Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ Prolog: Prolog – Niederkunft ---------------------------- 21. August 1882 – Kalifornien   "Was denkst du, Mary?", Richards warme braune Augen ruhten fragend auf den angespannten Gesichtszügen seiner Frau. Mary hatte den Blick in die Ferne gerichtet. Ihr langes blondes Haar wiegte sanft in der Sommerbrise, doch all die Schönheit dieses Tages vermochte ihre Stimmung nicht zu heben. Weder die singenden Vögel, die die Körner auf den Feldern um das alte Landhaus zusammenpickten, noch die Bienen und Hummeln, die von Blume zu Blume flogen und die Wiese mit ihrem leisen Summen erfüllten. Marys Hände lagen gefaltet auf ihrem gewölbten Bauch. Sie war schwanger. "Ich sorge mich", erklärte Mary, nachdem sie ihren Gemahl weitere endlos anmutende Minuten hatte warten lassen, "ich sorge mich um unser Kind." Ein mitfühlendes Lächeln breitete sich über Richards Lippen aus. "Unser Kind wird es gut haben." Er griff ihre Hand und strich mit dem Daumen sanft über ihre Wange. "Das Haus meiner Eltern ist gut, wir können darin wohnen und irgendwann wird unser Sohn die Farm übernehmen. Bis dahin, wird er mit uns die Felder bestellen und die Tiere versorgen. Es wird wunderbar." "Woher weißt du, dass es ein Junge ist, der unter meinem Herzen liegt?" Mary hatte ihre sorgenvollen Blicke auf ihren Gatten gerichtet. Richard lächelte. "Ich weiß es eben. Alles wird gut." Er drückte ihre Hand und erhob sich von der alten, hölzernen Bank, die im Schatten einer großen Eiche am Rand des Hofes stand. Marys blaue Augen hatten ihren Mann eindringend fixiert, als dieser so unbekümmert vor ihr stand. Noch immer zeichneten sich unerschütterliche Sorgen in ihrem jungen Gesicht ab, die keines seiner Worte hätte zerschlagen können. "Ich bete, dass du Recht behältst", flüsterte sie und streckte ihre Hand nach ihm aus, dass er ihr aufhelfen möge. Richard brachte sie zurück ins Haus und begleitete sie in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Sie war müde und wollte sich ausruhen – wie jeden Tag. Die Schwangerschaft war anstrengend geworden. Mit jedem Tag sehnte Mary sich die Geburt herbei und konnte es kaum mehr erwarten, dass sie endlich wieder all das tun konnte, was sie vorher so geliebt hatte. Sie wollte wieder ausreiten und den Wind in ihrem Haar spüren, wenn ihr Pferd im vollen Galopp durch die Wiesen pflügte und die Vögel aufgescheucht davonflogen. Nur noch ein paar wenige Wochen, dann wäre es soweit. Dann würde sie Mutter sein und alles würde sich verändern.   —   "Richard!" Marys Stimme drang heiser an sein Ohr. Ihre Finger hatten den Arm ihres Gatten fest umklammert. "Richard, wach doch auf!" Er öffnete die Augen. Im Zimmer war es stockdunkel. "Was ist?" Er hatte sich seiner Frau zugewandt und wollte seine Hand beruhigend auf ihre Wange legen, als ein schmerzerfüllter Schrei den Raum durchdrang. "Hol den Arzt!", flehte Mary, als ihr Körper sich unter Schmerzen zusammenkrümmte. Augenblicklich sprang er aus dem Bett und stürzte davon, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Er eilte die Stufen hinunter und hämmerte an das Schlafzimmer seiner Eltern. "Vater! Mutter! Schnell! Mary braucht Hilfe!" Das Herz in der Brust des jungen Mannes schlug schnell und schmerzvoll gegen seine Rippen. Es würde fünfzehn Minuten dauern, bis er das Haus des Arztes erreicht hatte. Er musste sich beeilen. Sorge und Angst trieben ihn mit Peitschen eilig vor sich her. Es war zu früh für die Geburt.   Die Hufe seines Pferdes hallten laut durch die Nacht. Die Lichter der Häuser waren beinahe erloschen und friedliche Ruhe lag über der Stadt, als Richard atemlos auf weichen Knien an die Türe des Arztes hämmerte. "Doktor! Wachen Sie auf, meine Frau braucht auf der Stelle Ihre Hilfe!" Richard bemühte sich, dass seine Stimme fest und sicher klang, doch das Zittern seines Körpers hatte auch vor seinen Stimmbändern nicht haltgemacht. Immer wieder schlug er gegen die Türe. Schier endlos verstrichen die Sekunden, bis das Holz unter seinen Fäusten endlich zurückwich und ein bärtiger, alter Mann in Richards erstarrtes Gesicht blickte. "Mr. Paine, was bringt Sie zu solch später Stunde noch an mein Haus?" Der Arzt schien Richards Hilferufe im Schlaf nicht verstanden zu haben. "Mary braucht Ihre Hilfe. Jetzt gleich!", wiederholte er sein Anliegen. Er stützte sich an die Hauswand. Sein Kreislauf wollte ihm den Dienst versagen. Nicht! Nicht jetzt! "Bitte beruhigen Sie sich." Dem Arzt war Richards Verfassung nicht entgangen. "Ich bin sofort zurück." Richard sah ihm nach. Seine Nerven lagen blank und sein Herz drohte ihm aus der Brust zu springen, wenn ihm nicht sofort jemand sagte, dass alles gut werden würde. Doch niemand tat es. Niemand legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schultern, wie Mary es getan hätte, wenn sie mit ihm hier gewesen wäre. "Mr. Paine, ich mache mich auf den Weg", sagte der Arzt nur wenige Augenblicke später und Richard öffnete seine Augen. Er nickte. "Nehmen Sie mein Pferd, dann sind Sie schneller. Ich werde laufen." Der ältere Mann lächelte sanft, dann eilte er die steinernen Stufen vor seiner Haustüre hinunter und schwang sich auf den Rappen. Richard blieb zurück und lauschte den Schritten seines Pferdes, die den Doktor geschwind aus der Stadt und hinaus zum Hof seiner Eltern trugen. In diesem Moment fühlte er sich unsagbar machtlos. Gott ... lass es gut enden ...   —   Es knackste und knirschte unter Richards Füßen, während er keuchend die langen Feldwege entlang rannte. Seine Lungen brannten und seine Augen tränten vom Wind, als endlich sein hell erleuchtetes Elternhaus hinter diesem letzten, kräftezehrenden Hügel in Sicht kam. Es ging bergab und die Erde unter ihm schien ihn zu Fall bringen zu wollen, je schneller er wurde. Sie schaffte es nicht. Richard hetzte unaufhaltsam seinem Ziel entgegen. Die Haustüre stand offen und er wurde langsamer, als er den Doktor auf den Hof treten sah. Er wagte nicht zu fragen. Der alte Mann hatte den Blick gesenkt. Er hob ihn, als er Richards Schritte näher kommen hörte. Ein gequältes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. "Nein ..." Richard musterte fassungslos das schwermütige Gesicht des Arztes. "Es tut mir leid, Mr. Paine. Ich konnte Mary nicht-" "NEIN!" Ein wütender Schrei unterbrach den alten Mann und ließ ihn zusammenfahren. Richard eilte ins Haus. Er wollte das nicht hören und noch weniger wollte er es glauben. Mary war zu gut und zu liebevoll, um einfach so vom Angesicht der Erde getilgt zu werden. Die Welt brauchte Menschen wie Mary, sie machte sie zu einem besseren Ort. Fröhlicher und lebendiger, als alles was Richard je zuvor gesehen hatte. Er hatte seine Hand ruhig auf die Klinke der Schlafzimmertür gelegt. Drinnen war es still, er konnte keinen Laut vernehmen, nur sein eigenes Herz, das erbarmungslos in seiner Brust dröhnte. Es setzte aus. Für die Dauer eines Atemzuges hatte es aufgehört zu schlagen. Richard blickte in sein Schlafzimmer. Ein blutbeflecktes Laken bedeckte den leblosen Körper seiner Frau. Sie muss schlafen! Eine Geburt ist anstrengend ... Sie schläft. Lügen wanden sich durch seine Gedanken, er wusste das, doch zu gerne wollte er ihnen Glauben schenken. Wie in Trance ging er näher an sein Bett heran. Er würde sie aufwecken und alles wäre wieder in Ordnung. "Mary?" Er kniete neben dem Bett und zog das Laken ein Stück zur Seite. Ihr Gesicht sah friedlich aus, ruhiger und leerer als er es in Erinnerung hatte. "Mary, wach auf." Vorsichtig legte er seine Fingerspitzen an ihre kühle Wange. "Du musst aufwachen." Eine starke Hand packte seine Schulter. "Du kannst nichts mehr tun, Richard" Sein Vater sprach mit tiefer, ruhiger Stimme zu ihm. Richard schüttelte den Kopf. "Ich warte einfach, bis sie wieder aufwacht." "Das wird sie nicht... sie hat es nicht geschafft." Ein dumpfer Stich durchbohrte seinen Kopf wie ein Speer und blieb in seinem Herzen stecken. Tränen versperrten ihm die Sicht und sein Körper drohte in sich zusammenzufallen. Was war sein Verbrechen, dass Gott ihm seine Mary nahm? Das schöne Mädchen, in das er sich vor vier Jahren so unsterblich verliebt hatte, als es ihr Kleingeld vor seinen Füßen hatte fallen lassen, weil es zu nervös gewesen war, den einen Liter frische Milch zu bezahlen. Jetzt war sie tot? Das konnte nicht sein. "Das ist sie nicht", sagte er leise und legte seinen Kopf neben ihren auf das Kissen. "Richard!" Sein Vater wurde lauter. Er packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und zog ihn vom Bett. "Sieh es ein, Richard! Gott hat sie geholt! Sie ist jetzt bei ihm." Richard wollte sich losreißen. Er versuchte sich aus dem festen Griff seines Vaters zu lösen, doch seine Muskeln waren weich wie Butter. "Lass mich los! Gott hat mich verraten!", fluchte der junge Mann laut, "Er soll sie zurückgeben!" Ein lautes Klatschen hallte durch das Zimmer. "Sag das nie wieder!" Sein Vater sah ihn finster an. "Der Herr hat mich verraten!", wiederholte Richard seine Worte lautstark und wurde dafür von seinem Vater mit einer zweiten Ohrfeige bestraft. "Joseph ... lass den Jungen." Richards Mutter stand in der Türe. "Lass ihn doch trauern." Joseph nahm die Hände von seinem Sohn. Richard sah zu, wie sein Vater wütend den Raum verließ und richtete die Blicke auf seine Mutter, die ein kleines Bündel in den Armen hielt. "Mutter ..." Seine Augen waren hilfesuchend auf die gutmütige Frau gerichtet, die langsam zu ihm herüberkam. Sie lächelte sanft: "Richard ... Du bist Vater." Sie übergab ihm das kleine Päckchen aus Decken. "Es ist ein Mädchen." Er zögerte nach unten zu sehen. Er wollte, doch er wagte es nicht, aus Angst was ihn erwarten würde. "Sieh sie dir an, sie sieht aus wie Mary", sagte seine Mutter ruhig und ließ ihn alleine mit seiner Tochter zurück. Richard fühlte sich taub. Sein ganzer Körper war gelähmt. Ein leises Wimmern klang aus seinen Armen. Er blickte hinunter in die leuchtend blauen Augen seiner Frau. Nein, seiner Tochter, und wieder flossen Tränen über seine Wangen. 001 – Nestwärme --------------- Nun komm schon ... zier dich doch nicht so! "Ha! Hab ich dich!" Ein breites Grinsen zeichnete sich auf den Lippen des kleinen Mädchens ab, als ihre Finger sich eilig um den Grashüpfer schlossen. Sie sprang aus dem Gras, das hüfthoch hinter dem Haus ihrer Großeltern stand. Ihr himmelblaues Kleid und die blonden Zöpfe trieben nach hinten, während sie zurück in den Stall rannte, in dem ihr Vater allmorgendlich die Kühe molk. "Ich habe es geschafft Vater!", rief sie ihm schon von Weitem entgegen. Richard hob den Blick und wandte ihn seiner Tochter zu, die nun langsamer auf ihn zukam. "Was hast du geschafft?" "Sieh her", sagte sie voller Stolz und hielt ihm ihre geschlossenen Kinderhände vor die Nase. Einen angemessen kurzen Augenblick ließ sie verstreichen, bis ihr Vater endlich die Augen auf ihre Finger richtete. Gespannt beobachtete sie sein Gesicht, als sie ihre Hände öffnete. Ihr Vater legte seine Stirn in Falten. "Du hast einen toten Grashüpfer gefangen?" "Was? Nein, er-", sie blickte entsetzt auf ihre Hände. Das Insekt, das sie so vorsichtig gefangen hatte, rührte sich nicht mehr. Ihre rosigen Lippen spannten sich und das Leuchten ihrer Augen drohte in Tränen zu ertrinken. Sanft legte Richard seine Hand auf ihre Wange, bis sie ihn wieder ansah. Dann zeigte er hinter sie. "Siehst du die Sperlinge?", sie nickte, "Geh hin und gib ihnen den Grashüpfer. Sie werden sich sicher sehr darüber freuen." Das junge Mädchen war nicht gänzlich überzeugt von der Idee, doch sie wollte es versuchen. Vorsichtig näherte sie sich den Vögeln, die dort am Eingang des Stalls im Sonnenlicht saßen und abwechselnd im Wassernapf des Hofhundes badeten. Sie kniete sich nieder, streckte die Hand auf den Boden und wartete geduldig in wenigen Zentimetern Abstand. Nichts geschah und es fühlte sich an wie eine kleine Ewigkeit, bis endlich ein spitzer Schnabel nach dem Insekt pickte und der kleine Vogel gleich darauf in Windeseile verschwand. Das kleine Mädchen schnellte blitzartig in die Höhe. "Vater!", rief sie. "Hast du das gesehen? Er hat ihn wirklich genommen!" Richard lächelte zufrieden, als sie zurück neben seinen Melkschemel kam. "Ja, ich habe es gesehen." "Dann war es ja gar nicht schlimm, dass ich ihn zerquetscht habe, oder Vater?" Sie sah ihn hoffnungsvoll an. "Nächstes Mal solltest du trotzdem vorsichtiger sein",  mahnte er ruhig. "Der Grashüpfer hat dir schließlich nichts getan, und wenn die Vögel ihn nicht gewollt hätten, hättest du ihn selbst essen müssen." Schockiert riss sie die Augen auf, als er das sagte. "Aber Vater ..." Er lächelte. "Es war nur ein Spaß. Du hast es ja nicht mit Absicht getan." "Ja ...", gab sie leise zur Antwort und senkte traurig den Blick. "Du bist wie deine Mutter." Richard strich ihr etwas wehmütig über den Kopf. "Genauso sanftmütig und einfühlsam." Sie sah ihn fragend an, doch blieb sie still. Die Worte ihres Vaters klangen unverständlich. Elizabeth war streng und zuweilen sehr launisch, besonders in letzter Zeit. Sie war keine sanftmütige Frau. Richard erhob sich von seinem Schemel und gab ihr den halb gefüllten Eimer in die Hand. "Bringst du ihn für mich in die Küche?", fragte er. Sie nickte ganz selbstverständlich und hielt den Henkel gut fest. "Ich sattle derweil unsere Pferde", verkündete er lächelnd, als das Mädchen schon einige Schritte getan hatte, "dann können wir zusammen zum Fluss reiten und angeln gehen. Mutter meinte, sie hätte gerne Fisch zu Abend." Die Kleine drehte sich um und ihre Augen funkelten mit der Sonne um die Wette. "Oh ja!" Ihr Lächeln hatte sich bis zu den Ohren ausgebreitet. "Ich bin gleich zurück!" Rasch war sie aus dem Stall verschwunden und hüpfte freudig davon. Sie liebte es, wenn ihr Vater sie zum Ausreiten mitnahm. Das letzte Mal war bereits über eine Woche her und Nina – ihr Pferd – würde das Fliegengewicht auf ihrem Rücken sicher zu schätzen wissen, da für gewöhnlich Joseph dort Platz nahm, ihr Großvater. "Mach langsam, Megan!", rief Richard ihr noch hinterher. "Ja Vater!", antwortete sie lautstark, bevor sie außer Hörweite kam. Der Eimer in ihren Händen war nicht schwer und Megan tänzelte quer über den Hof in Richtung Milchküche. Die Türe stand bereits offen und sie trat gut gelaunt in den hell gefliesten Raum. Auf einem massiven, hölzernen Tisch stand eine große Schüssel Käsebruch, der darauf wartete, dass man ihn abpresste und Käselaibe daraus formte. Megan streckte sich zur Schüssel. "Finger weg!", fuhr sie eine scharfe Stimme plötzlich von hinten an. Der Henkel des Milcheimers glitt ihr aus den Fingern und lautes Scheppern hallte durch den Raum. "Megan Maryann Paine!" Elizabeth hatte das Gesicht zu einer finsteren Grimasse verzogen, als die Milch eilig begann die Fugen zu ihren Füßen zu füllen. Megan wagte es kaum, sich ihr zuzuwenden. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen, die sie vor Schreck fest verschlossen hatte und wandte sich ihrer Mutter zu. Sie wusste, was kommen würde und sie behielt Recht. Elizabeth bedachte sie mit einer schmerzvollen Ohrfeige und wieder fuhr sie zusammen. "Verzeih, Mutter ...", stammelte Megan leise, während sie mit ihren Tränen kämpfte. "Was hast du dir nur wieder gedacht?" "Ich wollte das nicht ..." "Du wolltest nicht?" Elizabeth war in Rage. "Hatte der Käse es dir befohlen, Kind?" Megan schüttelte den Kopf. "Nichts als Kummer bereitest du mir!", fuhr die große brünette Frau fort. "Und erst dein Vater ... Er muss dich nur ansehen und schon geht es ihm schlecht! In dir steckt der Teufel!"  Wie versteinert stand das kleine Mädchen dort, ihr tränenfeuchtes Gesicht zum Boden gewandt. Wortlos. "Wisch den Boden und dann geh auf dein Zimmer!", fügte Elizabeth noch finster hinzu und widmete sich wieder der Schüssel, die ihre Stieftochter so verhängnisvoll gelockt hatte. Megan stand still. Die Worte ihrer Mutter lagen schwer auf ihrer kleinen Seele. Vorsichtig blickte sie sich nach einem Lumpen um. In einer Ecke stand ein alter Metalleimer. Sie löste sich aus ihrer Starre und ging hinüber, um etwas zum Wischen darin zu finden, während weiter leise Tränen über ihr Gesicht liefen. Eilig nahm sie den Lappen heraus und wollte zurück, als plötzlich die feste Stimme ihres Vaters den Raum erfüllte: "Was ist hier los?" "Deine Tochter wollte den Käse stehlen und hat mir die Milch vor die Füße geschmissen, als ich sie erwischt habe!", schimpfte Elizabeth und wandte sich Megans Vater zu. Sie zeigte auf den nassen Boden und stemmte ihre freie Hand in die Hüfte. Megan sah ihren Vater mit großen Augen an, als der in ihre Richtung blickte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ob sie überhaupt etwas sagen durfte. Richard schwieg ebenfalls. Er richtete seinen Blick wieder auf Elizabeth. "Meine Tochter." Er klang erzürnt. "Unsere Tochter wirft nicht mit Milcheimern." Megans Mutter entglitten die Gesichtszüge. Sie wurde lauter. "Tut sie das nicht? Na, sieh dir das Kind an, sie macht nichts als Ärger und du verschließt deine Augen davor!" "Sie treibt nicht halb so viel Unfug wie andere Kinder in ihrem Alter!", entgegnete Richard seiner Frau, "Sie ist ein liebes Kind." "Lieb?" Elizabeth schien es nicht fassen zu können. "Sie ist unmöglich! Du wirst es sehen, wenn unser Kind geboren ist!" Sie legte die Hände schützend auf ihren Bauch. "Sie wird ihm schaden mit ihrer ungeschickten rauen Art!" "Das wird sie nicht!" Richard musterte kurz den noch recht flachen Bauch seiner Frau. "Sie wird!" Immer wütender wurde ihre Stimme. "Wir müssen sie wegbringen! Sie schadet uns!" "Hör auf so etwas zu sagen, Elizabeth!" Auch Richard bebte. Seine Frau musterte ihn stur. Ihre Augen bohrten sich in seine. "Du hast es selbst gesagt. Sie erinnert dich an Mary", wiederholte sie die Worte, die Richard ihr einst anvertraut hatte. "Wie oft hast du heimlich Tränen vergossen wegen ihr?" "Das reicht jetzt!" Noch nie hatte Megan ihren Vater so laut werden hören. Das kleine Mädchen kauerte ängstlich an der kühlen Wand und suchte Schutz hinter der Kante eines Schrankes. Immer noch schimpfte ihre Mutter weiter mit ihrem Vater und auch Richard verlor zunehmend die Fassung. Megan hielt sich die Ohren zu, so fest sie konnte, doch noch immer drangen die lauten Stimmen ihrer Eltern zu ihren Gehörgängen durch. Sie wünschte sich so sehr, dass es aufhörte, doch je länger es dauerte, desto unwahrscheinlicher wurde es. Nie hätte sie versucht vom Käse zu naschen, wenn sie gewusst hätte, dass dadurch ein solch schlimmer Streit entstehen würde. Lauter und wütender als jemals zuvor keiften die beiden sich an. Megan hatte große Angst. Sie wollte hier raus. Sie musste weg. Ihr Herz schlug schnell in ihrem kleinen Körper, als sie all ihren Mut zusammennahm und, an ihren Eltern vorbei, aus der Küche stürmte. Wahrscheinlich hatten sie es gar nicht bemerkt, denn niemand folgte ihr hinaus. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Megan rannte über den Hof zu den Pferden. Ihr Vater hatte die beiden wartenden Tiere bereits gestriegelt. Sie wischte die Tränen von den Wangen und holte sich die Trittleiter aus der Sattelkammer, um auf ihr Pferd steigen zu können. Megan brauchte keinen Sattel, sie konnte auch sehr gut ohne das alte Ding ausreiten. So zog sie sich also nach oben, krallte sich in Ninas Mähne fest und gab dem lieben Tier mit den Waden zu verstehen, dass es loslaufen sollte. "Lauf Nina!", befahl sie mit zittriger Stimme. Die Stute gehorchte und trug das Mädchen davon. Es dauerte nicht lange und sie hatten den Hof weit hinter sich gelassen. Megan wurde ruhiger. Die Bewegungen ihres Pferdes und die warme Luft, die um ihre Nase wehte, hatten eine entspannende Wirkung. Sie war froh, dass ihr Vater sie das Reiten gelehrt hatte, obwohl selbst ihre Großeltern der Meinung gewesen waren, dass sie mit ihren sechs Jahren noch zu jung dafür sei. Richard hatte sich nicht beirren lassen und seiner Tochter dennoch ihren Wunsch erfüllt. So lange sie denken konnte, liebte sie die Pferde und die Geschwindigkeit, zu welcher diese Tiere fähig waren. Als würde man fliegen, schneller als der Wind und kraftvoller als ein Donnerschlag. Megan trieb ihr Pferd die Hügel hinauf und durch das weite Tal, das auf der anderen Seite lag, bis sie endlich langsamer wurde und Nina eine kleine Pause zugestand. Lobend klopfte sie den Hals des Pferdes und ließ sie langsam weiterlaufen. Megan war schon häufiger mit ihrem Vater hier gewesen, sie wusste, dass sich ganz in der Nähe ein kleiner Bach befand und Nina war sicher durstig. Das Mädchen lenkte ihr Pferd ruhig in Richtung des Wassers. Sie wäre abgestiegen, um Nina am Halfter zu führen, doch hätte sie ohne eine Leiter nicht wieder aufsteigen können. Vorsichtig ließ Megan ihr Pferd über das steinige Ufer zum Bach laufen, dass sie trinken konnte. Nina nahm das Angebot gerne an und Megan wartete ruhig, während sie kleine Zöpfe in ihre Mähne flocht. Es war wundervoll friedlich hier draußen in der Natur und der Ärger zu Hause war vergessen. Sie wollte eine Weile hier bleiben und die Ruhe genießen, bis es dunkel würde. Wenn die Nacht kam, sollte sie nach Hause gehen, doch bis dahin war noch viel Zeit. Ihre Eltern hätten sich bis dahin sicher wieder beruhigt. Nina hob den Kopf und drehte die Ohren nach hinten. Hm? Megan wandte sich um. Am anderen Ende des Tals kam ein Pferd auf sie zu. Ein schwarzes mit Reiter. Ihr Vater. Oh nein..! Augenblicklich schoss Angst durch ihren Körper. Sicher würde sie Ärger bekommen, weil sie Elizabeth so aufgebracht hatte und weil sie die Milch verschüttet hatte und dann abgehauen war. "Nina! Los!", wies sie das Tier an und schnalzte noch mit der Zunge. Megan wollte flüchten, sie wollte keinen Ärger, nur ihre Ruhe. Die Muskeln ihres Pferdes setzen sich in Bewegung und Nina nahm Geschwindigkeit auf. Sie galoppierte davon und Megan hörte ihren Vater rufen, dass sie anhalten solle, doch sie trieb die Stute weiter. Das Mädchen klammerte sich eisern in die hellen Haare ihres Pferdes. Steine polterten, als Ninas Hufe am Ufer entlang über den Boden donnerten. Megan flehte, dass sie schnell genug sein würden, dass ihr Vater aufgeben würde und dass er ihr heute Abend verzeihen könnte, was sie getan hatte. Doch es gelang ihnen nicht. Nina kam aus dem Tritt. Sie musste über einen der vielen Steine gestolpert sein und wurde nervös. Megans Pferd fing sich, doch es war unruhig geworden und scheute, kaum waren sie zwei Meter weitergekommen. Adrenalin rauschte durch Megans Blutbahnen, als Nina sich auf die Hinterbeine stellte und die Haare der Mähne aus ihren Fingern glitten. Sie spürte, wie sie rutschte, hörte ihren Vater ihren Namen rufen und fiel zu Boden. Ein dumpfer Schlag erschütterte ihren Kopf und Dunkelheit überkam sie.   —   Ich schlug die Augen auf. Um mich herum war alles noch dunkel. Es war ein Traum ... Wie oft hatte ich schon von diesem Tag aus meiner Vergangenheit geträumt? Der Tag an dem mein Vater beschlossen hatte, dass es besser für mich wäre, wenn er mich weggeben würde. Natürlich. Ich legte die Hand auf meine Stirn und atmete tief durch. Es war jedes Mal aufs Neue eine Qual. Meine sogenannte Mutter hatte nie viel für mich übrig gehabt. Inzwischen wusste ich, dass Elizabeth nicht meine leibliche Mutter war, doch trotzdem schmerzte es, dass sie mich so grundlos gehasst hatte. Vielleicht hatte sie mich aber auch als Konkurrenz gesehen, weil sie die Liebe meines Vaters mit mir teilen musste. Ich wusste es nicht und konnte nur vermuten. Wie dem auch gewesen sein mochte, es war nicht meine Schuld gewesen, dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war und mein Vater in Elizabeth nicht dieselbe große Liebe zu sehen vermochte, wie einst bei Mary. Nun saß ich hier. Elf Jahre nach diesem verhängnisvollen Zwischenfall in der Milchküche. In meinem Bett im Kloster der Santa Barbara Nonnengemeinschaft. Es war ein ruhiges Leben hier im Kloster. Ich arbeitete auf den Gemüsefeldern und verkaufte die Erträge in der Stadt. Wenn das Geld knapp wurde, verkaufte ich auch Bibeln oder sammelte Spenden, was im Grunde das Gleiche war. Die Leute besaßen alle ihre Bibeln und wenn sie eine neue kauften, dann nur, weil sie ein gutes Werk tun wollten. Vielleicht taten sie es auch wegen meiner kleinen Beigaben. Gelegentlich legte ich ein paar meiner eigenen Kurzgeschichten in die Bücher und jedes Mal freute es mich, wenn die Leute sie fanden, zurückkamen und sich bedankten. Natürlich war das verboten. Oberschwester Johanna war strickt dagegen, dass ich meine angeblich so sündigen Geschichten in die Bibeln steckte, doch ich konnte es inzwischen recht gut abschätzen, wer gerne eine meiner Geschichten lesen und wer sich davon auf den Schlips getreten fühlen würde. Schwester Johanna erfuhr also nichts davon. Gelegentlich konnte ich meine Werke sogar ohne die Bibeln unters Volk bringen und die Leute bezahlten dafür. Nicht viel, aber viel brauchte ich auch nicht. Hier im Kloster hatte ich alles was nötig war. Es gab Essen und Trinken, ich hatte annehmbare Kleidung und man hatte mir eine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt. Ein ungeheurer Luxus. Ich streckte mich, schlug die Bettdecke zurück und entzündete meine Lampe, die auf dem Nachttisch stand. Sofort erfüllte ein Flackern mein kühles Zimmer und tauchte es in warmes Licht. Ich nahm die Strickjacke von meinem Stuhl und warf sie über. Dieses Gemäuer war zu dieser Jahreszeit nicht ohne Jacke zu bewohnen. Im Grunde war es zu keiner Jahreszeit ohne Jacke zu bewohnen, abgesehen von den paar Zimmern im Obergeschoss, deren Dach noch nicht vollständig mit Ziegeln versehen worden war. Ansonsten waren die Wände schlichtweg zu dick, um die kalifornische Wärme hereinlassen zu können, was im Sommer ein nicht zu verachtender Vorteil war.  Ich zog mir ein paar warme Socken über und setzte mich an meinen Schreibtisch. Die Zeit bis zum Frühstück wollte ich nutzen, um ein weiteres Kapitel für meinen Roman zu schreiben. Der Papierstapel in meinem Schubfach hatte inzwischen eine beachtliche Höhe angenommen und irgendwann würde ich es veröffentlichen. Es war ein wunderbares Hobby. Ich konnte in andere Welten versinken, mir den Frust von der Seele schreiben und Menschen damit begeistern. Meine Finger waren schnell geworden und ich machte kaum noch Fehler mit der Maschine, was es leichter machte, da ich nicht ständig die Seiten neu abtippen musste, wenn ich versehentlich die falsche Taste betätigt hatte. Nachdem ich die letzten Zeilen meiner gestrigen Arbeit noch einmal überflogen hatte, fing ich an, daran anzuknüpfen und arbeitete darauf hin, dass Laura endlich ihren vermissten Bruder wiederfinden würde, der vor fünf Kapiteln bei einem Unwetter mit der Kutsche vom Weg abgekommen war. Es war noch mitten in der Nacht und ich versank für Stunden zwischen Freud und Leid auf meinem Papier, teilte Lauras Kummer und die Freude, die uns erfüllte, als ihr totgeglaubter Bruder Äpfel auf dem Markt verkaufte. Der Hahn auf dem Hof krähte und ich blickte auf. Ich sollte mich waschen und anziehen, wenn ich nicht im Nachthemd beim Frühstück auftauchen wollte. Eilig packte ich meine Kleidung zusammen und begab mich in den Waschraum, den ich mir mit ein paar Nonnen teilte. Ich hatte das Zimmer meist ganz für mich allein, da die anderen sich bei Morgengrauen stets beim Gottesdienst befanden oder das Essen vorbereiteten. Ich selbst ging nicht in den Gottesdienst, zumindest nicht sehr häufig. Die Oberschwester mochte das nicht gerne sehen, doch ich war keine Nonne und somit konnte sie mich nicht verpflichten zu kommen. Nachdem ich angezogen und gekämmt war, verließ ich das zweite Stockwerk und ging hinunter in den Speisesaal, wo bereits hektisches Treiben herrschte. "Guten Morgen Megan", begrüßte mich Schwester Agnes, eine ältere, füllige Frau, die Brote auf den Tischen verteilte. "Guten Morgen Schwester", antwortete ich mit einem Lächeln. Schwester Agnes war eine nette Frau, man konnte stets zu ihr kommen, wenn es einem schlecht ging. Ich nutzte diese Möglichkeit seit einiger Zeit schon nicht mehr allzu häufig. Früher jedoch war ich wohl jede zweite Woche bei ihr gewesen. Vergangenheit. Ich war alt genug, um nicht wegen jedem kleinen Problem jemandem mein Herz ausschütten zu müssen, selbst wenn ich mir das eine oder andere mal ihre warmen Arme um meine Schultern gewünscht hätte. Weiter vorne an der Küche stand Schwester Christina und stapelte leere Teller aufeinander. Sie war noch jung, drei Jahre älter als ich und ausgesprochen unterhaltsam. "Schönen guten Morgen", grüßte ich sie. "Kann ich helfen?" "Megan!" Sie drehte sich zu mir und lächelte. "Guten Morgen." Dann drückte sie mir einen Korb voller Besteck in die Hand. "Verteilst du das für mich auf den Tischen?" Ich nickte und machte mich gleich ans Werk. Schwester Christina war eine der Nonnen mit denen ich mir den Waschraum teilte und es war mir beim besten Willen unerklärlich, warum sie Nonne geworden war. Unter ihrer Kutte verbarg sie einen beneidenswert wohlgeformten Körper, ihr dunkles Haar war lang und voll und ihr Gesicht war zum Verlieben schön. Eine Schande, dass sie sich einzig und allein dem Herrn verschrieben hatte. Vielleicht hatte sie auch schlechte Erfahrungen gemacht ... bisher hatte ich es noch nicht gewagt, sie danach zu fragen, wenngleich wir über mein eigenes, trostloses Liebesleben schon zur Genüge gesprochen hatten. Es war eben etwas anderes eine Nonne zu fragen, warum sie Nonne war, als eine junge Frau, warum sie noch keinen Mann hatte. Ich wollte eben noch nicht heiraten, auch wenn ich wohl alt genug dafür war. Christina dagegen hatte sich endgültig entschieden. Ich holte mir mein Frühstück und nahm neben ihr Platz. "Hast du das nächste Kapitel schon fertig?", fragte sie, nachdem alle gemeinsam ein Dankgebet gesprochen hatten. "Fast, es fehlen nur noch ein paar Zeilen, dann kannst du es haben", verkündete ich stolz. "Ich bin wirklich sehr gespannt, wie es weitergehen wird", sagte sie und begann ihr Brot zu brechen, "Laura tut mir so schrecklich leid ..." Ich lächelte. Christina war meine treueste Leserin. Sie verschlang meine Zeilen mit solcher Hingabe, dass es mir manchmal unangenehm war, eine traurige Szene zu schreiben. Ich wusste, dass es sie aufwühlen würde, so sensibel wie sie war und dann tat es mir leid, wenn sie am nächsten Morgen mit geröteten Augen am Tisch saß. "Ich bringe es dir heute Nacht vorbei", verkündete ich und Christina begann zu strahlen. "Danke, sehr lieb von dir." Wieder lächelte ich und wandte mich dem Frühstück zu. Es standen noch einige anstrengende Stunden im Garten des Klosters bevor, die nur mit einem ausreichend gefüllten Magen angegangen werden konnten. Kartoffelernte. Nicht unbedingt meine Lieblingsaufgabe. Vor allem nicht bei dem schlechten Wetter, das momentan herrschte. Doch es half nichts, die Kartoffeln mussten aus der Erde und hinunter in den Keller, was ich nach dem Frühstück umgehend in Angriff nahm. Ich merkte schnell, dass ich es besser gestern hätte tun sollen, wie Schwester Agnes es mir gesagt hatte, als der Himmel noch keine dicken Regentropfen auf die Erde hatte fallen lassen ... 