Castle of lies von AtriaClara (... are you crying?) ================================================================================ Kapitel 5: Dein rechtmäßiger Platz ---------------------------------- "Ohne Ziele sind wir nichts. Wir leben ziellos in den Tag hinein, bescheiden und zufrieden. Die Welt bleibt, wie sie ist, für immer. Denn ohne Ziele lohnt es sich nicht, für etwas zu kämpfen." Nur wenige Schritte vor der Tür blieb Midine stehen. Ihre Hand zuckte von dem Türknauf zurück. Was, wenn hier gar keine Hilfe auf mich wartet? Was, wenn das hier eine Falle ist? Warum sollte Malicia mir denn auch helfen? Sie hat mich von Anfang an gehasst, und dann habe ich sie getötet. Midine zögerte einen Moment, doch dann legte sie kurz entschlossen die Hand auf den Türknauf und drehte ihn. Du solltest dich geehrt fühlen, dass ich dir so sehr vertraue, Malicia. Vorsichtig drückte Midine die Tür auf. Sie wagte kaum zu atmen, ihr Herz pochte unnatürlich laut. Die Luft angehalten, spähte sie hinein... Ein Seufzer der Erleichterung verließ ihre Lippen, als sie sah, dass niemand da war. Sie schlüpfte durch den Türspalt und verschloss die Tür wieder hinter sich, ehe sie sich in dem Raum umsah. Er war sehr groß, kreisförmig und ohne erkennbar abgetrennte Zimmer. In seinem vorderen Teil befanden sich einige reich verzierte Holzbänke und ein Wasserbecken, bevor einige Stufen zum hinteren Teil hinaufführten. Midine erinnerte sich nach anfänglicher Verwunderung daran, dass dieses Gebäude einmal eine Kirche gewesen war, bevor dort jemand eingezogen war. Anscheinend war dieser Jemand ein großer Bücherfan gewesen, denn an allen Wänden waren Bücherregale aneinandergereiht, fast vier Meter hoch. Sogar auf den Bänken waren Bücherstapel zu finden. Auf einer Art Empore in der Mitte des Raumes stand ein großer, länglicher Tisch mit einem opulenten Festmahl, das für mindestens fünfzehn Personen gereicht hätte, obwohl nur zwei Stühle darum standen. Die Braten, Salate und Torten wurden von einem achtarmigen Kerzenleuchter angestrahlt. Über der ganzen Szenerie hing ein schwerer Kronleuchter von der hohen Kuppeldecke herab. Anscheinend hatte sich irgendjemand die Mühe gemacht, alle zwölf Kerzen mühevoll anzuzünden. Midine schauderte. Unsicher bahnte sie sich ihren Weg zwischen den Bänken hindurch auf den Tisch zu. Sie sah auf die Köstlichkeiten herab, unschlüssig, was sie jetzt machen sollte. Das leckere Essen lachte sie förmlich an und sofort begann Midines Magen zu knurren. Sie erinnerte sich daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte. Aber vielleicht war das Essen vergiftet! Mittlerweile hielt Midine selbst das für möglich. Sie beugte sich über den Tisch und schnupperte an einem gebratenen Hähnchen. Kein verdächtiger Geruch, dafür begann Midines Magen umso lauter zu knurren. Gerade wollte sie sich wieder aufrichten, da entdeckte sie einen Notizzettel unter einer der Silberplatten. Neugierig zog sie ihn hervor und faltete ihn auseinander. Nimm deinen rechtmäßigen Platz ein. ~M Midine runzelte die Stirn. Nimm deinen rechtmäßigen Platz ein? Was hatte das denn zu bedeuten? Platz, waren damit vielleicht die Stühle gemeint? Sie sah auf. Drehte sich einmal um sich selbst. Nein, die Stühle waren wirklich die einzigen Sitzgelegenheiten, die man als "Plätze" bezeichnen konnte. Also... sollte sie sich auf einen Stuhl setzen? Aber auf welchen? Es gab schließlich zwei. Rechtmäßiger Platz... also sollte sie sich auf den Platz setzen, der ihr zustand? Midine begutachtete den Stuhl links von ihr. Es war ein ärmlich aussehender, aus verschiedenen Ersatzteilen zusammengeflickter