Castle of lies von AtriaClara (... are you crying?) ================================================================================ Kapitel 3: Das Spiel beginnt ---------------------------- "Was wiegt wohl schwerer? Die Überzeugung eines Einzelnen oder die Überzeugung eines ganzen Königreiches?" Midine erwachte um etwa neun Uhr. Verschlafen blinzelte sie ein paar Mal, bevor sie sich gähnend streckte. Es verwunderte sie, dass sie dabei auf keinen Widerstand stieß, aber nachdem sie sich den letzten Schlaf aus den Augen gerieben hatte, erkannte sie, dass Ett nicht mehr neben ihr lag. Doch das war nicht weiter verwunderlich, denn ihre Freundin war eine echte Frühaufsteherin. Etts Bettlaken war zerwühlt und trug noch ihren Geruch. Midine atmete ihn einmal tief ein, bevor sie sich aufrichtete und ihre Beine aus dem Bett schwang. Sie schlüpfte in ihre Stiefel, die wie immer neben ihrem Bett standen, und sah dann an sich hinunter. Sie trug immer noch dieselbe Kleidung wie gestern, weil sie viel zu müde gewesen war, sich noch umzuziehen. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel und befand ihre Kleidung dann als noch ausreichend. Über Nacht hatte sie nur ein paar Knitterfalten davongetragen. In die Öffentlichkeit hätte sie so etwas zwar nicht mehr angezogen, aber heute hatten sie nichts vor, also würde sie wohl den ganzen Tag zuhause bleiben. Midine zupfte ihr Bettlaken noch etwas zurecht, dann ging sie hinter vorgehaltener Hand gähnend zur Tür. Ihre Hand legte sich um den Türknauf, drehte ihn, zog- Die Tür bewegte sich nicht einen Millimeter. Midine war mit einem Schlag hellwach, hatte Ett sie etwa hier eingesperrt? Sie zog noch einmal, aber die Tür blieb verschlossen. "Ett?", rief sie. "Was soll das? Mach die Tür auf!" Keine Antwort. Jetzt bekam sie es doch mit der Angst zu tun. Sie zog noch ein paar Mal, kräftiger diesmal. "Ett! Soll das ein Scherz sein? Das ist nicht lustig! Bitte, mach die Tür auf!" Midine wusste, dass Ett manchmal einen ziemlich verdrehten Sinn für Humor hatte, aber sie würde dabei nicht so weit gehen, Midine in Panik zu versetzen. Also würde sie spätestens jetzt wohl die Tür öffnen, sie angrinsen und "Angsthase" nennen... Midine lauschte hoffnungsvoll nach einer Antwort, aber die bekam sie nicht. Und die Tür blieb weiterhin verschlossen. Nach einer Weile des Schweigens wurde Midine leicht panisch. Diese unerträgliche, erdrückende Stille machte sie fertig. "Hallo?", schrie sie. "Ett! Irgendwer! Hilfe!" Sie hämmerte gegen die Tür, aber immer noch erhielt sie keine Antwort. "Hilfe! Irgendjemand! Holt mich hier raus, bitte!" Midine wusste, dass sie weinerlich klang, und sie hasste sich dafür. Sie versuchte, sich mit der Schulter gegen die Tür zu werfen, um sie aus den Angeln zu brechen. Aber die blieb unnachgiebig und stabil. Eine Welle heißen Schmerzes schoss durch Midines Brust. Sie stöhnte gequält auf und ließ sich auf den Boden sinken. Midine lehnte sich gegen das Fußende des Bettes. Sie versuchte verzweifelt, Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen, während die Schmerzen in ihrer Brust langsam abebbten. Vielleicht hatte Ett sie unabsichtlich hier eingeschlossen und war dann etwas für ihr Frühstück einkaufen gegangen? Vielleicht war sie nicht im Haus und konnte Midine gar nicht hören? Midine unterdrückte die Panik, die dieser neue Gedanke in ihr entfachte. Irgendwo, ganz hinten in einer Ecke ihres Bewusstseins, sagte eine logisch denkende Stimme, dass Ett niemals einfach so das Schlafzimmer abgeschlossen hätte. Dass sie lieber dreimal nachgeprüft hätte, ob Midine noch drinnen lag. Aber Midine wollte so sehr glauben, dass alles in Ordnung war, dass Ett gleich wiederkommen und sich alles