002 – Mein Engel ---------------- Schmutzig und bis auf die Knochen durchnässt, kam ich einige Stunden später zurück in mein Zimmer. Es war eiskalt, genau wie ich selbst. Meine Finger wollten sich kaum mehr rühren, doch zumindest waren die Kartoffeln nun sicher im Keller eingelagert und keiner konnte mir vorwerfen, dass ich meine Aufgaben hier nicht ernst nahm. Ich ging in den Waschraum, hoffte dort einen Kessel heißen Wassers zu finden und hatte Glück. Der Ofen war befeuert worden und darauf stand ein alter Kessel mit kochendem Inhalt. Sicher war es Schwester Agnes oder Schwester Christina gewesen, die sich darum gekümmert hatte. Auch die Wanne war befüllt worden und ich brauchte nichts weiter tun, als das kochende Wasser aus dem Kessel hinzu zu schütten, um baden zu können. Es klopfte an der Türe und ich zog automatisch mein Kleid wieder ein Stück nach oben. "Ja?", fragte ich. Die Klinke wurde hinuntergedrückt und Christina kam herein. "Ich sehe, du hast das Wasser gefunden", sagte sie vergnügt und streckte mir ihre Hände entgegen, "Gib mir dein Kleid, ich bringe es hinunter in die Waschküche." Ich lächelte sie dankbar an und schlüpfte aus dem nassen Stoff, der wie Blei an meinem Körper gezogen hatte. "Dank dir." Sie schüttelte leicht den Kopf, als ich das sagte. "Nicht doch, ich mache das gerne", entgegnete sie mir und nahm mein Kleid, "Geh dich aufwärmen, sonst liegst du in ein paar Tagen krank im Bett." "Ja, wahrscheinlich", gab ich mit einem leisen Seufzen zurück. Christina verließ das Zimmer und ich streifte meine restliche Kleidung ab, um in die wohltuende Wärme der Badewanne einzusinken. Diese Frau war zweifellos eine Heilige. Wahrscheinlich sogar ein Engel, oder etwas noch Reineres. Laut meinem Vater war auch meine leibliche Mutter diese Art Mensch gewesen. Er hatte mir davon in seinen Briefen erzählt, die er mir alle paar Monate ins Kloster kommen ließ. Die Abstände in denen er mir antwortete waren in den letzten Jahren immer größer geworden, aber jedes Mal, wenn ich dachte, es würde kein Brief mehr kommen, lächelte der Postbote mich an, wenn er mir seine Lieferung überreichte. Das war stets ein gutes Zeichen. Der alte Mann wusste, dass ich sehnlichst auf diese Briefe wartete. In der letzten Nachricht meines Vaters hatte er mir berichtet, dass ich nun schon insgesamt vier Geschwister hatte. Drei Brüder und eine Schwester. Ich würde sie niemals kennenlernen und das war gut so. Ich wollte sie überhaupt nicht treffen. Die Kinder, denen es gestattet war, auf dem Hof meines Vaters zu leben, die mit meinem Pferd ausreiten durften und sehr wahrscheinlich sogar ungestraft vom Käse naschen konnten. Ich kannte sie nicht und dennoch verspürte ich Wut, wenn ich an diese Kinder dachte. Abscheuliche Gedanken, die mich selbst immer wieder erschauern ließen. Es waren unschuldige, kleine Menschen, die mir nichts getan hatten und dennoch ... Christina würde mich für diese Gedanken verurteilen. Ich war mir sicher, dass alles was in ihrem Kopf vor sich ging von Güte geprägt war. Nie würde sie schlecht von jemandem denken, oder gar sprechen. Anders als ich. Ich hasste Elizabeth und verabscheute ihre Kinder, daran war nichts zu ändern, egal wie sehr ich versuchte Christinas Vorbild nachzueifern. Meine Gedanken kreisten noch lange um meine verfluchten Gefühle und ich suchte nach Entschuldigungen und Rechtfertigung, als mich ein erneutes Klopfen an der Türe aus meinen Gedanken riss. Ich zuckte zusammen und wandte meinen Blick herum, um sehen zu können, wer mich beim Baden störte. "Du bist noch immer in der Wanne?", Schwester Christina sah mich ungläubig an, "Schrumpeln dir nicht die Finger?" Ich blickte nach unten auf meine Hände. Wie die einer alten Frau sahen sie aus. "Das tun sie", bestätigte ich ihre Annahme, "Entschuldige, ich war etwas in Gedanken." "Schon gut. Aber jetzt musst du dich beeilen. Oberschwester Johanna wünscht dich zu sehen." Ich nickte nur und Schwester Christina verließ das Zimmer, damit ich mich ungestört aus der Wanne begeben konnte. Es war ungewöhnlich, dass die Oberschwester mich sehen wollte. Mir fiel nichts ein, weswegen sie das Gespräch mit mir suchen könnte, aber ich wollte sie nicht warten lassen und machte mich eilig fertig, um sie nicht zu verärgern. Der Weg zum Büro der Konvent-Oberin war weit von meinem Zimmer aus. Ich ging schnell durch die hohen Flure, die meine Schritte laut widerhallen ließen. Erst als ich mich meinem Ziel näherte, wurde ich langsamer. Ich prüfte den Sitz meines Kleides, strich mir die Haare aus dem Gesicht und klopfte an die hölzerne Türe. Schwester Johanna bat mich sofort herein. "Guten Abend, Schwester Oberin." "Setz dich, Kind", sagte sie, als ich eingetreten war. Ich nahm Platz. Johanna legte einige Papiere zur Seite und sah mich durch ihre runden Brillengläser prüfend an. Ich erwiderte ihren unangenehm lange andauernden Blick, bis sie auf ihren Schreibtisch schaute und mir ein kleines Heft überreichte. Ein paar beschriebene Seiten, die von einer roten Kordel zusammengehalten wurden. Meine Kordel. Meine Seiten und meine Worte auf dem Papier. Ich spürte den Kloß, der eindringlich auf meinen Kehlkopf drückte. "Was ist das, Megan?", fragte sie mit strengem Ton. Ich hob den Blick von meinem Werk, das sie mir zurückgegeben hatte und antwortete wahrheitsgemäß: "Eine Kurzgeschichte, die ich vor einigen Tagen schrieb." "Weißt du, woher ich sie habe?", Oberschwester Johanna hob ihre dunklen Augenbrauen. "Das tue ich nicht", gab ich leise zur Antwort. "Der gute Mister Johnson brachte sie mir, da er sie in einer unserer Bibeln fand, die du ihm verkauft hattest", erklärte die Oberin mir diese mehr als unerfreulichen Umstände, "Er dachte, sie wäre aus Versehen hineingeraten und wollte sie zurückbringen." Betreten senkte ich den Blick. Schwester Johanna wusste natürlich, dass diese Heftung nicht versehentlich in die Bibel gelangt war. Ich hatte mich bedauerlicherweise verschätzt. "Du wirst heute nach dem Abendmahl den Abwasch übernehmen und die Küche säubern", verkündete Schwester Johanna, "Danach will ich dich in der Kapelle sehen, wo du den Herrn um Verzeihung bitten wirst, dass du seine heilige Schrift beschmutzt hast." "Jawohl", mehr sagte ich nicht. "Die nächsten vierzig Tage", fügte sie noch hinzu. Ich fluchte innerlich, nickte aber gehorsam und wurde ohne ein weiteres Wort entlassen. Draußen atmete ich tief durch. Ich sollte froh sein, dass es nicht mehr war ... Als man ihr das letzte Mal eine meiner Kurzgeschichten zugetragen hatte, hatte sie mir für das nächste Mal mit weitaus schlimmeren Dingen gedroht. Sogar aus dem Kloster hatte sie mich schon werfen wollen, doch zu meinem Glück steckte hinter dieser Drohung nicht viel mehr als ein missglückter Versuch, den Schein einer strengen Oberin zu wahren. Hätte sie mich tatsächlich davon abhalten wollen, hätte sie mir meine Schreibmaschine und sämtliches Papier abnehmen müssen. Doch das tat sie nicht und ich konnte nur vermuten, warum: Es brachte Geld. Mehr als das Doppelte an Einnahmen, wenn ich die Bibeln verkaufte, statt einer der Nonnen.   Gerne hätte ich das unvollendete Kapitel noch vor dem Essen fertiggestellt, doch diese Zeit hatte ich nicht mehr. Die allabendliche Betriebsamkeit in Küche und Speisesaal war durch die Gänge des Klosters zu hören. Ich steckte die fertigen Seiten in eine lederne Tasche und nahm sie mit nach unten, wo Christina mich sehnsüchtig erwartete. Sie musterte meine Tasche. "Hast du es schon dabei?", fragte sie. Ich nickte: "Ja, aber es ist nicht fertig." Sie machte große Augen. "Ich kann dir das Ende später erzählen, wenn du alles gelesen hast", erklärte ich, während wir uns am Tisch niederließen, "Nachdem ich die Küche geputzt und ausreichend Buße getan habe ..." "Hast du etwas angestellt?", ihre dunklen Augen funkelten mich besorgt an. "Bibeln mit Kurzgeschichten verkauft", fasste ich kurz zusammen. Christina sah mich beinahe entsetzt an und sprach meinen Namen ermahnend aus. "Was denn?" "Du weißt, dass das verboten ist", erinnerte sie mich. "Ich weiß", gab ich müde zur Antwort. Ich wollte nicht mit ihr darüber diskutieren, dass ich an dieser Sache rein gar nichts Verwerfliches finden konnte. Sie mochte zwar meine Geschichten nicht ansatzweise derart anstößig finden, wie Oberschwester Johanna das angeblich tat, doch wenn ich damit die Bibeln beschmutzte, hörte der Spaß offenbar auf. Christina schüttelte nur noch den Kopf. Wir schwiegen, bis alle Teller geleert waren und die Küche zu meiner vorübergehenden Wirkungsstätte wurde. Die anderen Schwestern dieser noch recht jungen Gemeinschaft verschwanden nach und nach aus dem Speisesaal und nur Christina half mir beim Abräumen des Geschirrs. "Die Tische sind jetzt leer", erklärte sie, als die letzten Teller ihren Weg in die Küche gefunden hatten, "Aber ich leiste dir noch etwas Gesellschaft, wenn das in Ordnung ist." Sie lächelte wieder und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. Natürlich war das in Ordnung. Mehr als das: Ich liebte ihre Anwesenheit. "Ich danke dir", sagte ich und wandte mich dem Abwasch zu, während Schwester Christina das Verräumen des gesäuberten Geschirrs übernahm. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir die Arbeit das letzte Mal so leicht von der Hand gegangen war. Es musste ewig her sein. Jedenfalls kam es mir so vor. "Den Rest schaffe ich alleine. Vielen Dank für deine Hilfe." Christina nickte und verschwand mit meiner Tasche. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie es wohl kaum mehr erwarten können, endlich damit zu verschwinden. Jedes Mal erfüllten mich diese vor Neugierde leuchtenden Augen aufs Neue mit seliger Zufriedenheit. Einige Minuten, nachdem Christina die Küche verlassen hatte, beendete auch ich meine Arbeiten an diesem Ort und ging mit nassen Ärmeln zum zweiten Teil meiner Buße über: Dem Gebet. Wie erwartet empfing mich die Oberin in der Kapelle und trug mir die entsprechenden Verse auf, die ich einige Male zu wiederholen hatte, bevor sie mich unter mahnenden Blicken wieder verließ. Jetzt war ich allein mit Gott. Ich trug ihm die Gebete vor und bat um Vergebung, wie es mir aufgetragen wurde. Doch ich bereute nicht, was ich getan hatte, also war es nicht mehr als ein Herunterleiern von Worten, ohne tiefere Bedeutung. Gott amüsierte sich sicher über das, was ich sagte. Es war keine Sünde, eine zusätzliche Geschichte in eine Bibel zu legen. Wieso sollte er also eine ernst gemeinte Entschuldigung erwarten? Wäre ich in der Position, hätte ich Schwester Johanna gesagt, dass diese Strafe unnötig war. Doch ich war es nicht, also verbrachte ich die nächste volle Stunde damit, mir meinen Mund trocken zu murmeln. Was ich jedoch ernst meinte, war der Dank, der sich still in meinem Kopf formulierte. Dank für die Menschen, die mir ihre Wärme zu Teil werden ließen, für alles was ich hatte und für die Freiheit meiner Leidenschaft nachgehen zu dürfen. Nicht jeder konnte das von sich behaupten, also war ein kurzer Dank an den Schöpfer mehr als angebracht. Der laute Glockenschlag holte mich aus meinen Gedanken und ließ mich zusammenfahren. Es war spät geworden und ich wollte meiner Lieblingsleserin noch das Ende des Kapitels erzählen, das sie sicher schon längst bis zum letzten abgedruckten Punkt in sich aufgesogen hatte. Ich machte mich eilig auf den Rückweg, doch kam ich nicht weit. Nur drei Schritte, nachdem ich die Kapelle verlassen hatte, fuhr mir erneut der Schreck durch die Glieder, als jemand hinter mir meinen Namen sagte. "Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken", Christina sah mich ihrerseits sichtlich erschrocken an. Wieso war ich nur so unfassbar schreckhaft? Es war mir ein Rätsel, das mich schon seit Jahren beschäftigte. "Es ist nichts passiert", ich lächelte, als ich mich zu ihr umdrehte, "Wartest du hier schon lange?" "Seit einer halben Stunde", klärte sie mich auf, "Ich wollte das Ende des Kapitels hören." Ich nickte und nahm meine Tasche wieder entgegen, die sie bis dahin fest an sich gedrückt hatte. Wir suchten uns ein gemütliches Fleckchen in der kleinen Bibliothek, die nah an unseren Zimmern gelegen war. Keine der anderen Nonnen war zu solch später Stunde noch in diesen Räumlichkeiten anzutreffen, die meisten schliefen bereits, oder waren noch mit ihrem Abendgebet beschäftigt. Wir hatten die bequemen Polstermöbel also ganz für uns alleine. Christina setzte sich auf ein kurzes Sofa, das gerade so für zwei Personen ausreichend Platz bot, und ich mich neben sie. Auch dieses Mal hatte sie nichts dagegen, dass ich mich hinlegte, den Kopf auf ihrem Schoß, während ich meine Ideen für den Schluss des Kapitels mit ihr teilte. Schweigend lauschte sie meinen Worten, lächelte, seufzte und schien sich mehr in meine Protagonistin hineinversetzen zu können, als ich es selbst vermochte. "Wieso weinst du?", fragte ich. Schwester Christina hatte sich eilig über die Wangen gestrichen, als ich meinen Blick gehoben hatte, als wäre es ihr unangenehm, dass sie sich nicht beherrschen konnte. "Es ist nichts", antwortete sie mit einem zarten Lächeln, "Ich bin nur so froh, dass Pete sich doch wieder an sie erinnert hat." Auch ich war froh, dass Lauras Bruder sich erinnern konnte, doch bemerkte ich erst jetzt die Fülle der Emotion, die sich dahinter abspielen musste. "Ja, sie hat es verdient. Ein bisschen Glück", ich setzte mich wieder auf und betrachtete Christinas glänzendes Gesicht. Sie schloss die Augen, als ich meine Hand ausstreckte, um eine Träne fortzuwischen. Ein wahrhaftiger Engel mit einem Heiligenschein aus Mondlicht. Ich war mir sicher, dass sie einer war, seit ich sie vor vier Jahren durch die Pforte des Klosters hatte laufen sehen. Mit gestutzten Flügeln war sie zu mir gekommen, gezeichnet vom Leben, verletzt. Ich wusste nicht, was ihr zugestoßen sein mochte, doch ich wollte alles tun was nötig war, damit sie wieder fliegen konnte. Ich spürte, wie meine Ohren zu glühen begannen und ich allmählich die Herrschaft über meinen Körper verlor, als ihre gütigen Augen mir direkt in die Seele blickten. Ich fühlte mich nackt, völlig entblößt, als könnte sie plötzlich jeden meiner Gedanken hören. Die Gedanken eines Teufels, der den Engel begehrt und seine Gefühle über alle Regeln zu stellen gedenkt. Ein zögernder Luzifer, weder furchtlos noch siegessicher, doch mit klarem Ziel vor Augen. Das kräftige Schlagen in meiner Brust setzte aus, als ich die Finger um das feine Gesicht meines Engels legte, nur um mit donnernder Geschwindigkeit zurückzukehren und gegen meine Rippen zu hämmern, als ich ihren Lippen mit meiner Berührung deren Unschuld nahm. Die Ewigkeit in einer Sekunde. Ich fühlte mich stärker und schwächer als je zuvor. Meine Unterschrift auf der Passagierliste Richtung Fegefeuer und doch bereute ich es nicht. Dieser Moment war alle Höllenqualen wert, dessen war ich sicher. Ihre Lippen waren weich, weicher, als ich es mir je hätte vorstellen können und sie schmeckten fruchtig, nach Apfel und Früchtetee. Christina rührte sich nicht. Sie war wie versteinert unter meinen Händen. Das Feuerwerk unter meiner Haut kitzelte und sprühte noch Funken, als ich meine Lippen von ihr löste. Glückselige Wärme hatte sich bis ins letzte Glied meines kleinen Zehs ausgebreitet, bis ich die Augen öffnete und Christinas erschrockener Blick mich eiskalt erschauern ließ. Ich konnte nicht atmen und Christina starrte mich nur schweigend an. Unerträgliche Stille lag über uns. Ich stand vor Gericht, den Strick um den Hals gelegt, und erwartete mein Urteil. Es waren die längsten zehn Sekunden meines bisherigen Lebens, während ich auf ihre Reaktion wartete. Bitte sag etwas ... Sanft spannten sich die Muskeln in ihrem Gesicht und formten ein erlösendes Lächeln. "Ich denke, wir sollten jetzt beide zu Bett gehen", sagte sie. Ruhig, ohne Wertung. Nun war ich es, die sich nicht mehr rühren konnte. Ein knappes Nicken war alles, was ich zu Stande brachte, bevor Christina sich vom Sofa erhob. Wies sie mich nun von sich? Musste sie erst darüber nachdenken, bevor sie mir eine Antwort auf meine unausgesprochene Frage geben konnte? Warum sagte sie nichts? ... Sie musste es nicht. Ihre Finger strichen sanft über meine Schulter, als sie an mir vorbeiging und die Bibliothek verließ. Eine beiläufige Berührung, kaum spürbar, doch übertraf sie meine kühnsten Erwartungen und stellte alles in den Schatten, was meine Träume mich in all den Jahren hatten hoffen lassen. 003 – Sündenfall ---------------- Wir sprachen nicht darüber, als wir uns am nächsten Morgen zum Frühstück trafen. Doch ich spürte ihre Blicke, die auf mir ruhten. Konnte sehen, wie sie scheinbar grundlos lächelte. Nie hatte ich erwartet, dass Schwester Christina, die allen irdischen Versuchungen entsagt hatte, als sie ins Kloster eingetreten war, etwas für mich übrig haben könnte. Es war sündhaft und ich war mir nicht sicher wer die größere Verfehlung begangen hatte. Ich, weil ich eine Nonne küsste, oder Christina, weil sie es nicht unterbunden hatte? Es spielte keine Rolle. Niemand würde davon erfahren und dass Gott es mir nicht verzeihen würde, dass ich seine Dienerin liebte, konnte ich nicht glauben. "Was tust du da?" Christinas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah sie überrascht an. Schwester Maria, die mir schräg gegenüber saß, lachte herzhaft. "Sie starrt wieder Löcher in die Luft." "Wieso wieder?" "Weil du das ständig tust", gab die kleine Frau mit ihrer feinen Stimme zur Antwort. "Tatsächlich?" Diesmal wandte ich mich an Christina. Es war mir nicht in geringster Weise bewusst. Schwester Christina nickte lächelnd. "Oh ... Entschuldigt, das merke ich gar nicht" Ich versuchte mich auf mein Essen zu konzentrieren. "Ich wollte wissen, was du tust, wenn du die Luft durchbohrst", wiederholte Christina. "Denken", antwortete ich, ohne sie dabei anzusehen, "Ich denke über verschiedene Dinge nach." "Verstehe", sagte sie unerwartet leise. Sie wusste, was mich beschäftigte. Nichts anderes kreiste in meinem Kopf umher, als die vergangene Nacht und bei ihr konnte es nicht anders sein. Ich fühlte es in der eigenartigen Spannung, die zwischen uns lag. Auch sonst sprachen wir während des Essens nicht viel, doch diesmal war es anders. Christinas zweiter, holpriger Versuch, ein Gespräch zu beginnen, war die Frage nach meinen heutigen Aufgaben. "Einkaufen und Fegen." "Das ganze Haus?" "Soweit ich komme. Den Rest dann morgen", antwortete ich, "Da ich nach dem Abendessen noch zu tun habe, werde ich heute sehr wahrscheinlich nicht fertig." Sie nickte und beendete damit die kurze Unterhaltung. Eigenartig, dass man sich plötzlich so fern war, obwohl man sich zuvor doch so nah gekommen war. Es blieb dabei. Wir schwiegen uns an, jedes Mal, wenn wir uns begegneten. Tagelang. Sie fragte nicht nach neuen Kapiteln, oder wie es mir ging und ich blieb ebenso still. Ich fürchtete mich vor ihrer Antwort, deshalb fragte ich nicht was los war. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie mich endgültig von sich wies. Doch mit jedem Sonnenuntergang, der einen weiteren ergebnislosen Tag beendete, wurde ich zorniger. Hatte ich ihre Reaktion in der Bibliothek falsch gedeutet? Wollte sie es einfach nur vergessen? Stundenlang wälzte ich mich mit diesen Gedanken in meinem Bett herum. Ich war mir längst nicht mehr sicher, ob die Ungewissheit oder die Angst vor ihrer Zurückweisung mein größtes Problem war. Eine weitere Woche verging, bis der Wunsch nach einer Antwort zu zermürbend wurde und ich nicht mehr anders konnte, als meine Befürchtungen in den Wind zu schlagen. Ich klopfte an ihre Türe, als ich am Abend aus der Kapelle kam. Kreidebleich und zum Zerreißen gespannt, wartete ich, dass sie mir öffnete. Ihre Schritte näherten sich leise. Mit jedem Auftreffen ihrer Sohlen wurde mir schlechter. Ich wollte mich übergeben. Verschwinden und so tun, als wäre ich nie hier gewesen, doch ich war wie erstarrt. Schwester Christina öffnete die Türe. Sie lächelte. "Megan!", sagte sie überrascht, "Was gibt es?" Meine Augen waren regungslos auf ihre perfekten Lippen geheftet. "Komm doch herein", fuhr Christina fort, als ich ihr nicht antwortete. Sie klang ruhig und gefasst. Nicht den kleinsten Hauch von Nervosität konnte ich in ihrer Stimme oder ihrem Verhalten erkennen. Ich setzte mich auf einen Stuhl neben ihrem Kleiderschrank und versuchte jeglichen Augenkontakt zu vermeiden, indem ich auf den Fußboden starrte. Mein Herz flatterte wie ein junger Vogel. "Ich wollte auch schon mit dir sprechen", brach Christina die Stille. Und wieso hast du es nicht?! Ich nickte nur. "Du hast mich in eine recht unangenehme Lage gebracht", erklärte sie und nahm auf der Kante ihres Bettes Platz. "Das tut mir leid", erwiderte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob sie mich verstanden hatte. In diesem Moment wurde mir klar, warum sie bisher nichts gesagt hatte: Schwester Christina wollte mich nicht verletzen. Sie war niemand, der einem die Wahrheit eiskalt ins Gesicht schlug. "Ich habe lange überlegt, wie und ob ich mit dir darüber sprechen sollte", fuhr sie fort, "Dafür möchte ich mich nun entschuldigen. Und ich möchte es dir erklären." Ich schüttelte leicht den Kopf: "Du musst mir nichts erklären." Mein Magen hatte sich zusammengezogen und ein unsichtbares Band schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte ihre Begründungen nicht hören. Ich wusste es, auch ohne Christinas Worte. Sie war eine Nonne und Nonnen führten keine solchen Beziehung. Und wenn dieser Grund nicht längst Erklärung genug war, so war ich zu allem Überfluss eben auch eine Frau. Zwei Sünden, für die man mich vor ein paar hundert Jahren wohl noch als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte. Zumindest dahingehend brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Trotzdem fühlte es sich an, als stünde ich in Flammen. Ich kämpfte mit meinen Gefühlen, die aus mir herauszubrechen drohten. Heiß und kalt lief es mir über den Rücken, meine Unterlippe vor Anspannung beinahe zerbissen, mahnte ich mich, die Fassung beizubehalten. "Hörst du mir überhaupt zu, Missy?", Schwester Christina hatte sich vor mich auf den Boden gehockt und ihre Hände auf meine Knie gelegt. Ich öffnete die Augen und sah sie unsicher an. Missy? Wieso nannte sie mich so? "Was sagtest du?", meine Stimme klang rau, als brütete ich eine Erkältung aus. Wieder lächelte sie mich sanft an, als wäre alles in bester Ordnung. Es machte mich wütend. "Wir müssen es geheim halten", wiederholte sie ihre Worte, die mir zuvor entgangen waren, "Aber ich möchte, dass du immer weißt, dass du für mich etwas Besonderes bist, auch wenn ich es nicht immer zeigen kann. Deshalb möchte ich dir diesen Kosenamen geben. Damit du trotz allem sicher sein kannst, dass es mir ernst ist." ... Was? Wo war ich mit meinen Gedanken gewesen? Wie hatte ich zweifeln können? Christina wies mich nicht ab! Noch immer war ich nicht der Worte mächtig, die ich hätte sagen wollen. Von der einen zur anderen Sekunde war ich vom Rand der Hölle bis zur Himmelspforte aufgestiegen. "Also, was sagst du?", fragte sie mich. Hitze strömte durch meine Adern und aus jeder Faser meines Körpers floss dieses unfassbare Gefühl hin zu meinen Lippen, als ich ihr antwortete: "Ja."     Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Das Hohelied der Liebe, 1. Korintherbrief, 13. Kapitel   Sie küsste mich. Lang und zärtlich, bis ich nicht mehr weinte. Ich fühlte mich schwindelig vom wilden Auf und Ab meiner Gefühle, doch ich war glücklich, endlich am Ziel angekommen zu sein. Nichts würde uns je wieder trennen können.   —   So distanziert die letzten beiden Wochen gewesen waren, so warm und herzlich gingen die nächsten ins Land. Nur noch wenige Tage bis Weihnachten und es gab keinen Ort, an dem ich lieber sein mochte, als bei Christina. Es störte mich nicht einmal, dass mein Vater mir seit nun vollen sechs Monaten nicht mehr geschrieben hatte. Auch die anstehenden Feiertage schienen ihn nicht dazu bewogen zu haben, doch das alles interessierte mich überhaupt nicht. Ich schrieb ihm dennoch meine alljährlichen Feiertagswünsche und es waren die dankbarsten und aufrichtigsten Worte, die er je von mir erhalten hatte. Ich ließ ihn meine Halbgeschwister herzlich grüßen. Einzig die Zeilen an Elizabeth fielen mager aus. Ich ließ sie nur beiläufig in meinen Text mit einfließen. Das war mehr als üblich. Ich glaubte nun zu verstehen, was mein Vater gemeint hatte, als er einst schrieb, dass ich bei ihm nicht hätte glücklich werden können. Er hatte sich damals entschieden mich wegzugeben, was ich ihm stets übel genommen hatte, doch hätte er es nicht getan, wäre ich Christina nie begegnet. Und auch sonst konnte ich nicht klagen, mein Leben war nahezu perfekt. Zufrieden seufzend legte ich meinen Füller beiseite und faltete das Papier ordentlich zusammen, um es in den Umschlag zu stecken. Auf dem Weg in die Stadt wollte ich ihn zur Post bringen. Die letzten paar Tage vor Weihnachten verbrachten die meisten Nonnen mit Spendendosen in der Stadt, genau wie ich. Zu dieser Zeit waren die Menschen spendabler und wir konnten es uns nicht leisten, darauf zu verzichten, also war das Kloster tagsüber oft sehr verlassen. Ich putzte mich also heraus, flocht meine Haare in einen langen, seitlichen Zopf, zog mein Sonntagskleid an und warf mich in den entsprechenden Mantel. Ich wollte nicht nur Spenden sammeln, ich wollte auch Geschäfte machen. Meine Geschichten verkaufen. Dabei konnte ich die Aufmerksamkeit gut gebrauchen, die ich im Gegensatz zu den eher unscheinbaren Nonnengewändern, mit dieser Aufmachung erzeugen konnte. Da ich die einzige im Kloster war, die ihre weiblichen Reize so unverhüllt der Öffentlichkeit zeigen durfte, erntete ich von meinen Schwestern einige verwunderte und auch einige neidische Blicke. Sicher lästerten ein paar von ihnen, doch das berührte mich nicht. Meine Begleitung war natürlich Schwester Christina. "Schön siehst du aus", sagte sie, als wir uns am Ausgang des Klosters trafen, um gemeinsam aufzubrechen. "Danke. Ich möchte ein paar Geschichten verkaufen", erklärte ich meinen Aufzug. "Ohne Bibeln diesmal?", fragte sie schmunzelnd. Ich nickte: "Ja, ohne Bibeln. Ich denke jetzt vor Weihnachten funktioniert es auch so." Sie nickte zuversichtlich und wir verließen das Gelände des Klosters. Der Weg in die Stadt nahm einiges an Zeit in Anspruch und der Wind blies uns hartnäckig entgegen. Es war kalt und ich zog meinen Mantel fester zusammen, bis wir die ersten Häuser erreichten, die den Wind ein wenig abschirmten. Wir gingen zum Marktplatz, an dem die Bevölkerung sich heute der singenden Knabenchöre erfreute und besinnlich zwischen den Ständen umherschlenderte, an denen eifrige Frauen und Männer ihre Waren anpriesen. Es war eine wunderbare Abwechslung zum ruhigen Leben hinter den Klostermauern. Christina begann sofort die Passanten um Spenden zu bitten, wie wir es gelernt hatten: Höflich, unaufdringlich, aber auf das schlechte Gewissen der Leute abzielend. Jeder mochte sich vor Weihnachten noch mit Güte und Großzügigkeit schmücken. Ich holte einige kleine Heftungen aus meiner Tasche und bot sie zum Kauf an. Kleine Liebesgeschichten, Geschichten über Mut und über Helden. Tragödien und Komödien, Märchen und  Fabeln, alles wofür ich mich begeistern konnte. Für jeden Geschmack hatte ich etwas in meiner Tasche. Die Menschen, die mich kannten, kamen ohne zu zögern und blätterten sich durch mein Angebot. Jene, denen ich fremd war, ließen sich vom Andrang locken, den ich nach nur wenigen Minuten ausgelöst hatte. "Megan! Hast du endlich unsere Romanze zu Papier gebracht?", ein junger Mann mit lockigen, dunklen Haaren war hinter mir aufgetaucht. Ich rollte die Augen, als ich mich zu ihm umdrehte: "Nein Michael, aber wenn es soweit ist, wirst du es als erster erfahren." Er grinste nur und ließ mich weiter arbeiten. Es gab natürlich keine Romanze. Außer vielleicht in seinen Träumen. Michael war der Sohn des Schusters, der hier am Marktplatz ansässig war. Er kam oft zu mir, wenn ich in der Stadt war, um Geld fürs Kloster einzunehmen, und unterhielt mich, wenn die Kundschaft ausblieb. Er war immer nett und höflich, brachte mir gelegentlich kleine Naschereien mit und mochte mich offenbar mehr, als ich das erwidern wollte. "Kann ich dich noch für einen Tee begeistern, bevor du verschwindest?", fragte er, nachdem die Interessenten sich einige Zeit später wieder dezimierten. "Tee?", gerne hätte ich einen Tee  getrunken, um mich aufzuwärmen, "Vielen Dank, aber nein, ich muss zeitig wieder zu Hause sein." Es war nicht einmal gelogen, doch entsprach es der Wahrheit nicht gänzlich. Der junge Mann war enttäuscht, auch wenn er es mit einem verständnisvollen Lächeln zu überspielen versuchte. Ich wollte es richtig stellen und wand mich ihm wieder zu: "Michael, bitte versuche nicht mehr, mich von deinen Qualitäten als Ehemann zu überzeugen", er machte große Augen, "Ich mag dich, aber ..." "Aber du bist nicht interessiert", beendete er meinen Satz, nachdem ich ins Stocken geraten war. Er seufzte: "Ja, verstehe schon." "Es tut mir leid", fügte ich leise hinzu. Es tat mir wirklich leid. Michael hatte es nicht verdient, dass man ihn zurückwies. Ich konnte mir vorstellen, wie er sich nun fühlte, doch ich hatte mich bereits für jemand anderen entschieden. "Schönen Guten Tag, Michael", grüßte ihn Christina, als sie zu uns herüber kam. "Guten Tag, Schwester", er nickte ihr höflich zu und nutze die kurze Unterbrechung, um sich zu verabschieden. Ich sah ihm nach, als er eilig das Weite suchte. "Alles in Ordnung?", fragte sie, als ihr mein missmutiger Blick auffiel. "Ja ...", antwortete ich und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Christina, "Ich habe ihm gesagt, dass er nicht weiter um mich werben braucht." "Ah, achso", sie wirkte überrascht, "Aber er ist ein hübscher Junge." "Wie bitte?!", ich sah sie fassungslos an, "Er interessiert mich aber nicht! Du interessierst mich!" Ich war lauter geworden und Christina fuhr zusammen. Sie sah mich erschrocken an und zischte, dass ich still sein solle. Es machte mich wütend, dass sie so etwas sagte. "Es war nur eine belanglose Einschätzung", erklärte sie sich, "Beruhige dich bitte wieder, Missy." Ein gut getarntes Ich liebe dich, das mich augenblicklich wieder entspannte. "Entschuldige ...", ich seufzte leise, "Ich hätte nicht laut werden sollen." Und wieder führte sie mir deutlich vor Augen, welches Glück ich hatte, dass dieser Engel an meiner Seite war: Sie legte ihre Hand auf meine Schulter, lächelte und vergab mir ohne wenn und aber. "Meine Spendendose ist bereits voll", wechselte sie mit Leichtigkeit das Thema, "wie sieht es bei dir aus?" "Fast", antwortete ich und zeigte ihr meine gesammelten Spenden, die neben dem Verkauf der Geschichten zusammengekommen waren, "und 38 Dollar für meine Verkäufe." Sie staunte und ich wäre vor Stolz beinahe einige Zentimeter gewachsen. Es war das erste Mal, dass ich an einem einzigen Tag über 30 Dollar gekommen war und diesmal hatte ich sogar zusätzlich noch Spenden erbeten. Es war also doppelt bemerkenswert, dass so viel Geld zusammengekommen war. "Ich denke, dann können wir uns wieder auf den Rückweg machen", entschied Christina mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht, "Wir sind sicher die Ersten, die ihr Soll erfüllt haben." "Davon ist auszugehen", bestätigte ich ihre Vermutung. Nun konnten wir uns auf ein warmes Bad freuen, wenn wir zu Hause waren, während die anderen Schwestern noch durch die Stadt wanderten. Sicher war ich die Einzige, die eine gewisse Schadenfreude empfand, doch auch Christina schien sich darüber zu freuen, dass wir das Kloster vorerst für uns alleine hatten. Wir beeilten uns auf dem Rückweg. Ich nahm ihre Hand, als wir hinter den schützenden Klostermauern verschwunden waren, sah mich kurz um, küsste sie flüchtig und warf ihr einen neckenden Blick zu, dass sie mir schnell nach oben folgen sollte. Die Aufregung schlich sich zurück in meinen Körper, als ich als erste den Waschraum betrat, einen Kessel mit Wasser auf den Ofen stellte und etwas Holz nachlegte. Ich wollte sie endlich berühren, wollte ihre Haut spüren und jetzt war der Moment gekommen, in dem es mir gestattet sein würde. Die Türe öffnete sich und Christina trat ein. Ihr schwarzes Haar fiel wellig über ihre Schultern, als sie einen ordentlich zusammengefalteten Stapel Kleidung auf einem schmalen Tisch drapierte. "Du darfst zuerst baden", verkündete ich entschieden, um ihr keine Möglichkeit der Widerrede zu geben. "In Ordnung", fügte sie sich meiner Entscheidung, auch wenn sie wahrscheinlich für eine andere Reihenfolge plädiert hätte, "Vielen Dank." Sie half mir, einige Eimer Wasser in die Wanne zu kippen, ehe ich das Zimmer verließ, um mir ebenfalls ein paar andere Kleidungsstücke aus meinem Zimmer zu holen. Etwas Schlichteres, das sich besser für den Küchendienst eignete, der mir später wieder bevorstand. Der letzte Abend meiner Wiedergutmachung für das Beschmutzen der Heiligen Schrift. Als ich alles beisammen hatte und wieder in den Waschraum zurückkehrte, goss Christina gerade das kochende Wasser der Wanne hinzu. Ich legte meine Sachen ab und spürte einen harten Schlag in meiner Brust, als sie sich aus ihrer Kleidung schälte. Gebannt beobachtete ich jede ihrer Bewegungen. Ich hatte sie bereits einige Male in Unterwäsche gesehen, doch niemals völlig nackt. Sie sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Makellos. Alles an ihr war perfekt. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und kam zu ihr hinüber, als sie sich im warmen Wasser niedergelassen hatte. Wortlos kniete ich mich hinter sie und nahm Schwamm und Seife von einem kleinen Hocker, um ihren Rücken zu waschen. Christina beugte sich nach vorne, damit ich mehr Platz hatte, doch ich zögerte. Lange, schmale Narben zogen sich quer über ihren Rücken. Das war mir nie aufgefallen. Ohne, dass ich ihr diese Frage stellte, beantwortete Christina sie mir: "Mein Vater hat viel getrunken. Er ist Schmied und schlug mit glühenden Eisenstangen nach mir, wenn ich nicht gehorsam war." Mir fehlten die Worte. Wie konnte ein Vater seine Tochter so misshandeln? "Bist du deswegen hier?", fragte ich, während ich mein anfängliches Zögern überwand und begann ihren Rücken zu waschen. "Ja, zum Teil", erklärte sie, "Ich wollte von zu Hause fort und es gab keinen Mann, bei dem ich mich sicher gefühlt hätte, also entschied ich mich für Gott." "Bereust du es? Dass du dich gegen eine eigene Familie entschieden hast?" "Meine eigene Familie ist hier. Die Schwestern und du, das ist meine Familie", sie drehte sich mit ihrem sanften Lächeln zu mir um, "Ich bin sehr glücklich." Ich erwiderte ihr Lächeln und wusste genau was sie meinte. Wir empfanden gleich, für die Schwestern und füreinander. Es war wie ein wunderbarer Traum, nur dass wir nicht schliefen und jede Berührung echt war. Ich konnte beobachten, wie ihre Brust sich hob und wieder senkte, während ich den Schwamm über ihre Haut führte. Wir schwiegen und ich hörte ihren Atem. Meine Fingerknöchel streiften sanft ihre weichen Formen entlang, noch immer den Schwamm umklammernd, der mir ein wenig Sicherheit gab. Wie wild waren meine Träume gewesen und wie ängstlich stellte ich mich nun an, da es Realität war? Diese beiden Welten waren nicht im Geringsten vergleichbar, doch so war es meist. In meiner Fantasie konnte ich alles tun und alles sagen, doch die Wirklichkeit stellte mich jedes Mal vor Hürden und Barrieren. Ich wusste genau, dass ich den Schwamm niederlegen wollte, doch meine Finger gaben ihn nicht frei. Wovor fürchtete ich mich nur so sehr? Sie würde nicht schreiend aufspringen und aus dem Zimmer stürzen, wenn ich ... Christina griff nach meiner Hand. Sie nahm den Schwamm und ließ ihn ins Wasser fallen. Dann sah sie mich an und zum ersten Mal dachte ich nicht, dass sie ein Engel war. Ihre Hände griffen gierig nach mir. Sie erhob sich ein Stück und zog mich zu sich, als wollte sie mich nie wieder freigeben. Brennende Hitze schoss durch mich hindurch, ich zitterte ohne zu frieren und sog jede Sekunde dieses Moments in mir auf, als sie mich an ihren nackten Körper presste. Ihre Lippen waren genauso weich wie beim letzten Mal, als ich sie küsste, doch die Unschuld, die auf ihnen gelegen hatte, war hinfort. Ich ließ mich von ihr leiten und tauchte immer weiter in diese neue Erfahrung ein. Ich hatte mich völlig der fesselnden Begierde hingegeben, die mein sündiger Engel verströmte. Ich wand meine Arme um ihre Hüften, sie vergrub die Finger in meinen Haaren und wäre ich ebenfalls nackt gewesen, so wären wir augenblicklich verschmolzen. Nur ein dünnes Stück Stoff trennte uns. Ich spürte ihr Herz an meiner Brust und fiel mit ihr hinab ins Wasser. Mein Kleid durchtränkt mit verschlingender Lust, lag ich halb im Wasser, halb auf ihr. Pauken schlugen laut in meinen Ohren und unter meinen Rippen. Mein Kopf war voller Nebel, ich konnte keinen einzigen Gedanken mehr fassen nur das überwältigende Verlangen mit dieser Frau eins werden zu wollen. Ein Paradies auf wackligen Säulen, die in sich zusammenbrachen und uns mit sich rissen, als das Scheppern eines Blecheimers von den Fliesen widerhallte und uns gewaltsam zurück auf die Erde zwang. Ich sah auf und wollte augenblicklich sterben. Schwester Maria stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund in der Türe, der Eimer war ihrem Griff entglitten. In ihrem Gesicht stand ohne jeden Zweifel ganz deutlich ein Wort geschrieben, dass mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: Sünder. 