Castle of lies von AtriaClara (... are you crying?) ================================================================================ Kapitel 1: Die Ruhe vor dem Sturm --------------------------------- Die Sterne funkelten am nachtschwarzen Himmel, als hätte jemand Glitzersteine auf schwarzem Samt verteilt. Der Mond hing schwermütig zwischen den schneebedeckten Berggipfeln und die Luft war kühl und still. Es war wunderschön, fand Midine. Sie stand ganz am Rande der Brücke, die Hände auf die Brüstung gelegt. Der Stein war eiskalt unter ihren Fingern. Der Winter war hart dieses Jahr. Wie zur Bestätigung ging in diesem Moment ein fernes Grollen durch die Berge, dann löste sich von einem der Berge eine Lawine und polterte ins Tal hinunter. Der Schnee stob in Wolken auf, als gäbe es einen Sturm, die Bäume knickten ab wie Streichhölzer- es war immer wieder ein beeindruckender Anblick. Midine sah zu, wie die Lawine immer schneller und schneller wurde, bis sie am Fuße des Berges ihr Ziel fand. Das Grollen verstummte. Es war wieder still. Midine legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf in den sternenklaren Himmel. Sie versuchte, einen Moment lang an gar nichts zu denken. Momente wie diese kamen selten vor- Momente ohne stechende Schmerzen in ihrer Brust, ohne Sorge um das Königreich, ohne Lärm, ohne Albträume... Midine schüttelte diese düsteren Gedanken ab, drehte sich einmal um sich selbst und lächelte. Wie viele Sterne das wohl sein mochten? Sie fing hinter den Bergen im Norden an zu zählen, aber schon bei 53 verhaspelte sie sich. Midine überlegte sich eine Strategie: Im Osten wollte sie anfangen, um sich dann langsam Richtung Süden zu wenden, danach kam der Westen und danach der Norden. Sie fing erneut an zu zählen, aber schon im Südosten verlor sie den Faden, irgendwo bei 139. Sie versuchte es noch ein paar Mal, jedes Mal mit einer anderen Strategie, aber keine schien zu funktionieren. Im achten Versuch schließlich kam sie bis 258 und kam einfach nicht mehr auf den Namen der nächsten Zahl. Midine gab es auf und sah wieder hinab ins Tal. Eine Brise strich sanft, aber frostig durch ihr Haar. Midine fröstelte und verfluchte sich dafür, dass sie ihren Mantel schon wieder drinnen vergessen hatte. In diesem Moment stieg ihr ein wunderbarer Geruch in die Nase. Er war warm, klebrig und vor allem süß. Midine kannte diesen Geruch, sie hätte ihn immer und überall wiedererkannt. "Ahornsirup?", murmelte sie verwirrt und wandte sich stirnrunzelnd nach rechts, zum Leuchtfeuerturm. Hoch oben auf dem Kuppeldach brannte wie immer das riesige Feuer, so weit entfernt, dass man nicht einmal mehr das Knacken hörte. Aber das war es nicht. Als Midine den Turm verlassen hatte, still und heimlich, hatte sie sich leise durch die dunklen Flure schleichen müssen, um niemanden aufzuwecken. Sie hatte kein einziges Licht angezündet, noch nicht einmal eine Kerze mitgenommen. Jetzt allerdings war er hell erleuchtet, aus allen Fenstern drang Licht. Das Küchenfenster stand offen, und leise war geschäftiges Klappern zu hören. Verwundert ging Midine die Brücke hinunter auf den Turm zu. Dann ging die Tür auf. Eine Silhouette stand im Türrahmen und winkte ihr zu. Midine kniff die Augen zusammen und trat ein paar Schritte näher. Erst jetzt erkannte sie, wer da vor ihr stand. "Ett?" "Wen hast du erwartet?", fragte Ett und grinste. Sie lehnte sich an den Türrahmen, um Midine vorbeizulassen. "Niemanden", gab diese zurück, zog ihre Lederstiefel aus und lief dann sofort zum flackernden Kamin, um sich zu wärmen. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie kalt es dort draußen war, bis sie wieder hereingekommen war. Ett verschloss die Tür wieder sorgfältig und ging ebenfalls zum Kamin, um Midine die dünne Wolljacke von den Schultern zu nehmen. Nachdenklich und sah sie auf ihre vor den Flammen kniende Freundin hinunter. "Ich wünschte, du würdest nicht immer so lange dort draußen bleiben." Ett sah zum Kleiderständer hinüber. "Noch nicht einmal den Mantel hast du mitgenommen. Was passiert, wenn du dich erkältest? Denkst du, das würde deiner Gesundheit zuträglich sein?" Verwundert sah Midine hoch und Ett ins Gesicht. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie die Sorge darin sah. "Mach dir doch nicht immer so viele Sorgen, Ett. Mir passiert schon nichts. Und außerdem", fügte sie spitzbübisch hinzu, "hat eine Erkältung nichts mit der Temperatur zu tun." Etts Gesichtszüge wurden wieder weicher. "Klugscheißer", sagte sie liebevoll und beugte sich hinunter, um Midine einen Kuss auf die Stirn zu geben. Midine lächelte. "Es tut mir übrigens leid, wenn ich dich eben geweckt habe", entschuldigte sie sich. "Ich habe versucht, so leise wie möglich zu sein. Ich habe noch nicht einmal Licht angemacht!" Etts Grinsen wurde breiter. "Und dann bist du über die Falte im Flurteppich gestolpert, hm? Du hast das ganze Haus aufgeweckt mit deinem Gepolter." "Oh, das..." "Geräuschlos-wie-ein-Ninja-durch-das-Haus-schleichen müssen wir wohl noch einmal üben, hm?" Ett brach in schallendes Gelächter aus. "Jetzt schau doch nicht so schuldbewusst, ich mache doch nur Spaß. Ich schlafe sowieso immer viel zu lange, da ist es ganz gut, wenn mich jemand weckt." Erleichtert nickte Midine und schob ihre kalten Füße etwas näher zum Feuer hin. "Und ich dachte mir, wenn wir schon einmal beide wach sind, mache ich uns Pfannkuchen", rief Ett über ihre Schulter hinweg zurück, während sie sich wieder auf den Weg in die Küche machte. "Mit Ahornsirup natürlich. Ein kleines Nachtmahl. Was hältst du davon?" "Pfannkuchen mit Ahornsirup", hauchte Midine und ihre Augen begannen zu leuchten. "Mein absolutes Leibgericht!" "Deswegen ja. Dachte, es freut dich bestimmt!" "Du bist die Beste, Ett", seufzte Midine wohlig und hielt ihre kalten Hände dem Feuer entgegen. "Ich weiß", kam die stolze Antwort aus der Küche. Ein glucksendes Lachen stieg in Midine auf und sie prustete los. "Du kannst jetzt aufhören, mich so erwartungsvoll anzustarren, Ett", kicherte Midine und schob sich einen neuen Bissen Pfannkuchen in den Mund. "Ef ift fehr lecker!" "Sicher?", vergewisserte sich Ett. "Nicht zuviel Zucker?" Dieses Mal kaute und schluckte Midine erst, bevor sie antwortete. "Zuviel Zucker, gibt es das?", gab sie grinsend zurück. "Du bist so eine...", Ett suchte nach dem richtigen Wort, "... Zuckerschnute!", beendete sie ihren Satz. "Iff weif", mampfte Midine. Ett schmunzelte, dann schnitt sie sorgsam ein neues Stück von ihrem Pfannkuchen ab und vertilgte es schmatzend. "Hey, wer passt jetzt eigentlich auf das Feuer auf, Ett?", erkundigte sich Midine. "Ich habe Avelli aus dem Bett geworfen und ihn raufgeschickt", erklärte Ett kauend. "Und das hat er einfach so gemacht?", fragte Midine belustigt. "Natürlich nicht", brummte Ett. "Ich musste ihm versprechen, dass er einen Pfannkuchen kriegt, der Schmarotzer." Und als hätte er nur auf diesen Moment gewartet, ging die Tür auf und Avellis dunkelhaariger Schopf ragte aus dem Türrahmen. "Schönen guten Abend, die Damen! Ich will euch gar nicht weiter stören, aber meine hochgeschätzte Chefin hat mir als Bezahlung für meine Überstunden einen Pfannkuchen versprochen!" "Jaja", murrte Ett und schob ihren Stuhl zurück, um aufzustehen. Avelli trat aus dem Türrahmen. "Hallo, Midine!", grüßte er sie fröhlich. Gerade wollte Midine antworten, da fuhr er schon fort. "Wie geht es dir? Also, ich hoffe ja besser. Mir jedenfalls geht es gut, von etwas Müdigkeit vielleicht abgesehen, aber dafür bekomme ich ja jetzt den Pfannkuchen!" Midine verbarg ihr Grinsen damit, dass sie sich schnell noch ein Stück Pfannkuchen in den Mund stopfte. Das sah ihm ähnlich: Er war immer fröhlich, immer optimistisch und vor allem konnte