als Irrtum herausstellen würde, dass sie ihr nicht zuhören wollte. Sie saß auf ihrem Bett, den Kopf in die Hände gestützt, die Gedanken schossen ziellos durch ihr Hirn wie Flipperkugeln. Sie bekam beinahe Kopfschmerzen davon, ihre Panik im Zaum zu halten. Ich brauche frische Luft. Dringend. Sie stand auf, um das Fenster zu öffnen. Es war zwar ziemlich klein, aber vielleicht konnte sie auch hindurchklettern, um hier herauszukommen. Das wäre zwar nicht viel, aber immerhin ein Anfang. Sie zog die Vorhänge auseinander- und prallte zurück. Der Himmel war nicht blau, er war noch nicht einmal grau. Bis hin zum Horizont nur wolkenloses Blutrot. "Das ist doch unmöglich, das k-kann doch gar nicht sein...", stammelte Midine entsetzt vor sich hin. Sie schloss die Augen und presste sich die Hände so fest darauf, dass sie rote Punkte tanzen sah. Aber als sie ihre Augen wieder aufriss, war die surreale rote Farbe immer noch da. Surreal... war das hier vielleicht ein Traum? Midine zwickte sich in den Arm, so fest, dass ihr die Tränen in die Augen schossen, aber sie wachte einfach nicht auf. Wieder starrte sie hinauf in den blutigen Himmel. Sie war sich nicht mehr so sicher, ob sie da wirklich hinauswollte. Vielleicht sollte sie lieber hier drinnen bleiben und warten, schließlich konnte ihr hier nichts passieren. Ja, das war wirklich eine gute- Ein dumpfes Geräusch unterbrach sie. Jemand klopfte von draußen gegen die Tür. Midine erstarrte. Ganz langsam drehte sie sich um. Zuckte zusammen, als das Klopfen wieder ertönte. "Ett?", rief sie versuchsweise. Keine Antwort. Stattdessen nur das Klopfen, energischer als vorher. Wieder stieg die Panik in Midine auf. "Ett! Bist du das? Antworte mir doch!" Eine Zeit lang herrschte Stille. Dann krachte etwas von draußen gegen die Tür, so plötzlich, dass Midine erschrocken zusammenfuhr. Erneutes Krachen, lauter diesmal. Die Tür erbebte unter den Schlägen von außen. Mit vor Panik zitternden Fingern öffnete Midine das Fenster. Sie hatte keine Wahl, sie musste hier heraus. Fast wäre sie abgerutscht, als sie sich auf das Sims schwang. Zwei bis drei Meter unter ihrem Fenster lagen die Gehsteige, die um den Turm herumführten. Vielleicht konnte sie ja- Ein Krachen hinter ihr, das klang, als würden die Türflügel jeden Moment bersten, beseitigte all ihre letzten Zweifel. Ohne weitere Umschweife rutschte sie vom Sims und ließ sich fallen. Die Landung war viel weicher, als sie erwartet hatte. Sollte man auf Stein nicht eigentlich viel härter landen? Und irgendwie roch es hier nach Verwesung... Sie sah sich um und ihr stockte der Atem. Sie befand sich inmitten eines großen Haufens aus Müllsäcken, die irgendjemand hier mit größter Sorgfalt aufeinander- und nebeneinandergestapelt hatte. Bis hin zur Brüstung wurde der gesamte Gehsteig davon eingenommen. Millionen Maden krochen dazwischen herum und Fliegen surrten ihr um den Kopf. Als ein paar der Maden auf ihre Beine krochen, erwachte Midine aus ihrem tranceähnlichen Zustand. Mit einem entsetzten und angewiderten Kreischen sprang sie auf, um gleich knietief einzusinken. Nur mit Mühe und einem weiteren angeekelten Aufheulen gelang es ihr, die Stiefel wieder herauszuziehen, um hier wegzukommen. Sie lief über die Müllsacke, so gut es eben ging, und versuchte, nicht nach unten zu sehen. Aber plötzlich ertönte unter ihrem rechten Stiefel ein irgendwie matschiges Geräusch und gleich darauf ein lautes Knacksen. Midine blieb nicht stehen, um sich zu übergeben. Sie wollte den Maden keine Gelegenheit geben, in ihre Stiefel zu kriechen und ihr grässliches Werk fortzuführen. Ein Müllsack platzte auf, als Midine darüber stolperte. Unwillkürlich sah sie nach unten. Sie sah einen Kopf herauskullern, dann einen Arm, und dann sah sie gar nichts mehr, weil ihre Sicht völlig verschwamm. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie weiter durch diesen Albtraum rannte, der einfach nicht enden wollte. Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr riechen. Dieser entsetzliche Gestank nach Verwesung, er war immer noch da, kroch in ihre Nase und lähmte ihr Gehirn... Endlich. Endlich berührten ihre Füße wieder Steinboden. Midine lief noch ein kleines Stück weiter, dann sank sie auf die Knie und weinte. Was war nur passiert? Gestern noch hatte sie mit Ett zusammen am Tisch gesessen und genüsslich Pfannkuchen mit Ahornsirup verspeist. Sie hatten gelacht und geredet und dann hatten sie sich schlafen gelegt, wie sonst auch jeden Tag. Nichts Ungewöhnliches war passiert, nichts, was das hier auch nur im Ansatz erklären konnte. War sie vielleicht schlicht und einfach verrückt geworden? Es erschien Midine die einzige plausible Erklärung. Aber warum dann so plötzlich? Vorher hatte Midine sich zu jedem Zeitpunkt einer hervorragenden geistigen Gesundheit erfreut. Und die verschlossene Tür hatte sie sich nicht einfach eingebildet, ebenso wenig wie die Maden. Das alles hier war einfach so real. So schauderhaft real. Midine weinte noch etwas, dann wischte sie sich die Augen mit dem Ärmel ab und sah sich um, wobei sie es vermied, zurück auf den Gehsteig zu schauen. Sie befand sich auf der Brücke vor dem Leuchtfeuerturm. Genau dort, wo sie gestern noch gestanden und die Sterne gezählt hatte. Seltsamerweise brannte das Leuchtfeuer hoch oben noch genau so stark wie gestern. Jetzt, wo sie nicht mehr auf den kleinen Rahmen ihres Fensters angewiesen war, erkannte sie auch, dass wirklich der ganze Himmel blutrot gefärbt war. Wohin sie auch sah, nur waberndes Rot und keine einzige Wolke war zu sehen. Die Sonne hing unnatürlich groß und dunkelorange am Himmel, ihr Umriss flimmerte vor Hitze. Midine merkte, dass es unnatürlich warm war. Die Berge am Horizont waren nicht mehr schneebedeckt, die Wälder zu ihren Füßen schienen braun und vertrocknet. Die Temperatur war selbst verglichen mit den hier üblichen Sommertemperaturen sehr warm und mit denen des Winters erst recht. Midine verstand das alles nicht. Was für eine Welt war das hier? Was hatte dieser ganze Horror hier verloren? Und was hatte sie getan, dass sie nun hier war? Midine konnte keine Zusammenhänge in all dem erkennen, nicht den geringsten. Sie hätte gerne wieder angefangen zu weinen, aber sie riss sich zusammen. Durch Heulen würde sie hier nicht wieder herauskommen. Sie tastete ihre Taschen ab, auf der Suche nach etwas, das vielleicht nützlich sein könnte, doch sie fand nur ein paar bunte Murmeln, einige Münzen Kleingeld und Fusseln. Nichts, das sie gebrauchen konnte. Da fiel etwas aus ihrer Seitentaschen, gerade, als sie sich wieder aufrichten wollte. Reflexartig wirbelte sie herum und bekam das Ding gerade noch zu fassen, bevor es auf dem Boden zerschellen konnte. Rund und kalt lag es in ihrer zitternden Hand. Etts Schneekugel. Die Schneekugel mit dem winzigen Abbild eines Leuchtfeuerturms darin, um den man mit einer einzigen Handbewegung einen ganzen Schneesturm entstehen lassen konnte. Midine musste lächeln, egal, wie abwegig das in so einer Situation auch sein mochte. Es war ein Anker in ihre alte Welt, eine unzertrennbare Verbindung zu Ett und Avelli und all ihren anderen Freunden, eine Erinnerung daran, wie die Welt eigentlich sein sollte. Midine schüttelte die Kugel ein paar Mal leicht auf und ab und betrachtete dann das glitzernde Schneegestöber in ihrem Inneren. Sie schniefte unwillkürlich, aber natürlich hatte sie kein Taschentuch dabei. So wischte sie