Holzschemel. Er sah ziemlich wackelig aus und Midine beschloss, sich lieber noch den anderen Stuhl anzusehen. Sie ging zielstrebig um den Tisch herum. Der andere Stuhl war aus reinem Silber, mit Gold überzogen und mit rotem Samt gepolstert. An der Oberseite der Stuhllehne waren sogar einige funkelnde Juwelen eingelassen. Es war der Stuhl eines Königs, zumindest aber der eines Mitglieds der königlichen Familie. Midine ging zurück zur Mitte der Tafel, hin- und hergerissen. Wo sollte sie sich hinsetzen? Welcher war ihr rechtmäßiger Platz? Keiner von beiden traf darauf wirklich zu. Die Stühle stellten zwei Extreme dar, zwei Welten, doch Midine pendelte irgendwo dazwischen. Natürlich war sie keine Königstochter, aber sie war auch nicht bettelarm. Sie vermisste einen normalen, soliden Holzstuhl an der Tafel. Aber sie musste sich entscheiden, sich irgendwo hinsetzen. Nur wo? Nach alldem, was sie in dieser seltsamen Welt schon gesehen hatte, zweifelte sie nicht daran, dass eine falsche Entscheidung hier tödlich enden konnte. In ihrer Verzweiflung sah sie noch einmal auf den Zettel in ihrer Hand. Nimm deinen rechtmäßigen Platz ein. Wieder und wieder las sie sich die Nachricht durch, auf der Suche nach etwas, das ihr vielleicht helfen konnte. Da fiel ihr Blick auf die Unterschrift. ~M Midine brauchte keine zwei Sekunden, um das Kürzel mit einer ihr nur zu gut bekannten Person in Verbindung zu bringen. Aber wenn Malicia wollte, dass sie sich hier auf einen der beiden Stühle setzte, warum sagte sie das nicht einfach, anstatt ihr einen so rätselhaften Zettel zu hinterlassen? Aber Moment mal... Midine hatte einen Einfall. Wenn diese Nachricht von Malicia stammte, würde sie vielleicht gleich wieder hier auftauchen. Es war zwar nur eine Vermutung, aber es war alles, was Midine als Anhaltspunkt nutzen konnte. Und falls Malicia wirklich hier auftauchen sollte, würde sie sich sicherlich nicht mit einem Stehplatz zufriedengeben. Sie würde sich also ebenfalls hinsetzen. Doch welchen Stuhl würde Malicia wohl als ihren rechtmäßigen Platz ansehen? Die Frage war nicht schwer zu beantworten. Bescheidenheit hatte noch nie zu Malicias Stärken gehört. Also ging Midine um den Tisch herum und ließ sich mit klopfendem Herzen auf dem Holzschemel nieder. Sobald sie saß, hob sie den Blick und sah sich nervös im Raum um. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Einige Sekunden nun passierte gar nichts. Das beruhigte Midine jedoch nicht im Geringsten, im Gegenteil, es schürte ihre Anspannung nur noch mehr. Plötzlich gab es einen lauten Knall. Die Eingangstür wurde fast aus ihren Angeln gerissen, als sie nach innen aufschwang und mit viel Schwung gegen die Wand prallte. Midine gab einen erstickten Schrei von sich, rutschte von ihrem Schemel und versteckte sich zitternd hinter dem Tisch. "Tadaa!", hörte sie eine Stimme rufen. "Freuet euch und frohlocket, meine zahlreichen Untertanen! Heute dürft ihr die Schönheit eurer geliebten Königin bewundern!" Die Stimme schwieg eine Weile, als erwarte sie Applaus und Jubelrufe, dann fuhr sie in einem strengen Ton fort: "Komme Er da unter dem Tisch hervor und sehe Er Ihre Königliche Majestät an, Wicht!" Das war eindeutig Malicias Stimme, kein Zweifel, aber der Tonfall und die Wortwahl passten überhaupt nicht zu ihr. Misstrauisch spähte Midine über die Tischkante. Die Person hinter der Tafel war tatsächlich Malicia. In ihre typische blutrote Kleidung gehüllt, stand sie da. Die Hände in die Hüften gestemmt funkelte sie Midine bedrohlich an. Ihr Schwert steckte nach wie vor in ihrer Brust , aber sie trug eine edelsteinbesetzte Krone aus massivem Gold auf dem Kopf, die viel zu schwer für sie wirkte und ihr bereits über ein Auge gerutscht war. Langsam richtete Midine sich auf. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, ihre Erzfeindin lebend zu sehen. "Wage Er es ja nicht, Ihrer Majestät in die Augen zu sehen!", donnerte Malicia und Midine wich erschrocken zurück. Da brach Malicia in schallendes Gelächter aus. Selbst ein sehr ungesund klingender Hustenanfall konnte sie nicht vom Weiterkichern abhalten. Sie lachte, während Blut aus ihrem Mund auf den Boden tropfte. Ihr ganzer Körper krümmte und bog sich, sie klopfte sich prustend auf die Schenkel. Die goldene Krone rutschte von ihrem Kopf und fiel mit einem dumpfen Klonk zu Boden. Was ist denn jetzt los? Verwirrt betrachtete Midine ihre Erzfeindin, die sich gar nicht mehr einkriegte vor Lachen. Auf einmal verstand Midine all jene, die sie für geistesgestört gehalten hatten. "Du hättest dein Gesicht sehen müssen", japste Malicia atemlos. "Dein Gesihihihihicht..." Alles Weitere ging in einem erneuten Lachanfall unter. Mit säuerlicher Miene wartete Midine darauf, dass Malicias Lachen verstummte. Als es schließlich soweit war, hob sie die erstaunlich schwere Krone auf und hielt sie der Blonden schweigend hin. "Danke", kicherte Malicia, nahm ihre Krone entgegen und wischte sich grinsend die letzten Lachtränen aus den Augenwinkeln. Dann begab sie sich endlich zu ihrem Stuhl, der, wie Midine vermutet hatte, der goldene Thron zu ihrer Rechten war. Sich im Stillen für die richtige Antwort beglückwünschend, nahm Midine ihr gegenüber Platz. "Eine gute Platzwahl", bemerkte Malicia, auf den Holzschemel deutend. "Passt zu dir." Midine verkniff sich die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, und beschränkte sich auf einen finsteren Blick. Malicia tat, als würde sie es nicht bemerken. "Du hast das Rätsel schneller gelöst, als ich dachte. Meinen Respekt. Es gab natürlich nur zwei Antwortmöglichkeiten, also hättest du auch einfach raten können. Aber das hast du natürlich nicht." Es war eine Feststellung, aber es klang wie eine Frage, also schüttelte Midine wahrheitsgemäß den Kopf. "Sehr gut." Malicia setzte sich die Krone wieder auf. "Und nun lasset Uns dieses köstliche Mahl verzehren, meine Liebe." Sie schlug elegant die Beine übereinander, dann schüttelte sie schwungvoll ihre Serviette aus und legte sie sich auf den Schoß. Während sie sich eine bunte Mischung aus Kartoffelsalat, Apfelmus und Tortenstücken auf den Teller lud, rührte Midine nichts an. Malicia verdrehte höchst undamenhaft die Augen, bevor sie wieder in ihre Rolle hineinfand. "Verehrteste, nun esst doch etwas, Ihr müsst hungrig sein. Es ist alles da!" Mit der Tortengabel wies Malicia quer über den Tisch. "Feinste Ananas, frisch aus dem Süden importiert!" Sie lachte. "Kommt schon, ich werde Euch schon nicht vergiften! Erlesener Kaviar, von ausgewählten Spitzenköchen zubereitet! Fruchtige-" "Gibt es Pfannkuchen?", unterbrach Midine ihre Ausführungen. Malicia sah hinunter auf den Tisch, erst suchend, dann missbilligend. "Ich fürchte nicht", sagte sie schließlich bedauernd. "Das tut mir wirklich ausgesprochen leid." Ohne ein weiteres Wort nahm Midine einen der Hähnchenschenkel und begann vorsichtig daran zu knabbern. Erst zaghaft, aber dann, als sie spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief und ihr Magen knurrend nach mehr verlangte, immer schneller. Und ehe sie sich's versah, hatte sie zwei ganze Hähnchenschenkel aufgegessen. Wenn das Essen vergiftet war, dann bin ich jetzt sowieso so gut wie tot, dachte Midine überraschend zynisch. Dann kann ich auch