er reden wie ein Wasserfall. Gerade wartete er gespannt mit den Füßen wippend vor der Küchentür und beobachtete Ett dabei, wie sie umständlich einen Pfannkuchen auf einen Teller lud. Er gab sich noch nicht einmal Mühe, seine Vorfreude zu verbergen, als sie ihm den Teller mitsamt einer Serviette überreichte. "Hoch gepriesen sei meine Chefin für diese Köstlichkeit!", jubelte er begeistert. "Mögen die Götter sie schützen und in alle Ewigkeit-" "Schon gut, schon gut. Ist doch nur ein Pfannkuchen." Trotzdem musste nun auch Ett schmunzeln. "Aber wie soll ich es nach oben schaffen, ohne ihn sofort aufzuessen? Könnte ich nicht noch-" "Auf gar keinen Fall!", rief Ett übertrieben streng. "Lass dir gefälligst selbst etwas einfallen! Und jetzt zurück auf deinen Posten!" Midine verfolgte das Streitgespräch der beiden mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht. Es war alles so idyllisch, so vertraut, so... normal. Als hätte es nie einen Krieg gegeben. "Zu Befehl, Chef!", salutierte Avelli schließlich. "Ich will ja eure traute Zweisamkeit nicht weiter stören, nicht wahr?" Er warf Midine noch ein Lächeln zu, dann war er auch schon wieder weg. Seufzend schloss Ett die Tür hinter ihm, dann setzte sie sich wieder zu Midine an den Tisch. Eine Weile saßen sie da und aßen. Nur gelegentliches Schmatzen oder Schlucken war zu hören. Midine betrachtete ihre Freundin heimlich, musterte ihr Gesicht. Ett sah übernächtigt aus, die tiefen Ringe unter ihrem gesunden Auge sprachen Bände. Sie sagte zwar, ihr gehe es gut und Midine brauche sich keine Sorgen zu machen, aber Midine machte sich Sorgen. Ett hatte sich verändert, nach dem Ende des Krieges und nach Midines Beinahe-Tod war sie nie mehr die ironische, lebensfrohe Person gewesen, die Midine gekannt hatte. Midine machte sich Sorgen, dass Ett sich zu viele Sorgen um sie machte. Midine machte sich Sorgen, dass ihr alter Beruf die neue Ett zu sehr beanspruchte. Nach dem Krieg hatte die Königsfamilie Ett einen Orden verleihen wollen, ihr sogar einen Wohnsitz im Palast angeboten, unter der Bedingung, dass sie ihre Karriere beim Militär fortführte. Ett hatte alles abgelehnt. Nach einer beträchtlichen Zeit im Hospital war sie in ihre alte Wohnung zurückgekehrt und hatte ihren Beruf als Leuchtfeuerturmwärterin wieder aufgenommen. Sie hatte auf Midine gewartet. Nie die Hoffnung aufgegeben. Lange war der Zustand der Einen mehr als kritisch gewesen. Malicias Schwert hatte einige innere Organe verletzt und die besten Ärzte des Königreiches waren an ihr verzweifelt. Was sie schließlich gerettet hatte, wusste Midine selbst nicht. Aber es war Ett gewesen, die Tag und Nacht neben ihr ausgeharrt hatte, die nie die Hoffnung auf ein Wunder aufgegeben hatte, die ihr einen Grund gegeben hatte, zurückzukommen. Sie hatte so viel für Midine getan. Zu viel, um es jemals wieder zurückzahlen zu können. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, keine allzu große Last mehr zu sein. "Ett, mach dir keine so großen Sorgen um mich. Das letzte Mal, dass die Wunde aufgegangen ist, war gestern morgen und da-" Midine verstummte. Davon hatte sie Ett eigentlich nichts erzählen wollen... "Wie bitte?" Ett sah sie ungläubig an. "Ähm... also... ich meine...", stammelte Midine. "Wie geht es eigentlich deinem Auge? Ist es gut verheilt?" "Versuch nicht, abzulenken!" In Etts Stimme lag etwas Hartes, etwas, das keinen Widerspruch zuließ. Und diesen finsteren Blick beherrschte sie selbst mit nur einem Auge noch meisterhaft. Midine sah zu Boden. "Ja, die Wunde ist wieder aufgegangen.", murmelte sie, fügte aber sofort hinzu: "Aber es hat kaum geblutet und es tat fast gar nicht weh..." "Tat es wohl." "Ja, schon", gab Midine kleinlaut zu. Ett senkte den Blick und stocherte grimmig in ihrem Pfannkuchen herum, als könnte der etwas dafür. "Ich hatte dir doch gesagt, du sollst sofort Bescheid