sich die Nase nach kurzem Zögern einfach an ihrem Ärmel ab, bevor sie wieder gebannt in die Kugel starrte. Nach einigen Sekunden des Herumwirbelns sanken die weißen Flocken wieder an den Boden der Kugel zurück, das Schneegestöber war vorüber. Midine schüttelte die Kugel ein weiteres Mal. Sie wollte einen Grund dafür haben, weiter hineinstarren zu können, einen Grund, diese ganze falsche Welt um sie herum ignorieren zu können. Vermutlich hätte sie bis an das Ende aller Tage dort gesessen und in die Schneekugel gestarrt, wäre da nicht dieses Geräusch gewesen. Plötzlich erklang es aus der absoluten Stille heraus, klang dumpf und ließ Midine zusammenschrecken. Instinktiv hob sie den Blick und und sah sich aufgeschreckt um. Auf den ersten Blick sah sie nichts, was dieses Geräusch hervorgerufen haben könnte, aber als sie den Kopf nach rechts drehte und hinaus auf die Brücke sah, erkannte sie es. Dort hinten, etwa dreißig Meter von hier, lag mitten auf der Brücke... ein Mensch? Midine runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Sie war zu weit entfernt, um Details erkennen zu können, aber sie sah die große rote Pfütze um den Körper. Midine musste erneut würgen, aber sie zwang sich, aufzustehen. Vielleicht konnte sie der Person, wer auch immer es sein mochte, irgendwie helfen. Langsam setzte sie den rechten Fuß vor, dann den linken. Schritt für Schritt bewegte sie sich vor, den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet. Jede Faser ihres Körpers war bis aufs Zerreißen angespannt. Erst als sie die Schneekugel wieder zurück in ihre Tasche stecken wollte, erkannte sie, dass sie sie so fest umklammert hatte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Nur noch etwa zehn Meter trennten sie von ihrem Ziel, als Midine erkannte, dass das, was sie für eine Blutpfütze gehalten hatte, in Wirklichkeit ein dunkelroter, weit ausgebreiteter Umhang war. Gerade wollte sie aufatmen und sich wieder entspannen, als sie das Schwert sah. Es war lang, schmal, ein wenig gebogen und schien die junge Frau an der Brücke festzunageln. Die junge Frau in Rot hatte lange, in alle Richtungen ausgebreitete blonde Haare und war von einem gebogenem Schwert durchbohrt... Midines Hirn stand noch unter Schock, daher dauerte es noch eine Weile, bis bei ihr der Groschen fiel. Malicia. Midine begann zu rennen. Unmittelbar vor der Leiche ihrer Erzfeindin bremste sie und schaute atemlos zu ihr herunter. Nein, Irrtum ausgeschlossen. Das war eindeutig Malicia. Durchbohrt von ihrem eigenen Schwert, durch Midines Hand. Ihre dunklen Augen zeigten keinen Funken Leben mehr, doch auf ihrem Gesicht war der Ausdruck der Überraschung für immer festgehalten. Sie sah genau so aus, wie Midine sie das letzte Mal gesehen hatte. Aber wie zur Hölle kam sie hierher? Midine hob den Blick, in der Hoffnung, irgendein magisches Tor zu einer anderen Welt zu finden, etwas, das Malicias Auftauchen hier erklärte. Doch der Himmel war so rot wie auch vorher und kein magisches Tor war zu sehen. Sie begann, nachzudenken. Vielleicht sollte Malicias Auftauchen ihr irgendwie helfen? Sofort schalt sie sich selbst für diesen Gedanken. Malicia war tot und konnte ganz sicher niemandem mehr helfen. Da kam ihr eine Idee, wie sie trotzdem aus Malicias Leiche einen Nutzen schlagen konnte. Zwar war es ihr zuwider, aber vielleicht konnte sie Malicias Schwert mitnehmen. Wer wusste schon, wo sie hier war und und was noch auf sie lauerte... Und Malicia schien es ja offensichtlich nicht mehr zu brauchen. Midine hatte Mühe, ihre zitternden Hände an den Schwertgriff zu manövrieren, aber einmal darum gelegt, klammerten sie sich darum wie um einen rettenden Anker. Einen Moment lang rang sie mit sich