gleich noch ein paar von diesen Köstlichkeiten probieren. "Delikate Hähnchenschenkel", verkündete Malicia, die sie beobachtet hatte, grinsend. "Fein gewürzt und auf die Zehntelsekunde genau gebraten. Das Fleisch stammt ausschließlich aus Freilandhaltung und ist..." Midine hörte gar nicht mehr zu. Heißhungrig vertilgte sie eine Scheibe Lachs nach der anderen, jede noch köstlicher garniert als die vorherige. Sie hätte Malicia gerne gefragt, woher sie das alles hatte, aber leider war ihr Mund zu voll für so etwas. Nach dem Lachs kam eine Platte dampfendes Rührei mit Speck an die Reihe. Sogar der Speck, den Midine normalerweise nicht ausstehen konnte, war hier so raffiniert zubereitet, dass sie nicht Nein sagen konnte. Und so arbeitete Midine sich langsam durch alle Speisen, die die Tafel zu bieten hatte. Hier etwas Kaviar, da etwas Kürbiscremesuppe, schließlich ein Bratapfel als kleines Dessert.... Sie hätte ewig so weitermachen können, nur leider trat bereits nach ihrem zweiten "kleinen Dessert" die Sättigung ein. Midine hörte -wenn auch schweren Herzens- augenblicklich auf, zu essen, denn sie hatte wenig Lust, sich nachher gleich noch einmal übergeben zu müssen. Enttäuscht betrachtete Midine all die verlockend riechenden Speisen, die sie noch nicht probiert hatte. Dann riss sie sich zusammen und sah zu Malicia hinüber. Diese spießte gerade geziert ein Stück Schweinebraten auf ihre Gabel, als sie merkte, dass sie beobachtet wurde. "Was kann meine bescheidene Majestät für Euch tun, meine Liebe? Gibt es Beschwerden eurerseits?" "Nein, gar nicht", erwiderte Midine rasch. "Im Gegenteil, es war vorzüglich." "Das erfreut die königlichen Ohren Ihrer Majestät zutiefst." "Aber wo habt Ihr... hast du diese ganzen Sachen her?" Jetzt fange ich auch noch an zu reden wie sie, schalt Midine sich innerlich. Malicia legte einen Finger an die Lippen. "Scht. Es bedrückt Ihre Majestät sehr, Euch das auf diese Weise sagen zu müssen, doch es steht mir nicht zu, Euch das zu verraten. Es ist eine Art Berufsgeheimnis, wenn man das so sagen darf. Äußerst vertraulich und, äh... geheim." Das hätte Midine sich eigentlich schon denken können. Sie nickte. "Warum isst du eigentlich mit, Malicia? Ich dachte, man braucht nichts mehr zu essen, wenn man tot ist." "Das braucht man auch nicht. Ich esse diese Speisen allein des deliziösen Geschmackes wegen. Aber selbstverständlicherweise kommt ein Großteil davon nicht mehr in meinem Magen an, so durchlöchert, wie ich bin..." Malicia grinste, aber Midine war danach der Appetit gründlich vergangen. Nachdem sie ihren Schweinebraten aufgegessen hatte, tupfte Malicia sich mit ihrer Serviette höchst vornehm den Mund ab, faltete sie zusammen und legte sie fein säuberlich auf ihren Teller. "Willst du mal was Tolles sehen?", wollte sie wissen, nun wieder ganz die Alte. "Moment noch", sagte Midine. "Ich will zuerst noch etwas klarstellen." Malicia zuckte mit den Schultern. "Fang an." "Ich hasse Rätsel." Malicia schien nicht im Geringsten überrascht zu sein. "Gewöhn dich dran." Midine hätte auf solch eine Antwort gefasst sein müssen, aber dennoch spürte sie, wie der Zorn in ihr hochkochte. Ihre Erzfeindin stand auf und legte die Krone neben ihren Teller. "Willst du jetzt was Tolles sehen?", fragte sie, fast schon hoffnungsvoll klingend. Missmutig zuckte Midine die Achseln. "Ich sehe schon, du hast dich wieder etwas erholt", kam es amüsiert von Malicia. "Du bist wieder genauso sturköpfig und arrogant wie früher." Midine fuhr hoch. "Wer von uns beiden war denn bitte sturköpfig?", rief sie wütend. Die Blonde war inzwischen an das ehemalige Taufbecken