004 – Das Schafott ------------------ Kälte hatte mich gelähmt. Schwester Maria starrte fassungslos in meine Augen und ich fühlte mich unsagbar schuldig. Sie hatte die Hand noch auf der Türklinke und war ebenso starr wie wir, bis sie sich langsam rückwärts bewegte. Ein winziger Schritt, ein Funkeln in ihren Augen und ich wusste was sie dachte. "Maria, nein! Warte!" Ich war aufgesprungen und wollte sie festhalten, doch sie schlug die Türe zu, bevor ich sie erreichen konnte. Sie rannte und ich wollte schreien, doch was hätte es gebracht? Fünf Minuten, vielleicht zehn, in denen ich mit ihr diskutiert hätte, dass sie schweigen solle. Schwester Maria hatte uns gesehen und sicher würde sie es melden. Früher oder später. Ich atmete tief ein. Auf keinen Fall wollte ich zuerst die Fassung verlieren. Christina stieg schweigend aus der Wanne und zog sich an. Sie wirkte taub und seelenlos, wie eine Maschine, die sich in Bewegung gesetzt hatte, ohne darüber nachzudenken, was sie tat. Ich konnte ahnen, was sich in ihrem Kopf abspielen musste. "Was ... passiert jetzt?", fragte ich vorsichtig, um nicht die dünne Mauer einzureißen, die sie um sich herum errichtet hatte. Sie schüttelte sacht den Kopf, während sie in ihre Schuhe stieg. "Ich weiß es nicht." Ich stand an der Türe, ratlos was ich sagen sollte, oder was ich hätte tun können, als sie auf mich zukam und vor mir stehen blieb. "Lass mich bitte vorbei", flüsterte sie. Ich zögerte. "Können wir nicht vielleicht-" "Megan! Lass mich vorbei!" Sie war lauter geworden, als sie ihre Worte wiederholte und ich wich zur Seite. "Entschuldige ..." Ich sah die Schwermut, die sich für einen Moment in ihr Gesicht geschlichen hatte, als sie den Raum verließ. Eine tiefe, nicht zu überkommende Verzweiflung, voller Angst.   Es war surreal, als ich zurück auf mein Zimmer ging. Wir waren geflogen und man hatte uns wie Tontauben vom Himmel geschossen. Elizabeths Worte bohrten sich wie Pfeilspitzen durch meinen Kopf. In dir steckt der Teufel! Wahrscheinlich hatte sie Recht. Doch niemals hatte ich Christina Kummer bereiten wollen. Es war nicht meine Absicht gewesen, wie damals in der Milchküche, und dennoch richtete ich Schaden an. Ich wusste nicht, ob sie mir vergeben konnte, was es für uns bedeutete oder ob bereits alles vorbei war. Ich sehnte mich in die warmen, schützenden Arme meines Vaters, doch in meinem Zimmer gab es niemanden, der mich hätte beruhigen können, keinen, der mir die Kälte nahm und mir verzeihen würde. So verschwand ich zwischen den kühlen Laken meines Bettes und betete, dass all das ein gutes Ende nehmen würde.   Alles wäre besser, wenn du nicht hier wärst. Du schadest uns mit deiner ungeschickten Art. Du bist unmöglich. Alles machst du kaputt. Verschwinde!   Ich konnte nicht fliehen. Zu tief hatten sich die Worte in meine Gedanken gebrannt, als dass der Schlaf sie mir nehmen konnte. Erst als ich meine Augen öffnete und ins Halbdunkel blickte, verstummten die Stimmen für einen Moment und wichen dem lauten Schlagen meines Herzens. Ich hörte Schritte auf dem Flur vor meinem Zimmer. Sie näherten sich und ich verbrannte beinah in der Hitze des Adrenalins, das mich durchströmte. Meine Finger hatten sich fest in das dünne Kissen gegraben, während ich jeden Atemzug vermied, der meine Anwesenheit verraten würde. Bitte lass sie vorbeigehen! Ich flehte, dass diese Schritte nicht mir galten. Hoffte, dass ich verschont bliebe und harrte hilflos meinem Schicksal. Das stetige Klacken der Absätze hatte meine Tür erreicht und ... ging vorbei. Wer immer es war, schritt weiter langsam den Flur entlang und hatte meinem Zimmer nicht die kleinste Aufmerksamkeit geschenkt. Ich atmete tief durch und konnte mich wieder ein wenig entspannen. Meine Gnadenfrist war verlängert worden und ich wagte nicht, mein Glück auf die Probe zu stellen, indem ich hinunter in den Speisesaal ging. Der Appetit war mir ohnehin längst vergangen, also blieb ich in meinem Zimmer und bemühte mich, noch etwas Schlaf zu finden.   —   Lautes Schlagen zerriss die Stille, die mich eingehüllt hatte. Ich öffnete die Augen. Mein Zimmer war in warmes Gold getaucht. Die Morgensonne erhob sich langsam, doch konnte sie mir nicht das Zittern nehmen, das mich augenblicklich erfasste, als es noch einmal an meiner Türe klopfte. "Megan?" Ich kannte diese Stimme. Es war Schwester Agnes. "Ich bin wach", antwortete ich. Es dauerte endlose Sekunden, bis Agnes wieder etwas sagte. "Oberschwester Johanna wünscht dich zu sehen", sagte sie mir durch die verschlossene Tür, "Du möchtest bitte in zehn Minuten in ihrem Büro erscheinen." Ich nahm alle Kraft zusammen, die sich noch nicht davongestohlen hatte, und bestätigte Schwester Agnes, dass ich verstanden hatte. Ein unbeschreiblich flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Ich wusste, dass ich meiner Strafe nicht entkommen konnte und ahnte, dass es diesmal nicht mit ein paar Gebeten getan sein würde. Die Kälte meines Zimmers glich einer lauen Sommernacht, neben dem Frost, der meine Hände befallen hatte. Mühsam zog ich mich an, während die Knöpfe des Kleides immer wieder meinen Fingern entflohen. Ich versuchte meine Haare zu ordnen, doch es gelang nicht. Zu sehr hatte mich die Angst vereinnahmt. Sie führte meine Hände ins Leere, ließ mich stolpern, als ich mich auf den Weg zum Schafott machte und legte Blei auf meine Zunge. "Komm herein!", tönte Johannas strenge Stimme durch die Ritzen der Türe, nachdem ich vorsichtig angeklopft hatte. Meine Ohren begannen zu glühen, als ich den Türknauf berührte. Ich war mir inzwischen nicht mehr sicher, ob ich fror oder vor Hitze verbrannte. In meinem Kopf stürzten tausend Flüsse in die Tiefe und brandeten tosend gegen meine Trommelfelle. Ich hatte völlig vergessen, Luft in meine Lungen zu saugen, was ich keuchend nachholte, als mir das Metall des Türgriffs entrissen wurde. Oberschwester Johanna hatte die Tür geöffnet und sah missmutig auf mich hinab. "Würdest du nun bitte eintreten?" Es klang, als hätte sie mich bereits mehrmals aufgefordert, doch ich konnte mich nicht erinnern, sie gehört zu haben. Ich nickte, senkte demütig den Blick und folgte ihren Worten. "Nimm Platz!", wies sie mich an und deutete auf den dunklen Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand. Ich hatte schon häufiger hier gesessen und mir ihre Belehrungen angehört, doch nie hatte dieser einfache hölzerne Stuhl mich derart an die Anklagebank vor Gericht erinnert wie heute. Johanna ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder und musterte mich, bevor sie mir eröffnete, weshalb ich hier war. Ich wusste es ohnehin und ließ ihre Worte ohne Gegenwehr auf mich einprasseln. "Ich denke du weißt, was das bedeutet", schloss sie ihren Vortrag. Regungslos starrte ich weiter auf meine Finger, die verknotet in meinem Schoß ruhten. "Miss Paine", fuhr sie fort, "dieses Kloster besteht seit kaum mehr als vierzehn Jahren und du ... du beschmutzt diese Mauern mit deinem höchst schändlichen Verhalten, noch bevor der letzte Stein gesetzt ist." Schwester Johanna hatte mich noch nie so genannt. Es schmerzte, dass ich ihr plötzlich so fremd geworden war. "Wir Schwestern haben uns dem Herrn verpflichtet und es ist meine Aufgabe, als Oberin dieses Klosters, das Haus vor solch teuflischen Einflüssen zu schützen. Unsere Gemeinschaft muss wachsen und ich kann keinen Parasiten dulden, der an den dünnen Wurzeln dieses jungen Baumes nagt." "Das verstehe ich", nuschelte ich gen Boden. Meine eigenen Worte drückten mir Tränen in die Augen. Ich schloss die Lider, um sie bei mir zu behalten. Natürlich musste Johanna mich fortschicken, mein Verhalten war nicht tragbar und keine Entschuldigung der Welt hätte mich davor bewahren können. Selbst wenn, es gab nichts wofür ich mich Johanna gegenüber entschuldigen konnte. "Du verlässt dieses Haus bis zum Mittag." Schwester Johanna hatte ihr Urteil unwiderruflich gefällt. Ich klagte nicht und nahm es hin. Eine andere Möglichkeit gab es nicht für mich. "Ich hoffe, dass dir die Schwere deiner Verfehlung wenigstens bewusst ist", fügte sie hinzu. "Was hast du dir nur dabei gedacht, Schwester Christina zu verführen?" Vorsichtig suchte ich den Blickkontakt. Es klang falsch, wie sie es sagte. "Ich habe ..." Weiter kam ich nicht, meine Kehle war staubtrocken. "Möge der Herr deiner Seele gnädig sein und dir deine Sünden vergeben haben, wenn du eines Tages an seine Pforte klopfst. Tue Buße und Bete, auf dass du-" "Ich habe sie nicht verführt", presste ich zwischen zwei brennenden Luftzügen hindurch. Johanna warf mir einen überraschten Blick zu und ihr Gesicht verfinsterte sich. "Mach es nicht noch schlimmer!", mahnte sie mit strengem Ton, "Ich weiß was vorgefallen ist, du musst nicht auch noch das achte Gebot verletzen, um deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen!" Ich hatte nicht gelogen. Christina hatte es genauso gewollt wie ich. "Aber Christina hat-" Johanna ließ mich nicht aussprechen. "Sie hat mir von allem berichtet. Vom Kuss, den du ihr in der Bibliothek aufgezwungen hast und von deinem Überfall gestern im Waschraum. So war es doch, oder nicht?" Johannas Worte begruben mich unter duzenden tonnenschweren Granitblöcken, die mich gänzlich zerschmetterten, als sie auf mich niederstürzten. Sie hat gelogen ... Mein Herz zog sich zusammen und ich war sicher, dass es nicht mehr schlug, als mir klar wurde, was geschehen sein musste. Christina hatte mich verraten, um sich den letzten Hauch einer Chance zu erkämpfen, das Kloster nicht verlassen zu müssen. Sie hatte niemanden, zu dem sie gehen konnte, keine Familie, keine Freunde, nur Gott, der sie schützte. Sie war so zart und zerbrechlich, sie würde verkümmern, wenn man sie hinaus in die Welt warf. Mein Engel, den ich über alles liebte, er durfte nicht fallen. "Ja, so war es ...", antwortete ich und ließ die Worte meinen Mund verätzen.   —   Ich schloss die Tür, als ich zurück in meinem Zimmer war. Ich wusste nicht mehr, wie ich es geschafft hatte, den Weg hierhin zurückzulegen, ohne dabei einen Laut von mir gegeben zu haben. Die Tür fiel ins Schloss und heiße Tränen ergossen sich über meine Wangen. Mein Schluchzen raubte mir den Atem. Ich sank auf den Boden und die Trümmer meiner Welt warfen sich über mich. Erlöschende Sterne, die vom Himmel fielen. Die Muskeln meines Körpers vibrierten. Es gab keine Scherben mehr, die ich noch hätte zusammenfügen können. Kein letzter Grashalm, an dem ich mich festhalten konnte. Nichts war mehr übrig, nur noch Asche, die mich erstickte. Ich wusste nicht, wie lange ich es ertragen könnte. Wie lange konnte man leben, wenn nichts mehr war? ... Ich hasste mich für diese Schwäche, doch ich konnte mich nicht beruhigen. Ich konnte den Weg nicht sehen, der vor mir hätte liegen sollen. Dort war kein Pfad, kein Licht, und doch zwang man mich zu gehen. Meine Hand suchte Halt an der Tür, die meinen Rücken stützte, und ich zog mich empor. Ich stand dort, minutenlang, wartete, dass der Schmerz nachließ, doch das tat er nicht. Ich wollte fort von hier, wollte nichts mehr sehen, was mich verletzte, wollte verschwinden und vergessen, doch die Stricke lagen fest um meinen Geist und lähmten meinen Körper. Ich wurde erst ruhiger, als mich die Kräfte verließen. Ich war nicht mehr fähig zu weinen, hatte keine Tränen mehr. Leblos und verloren ging ich durch mein Zimmer, zog den alten Koffer unter meinem Bett hervor, mit dem Vater mich vor Jahren hier abgesetzt hatte. Es erschien mir nun so viel grausamer, dass er mich in diese Hölle geschickt hatte. Wie hatte er das nur tun können? Er hätte mich beschützen müssen, hätte bei mir sein müssen, doch es war zu spät. Es gab nicht mehr viel, was er hätte beschützen können. Meine Hände verstauten Kleidung, Bücher, Hefte und Papier im Koffer. Ein wenig Geld, das ich mir zusammengespart hatte, ein paar Stifte und eine Seife. Dann verschloss ich die breiten Gürtelschnallen, die mein Gepäck zusammenhielten, nahm meine Schreibmaschine unter den Arm und verließ das Zimmer, ohne noch einmal zurückzublicken. Ich begegnete verwunderten Schwestern, die mich fragten, was geschehen sei, doch ich schwieg. Ich konnte nicht sprechen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Das kalte Metall in meinem Arm hielt ich fest umklammert. Es gab mir Ruhe und die nötige Kraft meine Füße im Wechsel voreinander zu setzen. Als ich die Pforte erreichte, die mich sehnlichst erwartete, blieb ich stehen. Ich würde nie wieder an diesen Ort zurückkehren, würde Christina wohl nie wieder sehen. Wieder spürte ich, wie mein Innerstes sich zusammenkrümmte. Ich war froh, dass ich heute nicht in ihr Gesicht hatte blicken müssen. Ich hätte es nicht ertragen können, sie zu sehen, also schritt ich hinaus ins Grau der Welt und hoffte auf einen Funken, der mir die Richtung weisen würde. Nie war mir der Weg in die Stadt so lang und lieblos vorgekommen. Selbst der Himmel hatte sich von mir abgewandt. Die Sonne, die noch am Morgen ihre Strahlen in mein Zimmer geschickt hatte, war von schweren Wolken verhangen. Ich zwang mich voran, trotzte dem Wind, der eisig unter meinen Mantel blies und versuchte zu verdrängen, was geschehen war, doch es gelang mir nicht. Zu oft war ich mit Christina diesen Weg entlanggegangen. Jeder Baum und jeder Strauch am Wegesrand erinnerte mich an sie und ich wünschte, ihre Zweige und Wurzeln würden verkümmern, bevor meine Blicke sie streiften. Eine solche Macht besaßen meine Gedanken jedoch nicht. Überhaupt besaß ich nichts, was mir eine schützende Rüstung hätte bieten können. Ich war ein winziger schwarzer Fleck auf Gottes Erde, so unbedeutend und schwach, doch zu feige, um allem ein Ende zu setzen, also ging ich weiter, bis ich die Stadt erreichte. Noch immer lag vorweihnachtliche Besinnlichkeit in der Luft und sicher hätte ich heute reichlich Spenden erbitten können, doch wäre ich auf der Stelle zusammengebrochen, hätten meine Lippen die Worte geformt, die mir gestern schon die Taschen der Leute geöffnet hatten. Die Erinnerung hätte mich erschlagen, noch bevor die erste Münze in meine Hände gefallen wäre. Ich entfernte mich vom Marktplatz, ich wollte an einen Ort, an dem ich zuvor noch nicht gewesen war, an dem es keine Erinnerungen gab und an dem ich Ruhe finden konnte. Die Straßen der Stadt führten mich gen Norden. Dorthin, wo die Gassen dunkler wurden und die Blicke der Menschen mich argwöhnisch verfolgten. Eine unerklärliche Schwere lag auf diesem Ort und es war genau der richtige Platz für mich zu sein. Düster und heruntergekommen, ein Loch, in das ich mich verkriechen konnte. Mit dem bisschen Geld, dass ich noch hatte, wollte ich mir ein Zimmer in einer der Herbergen nehmen, die hier nicht all zu teuer sein konnten. Ich betrachtete die steinernen Fassaden, in deren Fenstern gelegentlich Lichter brannten und entschied mich für ein kleines Gasthaus, an dessen Empfang eine alte Frau von magerer Statur saß. "Schönen guten Tag", begrüßte sie mich mit krächzender Stimme. "Haben Sie ein Zimmer für mich?" Sie nickte. "Sicher, Kind, wenn du Geld hast." "Das habe ich", versicherte ich ihr und musterte die knochige Hand, die sie mir entgegenstreckte. Ich holte einige Münzen aus meiner Tasche und reichte sie ihr. Daraufhin breitete sich ein eigenartiges Lächeln auf den Lippen dieser Frau aus. Sie erhob sich und bat mich, ihr in die obere Etage zu folgen. "Eine hübsche Schreibmaschine trägst du da", sagte sie, als sie mir ein Zimmer öffnete. Ich schloss den Arm fester um die Maschine. "Ja, aber sie funktioniert leider nicht mehr", erklärte ich ihr und trat in den Raum. "Vielen Dank." "Natürlich", erwiderte sie knapp. Dann drückte ich die Türe hinter mir zu und verharrte einen Moment, bis ich sicher sein konnte, dass die alte Frau wieder nach unten verschwunden war. Erst jetzt öffnete ich die Augen und sah mich in meinem Zimmer um. Es war nicht annähernd so groß, wie das Zimmer im Kloster. Es roch modrig und staubig, doch ich hatte ein Bett und Ruhe und das war alles, was ich in diesem Moment brauchte. Eine angemessene Unterkunft für jemanden wie mich. Hier konnte ich bleiben, um meine Gedanken zu ordnen. Einen Weg suchen und mich vor all dem verstecken, was mir gnadenlos Dolche durch die Brust trieb.  005 – Talfahrt -------------- Ich verkroch mich sieben volle Tage in meinem Zimmer. Verließ es nur, wenn es nicht anders ging und vermied jeglichen Kontakt. Meine verdiente Einsamkeit betäubte mich von Tag zu Tag mehr. Die Tränen, die mein Kopfkissen durchtränkten, wurden weniger und ich glaubte, dass es möglich sein konnte, mein Leben auf diese Weise zu führen. Abgeschirmt von der Außenwelt, unsichtbar, taub und stumm. Es war Heiligabend und ich fühlte mich wie damals, an meinem ersten Weihnachtsfest im Kloster, verraten und alleingelassen. Es schmerzte darüber nachzudenken wie mein Vater die kommenden Tage verbringen würde. Mit seinen Kindern und Elizabeth vor dem Kamin. Morgen würde ein Festmahl aufgetischt und sie würden glücklich zusammensitzen, Geschichten erzählen, singen und keinen einzigen Gedanken an mich verschwenden. Noch schmerzhafter waren die Gedanken, die ich an Christina verlor. Trotz ihres Verrats, vermisste ich ihre Nähe. Es mochte Dummheit sein oder Verzweiflung, doch noch immer klammerte ich mich an den Gedanken, ihr eines Tages noch einmal nahe sein zu können. Ich stellte mir vor wie es wäre, wenn sie vor mir stünde, sich entschuldigte und dem Kloster den Rücken zukehrte, um bei mir zu sein. Ein schöner Traum, der mich in all der Dunkelheit begleitete, egal wie grausam jedes Erwachen war. Ein leises Knurren holte mich aus meinen Gedanken. Ich hatte seit gestern morgen nichts mehr gegessen und aufs Neue kam der Hunger zurück, den ich seit Stunden zu bekämpfen versuchte. Auf meinem Nachttisch lagen noch ein paar Brotkrumen, die von meiner letzten Mahlzeit übrig waren. Davon satt zu werden war unmöglich. Ich musste mich aufraffen. Noch konnte ich Glück haben und ein gutes Brot bei einem der Bäcker in der Nähe bekommen. Ich musste mich beeilen, löste mich schweren Herzens von der Fensterbank, die in den letzten Tagen meine größte Stütze gewesen war, und zog mein Sonntagskleid über. Es war zerknittert und etwas schmutzig von meinem letzten Einkauf, doch ich hatte keine Möglichkeit es ordentlich zu säubern. Der Waschraum in dieser Herberge war dreckig und stank und ich bezweifelte stark, dass man darin sauber werden konnte. Es musste so gehen. Ich nahm das kleine Täschchen unter meinem Kopfkissen hervor und schüttete den Inhalt klimpernd auf mein Bett. Keine fünf Dollar? Mir wurde unangenehm warm, als ich noch einmal hastig in die Tasche griff, um zu prüfen, ob ich etwas übersehen hatte. Sie war leer. Es lagen noch drei Dollar und elf Pennys vor mir, nicht genug, um noch eine weitere Nacht bezahlen zu können. Ich zog eilig den Koffer unter meinem Bett hervor und entleerte ihn neben dem kleinen Häufchen Geld auf meinem Bett, kontrollierte alle Taschen und untersuchte jeden Winkel, in dem sich hoffentlich ein paar Scheine versteckten. Meine Suche war nicht von Erfolg gekrönt. Ich zwang mich ruhig zu bleiben, atmete tief und gleichmäßig und betrachtete meine laienhaft gebundenen Kurzgeschichtensammlungen, die sich zwischen meiner Kleidung versteckt gehalten hatten. Ich fühlte, wie sie nach mir riefen und mir war klar, was sie wollten. Ich hatte kaum noch Geld, doch ich wusste, wie ich mir etwas verdienen konnte. Wenn ich es schlau anstellte, lagen hier noch zwanzig Dollar. Ich sammelte die Heftungen zusammen und verstaute sie ordentlich in meiner Tasche. Es sollte ein Leichtes sein, an einem Tag wie heute ein paar Groschen aufzutreiben. In spätestens zwei Stunden würde ich mich wieder in mein Versteck zurückziehen können. Ein Hauch von Zuversicht straffte meine Schultern, als ich mein Zimmer verließ. Zum ersten Mal seit einer Woche passierte ich erhobenen Hauptes die eigenwillige Empfangsdame, bevor ich hinaus auf die Straße trat. In dieser Gegend waren nie viele Menschen unterwegs, doch das würde mich nicht davon abhalten meinen Plan zu verfolgen. Ich schlug den Weg zum Bäckerei ein, um meinen Hunger zu besiegen und gestärkt ans Werk zu gehen. Es war noch Vormittag und der süßliche Duft des Gebäcks hüllte mich in eine wohlige Wolke, als ich die kleine Stube betrat, in der die Bäckersfrau die Waren verkaufte, die ihr Mann zu frühster Morgenstunde gebacken hatte. Die Auswahl war drastisch reduziert, doch für mich genügte ein einfaches frisches Brot, um satt zu werden. Die Bäckersfrau lächelte, als sie mir den Laib überreichte. Ich dankte ihr. Es tat gut, nach all der Zeit in ein freundliches Gesicht zu blicken, das mich einfach als Kundin betrachtete. Ich hätte noch ewig diese Wärme in mir aufsaugen können, doch ich hatte zu tun. Ich ging zurück in die Kälte, brach ein Stück Brot ab und steckte den Rest in die Tasche zu meinen Geschichten. Ich aß, während ich nach möglichen Käufern Ausschau hielt und mich weiter Richtung Norden bewegte. Die Hauptstraßen wagte ich nicht zu verlassen. Obwohl es noch hell war, verströmten die schmalen Seitengassen eine dunkle, schauerliche Bedrohung. Als würden Geister hinter allen Ecken lauern, die nur darauf warteten, ihre Fänge nach einem jungen Mädchen auszustrecken, das sich zu nah herangewagt hatte. Ich vermied es überhaupt hineinzusehen und ging weiter auf der breiten Hauptstraße, bis mir die ersten Menschen begegneten und ich ein paar meiner Werke hervorkramte. Ich hatte keine Angst, auf die Leute zuzugehen. Das hatte ich bereits tausendfach getan und ich wusste, wie es funktionierte. "Sir!", rief ich einem Mann zu, der in den Kragen seines Mantels versunken war. "Bitte entschuldigen Sie. Haben Sie einen Moment?" Er blieb stehen, als ich näher kam und musterte mich über den dunklen Saum seines Mantels hinweg. "Sir?" "Bettle bei jemand anderem", brummte er und ging weiter. ... "Nein, ich habe etwas zu verkaufen", erklärte ich, nachdem meine Verwunderung sich gelegt hatte. "Ich möchte nichts." "Es sind Geschichten. Sie können sie zu Weihnachten verschenken." So schnell wollte ich nicht aufgeben. Ich folgte ihm ein paar Meter, bis er wieder stehen blieb. Er hob den Kopf und offenbarte mir sein unrasiertes Gesicht. "Geschichten zum Verschenken?", fragte er grimmig. Ich nickte zögerlich. "Davon wird keiner satt, also sieh zu, dass du Land gewinnst!" Wieder versank er in seinem Mantel und stapfte davon. Ich ließ ihn ziehen und wandte mich seufzend meinem eigenen Weg zu. Offenbar war ich nicht die einzige, die bald hungrig zu Bett gehen würde. Dieses Schicksal wollte ich noch eine Weile von mir abwenden, also konzentrierte ich mich auf die nächsten Personen, die mir entgegen kamen. Eine ältere Frau, die mit Stock über die Pflastersteine hinkte war mein zweites Ziel. "Ma'am, guten Tag", begrüßte ich sie und schenkte ihr ein zartes Lächeln, an das ich meine Gesichtsmuskulatur mühsam gewöhnen musste. "Darf ich Ihnen ein paar meiner Geschichten zum Kauf anbieten?" Sie sah mich aus ihrem faltigen Gesicht heraus an, als hätte sie kein Wort verstanden. "Ich habe ein paar schöne Märchen. Die können Sie Ihren Enkeln vorlesen", verkündete ich, doch wieder blinzelte sie nur ahnungslos. Verstand sie mich nicht? Ich zeigte ihr meine Heftungen und wie vom Donner gerührt entglitten ihr die Gesichtszüge und sie fluchte laut in einer mir unverständlichen Sprache. Vielmehr waren es Geräusche. Zischen und Schnauben, nichts was man als Worte identifizieren könnte. Ich presste meine Waren fest an meine Brust, trat zurück und entschuldigte mich mehrfach, bis sie sich beruhigt hatte und von Dannen zog. Hatte ich etwas Falsches gesagt? War ich zu aufdringlich gewesen? Ich wusste nicht, was die alte Frau so erzürnt hatte, doch ich wollte mich von diesem erneuten Rückschlag nicht entmutigen lassen. Es waren erst zwei. Zwei, die kein Interesse hatten, das war nichts Ungewöhnliches, doch auch die Dritte, der Vierte, Fünfte und Sechste wollten nichts von meinen Geschichten wissen. Wie war das möglich? Auf dem Marktplatz im Südosten der Stadt verkauften sie sich fast von allein, doch hier konnte ich nicht ein einziges Heft loswerden. Selbst die Senkung meines Preises, die ich nach der zehnten Absage in Kauf nahm, half meinem Glück nicht auf die Sprünge. Keiner wollte mir die paar Cent im Tausch gegen eine meiner Geschichten überlassen, die ich brauchte, um noch eine Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben. Es war niederschmetternd, wie kaltherzig die Menschen hier auf mich reagierten. "Verzieh dich! Lass mich in Ruhe!" Jedes Mal die gleiche Ablehnung. Nicht einer, der sich meine Werke überhaupt ansah. Gegen Abend versuchte ich es nicht mehr mit seriösen Verkaufsgesprächen. Ich bettelte um Geld, appellierte an das Mitleid der Menschen und bekam nach langen ermüdenden Stunden keinen ganzen Dollar zusammen. Es war erniedrigend und die widerwilligen Blicke der Menschen ließen die wenigen Münzen in meinen Händen wie heiße Kohlen brennen. Meine Zuversicht hatte sich in Rauch aufgelöst, der dunkle Wolken über mir entstehen ließ. Zu gerne wollte ich zurück in mein Zimmer und mich verkriechen. Es ging nicht. Ich brauchte das Geld noch heute, doch hier war es nicht zu bekommen. Erschöpft nahm ich auf einer niedrigen Backsteinmauer Platz, die einen kleinen tristen Garten von der Straße abgrenzte. Ich wusste, dass ich keine andere Wahl mehr hatte,  wenn ich nicht aus der Herberge geworfen werden wollte. Ich musste zum Marktplatz zurückkehren. Der Ort, der mir gefährlicher und beklemmender erschien, als die dunkelste Gasse im Nordbezirk. Zu viele Erinnerungen erwarteten mich dort, die noch viel gieriger an mir zerren würden, als jede Geisterhand. Ich wollte nicht dorthin zurück, wollte niemandem begegnen, den ich kannte und der mich womöglich fragte, warum ich so schmutzig aussah. Doch vor allen anderen Gründen, die gegen einen Verkauf auf dem Marktplatz sprachen, war Christina der entscheidenste. Ich wollte nicht noch einmal ihre Ablehnung spüren, wenn sie sich wieder von mir abwandte. Auch wenn ich etwas anderes hoffte, so befürchtete ich, dass mein Wunsch nichts als ein unerfüllbarer Traum war, mit dem ich mich tröstete. "Verkaufst du sie?" Neben mir erklang eine weiche klare Stimme. Ich löste meinen Blick vom dunklen Pflaster, das zum Marktplatz führte und drehte mich um. Eine großgewachsene Frau im schwarzen Mantel hielt eine meiner Geschichten in den Händen und sah mich fragend an. "Ja, oder nein?", fragte sie erneut. Ich nickte eilig. "Ja! Ja sicher." Ich war vollkommen überrumpelt. "Was verlangst du?" Denk nach! Sie möchte eines kaufen! Sag ihr einen Preis! "Einen halben Dollar." Ich schluckte schwer, nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, die mir um ein Haar nicht eingefallen wären. Sie nahm ihre Geldbörse aus der Manteltasche und spähte eine Weile nachdenklich hinein, dann zog sie einen Schein hervor und reichte ihn mir. "Ich ... ich kann nicht wechseln." Die Unsicherheit hatte mich fest im Griff. "Dann behalte den Rest", sagte sie und drückte mir die Fünfdollarnote in die Hand, "Mein Weihnachtsgeschenk an dich." Meine Finger schlossen sich fest um das Papier und ich spürte, wie etwas in mir einen Freudensprung vollführte. Ich konnte dieser Fremden nicht genug danken. Ich war sprachlos. Ein knappes Nicken war alles, was ich zustande brachte. Ich hoffte, sie konnte meine innige Dankbarkeit trotz des Schweigens spüren. "Ich danke dir", sagte sie lächelnd. Ich wusste nicht, wofür sie mir dankte, doch ich nahm es an und fragte nicht weiter. Ich hätte es ohnehin nicht formulieren können und ich wollte sie nicht aufhalten, da sie weiter gen Süden schritt. Meine Blicke klebten an ihr, während sie ging, sie hatte mich gerettet, mir eine weitere Nacht in der Herberge geschenkt. Ich war froh, dass ich es nicht begreifen musste und mich darüber freuen durfte. Dann blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. Hatte sie ihre Meinung geändert? Ich verharrte regungslos. "Du solltest es auf dem Marktplatz versuchen und etwas mehr dafür verlangen." Sie zeigte mir das offene Heft. "Dafür bekommst du sicher mehr als einen halben Dollar." Dann schritt sie unbeirrt weiter und ließ mich verwundert auf meiner Backsteinmauer zurück. Erst als sie in der Dunkelheit verschwunden war, blickte ich hinunter auf den zerknüllten Schein und lockerte vorsichtig meine Hand. Fünf Dollar. Noch immer glaubte ich zu träumen, doch er war echt. Ich verstecket ihn sicher in der Innentasche meines Mantels, bevor ich mich auf den Rückweg begab.   —   Am Tag darauf zwang ich mich in die eisige Kälte des Waschraums, um das Bestmögliche aus mir herauszuholen. Ich wollte niemandem unangenehm auffallen. Meine Bedenken gegenüber dem Marktplatz waren noch immer die gleichen, doch hatte ich keine andere Wahl, als meine Heftungen dort unters Volk zu bringen, wo man sie auch wollte. Ich packte meine Tasche und machte mich auf den Weg. Je näher ich dem Marktplatz kam, desto ansehnlicher wurden die Häuser und desto nervöser pochte mein Herz. Ich tastete mich vorsichtig heran und näherte mich dem Zentrum so weit wie nötig. Die Menschenmengen waren überschaubar. Natürlich, es war Weihnachten und die Geschäfte hatten geschlossen. Ich durfte nicht wählerisch mit meiner Kundschaft sein, und da ich keine einzige Nonne auf dem Platz entdecken konnte, wagte ich mich an ein junges Paar heran, das gemütlich, Arm in Arm über das Kopfsteinpflaster spazierte. Ich sprach sie an und sie kauften zwei Hefte. Ich fühlte mich so viel leichter, nachdem der erste Dollar eingenommen war und setzte meine Geschäfte fort. Kein einziges schlechtes Wort bekam ich zu hören, die Leute waren freundlich, sie hatten Mitleid, dass ich an einem Tag wie diesem arbeiten musste und nahmen mir meine Werke dankend ab. Es war eine völlig andere Welt in diesem Teil der Stadt. Innerhalb von drei Stunden hatte ich sieben Dollar verdient. Es wäre wohl mehr gewesen, wenn nicht die meisten Leute den Tag zu Hause verbringen würden, doch für den Anfang genügte das und bis zum Abend konnte ich noch ein paar Dollar einnehmen. "Megan?" Ich hielt die Luft an. Für einen Moment war ich versteinert, dann drehte ich mich um. "Michael ... guten Tag." Ich rang mir ein Lächeln ab. "Was tust du hier?", fragte er verwundert. Ich räusperte mich und versuchte so unaufgeregt wie möglich zu klingen. "Was ich immer tue, wenn ich hier bin. Ich verdiene etwas Geld." Er betrachtete mich und die Hefte in meinen Händen. "Das sehe ich. Aber warum heute und ohne Begleitung?" Konnte dieser Kerl nicht etwas weniger neugierig sein? Ich wollte ihm nichts vorlügen, doch die Wahrheit auszusprechen war mir unmöglich. "Ich musste etwas an die frische Luft", erklärte ich und hielt meine Hefte hoch, "Und warum nicht das Nötige mit dem Nützlichen verbinden?" Er nickte. "Verstehe." "Gut, dann werde ich jetzt versuchen noch ein paar Quarter zu verdienen. War schön, dich zu sehen", verabschiedete ich mich und wollte gehen. "Du bist rausgeflogen, oder?" Mein Atem stockte, doch ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. "Wie kommst du denn darauf?", fragte ich, als wäre diese Annahme völlig aus der Luft gegriffen. "Die Schwestern waren jeden der letzten Tage in der Stadt, um Spenden zu sammeln, doch du warst nie dabei", begründete er mir seinen Verdacht, "Sie haben mir gesagt, dass du das Kloster verlassen hast." Er wusste es. Ich atmete tief durch und sah ihm fest in die Augen. "Richtig. Ich wohne jetzt im Nordviertel." Michael sah mich entgeistert an. "In dem Loch?" "So schlimm ist es  gar nicht", antwortete ich mit fester Überzeugung. "Ist es wegen dem Mann, den du mir vorziehst?" Er verschränkte die Arme vor seiner Brust. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich wohne allein. Aber selbst wenn, so wäre es meine Entscheidung ... du bist unhöflich." Er hob abwehrend die Hände. "Verzeihung. Ich dachte nur, dass es logisch wäre, wenn du jetzt bei ihm wärst, nachdem du dich für ihn entschieden hast." "Ich bin bei niemandem. Und jetzt lass mich in Frieden." Ich hatte genug von seinen Sticheleien. Es war auch ohne seine Worte schlimm genug, dass ich nicht bei Christina sein konnte. "Einen schönen Tag noch." Ich warf ihm einen strengen Blick zu und ging an ihm vorbei, um weiter in Ruhe meinen Geschäften nachzugehen. Unverfrorener Bursche. "Du könntest bei mir wohnen", rief er mir hinterher. Ich zögerte, doch blickte ich noch einmal zu ihm zurück. "Unter welchen Voraussetzungen?" Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Seine Augen funkelten. "Wenn du meine Frau wirst." Mir entglitt ein leises Schnauben. Seine Antwort überraschte mich nicht. Ich hatte sie erwartet, wenngleich ich auf etwas anderes gehofft hatte. "Danke ... Ich werde es mir überlegen", antwortete ich so sachlich, dass ich mich selbst darüber wundern musste. Ich ging und er ließ mich ziehen. Nach wie vor war Michael ein ansehnlicher junger Mann und alles andere als eine schlechte Partie. Die Geschäfte seines Vaters liefen prächtig und ich würde mir keine Sorgen mehr um meine Zukunft machen müssen, doch wenn ich ihn zum Mann nehmen würde, so müsste ich hier bleiben und das wollte ich nicht. Ich wollte fort von hier, fort vom Kloster und hinaus aus der Stadt. Ich wusste noch nicht wie ich es anstellen sollte, doch für den Anfang musste ich Geld verdienen. Mein heutiges Ziel – fünfzehn Dollar – hatte ich nicht erreicht, als ich am Abend zurück zur Herberge ging. Dennoch war ich zufrieden mit meinem Verdienst und verstaute alles sicher unter meinem Kissen. Es tat gut, wieder etwas in den Händen zu haben und ich war froh, dass ich es gewagt hatte, zum Marktplatz zu gehen. Gerne hätte ich auf die Begegnung mit Michael verzichtet, doch ich war nicht daran zu Grunde gegangen, wie ich befürchtet hatte. Auch die nächsten fünf Tage überlebte ich, ohne zurück in meine Melancholie zu stürzen. Meine Gedanken kreisten um die Verkäufe, die ich erfolgreich getätigt hatte, um die, die ich noch tätigen würde und um die kleine Schankstube, in der sie nach einer Kellnerin suchten. Es war eine Möglichkeit, die ich abwägen musste, besonders jetzt, da ich nicht mehr viel zu verkaufen hatte. Nur noch drei Werke lagen in meiner Tasche und egal wie lange ich das leere Papier in meiner Schreibmaschine anstarrte, ich konnte nicht schreiben. Ich wollte, doch mein Kopf weigerte sich. Jedes Mal, wenn meine Finger die Tasten berührten, fuhr eine Schranke herunter und ließ mich endlos warten, dass etwas passierte. Vor ein paar Wochen waren die Wörter nur so aus mir herausgesprudelt. Jetzt saß ich hier in meinem kleinen Zimmer und brachte nicht eine einzige Zeile zustande. Es war frustrierend und ich konnte nichts dagegen tun, als weiterhin verbissen auf das weiße Blatt zu starren und mit aller Gewalt zu versuchen, eine Geschichte zu entwickeln, die sich verkaufen ließ. Mein Schädel schmerzte, als ich nach Stunden ergebnisloser Gedankengänge resigniert in mein Bett fiel. Wieso funktionierte es nicht? Waren mir in den letzten Tagen sämtliche Ideen entfallen? Ich hatte die abgeschlossenen Erzählungen bereits einige Male neu abgeschrieben und gut verkaufen können, doch seit heute Nachmittag hörte ich Fragen nach neuen Geschichten. Meine Kundschaft kannte die meisten meiner Werke, also brauchte ich etwas Neues. Nur wollte mir partout nichts einfallen, als hätte man mir über Nacht die Fantasie geraubt. Ich blickte seufzend an die graue Decke. Für eine Arbeit in der Schankstube brauchte ich keine Fantasie. Vielleicht würde mich die Arbeit dort ablenken, meinen Kopf frei machen und wieder etwas Raum für Ideen schaffen. Morgen würde ich mich dort vorstellen. 006 – Wolfsjagd --------------- "Wo bleibt mein Bier?"Ungeduldiges Knurren drang durch die volle Gaststube. "Ist unterwegs", antwortete ich und hastete zurück an den Tresen, um die Getränke auf mein Tablett zu laden. Es war brechend voll, ich rotierte von einem Tisch zum anderen. Pausenlos arbeitete ich mich durch den letzten Abend des Jahres. Die Hektik strapazierte meine Nerven. Doch ab morgen würde es bergauf gehen, das spürte ich. Noch wenige Stunden bis Mitternacht, und während viele der Gäste sich aus Angst bis zur Besinnungslosigkeit betranken, freute ich mich auf den Glockenschlag, der meinen Neuanfang bedeutete. Alles sollte hinter mir bleiben, festgehalten im 19. Jahrhundert. Ich stellte es mir vor, wie einen schweren, samtenen Vorhang, der sich pünktlich um Mitternacht hinter mir schließen würde und allem Schlechten den Weg in meine Zukunft versperrte. "Bitte sehr." Ich stellte das volle Glas flink auf das klebrige Holz, das unter der Last dieses voluminösen Gastes ächzte. Er bedankte sich nicht. Ich hatte es auch nicht erwartet. Es war mir gleich geworden, dass die Menschen in dieser Gegend keinerlei Manieren besaßen. Sollte sich jemand anderes damit den Tag verderben, mich würde es nicht mehr lange betreffen. Sobald ich das nötige Kleingeld für ein Zugticket beisammen haben würde, gab es nichts mehr, was mich länger in dieser verdreckten Schankstube halten konnte, mit all den nach Bier und Schweiß stinkenden Männern. Allesamt waren sie unfreundlich und ein gutes Drittel der Gäste war zudem aufdringlich. Regelmäßig geriet ich unter hungrige Wolfsaugen, die mich erschauern ließen. Heute waren sie im Rudel angereist. Ein besoffenes Pack, das lauthals nach mir grölte, als sich deren Gläser zum wiederholten Male geleert hatten. "Noch eine Runde, die Herrschaften?" Ich musterte die leeren Gläser auf dem runden Tisch. Die Männer hatten bereits eine beträchtliche Menge konsumiert. "Aber sicher doch, Liebes!" Bemerkenswert, wie gut ich die gelallten Silben der Gäste nach ein paar Tagen verstand. Ich betrachtete sie ruhig, nickte und bemühte mich, das Bier so schnell wie möglich an den Herrentisch zu bringen. Ein erfreutes Raunen ging durch die kleine Gruppe, als ich die Gläser abstellte. Sie stürzten sich eilig auf den Gerstensaft, während ich meine Notizen ergänzte und mich der Tür zuwandte, durch die weitere Gäste hereinkamen. Die übliche Klientel. Ich verstaute meinen Block in der Schürze und schickte mich an, sie in Empfang zu nehmen, bis eine feuchte kalte Hand nach mir griff und mich zurückzog. "Loslassen!", fuhr ich den betrunkenen Narren an. Er hatte meinen Arm gepackt und schenkte mir ein fauliges Lächeln. "Setz dich doch noch etwas zu uns, Mädchen. Wir könnten weibliche Gesellschaft gebrauchen." Seine Freunde bestätigten mir diese Aussage mit wildem Kopfnicken. "Ich denke nicht", entgegnete ich mit fester Stimme. "Ich muss arbeiten." "Arbeiten, arbeiten ..." Er schnaubte verächtlich. "Du kannst auch für uns arbeiten." "Ich bin keine Hure." Es war das dritte Mal, dass man mir eine derartige Offerte machte. Offenbar war das hier eine gängige Methode, um eine Dame zu erobern. Ich hielt den bohrenden Blicken dieses Ekels eisern Stand und wiederholte meine Aufforderung, dass er mich loslassen solle. "Sir, bitte nehmen Sie Ihre Hand von meinem Arm!" Er rührte sich nicht und ich verharrte ebenso regungslos, bis seine Finger sich lockerten und ich erleichtert durchatmete. Es verstrich ein Wimpernschlag und er  hatte mich fest an sich herangezogen. Sein Gestank brannte scharf in meiner Nase. "Nein! Lass mich gefälligst!" Ich schrie und stemmte mich mit aller Kraft von ihm fort. Keiner der anderen Gäste bemühte sich, mir beizustehen. Ich konnte sie lachen hören. Sie machten sich lustig, während ich um Befreiung kämpfte. Wie hatte ich etwas anderes erwarten können? Mit einer schallenden Ohrfeige löste ich die Hände, die mich hielten und stolperte rücklings auf den Nachbartisch, dessen üppiges Gedeck klirrend und scheppernd auf mich niederregnete. Ich keuchte unter der heißen Soße, die sich über mich ergossen hatte, während die Stimmen um mich herum verstummten. "Miss ...", tönte es hinter mir. Ich erhob mich aus dem Scherbenhaufen, schüttelte meinen Rock und wandte mich um. Ein grimmiges Gesicht starrte mich an und ich erkannte den Grund für die Verärgerung dieses Herren sofort. Seine Mahlzeit lag nicht mehr auf seinem Teller, sie tränkte seinen Schoß in brauner Soße. Noch bevor ich Worte finden konnte, zog der Wirt meine Aufmerksamkeit auf sich, als er durch die Menge walzte und seine stattliche Masse donnernd vor mir aufbaute. "Was geht hier vor, Megan?" Ich sammelte mich kurz, bevor ich antwortete. "Sir, das tut mir schrecklich leid. Ich wurde festgehalten und bin gestürzt, nachdem ich mich befreien konnte. Ich werde das sofort aufräumen." "Das will ich dir geraten haben", knurrte er abfällig. Ich nickte und sputete mich, das Malheur zu beseitigen. "Ich denke hier liegt ein Missverständnis vor, Jacob." Ein Missverständnis? Ich wandte mich zurück an den Wirt, der soeben eine neue Fassung der Geschichte aufgetischt bekam, noch ehe ich Lumpen und Eimer geholte hatte. "Ihr müssen meine Komplimente zu Kopf gestiegen sein", erklärte der Gast, "Wenn du mich fragst, ist sie über ihre eigenen Füße gestolpert." "Das ist nicht wahr!" Ich wurde lauter. "Er hielt mich fest!" "Du träumst doch, Mädchen", entgegnete er mir. "Ruhe jetzt!", Jacob, der Wirt, beendete den Streit bevor er begonnen hatte. "Mir ist es gleich, wer die Schuld trägt. Hauptsache jemand bezahlt das!" Es war aussichtlos. Der Trunkenbold, bei dem es sich um einen Stammgast handelte, hatte Zeugen, die seine Aussagen bestätigten und ich hatte nichts dagegen vorzubringen. Mein Lohn für den heutigen Abend war gestrichen und ich war wütend, als Jacob mich nach Hause schickte. Was hatte ich an mir, dass die Menschen mich immer wieder zu Unrecht bestraften? Woran lag es, dass alles in die Brüche ging? Ich konnte keine Erklärung finden. In mir schwelte der Zorn. Zorn auf die Menschen, auf diese Stadt, die mir nichts als Unglück brachte und auf mich selbst, weil ich nicht fähig war, aus diesem Sumpf zu verschwinden. Ich hielt inne und drehte mich um. "Ist dort jemand?" Es blieb still. Ich meinte Schritte gehört zu haben, doch die Straßen hinter mir waren leer. Ein unwohles Gefühl stieg in mir auf und ich beeilte mich, zurück in die Herberge zu kommen. Wenn man den Männern in der Schankstube glauben durfte – und das war nur schwer möglich – waren in den letzten vier Wochen zwei Mädchen aus diesem Viertel verschwunden. "Aller guten Dinge sind drei, weißt du?" Das waren ihre Worte, bevor ich die Stube verlassen hatte. Ich war mir sicher, dass sie mir nur Angst machen wollten, weil ich nicht nach ihrer Pfeife getanzt hatte, doch jetzt, da ich allein durch die Nacht lief, klangen ihre Worte immer glaubwürdiger in meinen Ohren. Ich zog den Mantel fester um mich und beschleunigte meine Schritte, bis ich rannte. Etwas verfolgte mich. Ich wusste bloß nicht, ob es meine Fantasie, oder etwas Reales war. Die Kirchenglocken schlugen. Erster Januar Neunzehnhundert. Ich blieb stehen und blickte mich um. Es war weit und breit niemand zu sehen. Keine Stimmen hallten durch die Straßen, nur der laute Klang der Glocken. Eilig ging ich weiter, als ich sicher war, dass mir niemand folgte. Ein neues Jahr brach an und ich wollte diese Gelegenheit nutzen, mein Leben neu zu ordnen. Als erstes würde ich die Stadt verlassen. "Ein frohes neues Jahr, Ma'am", grüßte ich die alte Empfangsdame, die den Eingangsbereich der Herberge seit meinem Einzug offenbar nie verlassen hatte. Sie nickte knapp und ich verschwand zügig nach oben. Ich hatte einen Plan und dessen Umsetzung konnte nicht warten. Wenn ich etwas ändern wollte, dann musste ich das jetzt tun. Es war mein Vorsatz für dieses Jahr. Handeln, statt zu warten. Ein Zögern hätte mein Vorhaben ohnehin stark gefährdet. Ich ging auf mein Zimmer, packte meine Schreibmaschine und ging zurück nach unten. "Ma'am, ich möchte sie Ihnen gerne verkaufen", verkündete ich mit fester Überzeugung. Ich gab mir Mühe, so sicher wie möglich aufzutreten, doch ihre Antwort ließ auf sich warten. Ich begann zu zweifeln. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr zweifelte ich, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. "Ich brauche keine Schreibmaschine, die nicht funktioniert", krächzte sie. "Sie funktioniert", korrigierte ich sie. "Sie war nie kaputt." Für einen Moment herrschte Stille, dann erhob sich die magere Frau von ihrem Stuhl und begann meine Schreibmaschine zu begutachten. "Brauchst du sie nicht mehr?" "Nein." Die vielen Falten um ihre Augen wurden tiefer, als sie zu Lächeln begann. "So so ..." "Ich möchte die Stadt verlassen und nichts mitnehmen, was mich an diesen Ort erinnert", erklärte ich mich, "Außerdem brauche ich Geld, um von hier verschwinden zu können." Wieder nickte sie und schwieg einige Sekunden, in denen sie die Maschine gründlich untersuchte. "Samuel!", schrillte ihre Stimme plötzlich in die Höhe, "Komm her und sieh dir das an!" Ich wandte meinen Blick auf den schmalen Türbogen, in dem ein großer stämmiger Mann erschien. Der schiefen Nase nach zu urteilen, war es der Sohn der Empfangsdame. "Was gibt es?", fragte er und trat an seine Mutter heran. Ich beobachtete die beiden, wie sie sich eine Weile über die Maschine unterhielten, alle Tasten ausprobierten und mich gänzlich ignorierten. "In Ordnung." Die Alte hatte sich mir zugewandt. "Die Schreibmaschine scheint in gutem Zustand zu sein." "Das ist sie", bestätigte ich, "Daher dachte ich an eine angemessene-" "Wirf sie raus!" Sie zischte ihren Sohn herrisch an und er gehorchte sofort. Ich trat zurück, als er auf mich zukam. "Was soll das? Ich dachte Sie würden mir-", der große Kerl hob mich vom Boden, "Das können Sie nicht machen! Ich brauche das Geld!" Ich schlug um mich, trat und kratzte ihn, doch Samuel war wie aus Stein gemeißelt. Als wäre ich eine Puppe, warf er mich mit Leichtigkeit zur Tür hinaus und schlug die dicken Holzbretter schwungvoll zu. Völlig perplex saß ich auf den feuchten Pflastersteinen. Es war absolut unwirklich und ich verstand nur langsam, was eben geschehen war. Das neue Jahr war keine halbe Stunde alt und schon hatten die Dämonen der Vergangenheit mich eingeholt. Nein! Ich durfte nicht zulassen, dass meine Pläne von diesen beiden Gestalten so leicht zerschlagen werden konnten. Fest entschlossen rappelte ich mich auf, ging zurück an die Türe und hämmerte kräftig dagegen. "Öffnen Sie sofort die Türe! Ich habe ein Recht auf Einlass!" "Du hast hier überhaupt keine Rechte. Verschwinde!" "Ich verschwinde, sobald Sie mir meine Besitztümer ausgehändigt haben!" Es kam keine Antwort. "Mein Zimmer ist bezahlt! Lassen Sie mich herein!" Ich klopfte fester gegen die Bretter. "Aufmachen!" Nichts geschah. Verdammte Bastarde! Alle Versuche, die Türe einzutreten, scheiterten. Die Menschen in den Nachbarhäusern warfen mir Flüche an den Kopf, dass ich endlich still sein solle, doch ich wollte nicht nachgeben. Zu oft hatte ich mich gefügt und jedes Mal war ich als Verlierer hervorgegangen. Nicht dieses Mal. Wenn sie mich loswerden wollten, so würden sie mich erschlagen müssen. "Sie werden es bitter bezahlen, wenn Sie mich nicht hineinlassen!" Ich stieß Drohungen aus, verfluchte sie und schimpfte wie nie zuvor. Minutenlang stand ich dort, unnachgiebig keifend und kochend vor Wut. Erst als die Luft mir knapp wurde, mäßigte ich mich, um zu verschnaufen. Mein Hals kratze und mein Mund war trocken. Ich ließ mich vor dem Eingang nieder und beschloss zu warten. Irgendwann mussten sie die Türe wieder öffnen und ich war Willens auf diesen Moment zu warten. Ich hatte auch keine andere Wahl, schließlich war alles was ich besaß, hinter dieser Türe. Mit jeder Minute, in der ich ruhiger wurde, kroch mir die nasse Kälte tiefer unter die Haut. Immer wieder klopfte ich gegen die Bretter. Die Abstände wurden größer und die Schläge schwächer, bis ich irgendwann aufhörte und die Arme fest um meine Knie schlang. Ich wollte mich nicht meiner Traurigkeit hingeben, wollte diesmal stark und zuversichtlich bleiben, doch mein Kummer zerrte an mir, wie Wölfe an ihrer Beute. Ein spitzer Schrei durchdrang die Stille. Ich schreckte hoch und sah die Straße hinauf, aus der der Schrei gekommen war. Aller guten Dinge sind drei, weißt du? Die Worte der Männer bahnten sich ihren Weg zurück in meinen Kopf. Vielleicht waren aller guten Dinge nicht drei. Vielleicht würde eine Nummer vier ebenso gut sein. Mein Herz begann zu rasen. Der Ursprung des Schreis war nicht weit entfernt und wenn es tatsächlich einen kranken Mädchenjäger gab, so musste ich ein außerordentlich einladendes Ziel abgeben. Langsam richtete ich mich auf und suchte mit den Augen nach einem Versteck. Außer ein paar niedrigen Backsteinmauern und Mülltonnen gab es jedoch nichts. Ich versuchte ruhig zu bleiben und besann mich auf meinen gesunden Menschenverstand. Die Frau konnte aus allen möglichen Gründen geschrien haben. Vielleicht war sie gestürzt, oder hatte sich erschreckt. Dann hörte ich wieder Schritte und mein Puls schnellte in die Höhe. Sie kamen in meine Richtung, das bildete ich mir nicht ein. Ich sprang auf und lief so schnell mich meine Beine tragen konnten davon. Angst hatte mich unwiderruflich gepackt und trieb mich mit Peitschen vor sich her. Jemand war mir auf den Fersen, dessen war ich sicher. Hinter mir schlug glattes Leder aufeinander. Ein Mantel, der vom Wind zurückgeschlagen wurde. Es kam näher, das Geräusch der Schuhsohlen, die auf die Straße trafen. Es war wie in einem meiner Träume, in denen ich rannte, ohne vorwärts zu kommen. Mein Verfolger, der mir immer näher kam. In meinem Nacken spürte ich den kalten Hauch der Furcht. In mir brach Panik aus. Ein wildes Durcheinander aus Gebeten und Beschwörungsformeln, die meine Beine schneller werden lassen sollten. Ich wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Vor allem aber nicht so. Mein Atem überschlug sich. Wohin sollte ich rennen? Schneller! Lauf schneller! Welches Monster verfolgte mich? Vor mir tat sich der Marktplatz auf. Er war menschenleer. Vater! Vergib mir! Beschütze mich! Ich rannte auf ein Licht zu. Im Fenster des Schusters brannte eine schwache Kerze. "Michael!" Ich schrie aus Leibeskräften und warf mich gegen die Tür. "Bitte mach auf! Michael!" Die Sekunden verstrichen. Mein Flehen wurde nicht erhört. Noch einmal warf ich mich gegen das Holz und fiel ungebremst in seine Arme. Verblüfft über die Weichheit des Holzes, blickte ich nach oben. Michael sah mich entsetzt an. "Was um Himmels Willen tust du hier? Weißt du, wie spät es ist?" Ich konnte keine Worte fassen. Stattdessen klammerte ich mich an sein Hemd und brach in Tränen aus. Meine Beine wurden weich und ich war froh, dass Michael mich festhielt. Er fragte, was los sei, doch es war mir nicht möglich zu antworten. Ich zitterte am ganzen Körper. "Megan ... Komm, setz dich hin." Er wollte mich loslassen. Ich schüttelte den Kopf. "Nein", flüsterte ich, "Halt mich bitte fest." 007 – Das Tor zur Hölle -----------------------   Ich saß auf einer schmalen hölzernen Bank in der Stube des Schusters. Michael hatte mir von oben ein Glas Wasser gebracht und sah mich mittleidig an. "Was war denn los?" Meine Hände waren fest um das Glas geschlossen während ich meine schmutzigen Finger fixierte. "Jemand verfolgte mich." "Bist du sicher?" Er klag überrascht. "Weißt du wer es war?" Ich hob ahnungslos meine Schultern und ließ sie kraftlos zurück an ihren Platz fallen. Er schwieg unangenehm lange. Ich fragte mich, was er wohl denken mochte. Ob er sich um mich sorgte, oder ob er mich für verrückt hielt. "Wieso bist du überhaupt so spät nachts noch unterwegs?" Seine Worte klangen vorwurfsvoll. Ich erzählte ihm, was geschehen war und er wurde wütend. "Sie können dich doch nicht einfach hinauswerfen!", schimpfte er. "Offenbar können sie es", entgegnete ich ihm und versuchte nicht weiter darüber nachzudenken. "Darf ich heute Nacht hier bleiben?" Ich sah ihn flehend an und war erleichtert, als er nickte. "Aber morgen musst du weiterziehen. Ich sagte meinen Eltern, es wäre eine Bettlerin gewesen, die ich wieder fortgeschickt hätte." Ich dacht einen Augenblick über seine Worte nach, bis mir etwas klar wurde. "Ich bin eine Bettlerin." Ich hatte nichts mehr, außer der Kleidung, die ich am Leib trug. Keine Ware, die ich hätte verkaufen können. Mir blieb nur noch diese eine Möglichkeit. Betteln... Er lächelte sanft und reichte mir seine Hand. "Komm, ich bringe dich ins Badezimmer. Danach wird es dir besser gehen." Ich ließ mich von ihm führen und schloss dankend die Tür hinter mir. Meine großen Pläne hatten sich innerhalb von Minuten in Rauch aufgelöst und ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie es weitergehen sollte. All meine Ersparnisse lagen in der Herberge und deren Eigentümer würden alles daran setzen, dass ich sie nicht zurückbekam. Könnte ich fliegen, ich würde sofort auf der Farm meines Vaters landen. Ein alberner Wunsch. Als ich das Badezimmer in einigermaßen sauberem Zustand verließ, war Michael längst verschwunden. Er hatte mir eine Decke dagelassen, mit der ich mich unten in der Werkstatt seines Vaters hinlegen durfte. Mehr konnte er mir nicht anbieten, doch es war besser als die Nacht draußen zwischen Kälte und Furcht zu verbringen. Ich legte mich auf die schmale Bank und schloss die Augen. Meine Erschöpfung tat ihr übriges und Schlaf überrollte mich mit wilden Träumen. Monsterhafte Fratzen mit knochigen Klauenfingern umtanzten mich. Schwarze Wesen von bärenähnlicher Gestalt. Ein Veitstanz, der bis zum Morgengrauen in meinem Kopf tobte und mich schweißgebadet erwachen ließ. Ich musste verschnaufen. Draußen erkannte man die ersten Umrisse der Häuser. Die Wolkendecke war seit Tagen nicht aufgerissen und auch heute wollte sich daran nichts ändern, doch es wurde allmählich heller. Ich bemühte mich, meinen Zopf noch einmal ordentlich zu flechten und wartete auf die ersten Stimmen der erwachenden Stadt. Ich stand ruhig neben der Türe und ließ meine Blicke über die Werkzeuge des Schusters wandern. Oben im Haus wurden Stühle verschoben. Ich packte eines der Ledermesser, ließ es in meiner Manteltasche verschwinden und verließ eilig das Haus. Du brauchst das und Michaels Vater hat genug davon. Du musst dich verteidigen können. Es ist in Ordnung. Mein Gewissen kämpfte mit meiner Vernunft, während ich etwas Abstand zwischen mich und den Ort meines Vergehens brachte. Ich zwang mich, nicht länger darüber nachzudenken und suchte mir stattdessen ein windgeschütztes Stück Straße, mit möglichst hohem Publikumsverkehr. Bis zum Abend brauchte ich ein paar Dollar, wenn ich nicht draußen schlafen wollte. Ich musste meine Würde niederringen, um mich auf den Boden knien zu können und meine Hände zu einer Schale zu falten. Jede Sehne meines Körpers sträubte sich gegen diese Demütigung. Ich war angekommen, am äußersten Rand der Gesellschaft. Mit schmutziger Kleidung saß ich hier und wartete auf das Mitleid der städtischen Mittelschicht. Tiefer sinken konnte ich nicht mehr und dennoch brannte jeder Penny wie Säure auf meiner Haut. Ich brauchte das Geld, nur mein Stolz wollte es nicht. Mühsam brachte ich die Worte über meine Lippen und bat die Passanten um etwas Kleingeld. Meine Taschen füllten sich langsam und ich musste hoffen, dass es gegen Abend besser laufen würde, wenn die Menschen nach getaner Arbeit nach Hause gingen und etwas mehr Zeit für eine arme frierende Bettlerin hatten. Die Kälte schien mich verzehren zu wollen. Sie war stärker geworden und die fehlenden Mahlzeiten trugen ihr Übriges dazu bei. Zu gerne hätte ich, für eine warme Suppe, meine Seele verkauft, doch selbst der Teufel schenkte mir keine Beachtung mehr. Stunde um Stunde hockte ich zwischen den dunklen Mauern bedankte mich für jede Münze und ließ meine Gedanken schweifen. Welche Möglichkeiten hatte ich noch, wenn ich hier nicht einsam sterben wollte? Vielleicht wäre es besser, doch auf Michaels Angebot einzugehen und seine Frau zu werden. Je später es wurde, desto sinnvoller erschien es mir dieses Leben zu wählen, sollte Michael mich noch immer wollen. Ein Dach über dem Kopf, warme Mahlzeiten, ein netter Ehemann und eine sichere Zukunft. Ich starrte ins Leere, während ich meine Alternativen abwägte, von denen die meisten ein grausames Ende für mich bereithielten, bis meine Blicke von einem Paar brauner Augen erwidert wurden und mein Geist hastig zurück ins Jetzt stolperte. Christina... Meine Lungen verweigerten augenblicklich ihre Dienste. Mein Herz wollte aus meiner Brust springen, als ich sie vor mir sah. Gehüllt in ihre Nonnenkluft mit einem dicken Mantel und einem Korb im Arm, stand sie in der Abenddämmerung auf der anderen Straßenseite und blickte mich an. Sie blieb stumm und auch mir waren die Worte entfallen, die ich hätte sagen können. Ich hoffte sie würde zu mir kommen, mich retten, doch sie wandte sich wortlos ab und ging weiter die Straße entlang, als hätte sie mich nicht erkannt. Es erschütterte meinen Körper und brachte ihn sofort auf die Beine. "Christina!" Ich konnte sie nicht einfach gehen lassen, doch Christina hielt nicht an. "Bleib hier!", rief ich ihr nach. Meine Füße waren taub und meine Beine kribbelten vom langen Knien. "Bitte, Christina! Ich gehe hier zu Grunde!" Sie sollte anhalten und mich trösten, doch ihre Schritte wurden schneller und ich wollte nicht wahrhaben, was ich sah. Sie rannte, als wäre ich ihr schlimmster Alptraum. "Christina, ich liebe dich! Lass mich nicht allein!" Meine Stimme zitterte. Ein drückender Schmerz umklammerte meine Brust. Ich versuchte ihr auf schlafenden Beinen zu folgen. Sie entfernte sich weiter von mir, drehte sich nicht einmal um und nach wenigen Schritten zwangen mich meine Beine gewaltsam auf den Boden zurück. Sie waren zu weich, um darauf zu rennen und ich war zu schwach um mich wieder aufzurichten. "Ich brauche dich..." Ein Flüstern, das sich über meine bebenden Lippen gestohlen hatte, als ich am Boden lag. Ich blieb liegen und schloss meine Augen. Zerplatzt wie eine Seifenblase. Der schöne Traum, der mich aufrecht gehalten hatte. Es würde kein glückliches Ende für uns beide geben, dessen war ich nun sicher. Sie war gegangen. Ohne ein Wort war sie verschwunden und hatte mich zurückgelassen, wie einen dreckigen Straßenköter, auf das er endlich sterben möge. "Steh auf, Megan." Jemand packte mich fest am Arm und zog mich hoch. Ich kannte diese Stimme, doch ich wusste nicht woher. "Mit dir ist es bergab gegangen, seit unserer letzten Begegnung." Ich blinzelte und mein Blick schärfte sich. Vor mir stand die Frau, die mir fünf Dollar für eine meiner Geschichten gegeben hatte. "Ich hatte vermutet, deine Geschäfte würden hier florieren", sagte sie, während sie mich eingehend betrachtete. "Offenbar tun sie es nicht." Ich schüttelte den Kopf und kämpfte um Fassung. "Du hast wohl auch keine weiteren Geschichten mehr bei dir, oder?", fragte sie, "Jedenfalls siehst du nicht sehr bepackt aus." Wieder verneinte ich ihre Frage mit einem Kopfschütteln. "Schade. Ich hätte gerne noch ein paar davon gelesen." Ich holte tief Luft und sammelte Kraft, um ihr zu antworten. "Ich kann nicht mehr schreiben. Und... ich bin auch nicht mehr lange hier." Sie sah mich enttäuscht an. "Das ist sehr bedauerlich." "Eigentlich ist es das nicht." "Wie kommst du darauf?" "Außer Ihnen interessiert es niemanden." "Das denkst du?" Ich nickte und strich die Tränen aus meinem Gesicht. "Das denke ich." "Verstehe." "Es tut mir leid." Sie schenkte mir ein mildes Lächeln. "Nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest." Ein leises Seufzen entspannte meine Nerven. "Danke fürs Aufheben." "Sehr gerne. Erzählst du mir dafür eine Geschichte?" Ich sah verblüfft in ihr freundliches Gesicht. Sie wollte nicht locker lassen, doch mir war nicht nach Geschichten. "Das kann ich nicht. Mir fällt nichts mehr ein." Ich wollte meine Ruhe. "Gar nichts?" Sie klang bestürzt. "Dann erzähle mir eben deine Geschichte." Meine? Wollte sie tatsächlich hören, wie ich so tief gesunken war? Als wäre es eine alte Geschichte, erzählt von einer betagten Frau, die ihr Leben gelebt hatte und friedlich in ihrem Schaukelstuhl vor dem Kamin saß. Mein Leben war gelebt, doch fehlte mir der Schaukelstuhl, um eine solche Geschichte zum Besten geben zu können. "Du hast doch sicher einiges erlebt, nicht wahr?" "Einiges", bestätigte ich. Meine Hände spannten sich um meine Arme und ich bemühte mich ruhig zu bleiben. Konnte diese Frau mich nicht einfach in Frieden lassen? "Aber ich möchte nicht darüber sprechen", fügte ich hinzu, als sie mich weiterhin erwartungsvoll anblickte. "Das habe ich befürchtet", seufzte sie. "Es ist wirklich mehr als tragisch. Man findet selten solch gute Geschichten wie deine." Verspottete sie mich? "Sie müssen sich jemand anderen suchen, der Ihnen Geschichten erzählt, Miss..." "Volkova", klärte sie mich auf. "Sofia Volkova." Sie reichte mir ihre Hand. "Megan Paine", antwortete ich knapp, als ich ihre Hand schüttelte. "Das weiß ich, es steht unter dem Titel deiner Geschichte." "Gut, dann noch einen schönen Abend." Ich wollte endlich meine Ruhe haben. Es erschien mir lächerlich, dass diese Frau sich so brennend für mich interessierte. Ich konnte ihr dieses Interesse nicht abkaufen. "Das wünsche ich dir ebenfalls", sie lächelte, "und such dir besser bald einen Unterschlupf. Ich hörte von Mädchen, die des Nachts von den Straßen gestohlen wurden." Ich betrachtete prüfend meine Umgebung. Noch immer waren Menschen unterwegs. Es war höchstens achtzehn Uhr und dennoch fröstelte ich bei dem Gedanken an letzte Nacht. "Das werde ich." Sie ging und war schnell hinter einer Straßenecke verschwunden. Eine merkwürdige Person. Volkova. Klang, als wäre sie nicht von hier, doch einen ausländischen Akzent hatte ich nicht ausmachen können. Es war auch nicht weiter wichtig woher sie kam und wer sie war. Ich würde sie ohnehin nichtmehr wiedersehen. Meine Idee, Michaels Gemahlin zu werden, hatte ich in dem Moment verworfen, als ich Christina begegnet war und nun, da ich keine drei Dollar in der Tasche hatte und allmählich die Nacht hereinbrach, würde ich mit Sicherheit Erfrieren, Verhungern, oder einem Verrückten in die Hände fallen. Ein feines Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Mir war nicht zum Lachen zu Mute, doch diese absurde Situation ließ mich kichern. Es war tatsächlich kein Pfad mehr übrig, der mich aus meiner Tragödie herausführen konnte. Und jetzt, am Ende aller Wege, was blieb mir noch, außer es gebührend zu beenden und meinen Schmerz zu ertränken? Ich wollte darauf anstoßen, das es nun vorbei sein würde, wollte mich betäuben, um am Morgen kalt und regungslos gefunden zu werden. Wenn das alles war, was mich erwartete, dann wollte ich es mir so leicht wie möglich gestalten. Ich brauchte Wein und ich kaufte mir eine Flasche von meinem erbettelten Geld, um sie genüsslich am Brunnen auf dem Marktplatz zu leeren und in einen todbringenden Schlaf zu sinken. Es schmeckte scheußlich und hinterließ einen fahlen Geschmack auf meiner Zunge. Ein Rätsel, weshalb die Menschen ihn tranken. Sicher war es nicht aufgrund des Aromas, doch ich ahnte nach einer halben Flasche, welche Gründe hinter dem Konsum dieses Getränks steckten. Ich fühlte mich leichter und schwindelig. Er ließ mich meine Sorgen vergessen und ich schwebte wie auf Wolken. So hatte ich es mir vorgestellt. Beschwingt und vergnügt dem Ende entgegen. Vielleicht sollte ich Michael noch einen Besuch abstatten. Das Haus seines Vaters war nur einmal quer über den Marktplatz. Nicht weit und auch auf wackligen Beinen zu erreichen. Ich rutschte vom Rand des Brunnens und hielt mich an meiner Flasche fest, während ich hinüber zum Schuster stolperte. Ich klopfte an die Türe. "Michael...?" Meine Zunge war schwer geworden. "Bist du da?" Ich wartete, während ich Halt am Türrahmen suchte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich die Türe geöffnet wurde und ein bekanntes Gesicht mich begrüßte. "Megan?" Michael klang überrascht. "Was tust du hier? Ich sagte doch, du müsstest gehen." Ich hob unkoordiniert meinen Zeigefinger. "Das weiß ich." "Bist du betrunken?" Er wirkte entsetzt. "Ein kleines bisschen", nuschelte ich und hob die Flasche, die zu zwei Dritteln geleert war. Ich musste lachen, als er mich in die Stube zog und hielt mich an ihm fest, um nicht zu stürzen. "Ich wollte mich...", ich überlegte kurz, "verabschieden. Ich verschwinde..." "So kannst du nicht verschwinden", entgegnete er mir mit strengem Ton und drückte mich auf die hölzerne Bank, auf der ich letzte Nacht geschlafen hatte. "Doch. Genau so", bestätigte ich  und wollte wieder aufstehen. Vergebens. Er drückte mich zurück nach unten. "Was tust du da?", fragte ich kichernd. Er nahm mir die Flasche Wein aus der Hand, bevor er antwortete. "Dich vor Dummheiten bewahren. Was hast du denn vor? Willst du dich tottrinken?" Ich grinste unwillkürlich. "So ungefähr. Also...", ich griff nach meiner Flasche, "gib sie mir zurück." "Nein." Wackelig zog ich mich an der Tischkante hoch und sah ihm fest in die Augen. Ich hielt ihm meine offene Hand hin. "Gib sie mir. Ich habe sie bezahlt und ich werde den Wein trinken. Du kannst Blumen an mein Grab stellen, wenn du etwas für mich tun willst." "Du bist doch verrückt!", entgegnete er mir und machte keine Anstalten, mir meinen Wein zurückzugeben. "Michael! Gib mir meinen Wein!", schimpfte ich. "Das gehört sich nicht für eine Dame", erklärte er mir, wie ich mich zu verhalten hätte. "Ist mir egal! Du hast kein Recht, mir Vorschriften zu machen!" Ich würde mich nicht so einfach geschlagen geben. Ich hatte meine Entscheidung getroffen und auch Michael würde mich nicht davon abhalten können. "Gib sie-" Ich erstarrte, als er die Flasche auf den Kopf stellte und der Wein sich auf den Boden ergoss. Fassungslos beobachtete ich, was er tat. "Du solltest heute Nacht hier bleiben, um nüchtern zu werden", empfahl er mir mit ruhiger Stimme und stellte die leere Flasche auf den Tisch neben mich. "Morgen kannst du verschwinden, sobald dein Geist wieder klar ist." "Ha! Witzig." "Überhaupt nicht." Ich sank zurück auf die Bank und legte meinen Kopf auf die hölzerne Tischplatte. Wieder hatte man meine Pläne durchkreuzt. Es wurde allmählich zur Gewohnheit und ich spürte deutlich, dass ich momentan nicht in der Lage war, etwas dagegen zu unternehmen. Ein kurze Verschnaufpause würde mir sicher gut tun. In meinen Kopf drehte sich alles und vielleicht hatte Michael Recht und morgen würde alles besser aussehen. Wenn nicht, musste ich mir etwas anderes überlegen. Doch bis es soweit war, wollte ich etwas ruhen. Mein Körper war so unfassbar schwer geworden, als hätte man mir Steine in die Taschen gesteckt. Ich konnte nicht mehr aufstehen, selbst wenn ich es wollte. Michael sagte noch ein paar Worte, doch ich verstand sie nicht und kniff die Augen fest zusammen. Ich konnte hören, wie er den Raum verließ und die Stufen nach oben ging. Wenigstens musste ich heute Nacht nicht draußen schlafen.   