selbst, aber dann besiegte ihre Angst ihren Ekel und sie zog. Midine hatte gehofft, dass das Schwert einfach aus Malicias Brust gleiten würde, sobald man daran zog, aber dem war nicht so. Das Schwert saß fest und bewegte sich keinen Zentimeter. Vielleicht hatte das Schwert sich irgendwie in Malicias Eingeweiden verhakt, aber so genau wollte Midine das gar nicht wissen. Mit vor Ekel verzogenem Gesicht traute sie sich, etwas stärker zu ziehen, aber auch das nützte nichts und alles in Midine scheute davor zurück, noch stärker zu ziehen. In ihrem Kopf tauchten schreckliche Bilder auf, von zerfleischten Organen verteilt auf der Brücke. Midine wollte gerade aufgeben, als- "Könntest du damit bitte aufhören? Das zieht." Midine fuhr zusammen, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Reflexartig blickte sie nach unten, von wo die Stimme gekommen war. Erst, als sie direkt in Malicias dunkle und nun gar nicht mehr tote Augen starrte, erkannte sie, was das bedeutete. Mit einem gellenden Schrei ließ sie das Schwert los und sprang zurück. Ihr erster Impuls war, wegzulaufen, aber sie musste feststellen, dass ihre Beine ihr nicht mehr gehorchten und stattdessen unkontrolliert bebten. Gelähmt vor Angst musste Midine mitansehen, wie die vermeintliche Leiche ihrer Erzfeindin sich langsam erhob und und ihre Kleidung abklopfte. Missbilligend betrachtete Malicia einen Schmutzfleck auf ihrem Umhang, dann erst wandte sie sich Midine zu und musterte sie amüsiert. "Schau nicht so panisch, ich fresse dich schon nicht auf. Was ist los?" Was los war? Sollte das ein Scherz sein? Midine hob ihren zitternden Finger und zeigte anklagend auf Malicia. "D-du bist d-doch tot!", stammelte sie. "Aber natürlich bin ich das. Ist schließlich schwer zu übersehen." Vielsagend deutete Malicia auf das Schwert. "Hast du das wirklich jetzt erst bemerkt?" "N-nein, aber..." Midine war noch viel zu schockiert, um sich irgendwie zu rechtfertigen. So viele ungeklärte Fragen schossen ihr durch den Kopf, dass sie glaubte, er müsse platzen. "Pass auf, Morathess, ich beschleunige das das jetzt einmal etwas. Mir steht nur begrenzte Zeit zur Verfügung und ich werde nicht lange bleiben können. Ich gehöre eigentlich nicht in diese Welt und auch in keine andere. Und bevor du fragst: Ich bin nicht etwa aus fehlgeleitetem Mitleid hergekommen oder weil ich dir helfen will. Nein, ich muss einfach nur meine Mission zu Ende bringen und dazu brauche ich dich zufällig." Malicia hätte genausogut eine fremde Sprache sprechen können, so wenig verstand Midine von dem, was sie sagte. Aber Malicia schien etwas über diesen Ort zu wissen, und nur das hielt Midine davon ab, einfach wegzurennen. "Wo bin ich hier? Was soll das alles? Ist... ist das hier ein Traum?" Malicia schnalzte mit der Zunge und sah Midine missbilligend an, ließ sich aber trotzdem zu einer Antwort herab. "Wo du hier bist? Das müsstest du eigentlich wissen, du wohnst doch da." Mit dem Kinn wies Malicia auf den Leuchtfeuerturm hinter Midine. "Friedensbrücke, Westbezirk, Zentrum. Beantwortet das deine Frage?" Nein, gar nicht, nicht im Geringsten. Aber Malicia ließ Midine gar keine Zeit, zu widersprechen, und fuhr einfach fort. "Sehr schön. Also, was soll das alles hier? Sehen wir es als eine Art Spiel." Malicia sah Midine listig an. "Du versuchst, bis zum Ende zu überleben und das Spiel zu gewinnen. Sie versucht, dich davon abzuhalten. Äh... wie war nochmal deine dritte Frage?" Doch Midine hörte schon nicht mehr zu. "Zu... überleben?" Ihr wurde eiskalt. "Natürlich. Sagte ich das noch nicht? Das hier sieht zwar anders aus als deine gewohnte Realität, aber du kannst hier sterben. Oder den Verstand verlieren. Oder beides. Alles