getreten und tauchte ihre Hand in das Wasser. "Reg dich doch nicht gleich so auf", kicherte sie. "Komm lieber her und sieh dir das an." Widerwillig erhob die Eine sich und schlurfte betont genervt zu Malicia hinüber, die mittlerweile mit ihrer Hand im Wasser herumrührte. "Was soll das denn jetzt-", fing Midine an, wurde jedoch sofort unterbrochen. "Kssst. Ich muss mich konzentrieren." Also wartete Midine, gelangweilt zu den verblassten Malereien an der Decke hinaufschauend. "Ich hab's!", rief Malicia und zog ihre Hand ruckartig aus dem Wasser. Ärgerlich fuhr die Eine herum. Zuerst wollte sie sich bei Malicia beschweren, weil ihr rechter Ärmel nun mit kaltem Wasser bespritzt war, aber dann fiel ihr Blick auf das Becken und sie stockte. Auf der Wasseroberfläche war ihr Gesicht zu sehen. An sich wäre das nichts Besonderes gewesen, aber etwas daran stimmte nicht. Midine kam nicht gleich darauf, was es war, aber dann schoss ihr blitzartig ein Gedanke durch den Kopf. Mein Scheitel. Hatte ich den nicht immer rechts? Sie war sich eigentlich ziemlich sicher, sich heute Morgen nicht anders frisiert zu haben als sonst. Trotzdem fuhr sie sich einmal durch die Haare, nur für alle Fälle. Nein, ihr Scheitel war rechts, so wie immer. Nun hatte die Midine auf dem Wasser aber keinen Linksscheitel, wie ihn ein normales Spiegelbild gehabt hätte, sondern auch ihr Scheitel war rechts. Außerdem hatte die Wassermidine ihre Augen fest geschlossen, und Midine war sehr sicher, dass das bei ihr gerade nicht der Fall war. Ihr entfuhr ein Keuchen. Was war das für ein Zauber? "Was ist das?", stieß sie hervor, ihr vermeintlichen Spiegelbild entsetzt anstarrend. "Du hast also gemerkt, dass es kein normales Spiegelbild ist, hm? Brav." Wer von uns beiden war noch einmal arrogant?, schoss es Midine unwillkürlich durch den Kopf. "Warte, ich gehe mal etwas höher." Zu Midines Überraschung entfernte sich die Wassermidine tatsächlich ein wenig. Nun war ihr ganzer Oberkörper bis zum Bauch zu sehen. Sie lag in einem weißen, bequem aussehenden Bett, unter dem Kopf mehrere Kissen. Ganz davon abgesehen, dass das nicht mein Bett ist, was ist... " Oh Gott. Bin das wirklich... ich?", hauchte Midine, die sich so weit vorgebeugt hatte, dass ihre Nase schon beinahe die Wasseroberfläche berührte. Brust und Bauch der Wassermidine waren mit einem großen, blutbefleckten Tuch verdeckt, unter dem Hunderte von Schläuchen hervorführten und außerhalb des kleinen Blickfelds verschwanden. Ihre rechte Hand war von einem dicken weißen Verband umhüllt. Sie schien zu schlafen. Plötzlich durchlief ein krampfartiges Zucken ihren Körper. Ihre Wirbelsäule bäumte sich auf, das Tuch rutschte von ihrer Brust herunter und enthüllte den gigantischen, fransigen Schnitt in ihrem Oberkörper, in dem die Schläuche verschwanden. Wach auf! Alles in Midine schrie danach, flehte fast. Ohne dass sie überhaupt wusste, warum. Wach auf! Bitte! Die Midine im Wasser riss den Mund auf, das Gesicht verzerrt wie von einem quälenden Schmerz. Ihr stummer Schrei hallte durch Midines Kopf, so laut, wie es kein Geräusch je vermocht hätte. Doch ihre Augen blieben geschlossen. Der Anfall war so schnell vorüber, wie er angefangen hatte. Die Midine im Wasser sank wieder in ihre Kissen zurück. Sofort eilten ein Dutzend Ärzte in weißen Kitteln in das Blickfeld und verdeckten die gewaltige Wunde wieder mit dem Tuch. Nein! Midine wollte zu ihr, ihr irgendwie helfen. Sie streckte die Hand nach ihr aus, stieß aber nur auf das eiskalte Wasser im Becken. Bittere Enttäuschung ballte sich in ihrer Kehle zusammen. "Warte, es wird noch besser", hörte sie Malicias