines Buches tauchte direkt vor ihrem Gesicht auf. Midine begriff. Sie brauchen einfach nur auf meine Kehle zu zielen. Diese Erkenntnis versetzte sie so sehr in Schock, dass sie ruckartig ausatmete - was ihr das Leben rettete. Das Buch auf ihrer Brust verlor das Gleichgewicht und stolperte vorwärts. Seine Seiten verfehlten ihren Hals und schlitzten stattdessen ihre Wange auf. "Halt still", sagte das Buch verärgert. "Sonst treffe ich deine Kehle nie." Als Midine spürte, wie warmes Blut ihre Wange hinunterlief, geriet sie in Todesangst. "Bitte!", rief sie und ihre Stimme überschlug sich. "Bitte lasst mich leben! Ihr könnt das Buch der Wahrheit haben! Alles, was ihr wollt, nur tötet mich nicht!" Es musste jemand anders sein, der dort sprach, eine andere Person. Denn sie selbst hätte niemals so um ihr Leben gebettelt, dessen war Midine sich sicher. Das Taschenbuch von eben tauchte über ihr auf. "Glaubst du wirklich, das Buch der Wahrheit wäre für uns jetzt noch von Bedeutung?", fragte es verächtlich. "Du hattest die Chance, es uns zu geben, und hast sie nicht genutzt. Pech." Midine heulte verzweifelt auf und kniff die Augen zusammen. Wenn sie schon sterben musste, dann wenigstens mit geschlossenen Augen. Sie wollte niemandem zumuten, ihr die Augen schließen zu müssen. Sie bereitete sich innerlich auf ihren Tod vor, bis- "Lasst sie in Ruhe." Das Buch über ihr hielt in seiner tödlichen Bewegung inne. Die Stimme, die dort sprach, war dünn, aber klar. Vorsichtig blinzelte Midine. "Ihr werdet sie jetzt in Ruhe lassen." Die Stimme kam von rechts neben ihrem Kopf, aber Midine wagte es nicht, ihren Hals zu bewegen. "Ach ja?", höhnte eins der Bücher. "Wer sagt das? Wir töten sie und danach bist du dran." "Ich sage das. Und wie jeder weiß, sage ich immer die Wahrheit." Dann plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch, gefolgt von verblüfften Aufschreien. Bücher polterten zu Boden und die Last auf Midines rechtem Arm war verschwunden. "Jetzt!", schrie das Buch der Wahrheit. Midine reagierte blitzschnell und fegte die Bücher auf ihrem Oberkörper mit ihrer Hand beiseite. Nun brach ein Tumult aus unter den Büchern. Unter wütendem Gekreisch verließen sie ihren Posten auf Midines Gliedmaßen, was wiederum dazu führte, dass die Eine aufsprang und einige Male wütend um sich schlug, um dann umgehend die Flucht anzutreten. Im Laufen hob sie das Buch der Wahrheit auf und drückte es fest an sich. Sie sprintete wieder die Stufen zur Empore hinauf, auf die neu erschienene Tür zu. Gerade glaubte sie, die Bücher endlich abgehängt zu haben, als ein schweres Wörterbuch von einem der Regale fiel und auf ihrem Kopf landete. Dröhnender Schmerz hallte durch ihren Schädel und für einen kurzen Augenblick tanzten Sterne vor ihren Augen. Sie drohte kurz, gegen die Wand zu taumeln, bevor sie sich wieder fing und mit brennender Entschlossenheit auf die Tür zurannte. Tick. Tack. Und endlich erreichte sie sie. Hastig drehte sie den Türknauf, halb in der Erwartung, die Tür würde verschlossen sein. Aber diesmal öffnete sie sich. Diesmal verschwendete Midine keinen Gedanken daran, sich zu beglückwünschen und sprang über die Türschwelle. Sobald ihre Füße Steinboden berührten, fuhr sie herum und warf sich mit der Schulter gegen die offenstehende Tür, ohne auf den stechenden Schmerz in ihrer Brust zu achten. Fauchend stürmten die Bücher von innen dagegen und schienen darauf zu brennen, die Tür aus ihren Angeln zu werfen. Midine ignorierte ihre Verletzung und hielt mit zusammengebissenen Zähnen dagegen. Ein paar Sekunden lang hielten sich beide Seiten die Waage und die Tür schwankte irgendwo zwischen Auf und Zu. Midine versuchte fieberhaft, an irgendetwas, an irgendjemanden zu denken, der oder das ihr Kraft gab. Ett, Avelli, Pfannkuchen mit Ahornsirup... nichts schien zu funktionieren. Die Bücher erhöhten kreischend den Druck gegen die Tür. Da plötzlich erschien Malicia vor Midines innerem Auge. Seht sie euch an, spottete sie. Noch nicht einmal gegen Bücher kommt sie an. Soll das etwa die Eine sein? Dir zeig ich's, dachte Midine wütend und stemmte sich gegen das Holz, die Zähne gebleckt. Mit beinahe unmenschlicher Kraft und einem bestienartigen Knurren schob sie, bis die Tür in ihr Schloss einrastete. Ein Klacken. Sie war in Sicherheit. Ein paar Mal noch erbebte das Holz unter den Angriffen der rasenden Bücher, dann war es ruhig. Tick. Tack. Ein letztes Mal. Dann herrschte Stille. Überwältigt vor Erleichterung ließ Midine sich an der Tür hinabrutschen. Sie schloss die Augen und schnappte nach Luft, atmete ein paar Mal tief ein und aus, das Buch der Wahrheit immer noch fest gegen ihre Brust gepresst. Ein Grinsen lag auf ihren Lippen, der Schmerz war für einen Moment wie weggeblasen. Sie hatte es geschafft. Midine schwelgte immer noch in ihrer Glückseligkeit, als ein ohrenbetäubender Knall die Luft erbeben ließ und ihr rechtes Trommelfell zerschmetterte. Sie wurde von der Druckwelle der Explosion erfasst und durch die Luft geschleudert wie eine leblose Puppe, bis sie gegen einen Widerstand prallte und zu Boden fiel. Das Letzte, was sie noch mitbekam, war ein ekelerregendes Knacksen und ein monotones Piepen in ihrem Ohr. Dann war sie weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)