in Ordnung?" Midine starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an, während sie versuchte, ihre Atmung wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Beine gaben endgültig nach und sie sank auf die Knie. Gerade noch schaffte sie es, den Kopf zu schütteln. "Ganz ruhig." Unbeholfen tätschelte Malicia Midines Schulter. "Behalte deinen Verstand noch eine Weile... bitte. Tu's für mich, hm?" Malicia richtete sich wieder auf, nur um sich sofort den Arm vor den Mund zu halten. Sie hustete, ein ungesund klingendes, pfeifendes Husten, dann straffte sie ihren Körper wieder und wischte die Blutstropfen um ihren Mund weg. "Das ist das Gute am Tod: Du wirst nicht kränker, als du warst. Allerdings das einzig Gute." Anklagend schaute Malicia Midine an, dann hellte sich ihre Miene wieder auf. "Hey, ich habe hier noch etwas für dich. Sieh es als Kennenlern-Geschenk." Malicia kramte ein braunes Päckchen aus ihrem Umhang und warf es vor Midines Knien auf den Boden. Vorsichtig hob diese es auf und drehte es in ihrer Hand hin und her. Gerade wollte sie die Schnur darum lösen, als Malicia sie stoppte. "Halt, halt. Nicht so eilig. Mach es erst auf, wenn du dich wieder etwas gestärkt hast. Nicht jetzt auf nüchternen Magen." Widerspruchslos steckte Midine das Päckchen in eine ihrer Manteltaschen. "Gut." Malicia sah zufrieden aus. "Und wenn du dich wieder einigermaßen fit fühlst, könntest du das Haus dort hinten besuchen. " Sie zeigte auf ein Haus am anderen Ende der Brücke, schmal, aber hoch, mit einem Kuppeldach und und kirchenartigen Buntglasfenstern. "Da findest du-" "Wer ist sie?" Normalerweise war es nicht Midines Art, Leute zu unterbrechen, aber sie musste diese Frage einfach stellen, solange sie noch die Chance dazu hatte. Malicia erstarrte. "Wie bitte?" "Na, sie. Sie versucht, dich davon abzuhalten, das hast du eben gesagt." "Ach, sie. Nun, ich könnte es dir sagen, aber dann wäre das Spiel ja schon vorbei. Du wirst sie jedenfalls noch zu Gesicht bekommen... Noch irgendwelche Fragen? Ich muss gleich nämlich wieder weg, weißt du..." Obwohl Midine noch Tausende Fragen im Kopf herumschwirrten, sagte sie nichts. Sie musste das Ganze hier erst einmal verarbeiten. "Ach ja, war da nicht noch etwas? Deine dritte Frage?" Die hatte Midine schon fast wieder vergessen, deswegen dauerte es eine Weile, bis sie sich wieder daran erinnerte. "Ein... ein Traum. Ist das hier ein Traum?" Mit verzweifelter Hoffnung in den Augen schaute sie Malicia an und klammerte sich an den letzten Grashalm, der ihr noch blieb. "Hm. Eine schwierige Frage. Schwierig zu beantworten, meine ich. Willst du eine beruhigende Antwort oder eine ehrliche?" Midine schluckte. Sie spürte, wie ihr Grashalm zu wanken begann. Die Angst, die ihren ganzen Körper lähmte, sagte ihr, dass sie die beruhigende Antwort nehmen sollte, sich selbst und ihrem Verstand zuliebe. Aber da war auch noch ihr Stolz, irgendwo tief vergraben. Und der nannte sie einen Feigling und verlangte, sie solle der Wahrheit gefälligst ins Gesicht sehen. Außerdem kniete sie schon, also was hatte sie zu verlieren? "Die ehrliche.", sagte sie mit fester Stimme. "Dann nein.", erwiderte Malicia fröhlich. "So, jetzt muss ich aber wirklich los. Auf Wiedersehen!" Sie hob die Hand und winkte zum Abschied, bevor ihre Gestalt verschwamm, das blutige Rot ihrer Kleidung zusehends verblasste und sie sich schließlich vor Midines Augen einfach in Luft auflöste. Noch eine ganze Weile starrte die Eine ungläubig auf die Stelle, an der ihre Erzfeindin gestanden hatte. Sie begann wieder zu zittern. Nur wenige Sekunden später hallte ein markerschütternder Schrei über die Brücke. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)