Stimme, wie von weit weg. Das Blickfeld vergrößerte sich erneut, bis die andere Midine bis zu den Hüften zu sehen war. Midine wäre fast das Herz stehengeblieben. Da war noch jemand, neben der Midine im Krankenbett. Jemand kniete dort, den Oberkörper halb auf die weiße Decke des Bettes gelegt und mit bebenden Schultern Midines linke Hand haltend. Ett. Midines Augen weiteten sich. Was machte ihre Freundin dort? Weinte sie etwa? Sie weinte doch nie. Und wer war dann die Person in dem Krankenbett, die genau so aussah wie sie selbst? Und dann begriff sie es. Ett weint. Sie weint um mich. Was ist passiert? "W-was ist das, Malicia?", fragte sie. Ihre Stimme zitterte. "Rate." "Keine Ahnung! Was weiß ich denn?" Am liebsten hätte Midine geheult. Malicia musterte sie eine Weile lang mit schiefgelegtem Kopf, dann ließ sie sich endlich zu einer Antwort herab. "Na schön, aber nur, weil ich dich so gerne mag." Sie holte tief Luft. "Ich könnte dich jetzt anlügen und sagen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das ist nichts von Bedeutung. Es stammt noch aus der Nachkriegszeit, als du im Krankenhaus warst und um dein Leben gekämpft hast, also ist es längst vorbei." Sie machte eine kurze Pause, in der sie Midine bedeutungsvoll ansah. "Aber natürlich würde ich meine teure Erzfeindin niemals so dreist anlügen. Deshalb werde ich dir stattdessen sagen, dass das hier die exakte Gegenwart ist." "D-die Gegenwart?" "Jep." "Aber wie kann das sein, verdammt?" Midine schrie fast. Malicia seufzte. "Ich habe dir doch eben erst gesagt, dass du dich hier in einer anderen Realität befindest als gewohnt." "A-also passiert das da alles in meiner gewohnten Realität?" "Jep." Midine schluckte. Während sie versuchte, nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen, bemühte sie sich, das alles zu verdauen. Dummerweise ließ Malicia ihr gar keine Zeit dazu. "Während du in diese Realität gereist bist, ist die andere Midine drüben brav ins Koma gefallen, aus dem einfachen Grund, dass man nicht bewusst in mehreren Realitäten gleichzeitig leben kann. Das würde ja auch jeglichen Rahmen sprengen. Und dein Bewusstsein noch dazu." Midine warf ihr einen gequälten Blick zu, aber nonverbale Konversation schien Malicia nicht zu liegen. "Natürlich hat sich deine kleine Freundin sofort Sorgen gemacht, als sie dich so leblos daliegen sah. Sie haben dich also ins Hospital verfrachtet und versuchen seit etwa drei Stunden, dich aufzuwecken. Aber natürlich wird das nicht funktionieren, solange du noch hier bist." Malicia hielt kurz inne und genoss den Ausdruck des Erkennens, der sich auf Midines Gesicht ausbreitete. "So leid es mir auch tut, aber du bist hier so lange gefangen, bis du entweder stirbst oder aber das Spiel gewinnst und wieder in deine Realität zurückkehren kannst. Ganz einfach, oder?" Malicia grinste. Wie betäubt starrte die Eine in das Becken, die Hände um den steinernen Rand gekrallt. Sie wollte das alles nicht glauben, wollte Malicia packen und sie schütteln, bis sie die Wahrheit erzählte, aber sie konnte nicht. In ihrer Schockstarre konnte sie sich keinen Zentimeter bewegen. "Ach, und weißt du, was das Beste ist?" Schon wieder klang ihre Erzfeindin ekelerregend belustigt. "Sie denken tatsächlich, du wärst wegen deiner Kriegsverletzung ins Koma gefallen! Ist das zu glauben?" Sie fing an zu kichern. "Sie wühlen in deinem Brustkorb herum, pumpen dich mit Medikamenten voll und merken gar nicht, dass sie damit alles nur noch schlimmer machen!" Diese Vorstellung schien sie köstlich zu amüsieren, denn ihr Kichern wurde heftiger. Ein Geräusch schallte durch den