geben, wenn etwas passiert!" "Aber ich wollte nicht, dass du dir zu viele Sorgen um mich machst! Du tust doch schon so viel für mich und-" "Nun, offenbar kann man sich gar nicht genug Sorgen um dich machen!" Ett stand auf und ging um den Tisch herum zum Wandschrank, um ihren Verbandskasten herauszuholen. Sie kniete sich vor Midine hin und breitete ihre Utensilien auf dem Boden aus. "Zeig her!" Schon wieder gab sie Midine nicht die geringste Chance, zu widersprechen. Midine löste den Gürtel um ihre Hüften und hob ihr Oberteil bis über die Rippen an, damit Ett den Verband inspizieren konnte. Der war unterhalb der Brust an mehreren Stellen von getrocknetem Blut bräunlich verfärbt. "Aber es hat kaum geblutet!", äffte Ett Midine nach, dann krempelte sie ihre Ärmel hoch und griff nach einer kleinen silbernen Schere. "Ich werde den Verband aufschneiden müssen. Halt still und atme nicht zu tief, sonst erwische ich noch deine Haut." Midine wurde etwas blass. Trotzdem befolgte sie Etts Anweisungen, erstarrte und hielt den Atem an. Sie versuchte, sich abzulenken, an etwas anderes zu denken als an frisches, warmes Blut, das rot aus ihrer Wunde quoll. Ett arbeitete sich währenddessen vorsichtig durch den Verband, die Zunge zwischen die Lippen geklemmt. Die Anspannung im Raum war förmlich greifbar, doch dann atmete Ett erleichtert auf und legte die Schere weg. Sie hatte es geschafft. Midine fiel ein Stein vom Herzen. Sie öffnete die Augen wieder, die sie zwischenzeitlich zusammengekniffen hatte. "Jetzt tut es kurz weh", warnte Ett. "Ich muss den Verband jetzt komplett ablösen, aber wahrscheinlich hat das Blut ihn an deine Haut geklebt. Bereit?" Midine schluckte, nickte aber zustimmend. Wieder presste sie die Augen zusammen. "Okay, dann los." Etts kühle Finger schoben sich unter die Ränder des Verbands. "Eins... zwei... drei!" Ein heißer, stechender Schmerz durchzuckte ihren Körper, als der Verband von der Wunde gerissen wurde. Midine schnappte instinktiv nach Luft und ließ sie zischend durch ihre zusammengepressten Zähne entweichen, blieb sonst jedoch still. "Gut. Es ist alles gut." Vorsichtig schälte Ett Midine vollends aus dem Verband und legte ihn zur Seite, um sich ihre dünnen Handschuhe überziehen. Sie feuchtete ein Tuch an und wischte damit sorgsam den Eiter um die schlecht verheilte Stichwunde ab. Eine tiefe Sorgenfalte hatte sich in ihre Stirn gegraben. "Wie sieht es aus?", fragte Midine von oben. "Besser, schon viel besser", antwortete Ett ausweichend, aber in ihrem Blick sah Midine etwas anderes. Schweigend griff ihre Freundin zu dem Salbengefäß, schraubte es auf und tauchte den Finger hinein. Sie begann, die grünliche Salbe großflächig rund um die Wunde zu verteilen. "Werde ich sterben?", fragte Midine nach einer Weile. "Was?" Ett sah von ihrer Arbeit auf. "Nein, natürlich nicht. Auf gar keinen Fall. Ich lasse dich nicht sterben, ich habe es dir versprochen, damals auf der Brücke. Erinnerst du dich noch?" Midine schmunzelte. "Ich wäre dort fast gestorben, so leicht vergisst man das nicht, weißt du?" Ein winziges Lächeln umspielte Etts Lippen, dann senkte sie wieder den Blick und fuhr damit fort, die Salbe aufzutragen. Midine hätte es niemals ausgesprochen und Ett hätte es nicht gerne gehört, aber wie sie dort auf dem Boden kniete, wirkte sie so besorgt. So zart und so verletzlich. Manchmal fragte Midine sich, ob nicht eigentlich sie es war, die Ett beschützte, und nicht umgekehrt. "Fertig." Ett wischte sich ihre Hände an einem Tuch ab und verschloss das Salbengefäß wieder, bevor sie eine neue Verbandsrolle aus dem Kasten nahm. "Danke." Es war nur ein einfaches Wort, aber Midine versuchte, noch viel mehr hineinzulegen als das. Danke, dass du mich nie aufgegeben hast. Danke, dass du mir zweimal das Leben gerettet hast. Danke, dass es dich gibt. Ett sah sie einen Augenblick an. "Halt