Raum, klatschend. Malicias Kichern verstummte abrupt. "Du-du bist ein Monster!", schluchzte Midine und ließ ihre Hand wieder sinken. "Hast du überhaupt ein Herz?" "Natürlich habe ich das!", giftete Malicia zurück, nun sichtlich verärgert. "Aber momentan ist es aufgespießt wie ein Brathähnchen, und das ist dein Verdienst!" In einer anderen Situation hätte Midine darüber herzhaft lachen können. In einer anderen Situation, in einem anderen Leben. Sie lehnte sich an die nächste Wand und ließ sich daran hinabgleiten, bis sie auf dem Boden saß. Tränen strömten unaufhörlich über ihre Wangen, während ihr Herz sich anfühlte, als wäre jemand drauf und dran, es in zwei Teile zu zerreißen. Das Spiel gewinnen? Ich werde nicht gewinnen. Ich werde nie wieder nach Hause kommen. Ich werde sie nie wiedersehen. Midine bedeckte ihre Augen mit einem ihrer Ärmel. Schniefend wischte sie sich die Tränen ab. So, dachte sie, um Beherrschung ringend. Ich stehe jetzt auf der Stelle auf und mache mich auf den Weg. Wenn ich schon sterben muss, dann wenigstens mit Ehre, aber ich werde hier nicht sterben! Aber wem wollte sie etwas vormachen? Midines Augen füllten sich mit neuen Tränen. Sie wusste genau, wie wenig wahrscheinlich das war. "Ich verstehe es nicht." Malicias Stimme riss Midine aus ihrer Trauer. Die Eine blinzelte sich die Tränen aus den Augen und sah hoch. Über ihr stand Malicia, sich immer noch ihre Wange haltend und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. "W-was meinst du?" "Weinen. Ich verstehe nicht, warum man das macht." Malicia hockte sich hin, bis ihr Gesicht mit dem von Midine auf einer Höhe war. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie in Midines verheultes Gesicht, als hoffe sie, dort eine Antwort auf ihre Frage zu finden. "D-du hast ja auch k-kein Herz." Trotzig zog Midine die Nase hoch. Malicias Augen verengten sich, doch sie sagte nichts. Wortlos stand sie wieder auf und wandte sich ab. "Monster." Midine hatte es eigentlich gar nicht sagen wollen oder zumindest leiser, aber nun war es ihr herausgerutscht. Malicia fuhr herum. "Halt den Mund!", schrie sie. Midine zuckte erschrocken zusammen. So eine Reaktion hatte sie nicht erwartet. "Du denkst also, Weinen ist nützlich?", fuhr Malicia etwas leiser fort. "Gut, dann verrate ich dir etwas: Ist es nicht!" In ihrer Stimme lag etwas Bedrohliches, etwas Lauerndes. Midine wollte instinktiv zurückweichen, aber sie saß ja bereits mit dem Rücken zur Wand. "Tränen sind ein reiner Ausdruck der Schwäche, sie bewirken rein gar nichts. Sie heilen keine Krankheiten, sie verhindern keine Kriege, sie erwecken keine Toten wieder zum Leben. Und dich werden sie auch nicht wieder zurückbringen!" Mit ausgestrecktem Finger zeigte Malicia anklagend auf Midine. Ihre Maske aus Gleichgültigkeit und Belustigung war kurz abgefallen und dahinter war etwas zu sehen, was sie noch nie zuvor auf Malicias Gesicht gesehen hatte. Schmerz. Kann das sein? Ungläubig blinzelte Midine. Was auch immer es war, gleich darauf war es wieder verschwunden und Malicia grinste. "Unsere Zusammenarbeit endet an dieser Stelle leider vorerst", verkündete sie. "Du wirst deinen Weg von nun an erst einmal alleine fortsetzen müssen. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf: du solltest vorher unbedingt noch etwas frische Luft schnappen." Sie zwinkerte Midine zu und winkte zum Abschied, bevor sie sich genau so wie auch letztes Mal in Luft auflöste. Midine blieb allein zurück. Diesmal schreie ich nicht, darauf kannst du dich verlassen!, dachte sie, als könnte ihre Erzfeindin es hören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)