das eine Ende des Verbandes bitte kurz fest", fuhr sie fort, aber Midine sah, dass sie es verstanden hatte. Die folgenden Minuten verbrachten sie schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Midine hörte Etts regelmäßiges Atmen, das Rascheln ihrer Kleidung, das gemütliche Knacken des Kaminfeuers. Und jedes Mal, wenn Ett sich vorbeugte, um den Verband hinter Midines Rücken vorbeizuziehen, kitzelten ihre Haare Midines Haut, ein angenehmes Prickeln hinterlassend. Fast wünschte Midine sich, das hier würde niemals enden. Doch dann war die Verbandsrolle aufgebraucht und der Moment vorbei. Ett steckte das andere Ende des Verbands mit einer Klammer fest und nickte, zufrieden mit ihrer Arbeit. "Du kannst wieder aufstehen", meinte sie, während sie ihren Verbandskasten wieder einräumte. Midine stand auf und streckte sich versuchsweise. Der Verband saß hervorragend, wie immer. "Danke", sagte sie noch einmal. Ett winkte nur ab. Unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, blieb Midine stehen. "Es tut mir leid, falls ich dich verärgert haben sollte", fing sie an. "Ich dachte doch nur-" "Du brauchst dich nicht andauernd bei mir entschuldigen", schnitt ihre Freundin ihr das Wort ab. "Es ist nur... Du kriegst ein Schwert durch den Brustkorb, bist klinisch tot und wachst monatelang nicht auf dem Koma auf. Und dann kommst du zu mir und kümmerst dich einen Scheiß um deine Verletzung. Du könntest immer noch sterben, weißt du das? Du könntest sterben, verdammt nochmal!" Erschrocken wich Midine einen Schritt zurück. Ett hatte sich zu ihr umgewandt, mit einem Ausdruck hilflosen Zorns in den Augen. Und... waren das Tränen, die da in ihren Augenwinkeln schimmerten? Aber noch ehe sie etwas sagen konnte, ergriff Ett wieder das Wort. "Ach, verflucht, entschuldige. Ich habe es nicht so gemeint. Ich fühle mich nur irgendwie so... müde." Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Erleichtert nickte Midine. "Dann essen wir jetzt noch auf und danach gehst du sofort ins Bett." "Klingt gut." Ett ging wieder hinüber zum Tisch und setzte sich. "Und schlaf dich morgen schön aus, hörst du?", fragte Midine mit gespielter Strenge in der Stimme, während sie sich gegenüber von Ett hinsetzte. Ett musste grinsen. "Natürlich. Warte, das hätte ich fast vergessen: Ich habe hier noch etwas für dich." "Was denn?", fragte Midine neugierig. "Hier." Ett kramte etwas aus ihrer Tasche und hielt es Midine entgegen. Es war eine Schneekugel aus Glas, gerade einmal so groß wie Midines Handteller. Doch darin war etwas, das Midine den Atem anhalten ließ. Ein Leuchtfeuerturm, winzig klein, aber trotzdem gut als solcher zu erkennen. Mit all seinen Säulen, Verzierungen und Erkern wirkte er ein wenig wie ein Schloss. Midine nahm die Kugel entgegen und schüttelte sie. Ein feiner Schneesturm erhob sich in der Kugel und wirbelte um den Turm herum. "Ist... ist das wirklich für mich?" Ehrfürchtig betrachtete sie die vielen meisterhaften Details in der Miniatur. "Ist es." "Und... wie viel hat das gekostet?" Midine drehte die Kugel in ihren Händen hin und her. "Tss, das fragt man doch bei einem Geschenk nicht." "Danke!" Midine sprang auf und drückte Ett fest an sich. "Ich habe doch gesagt, du sollst dich nicht immer bei mir bedanken", grummelte ihre Freundin, erwiderte die Umarmung aber. Schließlich löste sie sich wieder von Midine, erhob sich und ging abermals in die Küche. "Es ist noch ein Pfannkuchen da", rief sie ins Esszimmer hinüber. "Willst den noch haben?" "Nein, danke. Ich bin satt", antwortete Midine. "Hm." Unschlüssig starrte Ett den übriggebliebenen Pfannkuchen an. "Was machen wir jetzt mit dir? ... ah, ich hab's: Ich überlasse dich Avelli, als Lohn dafür, dass er den Tisch abräumt und noch den Rest der Nacht übernimmt." Im Esszimmer fing Midine an zu kichern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)