Stunden später erwachte ich. Der Mond schien matt durch das Fenster. Mein Kopf schmerzte, als ich ihn hob. Ich konnte nichts sehen, doch ich hörte jemanden über den Boden schlurfen. "Michael?", fragte ich leise. "Nein", kam die Antwort. Es war eine männliche Stimme. "Wer ist da?" Ich versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen, doch mehr als eine dunkle Gestalt war nicht zu sehen. Sie kam zu mir herüber. "Die Frage ist, wer bist du, dass du unerlaubt in meinem Haus nächtigst?" Zwei Hände donnerten vor mir auf das Holz. "Sag schon!", schnauzte er mich an. "Ich... ich bin Megan, Sir." Ich wich zurück, als er sich zu mir hinunterbeugte. "Megan also", er schnaubte verächtlich, "das Mädchen, das mit meinem Sohn spielt." "Ich spiele nicht", korrigierte ich ihn. "Er hat mir nur geholfen." Der Schuster brummte tief. Er klang verstimmt und beängstigend. Ich wagte nicht, noch mehr hinzuzufügen. Stattdessen rückte ich langsam weiter nach hinten, zum anderen Ende der Bank, um mit größtmöglicher Entfernung an ihm vorbeizukommen und zur Türe zu gelangen. "Ich werde einfach verschwinden", flüsterte ich, während ich mich zum Ausgang bewegte. Der Mann machte keinen Mucks und ließ mich gehen. Ich drückte die Klinke und wollte den Schlüssel drehen, doch er steckte nicht mehr. Wo ist denn ..? "Suchst du etwas?", fragte der Schuster. "Den Schlüssel. Ich wollte gehen." "Er ist hier." Ich drehte mich um und erkannte die dunkle Silhouette des Mannes, die mir einen Arm entgegenstreckte. "Hol' ihn dir." Meine Nerven wurden unruhig und ich verharrte still an meinem Platz. Eine gefährliche Spannung lag in der Luft. Wie eine Katze lauerte er darauf, dass ich mich seiner Falle näherte. "Na los. Worauf wartest du?" Ja, worauf wartete ich? Er würde ihn mir sicher nicht bringen. Ich holte tief Luft, redete mir gut zu und trat nach vorn, um den Schlüssel entgegenzunehmen. Es erwies sich als grauenvoller Fehler. So hastig ich versucht hatte, den Schlüssel an mich zu nehmen, so schnell war der Schuster aufgesprungen und zog an meinem Arm. Blut schoss in meinen Kopf, als er mich herumzerrte und auf den Tisch warf, seine Hand fest um meinen Hals gespannt. Die Leisten auf dem Tisch drückten sich in meinen Rücken, doch viel qualvoller war die Hand dieses Mannes, die an meiner Kleidung riss. "Aufhören!" Ich schrie ihn an. Schlug nach ihm, so fest ich konnte, doch meine Hiebe waren machtlos, gegen die rohe Kraft des Schusters. Ich erwehrte mich verbissen seiner kalten Hände, die mir unter Bluse und Rock fuhren. Er presste mich mit seinem Körper fest an den Tisch und ich spürte ein widerliches Pochen an meinen Schenkeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war tausendfach schlimmer, als die eisigste Kälte, die mich draußen um den Schlaf bringen würde und zehrender als jeder Hunger. Ich stemmte mich gegen ihn, krallte mich in seinen Hals und kassierte eine schallende Ohrfeige, die mir für einen Moment die Sicht stahl. Ich blinzelte einige Male, bevor ich weiter um mich schlug. Er durfte mich nicht berühren. Ich flehte und heulte, er möge von mir ablassen, doch alles was ich bekam, waren Schläge, die mich zum Schweigen bringen sollten. Er beschimpfte mich. Miststück. Hure. Dann rührte ich mich nicht mehr. Ich blieb ruhig, während er seinen Gürtel öffnete und sich die Hose abstreifte. Er lag auf mir. Ein abscheulicher Teufel, der nun sein Opfer verspeisen wollte. Jemand musste ihn aufhalten! Ich fand etwas in meiner Tasche und wandte den Blick in sein Gesicht. Seine niederträchtigen Augen funkelten gierig. Jetzt war nicht der Moment, um zu zögern. Ich spannte meine Hand um den hölzernen Griff des Schustermessers, kniff die Augen fest zusammen und riss es aus meiner Jackentasche, dem Schuster entgegen. Für einen Augenblick geschah nichts. Ich hatte die Luft angehalten und zuckte zusammen, als das warme Blut des Schusters auf mich niederregnete. Es sprudelte mir aus seinem Hals entgegen und durchtränkte meine Kleidung, ehe der Schuster röchelnd und japsend vom Tisch rollte. Er sank auf dem Boden zusammen, während sein Blut die hölzernen Dielen in einen schimmernden Teich verwandelte. Ich saß auf dem Tisch und beobachtete, wie es sich langsam ausbreitete. Meine Blicke waren starr auf den Schuster und seine letzten Lebenszeichen geheftet. Erst als ich sicher war, dass er nicht mehr lebte, erfasste mich ein mächtiges Zittern. Ich sah mich eilig nach dem Schlüssel um, doch so sehr sich meine Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ich konnte ihn nicht finden. Mein Atem ging mit jedem Zug schneller. Ich wollte von hier verschwinden. Sofort. Es gab nur einen Ort, an dem ich nicht nach dem Schlüssel gesucht hatte. Die Taschen des Schusters. Ich näherte mich langsam. Mir wurde heiß und ich merkte, wie die Luft zum Atmen immer knapper wurde. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, als ich mich hinunterkniete und seine Taschen durchsuchte. Er hatte den Schlüssel zurück in seine Jackentasche gesteckt, bevor er mich überfallen hatte und ich holte ihn mir. Es war nicht einfach, das Schlüsselloch zu treffen. Meine Hände waren unruhig. Sie klebten voller Blut und gehorchten mir nicht mehr. Beruhige dich. Schließ auf und verschwinde. Ich musste mich zusammenreißen, um die Türe öffnen zu können. Als sie aufschwang, stürzte ich hinaus auf den Marktplatz, wo kalter Wind mir entgegenpeitschte. Die Nässe, die sich über Gesicht und Hals ausgebreitet hatte, trocknete schnell und spannte auf meiner Haut. Ich musste es abwaschen. Rasch ging ich zurück zum Brunnen, doch der Wasserpegel war zu niedrig. Es war unmöglich, sich hier zu reinigen. Hast trieb mich durch die Straßen, auf der Suche nach einem Trog, einer Gießkanne oder einem Eimer mit Wasser. Eine Pfütze war alles, was ich fand doch die Tage an denen ich wählerisch war, waren längst vergangen, ich wollte es nur abwaschen. Wollte loswerden, was geschehen war. Ich rieb und kratzte über meine Haut, versuchte in der Pfütze meine Schuld abzuwaschen. Michaels Vater war tot. Ich hatte ihn umgebracht. Mir wurde schlecht. Ich war nicht nur arm und verkommen, ich war auch eine Mörderin. Ein Monster mit langen blonden Haaren, dass bittere Tränen über seine Taten vergoss. Ich konnte es sehen. Mein Gesicht spiegelte sich in der Pfütze. Es war blutverschmiert und ich erkannte mich nicht mehr. Ich war mir fremd geworden. So sah man also aus, wenn einem die Seele abhanden gekommen war. Wenn niemand mehr über einen wachte und ein tiefer Abgrund einen erwartete. Ich schloss die Augen und bedeckte sie mit meinen Händen, doch des Teufels Schergen umkreisten mich noch immer. Sie schoben und zerrten mich, bis ich in die Hölle blicken konnte. Ich musste nur springen, dann wäre alles vorbei. Gott würde mich ohnehin nicht mehr wollen, dann konnte ich es auch selbst tun. Ich hatte das Messer mitgenommen, unbewusst musste ich es zurück in meine Tasche gesteckt haben,  und es bedurfte nur zweier kleiner Schnitte. Ich zwang mich ruhiger zu werden und konzentrierte mich. Ich hatte lange genug gekämpft, war tiefer gefallen als ich es für möglich gehalten hatte und jetzt konnte ich nicht mehr weitergehen. Es gab kein Ziel mehr, nur noch Furcht. Ich atmete aus und zog die Klinge mit Druck durch meine Haut. Brennender Schmerz strahlte meinen Arm entlang. War das wirklich was ich wollte? Ich umfasste mein blutendes Handgelenk und presste es an meine Brust. Es schmerzte höllisch und ich hoffte, dass es genügen würde und ich nicht auch meinen anderen Arm verletzen musste, um diese Welt verlassen zu können. Zusammengekauert in einer engen Seitenstraße erwartete ich mein Ende. Ich war bereit zu gehen. Meine Gedanken führten mich fort, während ich wartete. Ich stellte mir vor, einen langen hohen Gang entlangzugehen. Geradeaus auf eine dunkle Pforte zu. Meine Schritte hallten über den glatten Marmor. "Was tust du hier, Kind?" Erwarteten sie mich etwa nicht? Ich setzte zum Antworten an, bis ich erkannte, dass die Worte nicht meiner Fantasie entsprungen waren. Vorsichtig öffnete ich die Augen und riskierte einen Blick. Sofia kniete vor mir. "Wolltest du dir nicht einen sichern Unterschlupf suchen?" Sie fragte nicht was ich getan hatte, doch sie musste sehen, dass etwas nicht stimmte. Es war unmöglich, dass sie es nicht sah und ich wünschte, sie würde einfach wieder verschwinden. Ich wollte nicht gefunden werden solange ich noch lebte und wandte mich wortlos ab. Sie würde es verstehen. "Du bist heute nicht sehr gesprächig", stellte sie trocken fest und erhob sich. Sie seufzte und ich war froh über ihren resignierten Tonfall. Im Augenwinkel beobachtete ich sie und hoffte, dass sie endlich gehen würde, doch stattdessen streifte sie ihren Handschuh ab und hielt mir ihre nackte Hand entgegen. "Komm mit mir." Ich zögerte. Wohin würde sie mich bringen? Spielte es eine Rolle? Ich griff nach ihrer Hand. Sie war warm und ihre Haut war sanfter, als ich es erwartet hatte. Es war anders als gestern Abend, als sie sich vorgestellt hatte. Kraftvoller. Sie zog mich hoch und nahm mich mit sich. 008 – Wein oder Wodka? ----------------------   Sie ging voran und ich folgte ihr, ohne Fragen zu stellen. War sie der Tod, der mich abholte? Nein, sie war zu real, um meiner Fantasie entsprungen zu sein. Sie konnte nicht der Tod sein. Wenn doch, so war er nicht halb so schlimm, wie ich befürchtet hatte. "Wir sind da", verkündete sie, als wir vor einem ansehnlichen Gebäude mit opulentem Eingangstor zum Stehen kamen. Sie ließ meine Hand los und begann in ihrer Manteltasche zu kramen, während wir auf Einlass warteten. Ein älterer Herr in feiner Kleidung öffnete die Türe, nachdem sie geklopft hatte. "Ah, Miss Volkova." "Guten Abend, Mister Turner." Sie steckte ihm ein Bündel Dollarnoten zu. "Sie haben nichts gesehen." Er nickte und ließ uns passieren. Erst als ich hinter Sofia das Gebäude betrat, erkannte ich, dass es ein nobles Hotel war. Nicht im Ansatz mit der Herberge zu vergleichen, in der ich die letzten Wochen verbracht hatte. Es war sauber, roch angenehm und auch der Herr am Empfang machte einen freundlicheren Eindruck. Eine solche Unterkunft konnte ich mir niemals leisten. "Ich kann hier nicht wohnen", flüsterte ich, als wir den Flur im zweiten Stock erreichten. "Dafür habe ich kein Geld." Sie kicherte. "Denkst du, das weiß ich nicht? Du bist mein Gast." Ich brachte kein Danke mehr über meine Lippen. Am liebsten wollte ich nie wieder etwas sagen. "Komm hier entlang, du gehörst dringend in eine heiße Badewanne." Wohl wahr. Sie schritt weiter vor mir her, öffnete eine Türe und ließ mich eintreten. Ein helles Badezimmer, ausgeleuchtet von dutzenden Kerzen. Es war völlig absurd. "Ich habe das für dich vorbereiten lassen." Sie wies mich auf die dampfende Wanne hin. "Du willst dich sicher aufwärmen und ein paar Erinnerungen abwaschen, nicht wahr?" Ihre Blicke glitten prüfend über mein Gesicht und hinunter zu meinem Arm, als wollte sie versuchen aus den Spuren an meinem Körper zu rekonstruieren, was geschehen war. Es war unangenehm. Ich versuchte meinen verletzten Arm so gut es ging vor ihrer Überprüfung zu verbergen, doch Sofia war nicht entgangen, was ich in der dunklen Gasse versucht hatte. "Zeig mir deinen Arm!", forderte sie mich auf und hielt mir ihre Hand vor. Sie klang entschlossen und ich fügte mich. Sofia begutachtete den Schnitt und begann zu lachen. "Zum Glück hast du keine Ahnung vom Freitod. Mit solch einem Schnitt hättest du bis zum jüngsten Tag warten können."Sie gab mir meinen Arm zurück. "Ist das so lustig?" Ich presste meine Lippen wütend aufeinander. Obwohl sie viel für mich getan hatte, erschien mir diese Frau mit jeden Gespräch unfreundlicher. Dumme Ziege... "Für dich offenbar nicht." Sie hatte ihre Fassung schnell zurückerlangt. "Wir werden das später verbinden, wenn du dich gewaschen hast. Die Blutung hast du ohnehin schon selbst gestillt." Ich blickte hinunter auf den dünnen Schnitt, der längst nicht mehr blutete und nickte. "Dann werde ich dich jetzt für einen Moment alleine lassen. Ezra wird dir noch frische Kleidung bringen. Deine alten Sachen kannst du entsorgen." Sie ging hinaus, ohne eine Antwort von mir zu erwarten. Ich stand mitten in einem wunderschönen Badezimmer, welches von zartem Rosenduft erfüllt war und konnte mich nicht freuen. Es fühlte sich falsch an, dass ich hier war. Nach allem, was geschehen war und allem, was ich getan hatte, wollte ich viel lieber tot sein, als mich der wohltuenden Wärme des Wassers hinzugeben. Ich gehörte nicht an diesen Ort, ich war ein Fremdkörper. Ein hässlicher Fleck auf einem wundervollen Gemälde. Ich atmete tief durch. Was tust du jetzt nur? Zurück auf die Straße wollte ich nicht. Spätestens morgen Nachmittag würden sie mich wegen Mordes suchen. Wie ich mich umbringen konnte, wusste ich allem Anschein nach auch nicht. Ich wusste gar nichts, weder wohin noch was ich wollte. Gerne hätte ich mich in Luft aufgelöst, um nie existiert zu haben. Mein kindlicher Wunsch blieb unerhört und ich hatte Mühe, meine Nerven beisammen zu halten. Das feste Klopfen an der Badezimmertüre machte es nicht besser. Ich schreckte unwillkürlich zusammen. Ezra. Sofia hatte gesagt, dass mir noch Kleidung gebracht würde. "Ja?" Meine Stimme klang zaghafter, als ich es beabsichtigt hatte. Die Türe öffnete sich und es trat ein schlanker Mann von überdurchschnittlicher Größe in den Raum. Mir sprang das Herz bis zum Hals. "Bleib weg!", fuhr ich ihn an und wich soweit zurück, wie es möglich war. Hektisch wühlte ich in meinen Taschen nach dem Messer, doch es war nicht mehr dort. "Du bist noch nicht in der Wanne?" Mehr eine Feststellung, als eine Frage. Er war vollkommen ruhig. Meine Drohung interessierte ihn nicht. Bedächtig legte er ein Bündel Stoff auf einer Kiste neben der Badewanne ab. "Das Wasser wird kalt. Geh hinein." "Verschwinde!" Ich warf eine Kerze nach ihm – die einzige Waffe, die ich finden konnte – und er fing sie völlig unbeeindruckt. Wie kann er ..? Er hatte nicht einmal zu mir hergesehen. "Du bist sehr ungezogen", stellte er trocken fest, während er die Kerze abstellte und begann das Wachs von seinen Fingern zu ziehen. Was wollte dieser Kerl? Hatte Sofia mich wegen ihm hierher gebracht? Das ungute Gefühl, das seit Betreten dieses Zimmers in mir geschwelt hatte, war zu einem lodernden Feuer geworden. Ich hatte Angst. Gänzlich unbewaffnet stand ich diesem Mann gegenüber. Weit und breit nichts Brauchbares und nur ein einziger Ausweg, den der Fremde gekonnt abzuschirmen wusste. Er rieb seine Hände gegeneinander, als wollte er sich jeden Moment auf mich stürzen. "Hau doch endlich ab!", schluchzte ich verzweifelt. "Lass mich in Frieden!" "Du wirkst verstört... Ich würde dich ja alleine lassen, aber Sofia meinte, ich solle auf dich Acht geben. Das heißt ich bleibe." "Damit ich nicht wieder verschwinde? Damit ihr eure perversen Spielchen mit mir treiben könnt?" Ich war fest entschlossen das letzte Bisschen Kraft, das noch in mir war, zu meiner Verteidigung aufzubringen. Wer immer diese Menschen waren, sie würden mich in Erinnerung behalten, wenn sie mir zu nahe kommen sollten. "Du bist nicht hier, um unseren perversen Spielchen beizuwohnen", erklärte er absolut sachlich. "Du bist einzig aufgrund deiner Geschichten hier. Sofia mag sie." "Deswegen entführt sie mich?" Seine Erklärung erschien mir an den Haaren herbeigezogen. Niemand holte sich ein verwahrlostes Mädchen von der Straße, um ihre Geschichten zu lesen. "Ich bin sicher, sie hat dir die Wahl gelassen." Hatte sie das? Ich wusste es nicht mehr. Meine Erinnerungen waren verwaschen. Nur ihrer warmen Hand, die mich mitgezogen hatte, war ich mir noch bewusst. "Wenn du nicht in die Wanne möchtest, dann werde ich hineingehen", verkündete er und verschränkte die Arme vor der Brust. Reiß dich zusammen! Je länger er wartend vor mir stand, desto weniger gefährlich kam er mir vor. Es konnte möglich sein, dass er dir Wahrheit sagte. Dass er keine bösen Absichten hegte. Vielleicht. Ich war nicht sicher, ob ich ihm glauben konnte. "Geh hinaus, damit ich mich ausziehen kann", gab ich meinen Entschluss bekannt. Noch immer wanden sich Zweifel durch meinen Kopf, doch wenn er mir etwas hätte tun wollen, dann war ihm bereits genügend Zeit dafür zur Verfügung gestanden. "Das ist nicht nötig." "Das... was?" Das konnte er nicht ernst meinen. "Ich kann dich nicht sehen. Ich bin blind." "Blind?" Ich war perplex. "Du lügst! Du hast die Kerze gefangen." Auf seinen Lippen zeichnete sich ein zartes Schmunzeln ab. "Richtig, aber ich habe sie nicht gesehen. Geh in die Wanne." "Sobald du draußen bist." Ob blind oder nicht, ich würde mich nicht vor ihm entkleiden. Ezra wandte sich kommentarlos von mir ab und ging vor die Tür. Ich war erleichtert, dass ich nicht länger mit ihm diskutieren musste und  beeilte mich, ins Wasser zu kommen. Meine Füße kribbelten in der Wärme. Es dauerte einen Moment, bis meine kalten Gliedmaßen sich daran gewöhnten und mein Arm nicht mehr brannte, doch dann war es wundervoll. Ich versank bis zum Hals und ließ mich fallen. Der Duft war hypnotisierend. Seine feinen Noten beruhigten meine aufgewühlten Gedanken. Er legte sich über mich, wie eine warme Decke, schützend und weich. Mein Körper wurde mit jeder Minute schwerer, mein Geist federleicht. Hier wollte ich bleiben. Für immer im warmen Wasser. Es störte mich nicht, dass die Brust mir enger wurde, je länger ich blieb. In meinem Kopf war Stille, kein quälender Gedanke war mehr übrig, nur ein leises Rauschen in meinen Ohren. Selbst meinen eigenen Atem hörte ich nicht mehr. Atem... Ich atmete nicht. Hastig wurde ich zurück an die Oberfläche gezogen. Meine Lungen füllten sich mit Luft, als mein hektisches Herz mich wieder zur Besinnung brachte. Über mir thronte ein bekanntes Gesicht. Ein ernster Ausdruck mit trüben Augen. Seine Hand in meinem Nacken, die mich hochhielt. "Das war gefährlich, Mädchen." Das musste er mir nicht sagen. Ein Ruck ging durch meinen Körper, als ich die Situation erfasste. Ezra erhielt einen festen Schlag und ließ mich los. Ich fiel zurück ins Wasser und richtete mich selbst wieder auf. "Sieh mich nicht an!", schimpfte ich. Ezra war aufgestanden. Er schnaubte herablassend. "Natürlich." Ich wandte ihm den Rücken zu und schlag meine Arme fest um meine angezogenen Beine. Ich bereute ein wenig, dass ich ihn geschlagen hatte, obwohl er mir nur geholfen hatte. "Entschuldige..." Er schwieg. Vorsichtig drehte ich mich zu ihm, um zu sehen warum er so still war. Ezra stand ruhig am Waschbecken. Seine hellen Haare schimmerten im Kerzenlicht und soweit ich es erkennen konnte, sah er nicht wütend aus. Seine Körpersprache war entspannt, kein Zeichen von Zorn. "Ab morgen wird sich Magdalena um dich kümmern", teilte er mit seiner ihm eigenen Sachlichkeit mit. "Sie ist leider heute schon zu Bett, daher musst du mit mir Vorlieb nehmen." "Magdalena?" "Du wirst sie kennenlernen. Komm jetzt raus, Sofia erwartet dich in ihrem Zimmer." Ich rührte mich nicht, bis Ezra sich umdrehte. Schnell griff ich nach der Seife, die neben der Wanne lag. Es war Wochen her, dass ich mich so gründlich gewaschen hatte. Ezra wartete geduldig, bis ich fertig war. Die Kleidung, die er mir gebracht hatte, passte überraschend gut. Die weiße Bluse war um meine Brust herum etwas zu weit, doch der tiefrote Rock saß wie angegossen. "Bist du fertig?" "Ja, sofort." Schnell schlüpfte ich in die warmen Strümpfe. Ezra ging vor mir her, als wir das Badezimmer verließen. Ich versuchte etwas Unsicheres in seinen Bewegungen zu finden, etwas, das mir bestätigen würde, dass er blind war, doch er setzte seine Schritte gerade voreinander, ohne den kleinsten Schlenker, ohne sich mit den Händen an den Wänden zu orientieren. Er konnte unmöglich blind sein, so wie er sich bewegte. Stolz, unbeirrt und bei Weitem sicherer als es mir selbst möglich war. Er öffnete mir eine Türe und bat mich einzutreten. "Sofia wird gleich bei dir sein." Ich ging hinein. Das Zimmer war groß. Dicke Vorhänge hingen an den Fenstern, neben dem Bett standen Kerzen. Zwei Sessel mit einem edlen Kaffeetisch. Darauf zwei Flaschen und Gläser. "Setz dich." Sofia hatte das Zimmer betreten und kam freundlich lächelnd auf mich zu. Wir nahmen Platz. "Möchtest du etwas trinken? Wein? Wodka?" Ich betrachtete die beiden Flaschen, die vor mir standen. Noch ehe ich ablehnen konnte, öffnete sie die Flasche mit der klaren Flüssigkeit und goss vier kleine Gläser ein. "Ich möchte eigentlich nichts." Sie schob mir unbeirrt zwei Gläser zu. "Und ich denke, du möchtest doch etwas", entgegnete sie. "Eines zum Desinfizieren, eines zum Beruhigen." Ich sah sie fragend an. Sofia genehmigte sich eines ihrer beiden Gläser, dann nahm sie meines und kippte es über meinen Arm, noch ehe ich reagieren konnte. Es brannte teuflisch und ich fluchte laut. Sie lachte und hob ihr zweites Glas. "Na sdorowje! Prost." Ich stieß mit ihr an und kippte das Glas hinunter, wie sie es mir gezeigt hatte. Es schmeckte abscheulich. Schlimmer als der Wein, den ich gestern getrunken hatte. Sofia lächelte milde. Sie öffnete eine kleine Kiste, die neben ihr auf dem Tisch stand und nahm Verbandszeug heraus, um meinen Arm zu versorgen. "Ezra meinte, du wolltest dich ertränken." Sie legte geschickt einen Verband um mein Handgelenk. "Das war ein Unfall." "Offensichtlich." Sie schnürte den Verband und richtete ihre Blicke wieder in mein Gesicht, bevor sie fortfuhr: "Wir werden weniger Mohn in dein nächstes Bad geben." Mohn? Ich nickte, ohne zu wissen, wovon sie sprach. Sofia lehnte sich entspannt zurück. Sie entzündete ein Streichholz und steckte sich eine dünne Zigarre an. Ich beobachtete sie gebannt. Jetzt, da sie vor mir saß, wirkte sie nicht mehr so groß. Sie war nicht größer als ich selbst, eher kleiner. Es war mir vorher nicht aufgefallen, doch sie musste verblüffend hohe Schuhe getragen haben. Dennoch strahlte sie etwas Mächtiges aus, wie sie ruhig in ihrem Sessel saß und an ihrer Zigarre zog, als könnte nichts und niemand ihr etwas anhaben. Sie wirkte nicht mehr jung, doch ich konnte keine einzige Falte erkennen. Ein feines Gesicht, umrahmt von rotem Haar, das in weichen Wellen auf ihre Schultern fiel. Ihre Augen waren stechend, als sie die meinen ertappten. "Genug gegafft!", wies sie mich zurecht. Ich wandte meine Blicke sofort von ihr ab und starrte auf meinen Schoß. "Ich möchte gerne wissen, warum du blutüberströmt in einer dreckigen Gasse gesessen hast und dich umbringen wolltest." Nervös verschränkte ich meine Finger ineinander. Ich konnte ihr nicht sagen, was ich getan hatte. "Möchtest du nicht sprechen?" Ich schüttelte den Kopf. "Megan, ich muss wissen wen ich zu mir nehme. Sag es mir." Sie sprach ruhig, fast mütterlich. Sicher würde sie mich fortschicken, wenn ich es ihr sagte, doch sie würde es ohnehin bald erfahren. "Ich..." Leise überwand ich mich. "Ich tötete den Schuster." Sofia blieb still. Ich wagte es nicht, sie anzusehen. Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, ich schluckte ein Schluchzen hinunter, doch meine Fassung ließ sich nicht lange aufrecht erhalten. Die ausgesprochenen Worte zogen mir den Boden unter den Füßen hinfort. "Es tut mir schrecklich Leid!" Ich heulte. "Ich wollte das nicht, ich hatte solche Angst und ich... ich habe einen schlimmen Fehler begangen. Bitte... ich wusste nicht was ich-" "Hat er dich so zugerichtet?" Sie unterbrach mich und beugte sich herüber.  Sie legte ihre Finger sanft an meine Wange. "Du musst dich nicht entschuldigen. Wenn er dir etwas Böses wollte, dann hattest du jedes Recht dazu. Mach dir keine Gedanken." "Aber..." Sie lächelte und ließ mich nicht ausreden. "Hätte er dich nicht angefasst, wäre er noch am Leben. Er ist selbst Schuld." Noch immer liefen Tränen über mein Gesicht. Ich konnte sie nicht bremsen. "Und jetzt beruhige dich wieder. Du hast nichts Falsches getan." Sofia lehnte sich  zurück und fuhr fort, als wäre es eine Lappalie. "Du willst doch sicher wissen, weshalb du hier bist, nicht?" Ich wischte die Tränen von meiner Haut, sammelte mich und nickte. Sie wartete, bis ich ruhiger wurde, bevor sie mir ihre Pläne eröffnete: "Ich möchte deine Geschichten vermarkten. Sie sind anders als die Geschichten, die ich bisher gelesen habe und ich denke sie würden sich gut verkaufen lassen. Allerdings bin ich nur noch bis morgen Abend in der Stadt, danach werde ich abreisen. Ich möchte zurück in meine Heimat. Es gibt dort einige Angelegenheiten zu klären und ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest." "Fort von hier?" "Es wird eine lange Reise, aber ich werde sie dir natürlich bezahlen. Ich fahre mit Ezra und Magdalena nach Pierre. Dort steht mein Haus." "South Dakota?" "Ja. Es liegt abseits der Stadt, aber ich habe genügend Platz für dich. Du kannst dort zur Ruhe kommen und dich wieder der Schriftstellerei widmen. Ich bin sicher, wir können zusammen gutes Geld verdienen." Sie sah mich fragend an. Ich war nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Es klang wie ein Traum. "Würdest du mit mir kommen?" 009 – Eineinhalbtausend Meilen ------------------------------   "Miss Paine?" Leise drangen die Worte an mein Ohr. Dumpf, wie durch eine Decke. "Miss Paine, Sie sollten allmählich aufwachen." Aufwachen? Ich wusste nicht, wo ich war. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und fand mich in einem fremden Bett wieder. Die Laken waren durchwühlt. Ich zog den weichen Stoff von meinem Gesicht, um sehen zu können, wer mich geweckt hatte. Eine Frau von schmaler Gestalt stand an der Türe. Sie trug ihre dunklen Haare in einem Dutt, lächelte, als sich unsere Blicke trafen und verschwand, um kurz darauf  mit einem gut gefüllten Tablett wieder aufzutauchen. Ich beobachtete, wie sie es neben meinem Bett abstellte. "Guten Morgen." Ich riss meine Stimmbänder aus ihrem Schlaf. "Es ist bereits Nachmittag", korrigierte sie mich. "Das ist aber nicht weiter schlimm, wir haben noch genügend Zeit." "Zeit?" Ich richtete mich auf. "Wofür?" "Wissen Sie es nicht mehr? Wir reisen ab." Ich überlegte. South Dakota! "Ich bin übrigens Magdalena. Freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen." "Megan." Sie nickte wissend und lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Speisen. "Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit zu Essen mitgebracht. Hier..." Sie hob es herüber auf meinen Schoß. "Bedienen Sie sich." Vor mir tat sich ein Wunderland auf. Milch, Saft, Brot, Butter und drei verschiedene Marmeladen neben einigen Früchten, deren Namen ich  nicht einmal alle kannte. "Ich wusste nicht was Sie mögen, daher habe ich von allem etwas mitgebracht." Es war überwältigend. Am liebsten hätte ich alles zugleich verschlungen, dennoch ermahnte ich mich, die Leckereien sittlich zu verspeisen. Magdalena sollte kein falsches Bild von mir erhalten. Sie zog die Vorhänge zurück und ließ frische Luft in mein Zimmer, während ich aß. "Wie bin ich hierher gekommen?" "Sie meinen, in dieses Zimmer?" Ich nickte. Meine Erinnerungen endeten in Sofias Zimmer. Ich konnte mich nicht entsinnen, ihr Zimmer verlassen zu haben und dieser Raum war gewiss ein anderer. "Ich gehe davon aus, dass Ezra Sie herbrachte. Sie sind letzte Nacht zusammengebrochen. Es war wohl alles etwas viel." "Oh... das tut mir leid." "Das muss es nicht." Sie strahlte mich selig an. "Ezra ist stark genug und Sie sind nicht sehr schwer. Er wird sich schon nicht verhoben haben." Es war mir unangenehm, doch konnte ich es jetzt nicht mehr ändern. Magdalena nahm an der Kante meines Bettes Platz. Sie trug einige dünne Falten im Gesicht. Vom vielen Lachen, wie mir schien. "Wie geht es Ihnen?" Sie sah mich prüfend an. "Ganz... in Ordnung, denke ich." "Das ist gut." Magdalena betrachtete das Tablett, auf dem noch reichlich zu Essen übrig war. "Sind Sie satt?" Ich war satt, obwohl ich nicht viel gegessen hatte, doch mein Magen wollte nicht mehr aufnehmen. "Ja, danke." "Sehr gerne." Sie nahm mir das Tablett vom Schoß und erhob sich. "Wir brechen in etwa drei Stunden auf, bis dahin können Sie sich etwas ausruhen. Ich komme später noch einmal vorbei, um Sie abzuholen." Magdalena verabschiedete sich und ging hinaus. Es war kein Traum gewesen. Ich würde mit Sofia, Ezra und Magdalena nach Pierre gehen. Es mussten mindestens tausend Meilen sein, wenn nicht mehr. Endlich konnte ich fort. Weit weg nach Nordosten, in einen anderen Staat und in ein anderes Leben. Ich würde es wohl erst gänzlich glauben können, wenn ich dort war. Auch die Beklemmung würde sich hoffentlich gelegt haben, bis wir ankamen. Es war merkwürdig, diese Fremden zu begleiten, trotzdem wollte ich vergessen was hinter mir lag und das war hier gewiss nicht möglich. Also musste ich die Chance ergreifen, die Sofia mir geben wollte. Ich stieg aus dem Bett und durchquerte mein Zimmer, um das Fenster zu schließen. Die Straßen dort draußen waren mir wohl bekannt. Schon oft war ich hier gewesen, um Spenden zu sammeln. Mit Christina, der Frau, die mich hintergangen hatte und inzwischen nicht einmal mehr zu erkennen schien. Ich schloss die Augen vor der Stadt, die so voller Erinnerungen steckte und dennoch spukten die Bilder weiter in mir umher. Unfähig, sie aus meinen Gedanken zu verbannen, nahm ich das frische Bündel Kleidung und ging ins Badezimmer. Ich musste mich ablenken und außer der Morgentoilette fiel mir nichts ein. Ein schweres Seufzen befreite sich aus meinen Lungen, als die Türe hinter mir ins Schloss fiel. Es war Zeit, den Schweiß der vergangenen Nacht abzuwaschen. Vielleicht ließen sich mit ihm auch ein paar der dunklen Tage hinfortspülen. Ich bezweifelte es. Und noch mehr zweifelte ich daran, es jemals vergessen zu können, als ich in den Spiegel blickte. Was mich ansah, war erschreckend. Mein linkes Auge war blutunterlaufen, darunter ein violett-blauer Schatten. Die Lippe zierte ein dickes Grind und selbst mein Hals trug dunkle Flecken. Es war mir schon während des Essens aufgefallen. Das Schlucken schmerzte, dennoch hatte ich nicht erwartet, in ein derart misshandeltes Gesicht zu blicken. Ich kehrte dem Spiegel meinen Rücken zu. Mein eigener Anblick wollte mir Tränen in die Augen treiben. Ich weigerte mich und begann meine Visage zu waschen. Allen Schmerzen zum Trotz rieb ich fest über meine Haut. Es fühlte sich gut an, denn es lenkte mich ab. Für den Moment war es alles, was ich fühlte. Ich verbrachte eine ganze Weile im Badezimmer, bevor ich mit wundgescheuertem Gesicht, aber frisch angezogen, zurück in mein Zimmer ging. Bis zum Abend rührte ich mich nicht mehr aus meinem Bett und versuchte mich mit den Mustern auf meiner Bettdecke abzulenken. Sehnsüchtig erwartete ich Magdalenas Rückkehr, dass sie mich abholte. Immer wieder blickte ich auf die Zeiger der Uhr, die auf meinem Nachttisch stand. Sie schienen sich keinen Millimeter bewegen zu wollen. Es dauerte ewig, bis sich draußen auf dem Flur etwas rührte. Ich sprang vom Bett, als Magdalena die Türe um kurz nach achtzehn Uhr öffnete. "Sind Sie fertig?" "Ja. Mehr als das." "Gut, dann folgen Sie mir. Die anderen sind schon unten." Wir gingen hinunter auf die Straße. Sofia war eben in eine kleine Kutsche gestiegen und winkte mich herein. Mein Herz trommelte wie verrückt, als ich auf die schmale Trittstufe stieg. Es war ein wenig wie damals, als mein Vater mich zum ersten Mal hatte reiten lassen, nur war ich an diesem Tag fröhlicher gewesen. Ich klammerte mich fest an das Holz der Kutsche, als der Kutscher die Pferde antrieb und die Räder unseres Gefährts geräuschvoll über das Pflaster holperten. Mir wurde schlecht, aber es lag nicht an der unruhigen Fahrt. Bitte, entspann dich. Alles wird gut. Sofia unterhielt sich mit Magdalena über Belanglosigkeiten und Ezra saß mir schweigend gegenüber. Er wirkte, als würde er mir fest in die Augen sehen. Wahrscheinlich tat er das nicht. Ich war noch immer nicht sicher, ob er blind war. "Du starrst mich an, oder?" Ich schreckte hoch, als er mich ansprach. "N-nein, ich wunderte mich nur." Sofia mischte sich mit einem fröhlichen Lachen ein. "Das tun sie alle. Selbst ich. Und das obwohl ich genau weiß, dass er blind ist." "Ich spüre es", erklärte er trocken. Den Rest des Weges heftete ich meine Blicke nicht mehr auf ihn. Einfach war es nicht, denn er hatte seine Augen nach wie vor auf mich gerichtet  und ich fühlte mich beobachtet, selbst wenn er mich nicht sehen konnte. Als wir den Bahnhof von Sacramento erreichten, war ich erleichtert, aus seinem Blickfeld verschwinden zu können. Um uns herum standen kleine Menschengruppen, die sich untereinander verabschiedeten. Ich vermutete, dass es Kinder waren, die erwachsen geworden waren und auf der Suche nach ihrem Glück ihre Familien verlassen mussten. Mir fiel der Abschied deutlich leichter. Ich würde diese Stadt nicht vermissen. Nichts und niemanden und ich würde nie wieder hierher zurückkommen, das schwor ich mir. "Hier, können Sie ihn tragen?" Magdalena reichte mir einen Koffer weiter. "Sicher doch." Trotz der enormen Mengen an Gepäck, war die Kutsche schnell entladen. Sofia hatte es eilig und ich war nicht sicher, woran es lag. Auch Ezra wirkte unruhig. "Wir müssen gehen." Sofia drängte mich zum Zug und ich riss meine Blicke von den Pferden los, die geduldig vor der Kutsche warteten, dass es weiterging. Schöne Tiere waren es. Auch der Zug machte einen geduldigen Eindruck. Er sah nicht aus, als wollte er in den nächsten Minuten den Bahnhof verlassen, trotzdem trieb Sofia mich zur Eile an. Ich fragte nicht weiter und sputete mich, in den Wagon zu steigen, Magdalena dicht hinter mir. "Geh schon!" "Was ist denn?" Ich sah mich fragend nach ihr um und erkannte hinter ihrem Rücken den Grund für unsere Hast. Sofia stand draußen, sie sprach mit zwei uniformierten Männern. Polizisten. Mir wurde heiß, als ich rasch weiter den schmalen Gang entlangstolperte. "Wir müssen weiter nach vorne. Nummer neun." Magdalena wusste offenbar, was die Männer wollten und ich wusste es auch. Sie wollten mich. "Hier ist es!" Sie riss die Türe auf und schob mich hinein. Noch ehe ich saß, hatte sie die Vorhänge zugezogen. Als sie auf dem Sitz mir gegenüber Platz nahm, lächelte sie zufrieden. Sie sah nicht mehr nervös aus und dafür war ich es umso mehr. Die Polizisten würden mich holen kommen. Ich war sicher, dass sie jeden Moment durch die Türe des Abteils platzen würden, um mich abzuführen. Nach allem, was ich erlebt hatte, wusste ich, wie schnell ein Traum zerplatzen konnte. Es war leicht, von den Füßen geholt zu werden und jetzt, da ich versuchte aufzustehen, wollten sie mich erneut zu Fall bringen. Ich wusste um meine Anfälligkeit für derartige Rückschläge. Warum sollte es diesmal anders sein? "Miss Paine?" Magdalenas Gesicht trug tiefe Sorgenfalten, als sie mich aus meinen Gedanken holte. "Sie müssen keine Angst haben." Gerne wollte ich ihr Glauben schenken, doch bevor wir die Stadt nicht verlassen hatten, würde ich mich nicht entspannen können. Ich verknotete meine Finger fest ineinander, während ich darauf wartete, dass etwas geschah. Es blieb still. Magdalena hatte eine Zeitung aus ihrer Tasche gezogen und las gemütlich darin, als gäbe es nicht das kleinste Problem. Wie konnte sie so ruhig sein? Ich sinnierte darüber, wieso ihr keinerlei Aufregung anzumerken war, als die Türe des Abteils sich öffnete und mir ein spitzer Schrei entfuhr. Sofia sah mich verblüfft an, als ich mir die Hände vor den Mund schlug, um den kurzen Aufschrei irgendwie zurückzunehmen. "Du wirkst etwas fahrig." "Entschuldigung." Sie schmunzelte. "Nicht doch. Es war nur eine Feststellung." Ich scheute mich, nach den Polizisten zu fragen. Eine Antwort hätte mich in gleichem Maße beruhigen, wie auch zerstören können und dazu konnte ich mich nicht überwinden. Ich räusperte mich. "Kommt Ezra nicht?" Sofia steckte ihre Streichhölzer weg und zog an ihrer Zigarre. "Oh doch. Er räumt nur eben die letzten Koffer weg." Sie überlegte einen Augenblick. "Vielleicht wird er sich dann auch zu Bett begeben. Wir werden sehen." Da war es wieder, Sofias unbekümmertes Lächeln. Es war so unschuldig und schwerelos, wie ich selten ein Lächeln gesehen hatte. Selbst das Lächeln eines Kindes erschien gekünstelt dagegen. Gerne wäre ich ebenso entspannt gewesen, doch das war absolut unmöglich, egal wie lange ich versuchte, mich von Sofias Lächeln inspirieren zu lassen. Erst als die Türe sich erneut öffnete, wich ihr das Lächeln für den Bruchteil einer Sekunde von den Lippen. Ehe ich sehen konnte, wer dort stand, war Sofia auf den Beinen und versperrte mir die Sicht. Meine Blicke schnellten über ihren Rücken nach oben und ich erkannte, dass es Ezra war. Sofia stand nah bei ihm, einen Arm um seinen Hals gelegt. Sie küsste ihn. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit sofort auf Magdalena, die unbeeindruckt weiter in ihrer Zeitung las. Ich hatte nicht erwartet, dass Sofia das tun würde. In der Öffentlichkeit. Das gehörte sich nicht. Besonders nicht für eine Dame. Es war befremdlich. "Jetzt kann es losgehen!", verkündete Sofia, als sie wieder auf ihrem Platz saß. Ich riskierte einen Blick. Ezra hatte sich neben mich gesetzt. Er hielt Sofias Zigarre in der Hand und war verschwiegen wie zuvor. Sofia war voll freudiger Erwartung. Sie war vergnügt. Wahrscheinlich freute sie sich auf ihr Zuhause. Ich überwand mich, eine kurze Frage zu stellen, da keiner der Dreien in geringster Weise besorgt aussah. "Die Polizisten?" Sofia hob ihre Brauen. "Die Polizisten? Gute Frage... Ezra?" "Erledigt." "So habe ich mir das vorgestellt!" Sie war offensichtlich entzückt. "Aber wie?" Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sie einfach so hatte abwimmeln können. Sofia winkte ab. "Lass das mal Ezras Sorge sein. Er weiß schon was er tut, nicht?" "Sicher." Er zog noch einmal an der Zigarre und hielt sie schließlich in die Mitte des Abteils, wo Sofia sie ihm abnahm. "Besten Dank." Ich hatte keine Zeit, noch ein weiteres Mal nachzufragen. Der Zug setzte sich in Bewegung und Sofia wechselte das Thema so schnell, dass ich beschloss, besser still zu sein. "Magdalena, gibt es Neuigkeiten?" Magdalena nahm die Lesebrille von ihrer Nase. "Nein, nichts Interessantes. Eine abgebrannte Scheune, zwei Tote und noch immer die verschwundenen Mädchen." Sofia seufzte. "Tragisch." "Ja, sehr." Magdalena schob die Brille zurück auf ihre Nase und widmete sich wieder der Zeitung, während Sofia ebenfalls etwas zu Lesen aus ihrer Handtasche kramte. Ich kannte diese Werke. Es waren meine.  Fasziniert beobachtete ich, wie sie einen ganzen Stapel davon auf ihrem Schoß drapierte. Ich war sicher, dass ich ihr nur eines verkauft hatte. Sie schmunzelte, als sie meine entgeisterten Blicke bemerkte. "Dachtest du, ich begnüge mich mit einem einzigen?" "Woher kommen die?" "Ich habe sie ein paar Leuten abgekauft." Es verschlug mir die Sprache. "Wir sind knappe dreieinhalb Tage unterwegs, da benötige ich doch etwas zu Lesen." "Ich bin nur ein wenig überrascht." Sie lachte und schlug die erste Heftung auf.   Stundenlang rührte ich mich nicht mehr. Magdalena hing schlafend auf ihrem Sitzplatz. Auch Ezra hatte sich zurückgezogen, nur Sofia saß noch immer hellwach über den Geschichten. Meine Lider waren schwer geworden und immer häufiger sackte mir der Kopf nach unten. "Du solltest schlafen gehen, Megan." Sofia verstaute ihre Taschenuhr in der Manteltasche. "Es ist bald vier Uhr." Sie weckte Magdalena und trug ihr auf, mich zu begleiten. "Gute Nacht", verabschiedete sich Sofia, als Magdalena und ich das Abteil verließen, um uns hinzulegen. Unser Quartier war nicht groß, aber es bot genügend Platz für uns beide. Ich war froh, dass ich nicht bei Sofia nächtigen musste. Auf eine mir unerklärliche Weise vermochte sie mich einzuschüchtern, ohne dass sie etwas tat, was das begründen würde. Sie war schlicht zu perfekt. "Schlafen Sie schön, Miss Paine." "Sie auch, Misses..." Ich war nicht sicher, ob sie verheiratet war. "Miss?" "Sagen Sie einfach Magdalena." Meine Verwirrung amüsierte sie. "Ist gut." Ich beobachtete, wie sie die Lichter löschte und sich ebenfalls in ihr Bett begab. "Wäre es in Ordnung, wenn ich auch nur Megan bin?" "Mögen Sie Miss Paine nicht?" "Nein, nicht besonders." "Dann ist es in Ordnung." "Danke." Es beruhigte mich. Megan war mir bei Weitem lieber, es klang weniger nach Ärger und außerdem widerstrebte es mir, dass eine Frau, die mindestens doppelt so alt war wie ich, mich bei meinem Nachnamen nannte. Jetzt war es geklärt und ich konnte mich der Nachtruhe widmen. Das Einschlafen gestaltete sich jedoch schwieriger, als ich es vermutet hatte. Obwohl ich todmüde war, ließen mich die Vibrationen des Zuges kaum zur Ruhe kommen. Magdalena hatte damit offenbar keine Probleme, ihre Atmung ging von Zeit zu Zeit sehr tief und kratzig. Sie schnarchte etwas. Erst als der Zug für einen weiteren Zwischenstopp zum Stehen kam, gelang es mir, die ersehnte Erholung zu finden. Es war kein ruhiger Schlaf. Ich war nicht einmal sicher, ob ich überhaupt geschlafen hatte, als ich die Augen wieder aufschlug. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, musste ich geschlafen haben. Sie stand hoch am Himmel und beschien die menschenleere Wildnis draußen vor dem Fenster. "Magdalena?" Sie antwortete nicht. Ihr Bett war leer. Ich zog mich eilig an, um zurück zu Abteil Nummer neun zu gehen. Ich hoffte, dass sie dort war. Einen anderen Ort zum Suchen wusste ich nicht. Meinen Weg durch die Wagons bahnte ich mir zwischen einigen anderen Passagieren hindurch. Es war zuweilen erdrückend eng und ich war froh, als ich mein Ziel erreichte, doch das kleine Abteil war verlassen. Ich beschloss zu warten. Sie würden irgendwann auftauchen, ich musste nur geduldig sein. Während ich wartete, fiel mir auf, dass das Reisen tagsüber deutlich angenehmer war. Man sah etwas, wenn man aus dem Fenster blickte, selbst wenn es nicht viel war. Bäume und Sträucher auf kargem Boden und nach vielen trüben Tagen, endlich ein paar Sonnenstrahlen. Ich lehnte mich zurück und ließ sie mir ins Gesicht scheinen. Das hatte ich vermisst. Ich bedauerte es jedes Jahr, wenn der Sommer zu Ende ging und die Sonnenstunden weniger wurden. Im Winter waren sie kostbar, im Sommer zuweilen schädlich. "Hier bist du!" Magdalena hatte die Türe aufgeschoben. "Ich hatte mich schon gesorgt." "Verzeihung." Sie winkte ab. "Ist gut. Kommst du mit in den Speisewagon? Wir sollten eine Kleinigkeit essen." "Sehr gerne!" Schon die halbe Nacht hindurch hatte mein Magen geknurrt. Es war höchste Zeit, ihn zur Ruhe zu bringen und dem Geruch nach erwartete uns eine wunderbare Mahlzeit. "Wo sind Sofia und Ezra?", fragte ich, nachdem wir uns samt gefüllter Teller niedergelassen hatten. "In ihrem Schlafabteil. Ezra meinte, Sofia hätte bis zum Morgengrauen gelesen. Sie schläft noch und er leistet ihr Gesellschaft." "Beim Schlafen?" "Gewiss. Er liegt lieber wach neben der schlafenden Sofia, als sich womöglich mit uns unterhalten zu müssen. Er mag es gerne etwas ruhiger." "Verstehe." Ich widmete mich meinen Kartoffeln. "Er ist mir unheimlich." "Ja?" Magdalena blickte verwundert von ihrem Teller auf. "Er ist wohl ein wenig eigenwillig, aber das muss dich nicht kümmern. Ich bin nicht einmal sicher, ob ihr beiden euch noch all zu oft begegnen werdet." "Wohnt er nicht bei Sofia?" "Doch, das schon, aber tagsüber ist er meist in Pierre und ich denke nicht, dass er abends bei dir vorbeikommen wird, um eine gute Nacht zu wünschen." "Wohl nicht." Die Vorstellung erheiterte mich. Magdalena war eine wunderbare Reisebegleitung. Sie verstand es, mich mit Leichtigkeit auf andere Gedanken zu bringen. Ich war ihr sehr dankbar, dass sie sich beinahe pausenlos mit mir über Banalitäten unterhielt. Wetter, Flora und Fauna unseres Zielortes, Geschichte und aktuelle Geschehnisse. Am Abend wusste ich, dass die momentanen Temperaturen in South Dakota mich mit großer Gewissheit augenblicklich schockgefrieren würden. Magdalena versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich mich schnell daran gewöhnen würde. Ich war allerdings nicht wirklich überzeugt, also wechselte sie das Thema und fuhr unbeirrt fort, uns die Zeit zu vertreiben. Wir hielten gegen einundzwanzig Uhr für einige Minuten in Salt Lake City und sie erzählte mir, wie es 1847 gegründet worden war. Es war beeindruckend, wie viel sie wusste. Kaum ein Ort, zu dem sie nichts erzählen konnte. Wir saßen bis tief in die Nacht in unserem Abteil. Von Sofia und Ezra weit und breit keine Spur. Ich vermisste sie nicht. Es war angenehmer ohne die beiden. Auch die beiden nächsten Tage verbrachten Magdalena und ich alleine. Dank ihr verflog die Zeit schier unbemerkt. Erst am späten Nachmittag unseres letzten Reisetages, nach unserem Umstieg in Minneapolis, gesellte sich Sofia wieder zu uns. "Wie ich sehe, geht es euch beiden gut." Sie setzte sich neben mich. "Das ist fabelhaft." "Selbstverständlich", bestätigte Magdalena diese Annahme. "Ich hatte nichts anderes erwartet", gestand Sofia und blickte sinnierend aus dem Fenster. "Ich hoffe, dass es Isaak und Yasha ebenso gut ergangen ist." Noch mehr Leute. Ich fragte mich, wer die beiden waren, um die Sofia sich sorgte. Ob sie Kinder hatte? Vielleicht waren es ihre Söhne. "Wohnen sie auch bei Ihnen?" "Momentan nicht, aber ich werde sie morgen abholen. Sie sind nicht gerne lange alleine, deswegen bringe ich sie zu Freunden nach Pierre. Sie kümmern sich gerne um meine beiden Wilden." "Wilde?" Sie lachte. "Sie sind unerzogen. Ich bin zu oft fort. Aber sie werden dich mögen, da bin ich sicher." Ich war erleichtert, dass sie das sagte. Es genügte, dass Ezra mich offenbar nicht besonders gut leiden konnte. Ich musste mir Mühe geben, dass die beiden mich gern haben würden. Vielleicht konnte ich mich sogar mit ihnen anfreunden. Ich war in jedem Fall neugierig, um wen es sich handeln mochte. "Wenn du noch etwas schlafen möchtest, solltest du das jetzt tun", empfahl Sofia. "Wir werden Pierre heute Nacht zwischen vier und fünf Uhr erreichen, danach sind wir noch eine Stunde unterwegs, bis wir mein Haus erreichen. Vor sechs Uhr wirst du nicht mehr ins Bett kommen." Ich folgte ihrem Ratschlag und verabschiedete mich für die nächsten Stunden. Das Ruckeln und Pfeifen des Zuges war inzwischen weit in den Hintergrund getreten. Nur noch ein leises Randgeräusch. Ich wiederholte die Geschichten, die Magdalena mir erzählt hatte, während ich einschlief. Sie halfen mir beim Verdrängen.   Wie Sofia gesagt hatte, rollten wir um kurz vor halb fünf in den Bahnhof von Pierre. Magdalena hatte mich rechtzeitig geweckt und mir einen dicken Mantel gegeben. Noch bevor ich ausgestiegen war, merkte ich, dass er zu dünn für mich war. Eisiger Wind peitschte in den Zug. Das Atmen fiel mir schlagartig schwer. Mein ganzer Körper zitterte und ich vergrub mich so tief in meinen Mantel, wie es mir möglich war. Nicht einmal sprechen konnte ich, ohne dass meine Zähne klapperten. "Alles in Ordnung, Megan?" "K-k-kalt." "Findest du? Nun, vielleicht fünf Grad unter Null... Celsius. Das sind Dreiundzwanzig Grad Fahrenheit." "N-n-nur?" Es war das erste Mal, dass ich solch kalte Temperaturen ertragen musste. In Sacramento war das Thermometer nie unter Dreißig Grad Fahrenheit gefallen und ich hätte schwören können, dass es hier mindestens minus fünf Grad Fahrenheit sein mussten, nicht Celsius. Laut Magdalenas Berichten war diese Temperatur hier keine Seltenheit. "Es ist sogar erstaunlich warm für diese Jahreszeit. Gewöhnlich ist es nachts deutlich kälter." Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich mich hier eines Tages auch nur ansatzweise wohlfühlen konnte. Zumindest war ich sicher, dass man hier auch sehr leicht sterben konnte, ohne all zu viel dafür zu tun. Ich fühlte mich schon jetzt halb tot und das, obwohl wir nur wenige Minuten unterwegs waren. Der Weg zu Sofias Haus zog sich endlos hin und auch Magdalena fror. Sie sprach die gesamte Fahrt über kein Wort und versteckte sich hinter einem dicken Schal. Selbst Ezra wirkte ungewohnt angespannt, zumindest bildete ich es mir ein. Sofia dagegen war das blühende Leben. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen. Ich fragte mich, wie sie es machte. In jedem Fall war es schön anzusehen. Die Kutsche hielt an, als ich meine Zehen längst verloren hatte. Ich spürte sie nicht mehr. Sofia sprang eilig hinaus. "Endlich zu Hause!" Sie ging zum Kutscher und händigte ihm seine Bezahlung aus, während Ezra und Magdalena die Koffer abluden. Der Wind blies beißend durch meine Haare und wehte sie mir ins Gesicht, als die Kutsche davonfuhr. Ich drehte mich, um wieder etwas sehen zu können. Bis zum Haus waren es noch einige Meter und der Mond erhellte uns den gepflasterten Weg, unter einem metallenen Torbogen hindurch. Vor uns erhob sich ein Gebäude von verblüffender Größe. Es erinnerte mich an das Hotel, in dem wir gewesen waren. Ein halbes Dutzend Stufen führten mich hinauf zur Eingangstüre. Sofia öffnete sie und entzündete eine Öllampe, nachdem sie eingetreten war. "Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen Heim." Bescheiden war das falsche Wort. Es war prachtvoll. Schon der Eingangsbereich ließ mich die Kälte vergessen. Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Das Licht der Lampe flackerte in glänzenden Ornamenten, die sich wie Ranken über mir zu einem Bogen verbanden. Sofia schenkte mir ein zufriedenes Lächeln, bevor sie sich daran machte, weitere Lampen zu entzünden. Elektrizität gab es hier offensichtlich noch nicht. Ich mochte echtes Licht ohnehin viel lieber und ein lebendiges Feuer passte auch deutlich besser zu diesem Haus, als eine starre Glühbirne. Magdalena begleitete mich in das Gästezimmer, welches sich im oberen Stock befand. Ich stolperte, als wir die glatte Steintreppe hinaufgingen und hielt mich gerade noch am Geländer fest. "Alles in Ordnung?" "Ja, ich konnte nur meine Augen nicht von den Wänden lösen." Magdalena schmunzelte. "Es ist anders, als die Häuser, die man sonst sieht. Fjodor Schechtel hat es nach Sofias Vorstellungen entworfen." "Wer, bitte?" "Ein russischer Architekt. Ist nicht weiter wichtig. Hier ist dein Zimmer." Sie öffnete mir eine mit Schnitzereien verzierte Türe, direkt neben der gewundenen Treppe und ließ mich eintreten. Dahinter verbarg sich ein fantasievoll eingerichtetes Zimmer mit eleganten Möbeln. Allesamt fügten sie sich zu einem harmonischen Gesamtbild aus geschwungenen Formen. Ich wollte unbedingt wach bleiben, bis es hell wurde, um es mir genauer ansehen zu können, doch der Schlaf überrollte mich, kaum dass ich ins Bett gestiegen war. Ich gab die Schuld der warmen Bettflasche, die Magdalena mir gebracht hatte.  010 – Kaminfeuer ---------------- Zum ersten Mal, seit dem Zwischenfall in der Schusterei, träumte ich in dieser Nacht von etwas anderem. Als ich erwachte, waren es nur noch flüchtige Erinnerungen, aber ich wusste, dass es etwas Gutes gewesen sein musste, denn ich war ruhig und mein Kissen war trocken. Die goldene Wanduhr, deren Zeiger sich wie zarte Blütenblätter über die Ziffern legten, verrieten mir, dass es kurz nach ein Uhr war. Nachmittags. Mein Schlafrhythmus war völlig durcheinander. Ich wickelte mir die Bettdecke fest um die Schultern und setzte mich ans Fußende meines Bettes, von wo aus ich einen guten Rundumblick hatte. Neben meinem Bett erhob sich ein großer dunkler Schrank, dessen Türen mit hölzernen Blumenranken verziert waren. Sie erstreckten sich über die gesamte Höhe und endeten in großen Lilienblüten. Ich fand dieselben Schnitzereien auch an meinem Nachttisch, an einer Kommode und einem Schreibtisch, sowie dem dazugehörigen Stuhl. Alles aus dunklem Holz gearbeitet, vor hellen Wänden, an denen golden gerahmte Bilder hingen. Selbst der Fußboden glich den Möbeln in Material und Farbe, nur fehlten ihm die Verzierungen, wofür ein großer runder Teppich mit hellen Mustern in Mitten des Zimmers lag. Es war atemberaubend schön und ich konnte mich kaum daran sattsehen. Allein meine Neugier auf den Rest des Hauses trieb mich schließlich aus dem Bett und in den Flur. Ich war zurück in den dicken Mantel geschlüpft, den mir Magdalena gegeben hatte, um dieses Gebäude in halbwegs warmem Zustand erkunden zu können. Bei Tageslicht wirkte alles noch viel eindrucksvoller. Hell und lebendig, eine in Stein gehauene Waldlichtung. Zu meiner Rechten erstreckte sich ein sandfarbener Läufer in einen langen Flur, von dem aus man drei weitere Zimmer erreichen konnte. Links lag die Treppe, die sich in ein zweites Obergeschoss wand. Meine Besichtigung sollte oben beginnen. Ich hoffte Sofia oder Magdalena dort zu finden, doch mein Weg endete abrupt an einer verschlossenen Türe. Nur ein einziges Zimmer lag im zweiten Stockwerk und zu diesem war kein Zugang möglich. Es wunderte mich nicht sonderlich, schließlich hatte Sofia einen fremden Gast in ihrem Haus und da war die eine oder andere Sicherheitsmaßnahme nicht überraschend. Ich ging über die helle Treppe zurück in den ersten Stock, um mich den anderen Zimmern zuzuwenden. Die Türe, die sich direkt neben dem Gästezimmer befand, führte in ein kleines Bad. Auf weiß und braun gekacheltem Boden stand eine Badewanne mit goldenen Füßen und ein kleiner Ofen knisterte munter vor sich hin. Ich war also nicht die erste, die auf den Beinen war. Der zweite Raum, der sich etwas weiter hinten einreihte, war ebenfalls abgeschlossen. Ich bedauerte es ein wenig, doch sicher hatte es einen Grund, warum auch diese Türe sich nicht öffnen ließ. Als ich mich der letzten Türe zuwandte, die ganz am Ende des Flures auf mich wartete, hielt ich inne. Bitte geh' auf! Ich drückte den Griff hinunter und die Tür gab den Weg frei. Noch ehe ich eingetreten war, fiel mir die Kinnlade herunter. Ein Schatz von überwältigender Größe lag in diesem Zimmer. Meterlange Regale zogen sich durch den gesamten Raum. An seinen Wänden entlang und mitten hindurch. Alle waren bis zum letzten Platz mit Büchern bestückt. Sie reichten vom Boden bis zur Decke und ich stand fassungslos vor diesem Anblick. Nicht einmal im Kloster hatte es eine solch enorme Menge an Büchern gegeben. Nur eine einzige Ecke des Raumes war frei von Regalen. Hier öffnete ein großes Fenster den Blick hin zu einem entfernt gelegenen Wald. Davor erstreckte sich meilenweit freies Feld. Ein paar einzelne Bäume und sonst unberührte Wiesen im friedlichen Winterschlaf. Vor dem Fenster stand ein kleiner Tisch und ein prunkvoller Sessel. Barock. Ich hatte Bilder solcher Möbel in Büchern gesehen. Eine Kunstepoche von vor etwa hundertdreißig bis dreihundert Jahren. Wenn er echt war – und er sah stark danach aus – war dieser Sessel sehr alt und sicher auch ebenso teuer. Ich vermutete ein Familienerbstück, denn er passte nicht zum übrigen Interieur, das so detailverliebt aufeinander abgestimmt war. Was auch immer seine Geschichte war, ich würde mich hüten, darauf Platz zu nehmen. Noch interessanter als das alte Möbelstück waren ohnehin die zahllosen Bücher. Auch wenn es unmöglich war, sich einen Überblick zu verschaffen, so wollte ich es doch wenigstens versuchen. Man würde mehrere Tage benötigen, um alle Titel zu überfliegen und bis ich beim Letzten angekommen wäre, hätte ich den ersten wieder vergessen. Vielleicht durfte ich sie mir nacheinander borgen, wenn ich dafür Zeit bekommen konnte. Ich musste Sofia unbedingt fragen, sobald ich sie gefunden hatte. Während ich noch darüber nachdachte, ob ich lieber Bücher betrachten oder Sofia suchen wollte, bewegte sich etwas in meinem Augenwinkel. Ich sah zur Türe und konnte ohne Hindernis in den Flur blicken. Dort war niemand. Vielleicht war es auch nur der Schatten eines Vogels gewesen, der am Fenster vorbeigeflogen war. Ich konzentrierte mich wieder auf die Bücher und studierte ihre Rücken, bis mir wie aus dem Nichts spitze Nadeln in die Wade gejagt wurden. Ich sprang schreiend zur Seite. Mein Puls war haltlos in die Höhe geschnellt und Tränen schossen mir vor Schreck in die Augen. Ich warf einen Blick zurück und wieder war dort nichts als Luft und Bücher. Eilig verließ ich die Bibliothek und schloss die Türe sorgfältig hinter mir ab. Irgendetwas war dort, dessen war ich sicher, denn meine rechte Wade brannte noch immer. Ich entfernte mich einige Meter, bis ich wagte anzuhalten und mein Bein zu betrachten. Vier kleine rote Punkte bestätigten mir, dass es nicht meine Fantasie gewesen war, die mir einen Streich gespielt hatte. Ich wischte sie weg und sie bildeten sich neu. Jemand musste mir sagen, was mich angegriffen hatte. "Hallo? Magdalena? Sofia?" Ich wagte nicht, besonders laut zu sprechen. Da ich keine Antwort bekam, ging ich nach unten ins Erdgeschoss. Je weiter ich mich von der Bibliothek entfernte, desto besser. Ich rief noch einmal. Wieder keine Antwort. Waren sie alle noch im Bett? Nein. Jemand hatte den Ofen im Bad entzündet und auch hier brannte ein Feuer im Kamin. Ich stand in einem großen Salon, mit weiteren ausgefallenen Sitzmöbeln, doch gerade im Moment interessierte mich die hochwertige Einrichtung nicht übermäßig. "Ist denn niemand da?" Ich knibbelte nervös an meinen Fingern, während ich auf Antwort wartete. "Kann mir jemand helfen? Ezra..? Bitte!" "Der ist nicht da." Es war Magdalenas Stimme. Sie schleppte einen Korb voll Holz in den Salon und mir fielen unzählige Steine vom Herzen. "Oh... Magdalena, ich bin so froh, dass du hier bist! Ich wurde angegriffen." Sie stellte den Korb neben den Kamin und sah mich ungläubig an. "Wer hat dich angegriffen?" "Ich weiß es nicht, ich... ich habe niemanden gesehen, aber irgendetwas hat mir ins Bein gestochen", schilderte ich ihr, was vorgefallen war. "Ein Insekt?" Ich schüttelte heftig den Kopf. "Nein, sieh doch!" Sie nahm meine Wade in Augenschein und nickte wissend. "Ich weiß, welches Ungeheuer das war. Betty. Sie ist eigentlich ganz freundlich." "Wer ist das?" "Ezras Katze." "Eine Katze?" Fast wären mir die Augen aus den Höhlen gefallen. Wie konnte mir eine harmlose Katze solche Furcht einjagen? "Wo hat sie dich denn gefunden?" Ich schob meine Verblüffung beiseite. "Oben in der Bibliothek." Als hätte sie ein Gespenst gesehen, änderte sich Magdalenas Gesichtsausdruck schlagartig. "Das ist nicht gut!" Ohne es zu erklären, stürmte sie an mir vorbei und rannte die Treppe hinauf. Ich folgte ihr ahnungslos. "Los, runter da!", rief Magdalena in Richtung Fenster, kaum hatte sie die Bibliothek betreten. Ein braunes Knäul huschte an mir vorbei, als ich ebenfalls den Raum betrat. Ich sah ihm kurz hinterher. Betty hatte mittellanges, hellbraunes Fell und trug dunkelbraune Fellstrümpfe. Sie hatte es eilig, davonzukommen und war schnell nach unten verschwunden. In der Bibliothek stand Magdalena über den barocken Sessel gebeugt und las Katzenhaare vom Polster. "Ist alles in Ordnung?" "Ja. Alles gut. Sie hat nur ein paar Haare verteilt. Das macht nichts." Ich atmete erleichtert aus. Meine Vermutung, dass dieser Sessel wertvoll war, sah ich bestätigt und Magdalena verriet mir, dass das gute Stück tatsächlich knappe dreihundert Jahre alt war. "Nächstes Mal musst du die Türe hinter dir schließen, wenn du in die Bibliothek gehst. Wenn Betty sich die Krallen wetzt, überleben wir das nicht." Sie lächelte, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass diese Warnung gar nicht aus der Luft gegriffen war. Ich versprach ihr, dieses Detail zukünftig zu berücksichtigen und schloss mich ihr an, auf dem Weg nach unten in die Küche. Sie hatte bereits einige Leckereien zubereitet und ich durfte mich bedienen, wo ich wollte. Magdalena war eine gute Köchin. Ihr Eintopf schmeckte überragend und da mein Magen wieder zur Aufnahme normaler Mengen bereit war, konnte ich mir noch eine kleine Pastete gönnen. "Ich kann dir heute leider nicht allzu viel Gesellschaft leisten", beendete Magdalena unsere gemeinsame Mahlzeit. "Ich muss das Haus wieder in Schuss bringen. Wir waren drei Monate nicht hier und alleine der Staub wird mich die nächsten Tage beschäftigen." "Ich kann dir helfen." Sie sah mich verwundert an, dann schlug sie mein Angebot aus. "Nein, das geht nicht. Du bist für andere Arbeiten hier." "Zum Geschichtenschreiben, aber ich habe keine Schreibmaschine mehr..." "Nun... trotzdem geht es nicht. Das wäre nicht in Sofias Sinn." Sie blieb bei ihrer Meinung. "Du kannst dir ein Buch holen und dich vor den Kamin setzen. Da bist du sicher am besten aufgehoben." Ich widersprach ihr nicht und ging hinauf. Nachdem ich mich frischgemacht hatte, besorgte ich mir eine Kurzgeschichtensammlung von Nathaniel Hawthornes, mit der ich mich im Salon niederließ. Wahrlich war der Platz vor dem warmen Feuer ein guter Ort, doch Magdalenas Gesellschaft hätte mich ebenso erfreut. Nach nur drei der Geschichten schlug ich das Buch wieder zu und atmete tief durch. Sie hatten mich weit hineingezogen und es war zu düster und zu beklemmend, als dass ich es länger ertragen konnte. Ich wollte überhaupt nicht schon wieder weinen, doch mein Körper tat, was er wollte und mein Geist war nicht stark genug, es zu unterbinden. Mir war nicht einmal klar, warum ich weinte. Wegen dem Schuster oder wegen Christina, vielleicht beides oder etwas völlig anderes. Ich rollte mich auf dem Sofa zusammen, versuchte dieses erstickende Schluchzen abzustellen, doch je mehr ich es versuchte, desto schlimmer wurde es. Ein Stein, der versuchte vom Grund des Meeres an die Oberfläche zu schwimmen und dabei immer tiefer sank. Ich konnte nicht auftauchen. Nicht ohne Hilfe und Magdalena wusste offenbar, wie man Steine fischte. Sie nahm wortlos neben mir Platz, legte eine Hand auf meinen Kopf und war da. Ihre Hand fühlte sich schwer an, kühl und bestimmt lag sie auf meinem Kopf und beruhigte mich. Auf mir völlig unerklärliche Weise entspannte ich unter ihrer Berührung. Sie teilte ihre Ruhe mit mir und ich nahm sie gerne an. "Geht es wieder?" Ich konnte nicht sprechen, doch ich nickte. Es war besser, jetzt da Magdalena hier war. "Wusstest du, dass Katzen zwanzig Jahre und älter werden können?" Wieso? "Was?" "Ja, das ist erstaunlich. Man meint es gar nicht, aber ich habe gelesen, dass es schon Katzen gegeben haben soll, die ein solches Alter erreichten." Ich ließ mich gerne auf Magdalenas Themenwechseln ein. "Ich dachte, sie werden zehn." "Zehn? Nein. Wenn man sie pflegt, werden sie älter." Sie sinnierte einen Moment vor sich hin, bevor sie weitersprach: "Ich denke, Betty ist bereits elf oder zwölf Jahre. Ganz genau weiß ich das nicht. In jedem Fall älter als zehn. Ezra hatte sie mitgebracht, da war sie noch ein kleines Kätzchen." "Dann wohnt ihr schon lange zusammen?" "Eine Weile. Ich selbst kümmere mich seit fast sechzehn Jahren um Sofias Haushalt und alles, was gebraucht wird. Ezra war bereits hier, als ich anfing. Ich glaube fast, die beiden kennen sich schon ewig." Ewig war wohl relativ. Jedenfalls standen die beiden sich offenbar sehr nah, wenngleich ich fand, dass sie ein recht ungewöhnliches Paar abgaben. Im Grunde ging es mich überhaupt nichts an und trotzdem irritierte es mich, wenn ich daran zurückdachte, wie sie ihn im Zug geküsst hatte. "Apropos. Ich glaube, er ist eben nach Hause gekommen", warf Magdalena ein. Ich hatte nichts gehört, doch wenige Sekunden später erschien er in der Türe. "Sofia ist nicht da?", fragte er, ohne ein Wort der Begrüßung voraus zu schicken. "Sie holt Yasha und Isaak. In einer Stunde sollten sie zu Hause sein." Nur ein leises Schnauben zur Antwort, dann verschwand er und Magdalena konzentrierte sich wieder auf mich. "Möchtest du etwas trinken? Einen Tee?" "Gerne." Sie strich mir noch einmal über den Kopf, bevor sie aufstand und sich für einige Minuten in die Küche verabschiedete. Ich zählte stur die Sekunden, bis sie zurück war, nur um nicht an etwas anderes denken zu müssen. Das Tablett mit einer Kanne und zwei dampfenden Tassen fand auf dem niedrigen Tisch Platz, der vor mir stand. Magdalena reichte mir eine Tasse mit dem Hinweis, ich solle vorsichtig sein, dann setzte sie sich zu mir und entführte mich für eine Weile nach China zu den Ursprüngen des Tees. Eine Geschichtsstunde, die fesselnder nicht hätte sein können. Wir waren mitten in der Yuan-Dynastie, als Magdalena plötzlich Haltung annahm und den Tee beiseite stellte. "Den Rest erzähle ich dir später." Mir war nicht klar weshalb und Magdalena konnte es mir wohl am Gesicht ablesen. "Sofia kommt. Sie wird dich sicher sprechen wollen." Mit Yasha und Isaak. Eilig kämmte ich mir mit den Fingern die Haare wieder zurecht. Ich hätte mir noch einmal das Gesicht waschen sollen, doch dafür war keine Zeit. Als ich den Flur betrat, stand Sofia in der Haustüre. Sie war jedoch ohne Begleitung. "Guten Abend", begrüßte sie mich. "Ich bin gleich bei dir." Ich nickte und erwartete stocksteif die Ankunft der beiden Jungen. "Du wirkst nervös", stellte Sofia nüchtern fest, während sie ihren Mantel ablegte. "Hast du Angst?" "Nein, ich... ich will nur keinen schlechten Eindruck machen." "Einen schlechten Eindruck?" Sie schmunzelte. "Keine Sorge, das wirst du nicht." Ich hoffte, sie hatte Recht. Trotzdem gelang es mir nicht, mich zu entspannen. Die beiden ließen auf sich warten und ich fragte mich, was sie noch so lange draußen in der Kälte wollten, wenn sie hier erwartet wurden. Auch Sofia mochte nicht länger warten. Sie trat einen Schritt vor die Türe, legte Daumen und Zeigefinger an ihre Lippen und pfiff. "Wollt ihr wohl hereinkommen?", rief sie mit einer Strenge, die ich nicht erwartet hatte. Ich zählte drei Atemzüge, dann sprangen sie herein. Zwei riesige Hunde, die ungebremst auf mich zustürmten. Sie reichten mit ihren Köpfen bis zu meinem Bauch. Aufgeregt bellend sprangen sie um mich herum. Quietschend vor Freude. Ich benötigte einen Moment, um den ersten Schreck zu verdauen. Ich hatte keine Angst vor Hunden, sie waren nur so schockierend groß und stürmisch. Noch nie hatte ich solch riesige Tiere gesehen und ihr wilder Frohsinn war beunruhigend. Beide trugen sie ein graues Fellkleid, einer etwas länger und struppig, der andere kurz und glänzend. Sie waren schmal gebaut, dennoch hatten sie sicher genügend Kraft, um mich umzustoßen, doch sie blieben artig mit den Vorderläufen am Boden. "Sie beruhigen sich gleich wieder, dann kann man sie auch streicheln." Ich wartete regungslos, bis die beiden Hunde ruhiger wurden und ihrer Herrin in den Salon folgten. Ein überraschendes – zuweilen beängstigendes – Erlebnis, das Sofia mir hatte zu Teil werden lassen. Ihre Warnung, dass es sich um zwei Wilde handelte, hatte mich nicht auf diese Begegnung vorbereitet. Es waren nicht ihre Söhne. Trotzdem wollte ich mich mit ihnen anfreunden, also schüttelte ich den Schreck ab und ging ebenfalls in den Salon. Sofia hatte sich in einem Ohrensessel neben dem Kamin niedergelassen und hielt eine Tasse Tee in der Hand, die beiden Hunde lagen zu ihren Füßen und blinzelten mich neugierig an, als ich hereinkam. Magdalena hatte sich in die Küche zurückgezogen. "Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr erschreckt." "Ein wenig. Ich hatte keine Hunde erwartet", gestand ich, als ich mich wieder auf das Sofa setzte. "Und sie sind sehr groß." "Das sind sie." Sofia richtete ihre Blicke beinahe verliebt auf die beiden Tiere, dann strahlte sie mir ins Gesicht. "Wären sie etwas breiter gebaut, könnten es Ponys sein." Ich nickte. "Was sind das für Hunde?" "Der Struppige ist ein Deerhound, das ist Yasha. Isaak ist ein Greyhound. Es sind Windhunde und eigentlich sollten sie anmutig und edel sein." Sie seufzte. "Aber zuweilen sind sie etwas unbändig." Sie waren beeindruckend. Selbst jetzt, da sie lagen, nahmen sie bemerkenswert viel Platz auf dem Boden ein. Ich fragte mich, wozu Sofia sie benötigte. Vielleicht Wachhunde, schließlich gab es hier einiges zu stehlen. Ob jedoch viele Diebe hier vorbeikamen, wagte ich zu bezweifeln. "Hast du dich schon etwas im Haus umgesehen?" Sofia lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf sich. "Ja, es ist sehr schön", gab ich etwas verhalten zur Antwort. Ich war nicht sicher, wie ich ihr gegenübertreten sollte. Sie war locker und entspannt, aber ich spürte die Distanz zwischen uns und wollte sie nicht überbrücken. Vielleicht durfte ich es nicht. "Hast du die Bibliothek gefunden?" Wieder nickte ich. "Sie ist atemberaubend." "Dachte ich doch, dass sie dir gefallen würde. Du kannst dir in den nächsten Monaten auch gerne alle Bücher daraus nehmen und lesen. Ich denke, damit wirst du eine Weile beschäftigt sein." Als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich wollte nichts lieber, als mich in andere Welten entführen zu lassen. Nicht Hawthornes Welten, aber dort oben gab es massenweise Bücher und ich würde sicher etwas finden, was mich nicht in ein tiefes Loch zog. Mir blieb nur eine Frage. "Wie wird es mit dem Schreiben vor sich gehen? Ich habe keine Schreibmaschine." Sofia setzte ihre Tasse ab und lehnte sich zurück. "Du benötigst keine." "Nicht?" War ich denn nicht zum Schreiben hier? "Nein. Ich möchte, dass du dich in den nächsten Wochen auf andere Dinge konzentrierst." "Andere Dinge? Aber..." Mir fehlten die Worte. Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte, welcher Plan dahinter steckte. Wenn ich nicht schreiben sollte, warum war ich hier? "Ich möchte, dass du etwas ganz Bestimmtes für mich schreibst, aber dazu musst du dich zunächst mit anderen Dingen beschäftigen. Ich will, dass du zur Ruhe kommst, damit du dich anschließend voll auf die Arbeit konzentrieren kannst. Das ist wichtig." "Was soll ich schreiben?" "Das sage ich dir, wenn es soweit ist. Du sollst dir jetzt noch keine Gedanken darüber machen." In Ordnung. Ich gab mir Mühe ihre Beweggründe nachzuvollziehen. Es war nicht leicht, ohne zu wissen, was auf mich zukommen würde. "Wann wird das sein?" Sofia sah mich nachdenklich an. Ich fühlte mich plötzlich wie eine Ware, die vor dem Kauf kritisch beäugt wurde. Ein beklemmendes Gefühl. "Das hängt davon ab, wie gut du dich machst", eröffnete sie mir schließlich ihre wenig hilfreiche Antwort. Meine Finger dribbelten unruhig auf meinen Beinen. Ich wusste überhaupt nicht, worauf ich mich eingelassen hatte und Sofia war Willens, mich im Dunkel zu lassen. Ihre Antworten halfen mir nicht. Ich wusste weder was ich schreiben sollte, noch wann ich es schreiben sollte und ebenso unklar war mir, was ich tun sollte, um mich dafür zu qualifizieren. "Ich soll also lesen?" "Ja, oder singen, oder tanzen. Das ist völlig egal." Mit jeder Antwort verstand ich weniger von dem, was sie sagte. Der Sinn blieb mir verborgen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mir ausschließlich etwas Gutes tun wollte, dass sie mich nach all meinen Erlebnissen wieder aufbauen wollte. Wofür? Warum sollte ich mich in den nächsten Wochen auf ihre Kosten bei Laune halten? Sie wusste nicht, ob ich jemals wieder in der Lage sein würde, eine Geschichte zu schreiben. Ich wusste es selbst nicht und trotzdem sah es aus, als wollte sie mir unbegrenzt Zeit geben. "Du traust mir nicht, oder? Ich kann es dir an der Nasenspitze ablesen." Ich fühlte mich ertappt. Natürlich traute ich ihr nicht, ich kannte und ich verstand sie nicht und doch wollte ich ihr das nicht ins Gesicht sagen. Es würde sie kränken, dessen war ich sicher. Zumindest dachte ich, sicher zu sein, bis sie mich mit ihrem verständnisvollen Lächeln vom Gegenteil überzeugte. "Das ist in Ordnung. Es ist besser, man traut keinem, anstatt jedem. Wir werden uns schon noch kennenlernen, vielleicht änderst du deine Meinung irgendwann." Ich zuckte vorsichtig mit den Schultern. Mir fiel keine passende Antwort darauf ein und Sofia schien auch keine zu erwarten. Sie entzündete sich eine Zigarre und zog genüsslich daran. Minutenlang sah sie schweigend ins Feuer, das im Kamin brannte. Nachdenklich, fast schwermütig. "Kennst du die Geschichte von Katerina Orlova?" Sie sah mich noch immer nicht an. "Nein. Wer ist das?" "Eine junge Frau aus Moskau, die ihrer Gutgläubigkeit zum Opfer fiel." Ich schwieg. Sofias Blicke lagen unverändert auf den brennenden Holzscheiten, als sie fortfuhr: "Es ist keine schöne Geschichte, aber sie lehrte mich vieles. Katerina war eine gute Frau. Trotz ihrer Jugend wusste sie sehr wohl zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Sie war mutig und stark. Hat sich für ihre Überzeugung eingesetzt und allen Widrigkeiten die Stirn geboten." Sie warf mir einen kurzen Seitenblick zu. "Du musst wissen, wir befinden uns im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts. Die Zeiten waren anders, aber Katerina war gebildet und wusste genau, wie sie sich in der Welt der Männer einen Platz schaffen konnte und das hat sie getan. Mit dem Vermögen ihres verstorbenen Vaters beteiligte sie sich an der Errichtung eines Waisenhauses, in dem die Kinder handwerkliche Berufe erlernen konnten. Ihre Geschäftspartner, die den wachsenden Betrieb in der Öffentlichkeit vertraten, überließen ihr die Strukturierung des Hauses. Katerina schaffte Lehrmeister heran und verhalf allen Beteiligten zu hohen Gewinnen. Es war die perfekte Kooperation und Katerina verstand sich prächtig mit ihren Partnern, die munter ihre Taschen mit Geld füllten, ohne allzu viel dafür zu tun. Es war in Ordnung. Katerina hatte die Zügel in der Hand und dafür bezahlte sie die Männer gerne." "Was ist passiert?" Sofia seufzte leise, bevor sie die Geschichte fortsetzte. "Nachdem das Unternehmen über die Jahre gewachsen war und steigende Gewinne erzielte, wuchs die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Als die Menschen erfuhren, dass im Hintergrund eine Frau die Fäden gezogen hatte, ging es steil bergab. Obwohl sie nie etwas Böses beabsichtigt hatte, nahmen die Leute es ihr übel und innerhalb eines Jahres war alles vorbei. Katerina hatte nichts mehr. Ihr einstiges Vermögen war zusammengeschrumpft und ihre Partner hatten sie verlassen, noch bevor es vorbei war." "Sie haben ihr nicht geholfen?" "Natürlich nicht. Es waren Gauner und Katerina hatte es nicht bemerkt. Sie war sich sicher gewesen, dass die beiden sie bis zum Schluss unterstützen würden, dass sie sie auffangen würden, nachdem sie sie verlassen hatten, doch das taten sie nicht." "Also ist sie auf der Straße gelandet... Sie war sicher wütend." Ich war wütend. "Sehr sogar. Es war ungerecht. Die beiden Herren lebten weiter in ihren komfortablen Häusern und Katerina, die ihnen alles ermöglicht hatte, stand zwischen Dreck und Leid auf der Straße. Katerina wollte es auch nicht hinnehmen, dafür war sie zu stolz. Sie ging zu ihnen, stellte sie zur Rede und blieb beharrlich. Es dauerte zwei Wochen, in denen sie die Männer immer wieder besuchte, redete, schimpfte und fluchte, bis sie am 15. Mai 1688 ihr Ende in den Flammen fand." Ich hielt die Luft an. Damit hatte ich nicht gerechnet. "Sie haben sie verbrannt?", fragte ich vorsichtig. "Verraten und verbrannt. So war es." Sofia erhob sich aus dem Sessel, die Hunde sahen ihr nach, als sie zu einem der Schränke ging und etwas daraus hervorholte. "Ich finde, wir sollten auf sie anstoßen", verkündete Sofia und reichte mir ein Glas mit Wodka. Dankend nahm ich es an, wenngleich ich dieses Getränk nicht mochte. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und ließ die brennende Flüssigkeit meine Speiseröhre hinunterfließen, nachdem wir angestoßen hatten. "Möchtest du einen Zug?" Sofia hielt mir ihre Zigarre hin und ich lehnte ab. "Auch gut. Dann empfehle ich mich für heute. Ich bin unerträglich müde und sollte dringend nach oben gehen. Eine angenehme Nacht. Wir sehen uns morgen." Sie lächelte freundlich, als ich ihr ebenfalls eine gute Nacht wünschte, und verschwand. Ich konnte ihre Absätze auf den Stufen hören. Sofia ging nach ganz oben, in den zweiten Stock. Ich blieb noch eine Weile im warmen Salon und beobachtete Yasha und Isaak, die friedlich vor dem Kamin dösten. Hund müsste man sein, dann könnte man es vielleicht spüren, wenn die Menschen einem etwas Böses wollten. 011 – Schläge ------------- Es war heiß geworden. Unerträglich. Ich stand direkt neben dem Feuer, das meterhoch in den Nachthimmel züngelte. Meine Haut spannte von der Hitze. Ich musste schnell hier weg. Als ich mich umdrehte, erkannte ich zwei Gestalten, die nur wenige Meter hinter mir standen. Männer mit Hüten und hellen Hemden, auf denen dunkle Flecken im Feuerschein schimmerten. Sie sahen müde aus. Wie nach einem Kampf, den sie um Haaresbreite überlebt hatten, und starrten gebannt ins Feuer. Ich folgte ihren Blicken mit einem unerklärlich dumpfen Gefühl.  Schon bevor ich es sehen konnte, wusste ich, was mich erwartete: eine Frau. Mitten im Feuer stand sie und verbrannte vor meinen Augen. Katerina. Es konnte unmöglich sein, doch ich war mir sicher, dass sie es war. Meine Augen flogen über den Boden zu meinen Füßen. Ich musste etwas tun, bevor es zu spät war, und griff einen langen Ast, um den Scheiterhaufen zu zerstören. Keiner hinderte mich daran. Ich tat mein Bestes, das brennende Holz beiseitezuschaffen, um Katerina befreien zu können. Glühende Funken schlugen mir entgegen, hinterließen Löcher in Ärmeln und Rock und ich musste mich zusammenreißen, mich nicht abzuwenden. Nur für einen Augenblick fragte ich mich, warum mich die Männer nicht aufhalten wollten. Ich blickte zu ihnen hinüber, um mich zu vergewissern, dass sie noch dort standen. Es war kaum zu erkennen, erst als mein Blick klarer wurde, erkannte ich den Unterschied. Jemand anderes stand dort. Jemand den ich kannte. Christina? Mir wurde schwindelig bei Ihrem Anblick und ich wandte mich lieber der Hitze des Feuers zu, als sie länger ansehen zu müssen. Ich wollte weitermachen. Es ging nicht. Meine Hände waren festgezurrt an einen glühenden Pfahl, der aus der Mitte des Scheiterhaufens ragte, noch ehe ich mich hatte umdrehen können. In Sekunden fraß das Feuer mein Haar und meine Kleider und ich erstickte im Rauch, während die Flammen meine Haut verbrannten. Ich schrie vor Schmerz und jeder Atemzug brachte mich dem Tode näher als dem Leben. Gefesselt inmitten der wahrhaftigen Hölle und niemand wollte mich retten, ganz gleich wie laut ich um Hilfe rief. Ich war auf mich allein gestellt und meine Möglichkeiten waren begrenzt. Ohne Hilfe würde ich verbrennen. Ich zitterte und um mich herum begann es zu beben. Es erschütterte mich und der Schmerz ließ langsam nach. "Bist du endlich wach?" Sofia sah mich mit sorgenvollen Augen an und löste ihre Hände von meinen Schultern. "Du hast das Haus beinah zusammengeschrien ... Geht es wieder?" Mein Mund war trocken, meine Lunge brannte und ich spürte den Kloß, der sich in meinem Hals breitmachte. Ich nickte. "Das war jetzt das zwölfte Mal." Sofia seufzte und reichte mir ein Glas Wasser, wie sie es immer tat, wenn ich mitten in der Nacht von ihr aus einem Alptraum geweckt wurde. "Was war es diesmal?" "Katerina." Meine Stimme war rau und ich hatte Mühe meine Fassung aufrechtzuerhalten. "Schon wieder?" Es war schon das fünfte Mal gewesen, dass ich an Katerinas Stelle auf dem Scheiterhaufen gebrannt hatte. Es begann jedes Mal anders und endete doch immer gleich. Wenn es nicht der Scheiterhaufen war, so stieß man mich über eine Klippe oder in einen Brunnen, nachdem man mich gejagt hatte. Der schöne Traum, den ich in meiner ersten Nacht in diesem Haus hatte, war der Einzige gewesen. Seitdem folgte ein Alptraum dem nächsten, und wenn es schlecht lief, so musste ich mich alleine damit herumquälen. Sofia nahm das Glas aus meiner Hand und sah mich mitleidig an, während ich Tränen aus meinem Gesicht wischte. "Ich werde mir etwas einfallen lassen, damit du zukünftig ruhiger schlafen kannst." "Danke ..." Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sofia tatsächlich eine Lösung einfallen würde. Dennoch war ich dankbar, dass sie sich um mich sorgte. Und das, obwohl sie zur Zeit nichts als Probleme mit mir hatte. Nachts schrie ich, tagsüber saß ich nutzlos im Salon oder in meinem Zimmer, weinte gelegentlich ohne Grund und trug nicht das Geringste zu einem annehmbaren Zusammenleben bei. Ezra war das Ganze offenbar zu viel geworden. Ich hatte ihn seit meinem Einzug nicht mehr gesehen. Auch Magdalena konnte nicht den ganzen Tag über meine Hand halten. Sie hatte viel zu tun und ich vermisste ihre Geschichten. "Versuch noch ein wenig zu schlafen. Es ist erst zwei Uhr", verabschiedete sich Sofia und verschwand aus meinem Zimmer. Ich konnte nicht von ihr erwarten, dass sie bei mir blieb, wenngleich ich etwas Gesellschaft gut hätte gebrauchen können. Ich rutschte zurück unter meine Bettdecke und begann Löcher in die Luft zu starren. Alles war besser, als wieder zu träumen, also zwang ich mich, wach zu bleiben und lauschte auf die Geräusche, die mich umgaben. Es war still. Nachdem Sofias Schritte verklungen waren, konnte ich den Wind hören, der leise um die Ecken des Hauses strich. Die Uhr an meiner Wand tickte und meine Lider wurden schwerer. Ich setzte mich wieder auf und starrte eine Weile zur Tür. Unten im Salon lagen die Hunde. Es waren nur ein paar Stufen. Ich wickelte mich in meine Decke und ging eilig hinunter. Isaak und Yasha blinzelten mich müde an, als ich mich zu ihnen legte, doch ließen sie mich ohne Widerstand gewähren. Im Kamin glühte es noch schwach, während ich zur Ruhe kam. Der Fußboden war nicht halb so bequem wie mein Bett und trotzdem wollte ich in diesem Moment nirgendwo anders sein, als zwischen diesen beiden Tieren. Ich gestattete mir schließlich die Augen zu schließen und hoffte, dass die Hunde meine Alpträume fernhalten würden, als ich in der Etage über mir Schritte hörte. Jemand ging den Flur entlang Richtung Treppe. Mir wurde unwohl bei dem Gedanken, dass sich irgendjemand im Haus herumtrieb. Ich wurde hellhörig, als die Schritte verstummten, nachdem sie ins zweite Stockwerk gegangen waren. Jemand klopfte an eine Tür und es dauerte nicht lange, bis diese geöffnet wurde. "Können wir kurz reden?" Es war Ezras Stimme. Er sprach leise und war nur mit Mühe zu verstehen. Er musste vor Sofias Zimmer stehen, wenn meine Ohren mich nicht täuschten. "Natürlich. Worum geht es?" Ich hatte mich nicht verhört: Es war Sofia. "Megan." Dann wurde die Tür geschlossen und ich konnte nichts mehr verstehen. Um mich ging es also. Ich war sofort hellwach und meine Gedanken begannen wild umeinander zu kreisen. Was wollte er mit Sofia besprechen? Sicher war er es leid, dass ich ihm jede Nacht mit meinem Geschrei den Schlaf raubte. Vielleicht würde Sofia mich jetzt doch zurück auf die Straße setzen. Nervös begann ich Yashas Ohr zu kraulen. Ich wartete und mein Herz pochte laut gegen meine Rippen. Es dauerte ewig. Zehn Minuten, fünfzehn, vielleicht auch zwanzig, bis die Tür oben sausend aufgerissen wurde. "Du bist wahnsinnig, Sofia!" "Halt den Mund! Das geht dich nichts an." Auch Sofias Tonlage war angespannt. Das hatte ich noch nie bei ihr gehört. "Wie du meinst. Aber sie ist schwach und vollkommen ungeeignet und das weißt du auch." Beide schwiegen, bis Ezra fortfuhr: "Unternimm etwas, bevor ich es tue!" "Verschwinde jetzt!" Es klang beängstigend, wie das Knurren eines Hundes und ließ mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Die Unterhaltung war damit beendet und Ezras Schritte halten durchs Treppenhaus. Ich versteifte mich unwillkürlich. Er verließ die zweite Etage und kam eilig hinunter ins Erdgeschoss, wo ich ihn aus dem Salon heraus erschrocken ansah. Seine Miene war kalt, kälter als sonst, und ich meinte sie hätte sich weiter verdunkelt, als er eilig die offene Tür zum Salon passierte, um das Haus zu verlassen. Ich zuckte zusammen, als er die Tür mit einem lauten Knall hinter sich schloss. Bevor ich es tue! Das klang, als würde er mich loswerden wollen. Egal wie. Ein beängstigender Gedanke. Das und meine unverändert armselige Situation ließen mich zweifeln. An meiner Entscheidung, Sofia zu begleiten, an der Sicherheit, die dieses Haus mir vielleicht bieten konnte und nicht zuletzt an mir selbst und ob ich Sofias Anforderungen überhaupt genügen konnte. Wahrscheinlich war ich völlig fehl am Platz. Ich hatte gehofft, es würde mir hier bald besser gehen, aber das tat es nicht. Stattdessen ging ich allen auf die Nerven mit meinem Geheule. Es tat mir leid und ... ich wollte es nicht und trotzdem musste ich wieder weinen. Schon wieder. Ich weinte, weil ich weinte. Weil ich schwach war und nichts dagegen tun konnte. Ich war erbärmlich, das wusste ich. Es schnürte mir die Brust zusammen, dass ich jeden Tag und jede Nacht aufs Neue meiner Traurigkeit nachgab. Manchmal waren es nicht die Erinnerungen, nicht mein gebrochenes Herz, nicht die Schuld, die auf mir lastete, die mich zum Verzweifeln brachten, manchmal war ich es einfach selbst. Ein Spiegel, eine Fensterscheibe oder einfach nur meine Gedanken ... in einem schwachen Moment konnte mich alles aus der Bahn werfen und schwache Momente gab es viele. Jetzt war so ein Moment und aus einem Moment wurden lange Minuten, in denen ich mich meinen Gefühlen einfach hingab, bis die Müdigkeit mich endlich erlöste. —   Einige Stunden später weckte mich das leise Scheppern von Töpfen, das aus der Küche drang. Magdalena bereitete das Mittagessen zu. Frühstück gab es seit Tagen nicht mehr. Ich schlief zu lange, um dafür Zeit zu haben. Meine nächtlichen Wachphasen hatten meinen Schlafrhythmus sehr durcheinandergebracht. Als ich mich aufsetzte, waren Yasha und Isaak schon nicht mehr da. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie aufgestanden waren. Magdalena kam zu mir in den Salon, als ich mich gerade aufs Sofa gesetzt hatte. "Bist du in Ordnung?" "Es geht schon, danke." "Das wird überhaupt nicht besser ..." Auch Magdalena war es nicht entgangen, dass meine Situation nicht die beste war. Sie hörte mich genauso wie die anderen jede Nacht und sah mich täglich, wie ich lethargisch herumhockte. "Es tut mir leid. Ich gehe euch auf die Nerven." "Nicht doch, bitte, du brauchst dich nicht entschuldigen. Ist schon in Ordnung." Ich stimmte schweigend zu. "Soll ich dir einen Tee machen? Oder dir etwas Gesellschaft leisten?" "Nein." Ich wusste, dass Magdalena nach wie vor viel zu tun hatte. "Mir geht es gut." Sie nickte seufzend. Natürlich wusste sie, dass es mir nicht gut ging, doch sie akzeptierte mein Nein und verschwand aus dem Salon. Ich hatte sie schon häufiger abgewiesen, um nicht direkt vor ihren Augen meine nur allzu zerbrechliche Maske zu verlieren. Ich rieb mir die Augen und beschloss mich etwas frisch zu machen, um wenigstens nicht so elend auszusehen, wie ich mich fühlte. Auf dem Weg nach oben kam Betty mir entgegen. Sie maunzte mich vergnügt an und brachte mich für einen kurzen Moment zum Lächeln. Ein Kunststück. Ich hob sie hoch und nahm sie mit mir. Da Ezra tagsüber für gewöhnlich in der Stadt war, konnte ich mir erlauben, seine Katze für ein paar Stunden in Beschlag zu nehmen. Ich hatte das kleine Fellbündel fest im Blick, als ich oben um die Ecke bog, um ins Badezimmer zu gehen. Ein harter Aufprall, direkt hinter der Ecke, ließ mich die Luft anhalten. Betty zappelte sich hektisch aus meinen Armen und mein Herz schlug mir augenblicklich bis zum Hals. Vor mir stand eine junge Frau, die sich bei Weitem schneller wieder beruhigte, als ich es konnte. Innerhalb von Sekunden waren mir Tränen in die Augen geschossen. Ich spürte den Klos in meinem Hals, den ich nicht wieder hinunterschlucken konnte. "Entschuldige", sagte die Frau, "Geht es dir gut?" Ich war erstarrt. Die braunen Augen der Frau waren unsicher auf mein Gesicht gerichtet, über dessen Wange langsam eine Träne rollte. Ich wollte, dass sie einfach verschwand und mich alleine ließ. "Du kannst gehen, Fay." Es war Ezra. Die Frau – Fay – wandte sich kurz zu ihm um. "Jawohl." Sie nickte und verabschiedete sich von mir mit einem entschuldigenden Lächeln. Ich stand noch immer reglos im Flur, während Ezra aus dem Zimmer trat, das für gewöhnlich verschlossen war, und sich mir näherte. Er blieb vor mir stehen und streckte eine Hand nach mir aus. Ich zuckte zurück. "Wegen einem Zusammenstoß kannst du nicht anfangen zu weinen", wies er mich ganz nüchtern darauf hin, dass ich überreagierte. Ich wusste, dass er recht hatte, es war mir egal. Mit Ezra wollte ich noch viel weniger sprechen, als mit dieser Frau, die ich nicht kannte. Er sollte mich in Ruhe lassen, mir aus dem Weg gehen, wie er es die letzten Tage auch getan hatte. Wieso war er heute überhaupt zu Hause? "Reiß dich endlich zusammen. Du bist kein kleines Kind mehr." "Es passiert einfach", sagte ich schließlich, "ich kann nichts dafür." Meinen Blick hatte ich fest auf den Boden geheftet. Auch wenn er mein verheultes Gesicht sowieso nicht sehen konnte, fühlte ich mich nicht in der Lage, ihn anzusehen. "Wenn du meinst. Dann gib nächstes Mal besser Acht, wohin du läufst." Ich nickte und fügte schließlich ein zaghaftes "Ja" hinzu, da Ezra auf das Nicken nicht reagierte. Er sagte nichts mehr. Stattdessen griff er nach meinem Arm und es brannte wie Feuer. Ich versuchte ihn wieder loszureißen. Wollte er mich jetzt schon loswerden? War seine Toleranzgrenze schon erreicht? Ich bekam es mit der Angst zu tun. "Lass mich!", schrie ich ihn an. Er war viel zu stark für mich und hätte er gewollt, er hätte mir sonst etwas antun können, doch er ließ los. "Du solltest es desinfizieren und verbinden." "Was?" Mein Atem ging schnell. Ich wusste nicht was er meinte, denn mein Gehirn war zu sehr damit beschäftigt, sich einen Fluchtweg zu überlegen, als dass es ihm hätte folgen können. "Du blutest." Ezra hielt seine Hand hoch, mit der er nach meinem Arm gegriffen hatte. An seinen Fingern glänzten rote Flecken. Ich sah hinunter auf meinen Arm. Betty hatte einige tiefe Spuren hinterlassen, als sie geflüchtet war. Das war mir noch gar nicht aufgefallen und erst jetzt merkte ich, wie sehr es auch ohne Ezras Hand brannte. "Oh ..." Ich wurde ruhiger, während ich meinen Arm betrachtete. Ezra ging wortlos ins Badezimmer und ich hörte den Wasserhahn, unter dem er sich mein Blut von der Hand wusch. Ich atmete tief durch und gab mir Mühe, solange ruhig zu bleiben, bis Ezra wieder in seinem Zimmer verschwunden war. Volle fünf Minuten stand ich dort, ohne mich zu rühren. Die ganze Zeit über eisern mit mir kämpfend, dieses Mal nicht in Tränen auszubrechen. Erst nach einer Weile ging es wieder. Ich schämte mich dafür, so leicht erschüttert worden zu sein und wollte nichts mehr, als mich in meinem Zimmer zu verstecken. Nur musste ich zuvor noch einmal nach unten, um Magdalena nach meinem Arm sehen zu lassen. Ich steuerte die Küche an und fand dort mehr als ich wollte. Am Tisch saß die junge Frau von eben. Fay. Sie saß vergnügt über einem Teller von Magdalenas wunderbaren Aufläufen und schien sich prächtig mit der Köchin unterhalten zu haben, bis ich aufgetaucht war. "Möchtest du auch etwas essen?", fragte Magdalena. Ich schüttelte den Kopf, mir war nicht nach Essen. Am liebsten wäre ich sofort wieder gegangen, doch das ging nun nicht mehr, da beide mich erwartungsvoll ansahen. Ich hielt meinen Arm hoch und hoffte, dass Magdalena auch ohne Worte verstand, was ich von ihr wollte. Sie sah mich erschrocken an. "Was ist denn mit dir passiert?" "Das war wohl meine Schuld", erklärte Fay und sah mich mitleidig an. "Entschuldige nochmals." Ich musste mich kurz sammeln, bevor ich etwas sagen konnte. "Schon gut ... nur ein paar Kratzer." Dann wandte ich mich mit meiner Bitte an Magdalena: "Könntest du mir bitte eben helfen?" Magdalena, die gerade mit dem Abwasch beschäftigt war, sah mich unsicher an. Ihre Hände waren nass und seifig, außerdem war sie beschäftigt. "Ich kann das machen!", bot Fay mir ihre Hilfe an.  Gerne hätte ich widersprochen, doch Magdalena bedankte sich bereits und erklärte Fay, wo sie alles finden würde. Ich folgte der fremden Frau in den Salon und nahm auf dem Sofa Platz, während sie einen kleinen Koffer aus dem Schrank holte. "Freut mich, dass wir uns auch endlich kennenlernen. Auch wenn die Umstände nicht ganz ideal waren." Fay tupfte mit einem Wattebausch über meinen Arm. Ich blieb angespannt und nickte nur knapp. Sie machte einen netten Eindruck, trotzdem war mir die Situation unangenehm. "Ich bin Fay." "Megan." "Ja, ich weiß. Magdalena hat mir schon von dir erzählt, als ich das letzte Mal hier war." "Das letzte Mal?" Ich überwand mich, sie nun doch anzusehen. "Kurz nach eurer Rückkehr. Du hast geschlafen, deswegen hat man uns einander noch nicht vorgestellt." "Verstehe." Fay wickelte einen Verband um meinen Arm und verkündete fröhlich, dass sie nun fertig war. Ich dankte ihr und schwieg weiter vor mich hin. "Nächstes Mal bin ich vorsichtiger, wenn ich um Ecken biege", versprach sie mit einem Lächeln. "Dann bist du öfter hier?" Es war das Einzige, was mich interessierte. Fay überlegte. "Könnte man wohl so sagen ... So ein- bis zweimal im Monat bin ich hier. Es kommt immer darauf an, wie-" Magdalena unterbrach sie: "Die Kutsche ist da." Sie räusperte sich. "Ich fürchte, du musst jetzt gehen, Fay." Sie warf Magdalena einen kurzen Blick zu und erhob sich eilig vom Sofa. "Bin schon ... huch ..." Sie taumelte leicht zur Seite und ich packte ihren Arm, noch ehe ich darüber nachdenken konnte. "Alles in Ordnung?" Fay hatte sich wieder gefangen, rieb ihre Stirn und ich ließ sie los. "Alles gut", lachte sie, "nur der Kreislauf. Ich bin zu schnell aufgestanden. Danke fürs Festhalten!" Ich nickte und Fay verabschiedete sich hastig. Die Tür fiel ins Schloss und ich wandte mich Magdalena zu, die uns aus der Küche beobachtet hatte. "Wer war das?" "Fay." "Ich weiß, aber warum war sie hier?" Magdalena war ungewöhnlich still. Normalerweise erhielt ich ausschweifende Antworten auf fast alle meine Fragen. Sie seufzte leise, während sie ihr Geschirrtuch zusammenfaltete. "Sie kommt gelegentlich vorbei und leistet Ezra Gesellschaft." "Gesellschaft?" "Ja." Ich sah sie weiterhin fragend an. Warum war sie so kurz angebunden? War es ein Geheimnis? "Es tut mir leid, Megan, ich kann dir nicht mehr sagen. Ezras Angelegenheiten gehen mich nichts an. Wenn du mehr wissen möchtest, musst du ihn selbst fragen." "Schon gut." Wenn es Magdalena nichts anging, dann würde es auch mich nichts angehen. Ich hatte zwar eine Vermutung und hätte gerne gewusst, ob ich richtig lag, doch allzu neugierig wollte ich nicht sein, also ließ ich es bleiben und machte mir selbst meine Gedanken, welche Art von Gesellschaft Fay Ezra leistete. Ob sie eine Hure war? Ich hatte angenommen, Huren sähen anders aus. Schmutziger. Möglicherweise war sie keine. Magdalena ging zurück ans Waschbecken und beendete ihre Arbeit. Ich legte etwas Holz nach, dann ging ich nach oben, um mich endlich zu waschen. Es war wieder still geworden und mit jeder Sekunde, in der meine Gedanken wanderten, fühlte ich mich unwohler in meiner Haut. Ich war so dumm. Fay schien eine nette junge Frau zu sein und ich war einfach nur unhöflich und dämlich gewesen. Ich hasste es, dass ich mich nicht zusammenreißen konnte, dass ich mich so sehr verändert hatte. Selbst das Gesicht im Spiegel war mir fremd geworden. Es sah anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Alt und abgemagert, mit dunklen Ringen unter den vom Weinen geröteten Augen. Es war hässlich. Alles, was ich darin sehen konnte, war abstoßend und ich fragte mich, wie mich jemals ein Mensch hatte schön finden können. Wahrscheinlich hatten sie das nie ... Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus, dann brachte ich die Morgentoilette zu Ende und verschwand so schnell es ging aus dem Badezimmer. Ich musste hier raus, nicht nur aus dem Bad, nein, aus dem Haus. Ich wollte an die Luft, dahin wo mich niemand hören würde und wo ich niemandem auf die Nerven ging. Ich schlüpfte eilig in meinen Mantel und ging zur Tür hinaus. Es war das erste Mal seit meinem Einzug, dass ich hinaus ging und es tat mir unheimlich gut. Ich spazierte querfeldein über die Wiesen, die sich hinter dem Haus erstreckten. Yasha und Isaak hatten sich mir angeschlossen und wir liefen stundenlang ziellos durch die Gegend. Es war so angenehm, niemandem unverhofft zu begegnen, mich nicht für meine Schwäche erklären und entschuldigen zu müssen und einfach nur zu laufen.  Erst spät am Abend kamen wir zurück, durchgefroren und erledigt aber dennoch zufrieden. "Da bist du ja endlich", begrüßte mich Sofia, die bereits im Salon auf mich gewartet hatte. "Wo warst du?" "Spazieren. Ich musste etwas an die Luft." Sie winkte mich zu sich und bat mich, mich zu setzen. "Dir geht es besser." "Ja, ein bisschen." "Das freut mich!" Sie wirkte erleichtert. "Ich fürchtete schon, dich demnächst an einem Baum hängen zu sehen." "... Nein, das könnte ich nicht." Sie sah mich prüfend an. "Du hast es schon einmal versucht." "Das war anders ..." Ich verknotete meine Hände fest ineinander und blickte starr auf die Teekanne, die auf dem Tisch stand. Das kleine bisschen Leichtigkeit, das mir der Spaziergang beschert hatte, war wieder verschwunden und Sofia schien nicht zu bemerken, dass ich nicht im Geringsten Lust auf ein solches Gespräch hatte. "Was war anders?", fragte sie ungeniert weiter. "Die Situation. Ich war verzweifelt." Ich gab mir Mühe so ruhig wie möglich zu antworten. "Warum?" Ich schwieg. "Megan?" "Ich will darüber nicht sprechen." Die Erinnerungen wollten sich wieder zurück in meinen Kopf drängen und ich biss die Zähne fest zusammen, um das zu verhindern. Ich wurde zunehmend unruhiger, während ich Sofias Blicke auf mir spürte. "Ich will das nicht", wiederholte ich meine Worte, um Sofia davon zu überzeugen, dass sie nicht weiter fragen sollte. Sie wusste schon genug und ich konnte nur hoffen, dass sie es verstehen würde. "In Ordnung. Wenn du noch nicht bereit bist, dann muss ich das akzeptieren." Sie seufzte leise und stellte ihre Tasse auf den Tisch. "Ich hatte angenommen, dass es gut für dich wäre, wenn du dich jemandem anvertrauen könntest, anstatt dich alleine durch deine Probleme zu kämpfen. Ich bin gerne für dich da, wenn du reden möchtest." "Danke ... ich werde darüber nachdenken." Ich war sicher, dass ich es nicht tun würde. Ich wollte nicht darüber sprechen, mit niemandem, ich wollte es einfach nur vergessen, aber das konnte ich nicht, wenn man mich immer wieder darauf ansprach. Schon jetzt flackerten die Bilder an meinem inneren Auge vorbei, obwohl ich kein Wort darüber verloren hatte. Meine Beine wurden weich und ich spürte, wie mein schwarzes Loch an mir zu zerren begann. "Ich habe mir noch etwas anderes für dich überlegt", warf Sofia unerwartet zwischen mich und meinen Abgrund. "Wenn du nicht mit mir sprechen möchtest, dann ist das wahrscheinlich genau das Richtige für dich!" Ich sah sie fragend an und sie erhob sich. "Du wirst dich körperlich ertüchtigen! Das wird dich auf andere Gedanken bringen und du wirst danach gewiss besser schlafen." Sie ging einige Schritte zu einer Kommode und brachte mir ein Stoffbündel, das darauf abgelegt worden war. Körperliche Ertüchtigung? Das war vielleicht gar keine schlechte Idee. Etwas Bewegung würde mir sicher nicht schaden. Ich entfaltete das Bündel in meinen Händen. "Eine Hose?" "Natürlich. Oder dachtest du, du wirst mit Rock trainiert?" "Nun ... ja." Sofia lachte herzlich und wies mich an, die Hose gleich anzuziehen. "Sie passt nicht", erklärte ich trocken, nachdem ich sie hochgezogen und geschlossen hatte. "Sie passt." Sofia widersprach mir und schmunzelte zufrieden. "Sie ist zu eng." "Nein, du bist es bloß nicht gewohnt. Das vergeht mit der Zeit." Ich atmete tief durch. "Ist gut." "Dann kann es jetzt losgehen!" Sie wandte sich zum Treppenhaus und begann lauter zu sprechen: "Ezra! Sie ist fertig!" Ich fuhr herum. Wieso Ezra? Mein Puls war in die Höhe geschnellt. "Keine Sorge, er ist ein guter Lehrer." Das beruhigte mich nicht. Ich wusste nicht, was das plötzlich sollte und was mir nun bevorstand. Ich hörte seine Schritte und es dauerte nicht lange, bis er vor uns auftauchte. Kühl und distanziert wie immer. "Aber ich dachte ..." Ich hatte angenommen, Sofia würde mir zeigen um was es ging. Was auch immer es war, ich wollte es nicht mit Ezra tun. Er selbst wirkte ebenso wenig erfreut darüber, mir etwas beibringen zu müssen und das machte es noch schlimmer. "Viel Spaß euch beiden", verabschiedete sich Sofia vergnügt und schob mich in Ezras Richtung. "Nein, aber ich will-" "Komm jetzt." Ezras Tonfall war hart, als er mich aufforderte, mit ihm zu kommen. Alles in mir sträubte sich, doch mir blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzulaufen, als er die Tür zum Keller öffnete und nach unten verschwand. Ich atmete tief durch, sammelte all meinen Mut zusammen, nahm die Öllampe vom Haken im Flur und stieg hinunter in die Kälte. Wir passierten einige Regale voller Vorräte. Alles mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Ezra führte mich zu einer weiteren Tür und ließ mich in einen zweiten Raum treten. Ich konnte nichts sehen, nur kahle Wände und Sand am Boden. "Unser Übungsraum", erklärte Ezra und schloss die Tür hinter sich. "Geh die Lampen anzünden." Er stand wartend, mit verschränkten Armen, neben dem Eingang, als ich mich zu ihm umdrehte. "Was tun wir hier?" Die Frage quälte mich und ich brauchte dringend eine Antwort. "Selbstverteidigung, damit du stärker wirst." Ich musste es mir kurz durch den Kopf gehen lassen. Für Ezras Geschmack offenbar zu lang, denn er fuhr fort: "Damit du nicht mehr so hilflos bist." Hilflos? Es hörte sich nicht schön an, wie er das sagte, doch ich musste mir eingestehen, dass er recht hatte. Gerade jetzt, in dieser Situation spürte ich es ganz deutlich. "Ich bin nicht sicher, ob ich das kann." "Deswegen sind wir hier. Jetzt entzünde die Lampen." Ich befolgte seine Anweisungen und brachte Licht in den großen Raum, dann stellte ich die Lampe auf einen kleinen hölzernen Tisch, der sich im Dunkeln verborgen hatte. Ezra hatte sich zur Mitte des Raumes begeben und wartete dort auf mich. Ich schluckte und näherte mich ihm zögerlich. Ich hatte Angst vor dem was jetzt passieren würde, auch wenn ich nicht einmal wusste, was es war. "Wir beginnen mit etwas Leichtem", verkündete er, als ich vor ihm stand, "Rechts- oder Linkshänder?" "Rechts." Er hob seine linke Hand. "Schlag in meine Hand." Ich betrachtete seine offene Handfläche. Ich sollte ihn schlagen? "Worauf wartest du?" "Entschuldigung!" Ich musste mich zusammenreißen. Auf keinen Fall wollte ich ihn verärgern, also ballte ich meine Hand zur Faust und schlug zu. Sein Arm bewegte sich keinen Millimeter. Er forderte mich zu einem festeren Schlag auf und ich tat mein Bestes. Diesmal fing er meine Faust und hielt sie fest. "An deiner Schlagkraft musst du noch arbeiten. Und nimm den Daumen nach außen, sonst brichst du ihn dir." "Oh ... in Ordnung." Er lockerte seine Finger, die meine Hand umfasst hatten, und zeigte mir, wie ich eine anständige Faust machte. Dass er von meinen Schlägen nicht beeindruckt sein würde, hatte ich erwartet. Ich war schließlich weder kampfsporterfahren, noch überhaupt besonders aktiv und ich kam mir komisch dabei vor, in seine Handfläche zu schlagen. Ich fühlte mich unwohl dabei und es wäre mir tausendmal lieber gewesen, hätte ich das mit Sofia machen können. "Noch mal." Ich schlug meine Faust erneut in seine Hand. "Mit mehr Motivation", forderte Ezra und ließ mich noch einige Male zuschlagen. "Du nimmst es nicht ernst", stellte er nach einigen Schlägen mit meiner Linken fest. "Nein, ich ... es tut mir leid, ich komme mir dabei nur merkwürdig vor. Es ist neu für mich." "Danach fragt auf der Straße aber niemand." Richtig. Trotzdem konnte ich mich nicht überwinden und Ezra ging zu einem anderen Programmpunkt über. "Ich werde dir später einen Sandsack aufhängen, damit kannst du üben, wenn ich nicht da bin." "Ja, das werde ich", versprach ich. Ezra zeigte mir einige Griffe, mit denen ich einen Angreifer kurzzeitig aus dem Konzept bringen konnte, um fliehen zu können. Es war merkwürdig. Obwohl Ezra sich mir gegenüber sehr neutral verhielt, fühlte ich mich schlecht. Ich konnte nicht verdrängen, was er zu Sofia gesagt hatte, dass ich unfähig war und dass er etwas unternehmen würde, wenn sich nichts änderte. "Hast du das so weit verstanden?" "Ja." Ich hoffte es verstanden zu haben. In der Theorie war es nicht allzu schwer, nur die Praxis machte mir Sorgen. Wir gingen die Bewegungsabläufe langsam und Stück für Stück durch. Verschiedene Szenarien, Frontalangriff und Überraschungsangriff von hinten, oder von der Seite. Es war viel zu merken, einiges verstand ich nicht, doch ich wollte ihn nicht bitten, es mir noch einmal zu erklären. "Ich werde jetzt versuchen dich anzugreifen", erklärte Ezra, nachdem er mir eine gefühlte Stunde lang gezeigt hatte, welche möglichen Abwehrmethoden es gab. "Konzentriere dich." Ich versuchte mir alle Bewegungsabläufe noch einmal in Erinnerung zu rufen. Ich wusste, dass mir einiges entfallen war, aber es würde schon gut gehen. "Es kann losgehen." Ich machte mich bereit. Ezra kam auf mich zu. Er bewegte sich viel schneller, als während unserer Proben und meine Gedanken fingen an, wild umeinander zu springen. Ich wusste nicht mehr, was zu tun war. Er war bei mir und griff nach meinen Armen, noch bevor ich reagieren konnte. Er hielt mich fest und Panik stieg in mir hoch. Es fühlte sich plötzlich echt an und ich wollte meine Arme losreißen, doch er war zu stark. Mir wurde heiß und ich konnte kaum mehr atmen. Er war mir plötzlich so nah und seine Berührungen drehten mir den Magen um. In meiner Nase brannte der beißende Geruch von Schnaps gemischt mit Leder. Ich wurde auf den Tisch geworfen und er drückte meine Luftröhre zusammen. Mein Körper war wie gelähmt, ich stand unter Schock und konnte nichts tun, als er meine Bluse zerriss. Er lag auf mir wie Blei, genauso giftig und tödlich und in meinen Ohren hallten die zwischen Ohrfeigen die hässlichsten Schimpfwörter, die ich je gehört hatte. Ich wollte sterben, nur um zu entkommen. Diesmal konnte ich nicht fliehen, ich war zu schwach, um ihn noch einmal zu töten. Er würde bekommen was er wollte. Er hatte mich so weit gebracht, dass ich aufgeben musste. Ich konnte ihm nicht entkommen. Michaels Vater packte mich fest an den Schultern. Er begann mich zu schütteln und das kleine Bisschen Mageninhalt, dass ich in mir hatte, bahnte sich seinen Weg aus mir heraus. "Hast du gerade ...?" Ezra klang entsetzt. Ich wusste überhaupt nicht mehr wo ich war, als ich die Augen wieder öffnete. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich schwitze, während mir kalte Schauer über den gesamten Körper liefen. Ezra kniete vor mir auf dem Boden und hatte seine Hände an meine Schultern gelegt. Ich stieß mich von ihm fort und rutschte hastig zurück. Meine Sicht trübte sich und ich schlag die Arme fest um meinen Körper. Es war die realste Erinnerung gewesen, die mich je heimgesucht hatte. Mir war noch immer übel und ich war unfähig das Zittern abzustellen, das mich befallen hatte, obwohl ich wusste, dass es nicht echt gewesen war. Ich war unversehrt und fühlte mich dennoch wie in der Nacht, als der Schuster mich überfallen hatte. "Steh auf." Ezra war herübergekommen und hielt mir seine Hand hin. Ich starrte sie nur an, regungslos. "Worauf wartest du? Ich bleibe nicht ewig hier stehen." "Entschuldige ...", brachte ich unter Tränen hervor. "Du brauchst dich nicht entschuldigen. Gib mir deine Hand und lass uns mit etwas anderem weitermachen." Weitermachen? Wie konnte er jetzt noch ans Weitermachen denken? Ich war fassungslos. Ezra schien es egal zu sein, dass ich mich quälte, es interessierte ihn nicht, was mit mir geschehen war und warum ich so schwach war. Mein zukünftiges Ich war es, an dem er arbeiten wollte und ich gab ihm meine Hand, dass er mich hochzog. 012 – Reibereien ---------------- Ich griff seine Hand, wich zur Seite und riss ihn mit Schwung zu Boden, noch bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. Ezra blies erschöpft die Luft aus und blieb im Sand liegen. "Hat Magdalena dir etwas ins Essen gemischt?" "Nichts anderes als sonst auch." Ich half ihm auf die Beine. Es hatte lange gedauert, bis ich es geschafft hatte, Ezra zu Fall zu bringen. Über drei Jahre lang hatte er mich jeden zweiten Abend trainiert. Ausdauer, Stärke und Schnelligkeit und heute hatte ich ihn zum ersten Mal zu Boden gehen sehen. Ein unbeschreiblicher Triumph. Ich wischte den Schweiß von meiner Stirn und konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Es war auch nicht nötig, Ezra konnte es sowieso nicht sehen. "Gratuliere, damit können wir das Training für heute beenden." "Danke." Er nickte und wand sich schließlich von mir ab, um den Keller zu verlassen. In mir rauschten die Glücksgefühle wie wild. Es war ein fabelhafter Tag. Nicht nur wegen meines Sieges, nein, ich hatte Lauras Geschichte letzte Nacht beendet und sie Sofia zum Lesen gegeben. Es war ein dickes Buch geworden, ganz anders, als ich es ursprünglich geplant hatte und ich war zufrieden mit dem Ergebnis. Pete hatte zu seiner Schwester zurückgefunden und gemeinsam hatten sie sich ihre eigene Welt erkämpft. Ich war gespannt, was Sofia dazu sagen würde. Es war längst weit nach Mitternacht, als ich aus dem Badezimmer kam. Nach meinem Sieg über Ezra hatte ich ein ausgedehntes Bad verdient und das brauchte nun mal Zeit. Gewöhnlich ging ich nicht so früh zu Bett, heute gab es jedoch nichts mehr zu tun. Die Schreibmaschine, die ich vergangenes Jahr zu meinem zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, durfte heute ruhen und ich schloss mich dem an. Ich hatte keine Angst mehr vor dem Schlafen. Meine Alpträume hatten sich längst verzogen und auch tagsüber fühlte ich mich fast wie vor meinem Absturz, nur stärker. Ich war nicht mehr das kleine, schwache Mädchen, dass man herumschubsen konnte. Ich verfügte inzwischen sowohl körperlich, wie auch mental über die nötige Stärke, die es brauchte, um in dieser Welt zu überleben. Sofia hatte einiges dazu beigetragen, sie war eine ebenso gute Lehrerin, wie Ezra, nur auf eine andere Art. Sie hatte meinen Geist neu aufgebaut, mich motiviert und bestärkt in allem was ich tat. Du bist stärker, als du selbst weißt. Das hatte sie gerne gesagt. Besonders im ersten Jahr hatte sie mich immer wieder auffangen müssen. Es war kein leichtes Jahr gewesen. Der Tiefpunkt meiner Depression war ein mehr oder minder beabsichtigter Sturz im Treppenhaus gewesen. Ich hatte etwas spüren wollen, etwas, das nicht mit meinen Erinnerungen zusammenhing. Es war dumm gewesen und ich war nicht stolz darauf, nur konnte ich es sowieso nicht mehr  ändern, also verbuchte ich es unter Dämlicher Aussetzer und dachte nicht weiter darüber nach. Ich dachte generell nicht mehr viel über Vergangenes nach. Es schmerzte noch, also hatte ich es verschlossen. Ich segelte gerade allmählich hinüber ins Land der Träume, als es an meiner Tür klopfte. "Megan? Bist du noch wach?" "Ja, komm herein." Meine Tür öffnete sich und Fay trat ein. "Hast du schon geschlafen?" "Nein, noch nicht. Was gibt es?" Sie schloss die Tür hinter sich und kam an mein Bett. "Kann ich eine Weile hier bleiben?" Ich sah sie fragend an. "Was ist denn los?" Normalerweise kam Fay nicht des Nachts in mein Zimmer und bat mich um Unterschlupf. Wir hatten uns angefreundet und ich verbrachte gerne Zeit mit ihr, ungewöhnlich war dieser nächtliche Besuch dennoch. "Ich fühle mich nicht gut und ich will heute nicht bei Ezra schlafen", erklärte sie mir ihre missliche Lage. "Meine Kutsche kommt erst um 10 Uhr morgen früh ..." "Dann willst du hier schlafen?" "Wenn ich darf." Es war ein wenig unkonventionell, trotzdem ließ ich sie unter meine Decke schlüpfen. Das Bett war groß genug für uns beide und wegschicken wollte ich sie nicht. "Versteht Ezra es denn nicht, wenn du keine Lust hast?" Sie seufzte. "Doch, sicher. Ich kann mich aber nicht einfach neben ihn legen und schlafen." "Ach so." Gewöhnlich sprachen wir nicht über die Dinge, wegen derer sie Ezra besuchte. Es war kein Thema, über das man so offen sprechen konnte, jedenfalls nahm ich das an, denn bisher hatte mir niemand gesagt, welche Art Beziehung die beiden führten. Vielleicht war jetzt genau der richtige Moment, das herauszufinden. "Darf ich dich etwas fragen?" "Sicher, frag ruhig." Ich war nervös. Es war eben anders, als über eine neue Frisur zu sprechen. "Was ist das zwischen euch beiden?" Fay hatte sich in meine Richtung gedreht und sah mich nachdenklich an. "Das ist ein bisschen kompliziert", begann sie schließlich zögerlich, "Er braucht mich, weißt du." "Brauchen? Wozu?" "Das kann ich dir nicht sagen. Er würde mich steinigen, wenn ich es dir verrate!" Sie lachte. "Schlaft ihr miteinander?" Die Frage brannte mir schon lange unter den Nägeln. "Megan!", fuhr sie mich entgeistert an. "Nein, tun wir nicht. Ich bin doch keine Dirne!" "Nun ... ich dachte nur, weil ... na ja, du immer erst abends hierher kommst und über Nacht bleibst und meistens verschwindest du am Morgen wieder." "Jetzt wo du es sagst ..." Fay ließ sich meine Worte durch den Kopf gehen. "Man könnte auf den Gedanken kommen, aber so ist es nicht. Und jetzt frag bitte nicht weiter, du bringst mich sonst in Schwierigkeiten." "Ist gut. Dann gute Nacht." "Gute Nacht." Meine Gedanken kreisten noch eine ganze Weile um die merkwürdige Verbindung, die Fay mit Ezra hatte. Er brauchte sie also, nur wozu, wenn nicht zum Vergnügen? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Es war eigenartig, doch heute würde ich das Rätsel gewiss nicht mehr lösen. Ich fand mich damit ab und drehte mich zur Seite. "Weiß er, dass du hier bist?", fragte ich leise. "Ich denke schon, er weiß fast immer wo ich bin." Ihre Antwort stiftete mehr Verwirrung, als dass ich schlau daraus werden konnte. Mir blieb nur zu hoffen, dass Ezra es uns nicht übel nehmen würde, wenn er erfuhr, dass Fay die Nacht über bei mir gewesen war.   —   Wenig später wurde ich geweckt. Jedenfalls fühlte es sich so an. Fay wälzte sich unruhig hin und her und ich bekam einen ihrer Arme ins Gesicht geschlagen. "Au! Was? Fay ..." Sie schien zu träumen und ich beschloss sie davon zu erlösen. "Wach auf, du träumst!" Es war befremdlich, dass nun ich diejenige war, die jemanden aus einem Alptraum wecken musste. Es fühlte sich gut an. Fay blinzelte mich verblüfft an. Draußen wurde es langsam hell und ich konnte ihr Gesicht gut erkennen. Sie trug Schweißperlen auf der Stirn und sah erschöpft aus. Ich hatte ein ungutes Gefühl, während sie mich orientierungslos anstarrte, und legte meine Hand auf ihre Stirn. Sie war heiß. "Fay, du hast Fieber." Ich schlug meine Decke zurück und stand auf. "Ich bringe dir etwas zu trinken und ein kühles Tuch." Dann verließ ich mein Zimmer und eilte ins Bad. Auf dem Flur kam mir Ezra entgegen. Er wirkte verstimmt. "Sie ist bei dir, nicht?", fragte er, während ich ein Tuch unter den laufenden Wasserhahn hielt. "Ja, es geht ihr nicht gut. Sie braucht Ruhe." "Verstehe." Ezras Tonfall war trocken und distanziert, so wie er früher oft mit mir gesprochen hatte. Für gewöhnlich pflegte er einen neutraleren Ton, wenn er mit mir sprach. Heute war seine Laune offensichtlich getrübt. "Sag ihr, sie soll morgen wieder kommen." "Das wird nicht gehen. Sie ist krank." Er schnaubte entnervt. "Schön, dann nicht." "Du könntest dich ruhig etwas um sie sorgen." Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen, schließlich war ich noch weit davon entfernt, ihm solche Vorwürfe machen zu dürfen, es war mir nur sehr missfallen, wie wenig Fays Gesundheit ihn interessierte. "Ein Sieg und schon wirst du überheblich? Kleine Megan, misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen, sonst wirst du es bereuen." Er wandte sich ab, als ich nichts mehr dazu sagte, und ging in sein Zimmer. Sogar für seine Verhältnisse war das eine ungewöhnlich barsche Antwort gewesen. Ich schob den Gedanken schnell beiseite und ging zurück in mein Zimmer, um Fay mit Wasser zu versorgen und ihre Stirn zu kühlen. Sie hatte die Unterhaltung zwischen Ezra und mir mitbekommen und sah mich entschuldigend an. "Tut mir leid, dass du wegen mir Ärger hast." "Nein Blödsinn, das ist nicht deine Schuld. Ezra ist schlecht drauf." Fay sagte nichts mehr, sie trank ein paar Schlucke und lehnte sich zurück. Ich legte ihr das feuchte Tuch auf die Stirn und begab mich zurück in mein Bett. Ich bemühte mich, noch eine Weile wach zu bleiben, um Fay im Auge zu behalten, doch die Müdigkeit hatte mich schnell eingeholt. Ich schlief ruhig weiter, als wäre nichts gewesen und wurde erst sehr viel später von ganz alleine wach. Fay war verschwunden. Ich sah auf die Uhr und es war bereits früher Nachmittag. Als ich nach unten in die Küche ging, fand ich diese verlassen vor. Auf dem Tisch lag eine Notiz von Magdalena: Bin mit Fay in die Stadt gefahren. Essen steht im Backofen. Wenigstens hatte Fay nicht alleine in ihrem Zustand nach Hause fahren müssen. Ich hoffte sehr, dass es ihr bald besser gehen würde. Nach einem kleinen Mittagessen zog ich mich um und ging nach draußen. Hosen fand ich gar nicht mehr so unbequem, im Gegenteil, sie waren sehr praktisch. Ich rief die Hunde herbei und nahm sie mit zum Laufen. Yasha und Isaak trieben sich bei gutem Wetter draußen auf den Wiesen herum und sie folgten mir inzwischen aufs Wort. Ich lief mit ihnen zum Waldrand, der etwa drei bis vier Meilen entfernt war. Das tat ich immer, wenn ein Tag ohne abendliches Training mit Ezra anstand. Ich hatte diesen ungeheuren Bewegungsdrang entwickelt, der mir dabei half meinen Kopf freizubekommen. Am Anfang war es fast eine Sucht gewesen, inzwischen war es reine Routine und ich konnte mir meine Tage nicht mehr ohne diese schweißtreibende Unternehmung vorstellen. Im Winter war es zuweilen unangenehm, aber jetzt, im August, machte es unheimlich Spaß. Ich hatte mich schnell an die neuen Temperaturen gewöhnt, schneller als ich das erwartet hatte, und nach dem ersten Winter war der Zweite nur noch halb so schlimm gewesen. Neben meiner stark verbesserten Ausdauer war ich auch deutlich schneller geworden. Nicht so schnell wie die Hunde, aber das lag wohl in der Natur der Sache. In weniger als einer Stunde erreichten wir den Waldrand. Wir pausierten im Schatten der Tannen, ich setzte mich ins hohe Gras und lauschte der Natur, die mich umgab. Vögel zwitscherten vergnügt in den Wipfeln über uns und die Luft duftete nach Wald und Wiese. Ich fühlte mich hier sehr wohl, als wäre ich angekommen, wo ich hingehörte. Dieses Stückchen Land war mehr Heimat, als jedes vorherige zu Hause es je gewesen war. "Isaak, komm hier her!" Sein kurzes Fell glänzte in der Sonne, als er eilig zu mir herüberkam. Ich benutzte ihn als Kopfkissen und genoss noch eine ganze Weile die lebhafte Ruhe, weit ab jeglicher Zivilisation. Für den heutigen Tag hatte ich mir keine Pläne zurechtgelegt, ich würde mich treiben lassen und sehen, was er bringen würde. In den letzten Monaten hatte mein Zeitgefühl, wegen genau dieser Tage, sehr gelitten. Meine Tagesabläufe waren, bis auf die Trainingseinheiten, immer sehr flexibel in ihrer Gestaltung. Es gab keine Termine, keinen Druck und überhaupt konnte ich tun und lassen, wonach mir der Sinn stand. Manchmal las ich die ganze Nacht, dann verbrachte ich eine Woche an der Schreibmaschine oder ich war stundenlang draußen unterwegs. Es war fast zu schön, um wahr zu sein und tatsächlich war Sofias einzige Anforderung, dass ich sie mit neuen Geschichten versorgte und das tat ich. Ich erfüllte ihr jeden Wunsch. Wenn sie eine Liebesgeschichte lesen wollte, schrieb ich eine Liebesgeschichte. Wenn es ein wildes Abenteuer sein sollte, so bekam sie auch das. Es gab nur eine einzige Geschichte, die ich bisher noch nicht hatte niederschreiben können, obwohl sie mich schon so oft darum gebeten hatte. Es ging nicht. Aus heiterem Himmel fiel mein Kopf auf den Boden. "Hey! Isaak! Was soll das?" Er war aufgesprungen und hatte blitzartig den Heimweg angetreten. Yasha hatte die Verfolgung aufgenommen und beide rannten zurück nach Hause. Ich sah den Zweien ratlos hinterher, bis mir ein Regentropfen auf den Arm fiel. Über mir hatten sich einige dicke Wolken zusammengetan. Jetzt verstand ich Isaaks Aufregung, er hasste Regenwetter. Yasha hatte das Jagdfiebergepackt, als sein Freund so plötzlich davonstob. Ein weiterer Tropfen. Noch einer. Ich beeilte mich, davonzukommen, um einigermaßen trocken zu bleiben. Es war aussichtlos. Der aufkommende Wind blies mir die Wolken so schnell hinterher, dass ich eine Stunde später tropfnass ins Haus flüchtete. Alles klebte an mir. Ich verschwand eilig in mein Zimmer, um die nassen Sachen abzustreifen und warf mich in eines der neuen Kleider, die Sofia mir aus der Stadt mitgebracht hatte. Es war nachtblau, knielang und wunderschön. Sofia hatte mir schon häufiger Kleider, Hosen und Blusen gekauft, mein Kleiderschrank war voll davon und trotzdem brachte sie ständig neue Sachen. Als wäre ich die Tochter, die sie nie hatte. Vielleicht war ich das sogar, denn Kinder hatte sie nicht, das hatte sie mir erzählt.  Es war kurz nach halb sechs, als ich mich auf den Weg in die Bibliothek machte. Am Fenster standen zwei Sessel, einer gehörte mir. Ich hatte ihn schon im ersten Jahr bekommen, da ich mich geweigert hatte, auf Sofias altem Erbstück Platz zu nehmen. Ich nahm das Buch vom Beistelltisch und fuhr fort. Eine Tragödie von Shakespeare. Macbeth. Kurz nachdem ich den vierten Akt beendet hatte, öffnete sich die Tür und Sofia trat ein. "Guten Abend", grüßte sie mich und ich erwiderte den Gruß. Sie kam herüber und nahm in ihrem Sessel Platz, in der Hand hielt sie die Seiten meines Romans. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlug sie es in der Mitte auf und begann zu lesen. Es war nicht ungewöhnlich, dass wir zusammen in der Bibliothek saßen und uns in die Geschichten vertieften, die uns in Händen lagen, nur war es aufregender, wenn ich wusste, dass es meine Geschichte war, die sie gerade las. Es fiel mir schwer, Shakespeares Worten zu folgen. Meine Gedanken schweiften ständig ab und ich musste alles dreimal lesen, um es wahrzunehmen. "Wie findest du es?", fragte ich nach einigen quälenden Minuten. Sofia blickte mich nüchtern an. "Es ist düster." Ich war nicht sicher, ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Ihrem Gesicht konnte ich es nicht entnehmen. "Als du mir das letzte Mal davon erzähltest, klang es noch weitaus fröhlicher." "Ja, ich habe meinen Plan ein wenig umgeschrieben. So gefällt es mir besser." "Pete will seine Mutter töten?" Ich schwieg einen Augenblick. Fand sie das schlimm? "Nun ... ja. Sie war doch überhaupt erst schuld an der ganzen Sache." "Verstehe." Endlich lächelte sie. "Ich bin gespannt, ob er das in seinem Zustand schafft." "Sein Zustand?" Er war bei bester Gesundheit. "Er kommt mir ein wenig zerrissen vor. Nicht fokussiert genug." "Oh ... ach das. Ja, er ist ... nein, ich sage nichts." Sofia schmunzelte vergnügt. Ich mochte es, wenn sie mich mit dieser Mischung aus Neugierde und Stolz betrachtete. Es ließ mich wachsen. Sie wandte sich wieder meiner Geschichte zu und auch ich konnte meine Konzentration zurück zu Macbeth lenken. Als ich fertig war, stellte ich fest, dass dieses nicht zu meinen Lieblingswerken zählen würde, und lehnte mich abwartend zurück. Sofia war noch lange nicht fertig. Vermutlich würde sie es heute nicht mehr schaffen, bis zum Schluss zu gelangen. Auf ein kurzes Zwischenfazit konnte ich mich dennoch einstellen. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis sie mich wieder ansah. "Ich möchte dir eine Frage stellen." "Ja, was möchtest du wissen?" Ich rechnete mit einer Frage zum Inhalt meiner Geschichte, doch das war es nicht, was Sofia beschäftigte. "Wie kommt es, dass du in dieser Geschichte so viele Dinge ansprichst, die dich verletzt haben, und du dich trotzdem noch immer weigerst, deine eigene Geschichte zu erzählen?" "Weil es etwas anderes ist." Ich hatte es ihr schon mehrfach erklärt und sie versuchte es dennoch immer wieder. "Du weißt, dass es inzwischen dreieinhalb Jahre her ist, dass ich dich mitgenommen habe." "Das ist mir bewusst." Sie legte mein Buch zur Seite und fuhr fort: "Ich weiß sehr wohl, dass ich dich nicht zwingen kann und doch möchte ich dich erneut darum bitten, endlich damit anzufangen." "Warum? Wie du siehst, geht es mir auch ohne diesen Blödsinn hervorragend!" Ich wurde wütend. Sofia konnte es einfach nicht lassen. Ich verstand nicht einmal, warum ihr so viel daran lag, dass ich es aufschrieb. Kein Mensch würde das lesen wollen. Und überhaupt war es mir sowieso viel lieber, wenn es niemand wusste. Es war meine Geschichte und sie ging niemanden etwas an! "Du brauchst nicht zornig werden." "Ich bin es aber! Und das ist nicht meine Schuld!" Ich erhob mich zügig aus meinem Sessel. "Gute Nacht!" Dann stürmte ich aus der Bibliothek und ging nach unten, um mir mein Abendessen abzuholen. Ich atmete tief durch, bevor ich die Küche betrat, um mich abzukühlen. Magdalena saß mit ihrer Lesebrille über ein kleines Heft gebeugt und hob den Kopf, als ich eintrat. "Ist etwas passiert?" "Nein", antwortete ich barsch. Ich spürte ihre Blicke in meinem Nacken, während ich mir meinen Teller belud. "Sofia quält mich", fügte ich schließlich hinzu und bemühte mich, dabei wieder freundlicher zu klingen. "Was tut sie denn?" "Sie will noch immer, dass ich es aufschreibe. Was ich erlebt habe." Ich setzte mich zu ihr an den Tisch und begann zu essen. "Und du willst nicht." "Natürlich nicht! Das ist längst vergangen!" Magdalena sah mich so mütterlich an, dass mein Zorn sich unter ihren sanften Augen in Rauch auflöste. Sie musste nicht einmal etwas sagen und ich wurde ruhiger. "Entschuldige." Es tat mir leid, dass ich sie so grob angefahren hatte. "Nicht bei mir. Entschuldige dich lieber bei Sofia, sie will dir nur helfen." "Ich weiß ... ich bin undankbar." Sie lachte. "Nein, das habe ich nicht gesagt. Du bist nur noch lange nicht so weit darüber hinweg, wie du vielleicht denkst." Ich zog die Gabel zwischen meinen Lippen hervor und sah Magdalena prüfend an. "Was soll das heißen?" "Dass du es erfolgreich verdrängst." "Ach ja?" "Du wirst schon wieder unruhig." Sie hatte recht. In mir köchelte es und ich wollte es nicht einmal abstellen. Ich konzentrierte mich auf meinen Teller, bevor ich ein böses Wort verlor, und ließ es weiter brodeln. Auch Magdalena verhielt sich still, sie hatte sich erneut dem kleinen Heft zugewandt und notierte etwas darin. "Wie geht es Fay?", fragte ich schließlich, als mein Teller leer war. "Sie ist in Ordnung." Magdalena hob den Blick von ihrem Heft. "Der Arzt meinte, dass sie eine Erkältung hat. In ein paar Tagen wird es ihr besser gehen." "Ein Glück." Ich brachte meinen Teller ans Waschbecken und stützte mich dagegen. Von hieraus konnte man die Straße Richtung Stadt sehen. Draußen regnete es noch immer in Strömen. Am Horizont zuckten Blitze durch den Himmel und ich hörte das Donnergrollen, das sie begleitete. Wenn der Wind sich nicht drehte, würde es in kurzer Zeit unser Haus erreicht haben. "Wieso ist es Sofia überhaupt so wichtig, dass ich es aufschreibe?" Ich war ruhiger geworden. Eine Antwort benötigte ich dennoch. "Damit du es verarbeiten kannst." "Und was hat sie davon?" Magdalena sah mich nachdenklich an. "Wie kommst du darauf, dass sie sich etwas davon verspricht?" "Weil niemand derart beharrlich versuchen würde, jemanden davon zu überzeugen, etwas zu tun, was er nicht möchte, wenn er daraus keinen Nutzen ziehen könnte. Wäre es nicht so, hätte sie es längst akzeptiert ... Glaubt sie, dass die Geschichte sich gut vermarkten lässt? Kleines, naives Mädchen stolpert durch einen Tiefschlag nach dem anderen, um letztendlich von der barmherzigen Miss Volkova aus der Gosse gerettet zu werden ... Wieso sollte ich das der breiten Masse zugänglich machen?" Ich seufzte schwer und senkte den Blick. Ich war lauter geworden, als ich es gewollt hatte. "Tut mir leid ... Ich will das einfach nicht." Ein lautes Grollen drang von außen ins Haus. Das Gewitter kam näher. Ich sah Magdalena entschuldigend an. "Verstehst du mich?" Sie nickte. "Natürlich. Aber ich denke du irrst." Welche Möglichkeit gab es sonst? Ich erwartete ihre Erklärung. "Ich glaube nicht, dass Sofia deine Geschichte auf den Markt bringen wird, wenn du ihr sagst, dass du das nicht möchtest", fuhr Magdalena fort. "Sie ist zwar eine gute Geschäftsfrau, aber ich bin mir sicher, dass es ihr hierbei nicht um den Profit geht." "Sondern?" Sie sagte nichts mehr, stattdessen antwortete mir Sofia persönlich: "Ich möchte, dass du deine Schwächen ablegst." Sie stand in der Tür und musste uns gehört haben, ich war nicht sicher wie viel davon. "Oh ... Sofia. Verzeihung, ich wollte nicht schlecht über dich sprechen." "Das hast du nicht. Ich verstehe deine Bedenken." Sie kam in die Küche und nahm neben Magdalena Platz, die sich wieder abwandte und der Herrin dieses Hauses das Feld überließ. Sofia fuhr fort: "Ich verspreche dir, dass ich kein einziges Wort davon veröffentlichen werde, wenn du es nicht willst." Ich ließ es mir schweigend durch den Kopf gehen. Wenn sie es nicht veröffentlichen durfte, warum sollte ich meine Zeit damit verschwenden? "Was heißt 'Schwächen ablegen'? Welche Schwächen?" "Du wirst schnell ungehalten, wenn man dich auf deine Vergangenheit anspricht. Das alles ruht in dir hinter verschlossenen Türen und ich möchte nicht, dass jemand deine wunden Punkte gegen dich verwendet." Eine eigenwillige Erklärung. Es klang nach einer fadenscheinigen Ausrede, die mich von ihren guten Absichten überzeugen sollte. "Und wer soll das sein? Niemand weiß davon. Nur ich ... und die, die selbst darin verstrickt waren." "Man muss die Geschichte nicht kennen, um zu wissen, wo du verletzlich bist." "Ist das so?" Ich war skeptisch. Sie nickte. "Bin ich nicht viel verletzbarer, wenn ich meine Geheimnisse offenlege?" "Vertraust du mir nicht?" "Nein." Sofia lächelte. Sie lehnte sich entspannt zurück und strich mit einer Hand die roten Strähnen aus ihrem Gesicht. "Du bist so klug", sagte sie schließlich. Ich war überrascht, dass sie nicht versuchte, meine Zweifel zu zerschlagen. Stattdessen erhob sie sich und kam zu mir herüber ans Waschbecken. Sie blieb vor mir stehen, streckte ihre Hände nach mir aus und strich mit den Daumen über meine Wangen. Ich verharrte stumm, während sie mir fest in die Augen sah. Die Blitze ließen ihre Haut weiß leuchten. Es sah gespenstisch aus. "Ich hoffe, dass du eines Tages stark genug sein wirst, um über deine Ängste zu stehen. Bis dahin werde ich mich in Geduld üben." Sie schloss die Augen und ließ mich los. Ein schwaches Lächeln zuckte über ihre roten Lippen und sie drehte sich von mir fort. Sie wünschte mir eine gute Nacht, bevor sie die Küche verließ und nach oben verschwand. Ich wollte mich Magdalena zuwenden, doch sie war nicht mehr da. Wahrscheinlich war sie ins Bett gegangen, es war schon spät, und ich hatte es nicht mitbekommen. Sofias Worte hallten noch in meinen Ohren, als ich mein Zimmer betreten hatte. Auf dem Schreibtisch stand meine Schreibmaschine und funkelte mich bei jedem Blitzschlag an. Das Gewitter musste nun genau über uns sein, denn es blitzte und donnerte beinahe ununterbrochen. Ich zog meine Vorhänge zu. Wenn ich eines Tages stark genug bin ... War ich denn so schwach? Ich kam mir nicht mehr schwach vor, doch offenbar war ich es noch immer. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wollte ich Sofia vom Gegenteil überzeugen. Ich war nicht schwach! Ich hätte meine Geschichte längst schreiben können, wenn ich einen Sinn darin gesehen hätte. Schwäche war nicht das Problem ... oder doch? Ich entzündete die Lampe auf meinem Schreibtisch, nahm Platz und spannte das erste Papier in die Maschine. Ich war nicht schwach.  013 – Lauf! ----------- Ich hatte das Gewitter ausgeblendet. Meine Finger flogen über die Tastatur und ich verfasste die ersten Seiten meines Weges. Wieder und wieder riss ich das Papier aus der Maschine, knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb. Es war frustrierend. Über drei Stunden saß ich hier und hatte bisher nur eine einzige Seite vollendet. Ich konnte es nicht in Worte fassen und dabei hatte ich dort begonnen, wo es dem Anschein nach am leichtesten sein würde. In Los Angeles, auf dem Hof meines Vaters. Das übliche Sprudeln, das meine Gedanken beflügelte, sobald ich an meiner Schreibmaschine saß, blieb aus. Es hakte. Jeden Satz musste ich mehrfach durchdenken und am Ende verwarf ich ihn doch, nachdem er geschrieben war. Ich blies genervt die Luft aus meinen Lungen und lehnte mich zurück. Mein Geist schien sich noch immer dagegen wehren zu wollen, nur wollte ich das nicht hinnehmen. Ich fixierte das Papier und die schwarzen Buchstaben darauf. Es musste funktionieren, wenigstens einen Anfang wollte ich heute Nacht schaffen. Draußen grölte noch immer der Donner. Er war leiser geworden, doch man konnte ihn noch deutlich hören. Vor meiner Tür krachte es laut. Ich fuhr herum. Dieses Poltern war kein Donner gewesen. Ich stand auf und ging zur Tür. Das Licht aus meinem Zimmer schien über den sandfarbenen Läufer und ich folgte dem Lichtkegel bis zum Fuß der Treppe. "Ezra? Ist alles in Ordnung?" Er saß, nein, er hing mit gesenktem Kopf an der Kommode und antwortete nicht. War er die Treppe heruntergefallen? Ich war nicht sicher, wie ich mich verhalten sollte. Es war neu für mich, dass er Schwäche zeigte. Er richtete seinen Oberkörper mühevoll auf, bis er seinen Kopf nach hinten an die Seite der Kommode legen konnte. Seine Gesichtszüge waren angespannt. "Geht es?" Ich machte mir Sorgen. Wahrscheinlich hatte er sich verletzt. "Das geht dich nichts an", antwortete er scharf. "Aber ..." "Lass mich in Ruhe!" Er war laut geworden. Ich zögerte. Mir war klar, dass sein Stolz es ihm verbot, sich von mir helfen zu lassen, nur war jetzt nicht der Moment, um dem nachzugeben. Ich ging zu ihm, um ihm auf die Beine zu helfen. Er zuckte zusammen, als ich ihn berührte und schlug nach meiner Hand. "Ich hab gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!", fuhr er mich an. "Verschwinde!" So laut und hitzig hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich trat ein Stück zurück und beobachtete, wie er sich langsam selbst auf die Beine stellte. Er musste sich immer wieder an der Wand abstützen, während er wankend an mir vorbeiging. "Pass auf, die-!" Meine Warnung kam zu spät. Er fluchte leise und die schöne Vase auf dem kleinen Beistelltisch fiel zu Boden. Ich hatte so oft schon vergessen, dass er blind war. In diesem Augenblick wurde es mir wieder bewusst. Er war unsicher und tastete sich langsam den Flur entlang. Ich akzeptierte seinen Wunsch und holte mir eine Lampe aus meinem Zimmer, um die Scherben einzusammeln. Zwischen den Porzellansplittern fiel mir etwas auf. "Hast du dich an den Scherben geschnitten?" Schon im Moment, da ich es aussprach, fiel mir auf, dass das nicht sein konnte. Die kleinen Blutspritzer auf dem Läufer konnten nicht von seinem Zusammenstoß mit dem Beistelltisch sein. Ich sah mich um und entdeckte noch mehr davon. Kleine Tröpfchen überall auf dem Boden. "Ezra? Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?" Ich sah ihm nach und er verschwand wortlos in sein Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und ich stand wieder allein im Flur. Dann eben nicht ... Ich las die restlichen Scherben vom Boden und wollte zurück in mein Zimmer. Noch bevor ich mich diesem zugewandt hatte, blieb mein Blick an der Stelle hängen, an der Ezra zuvor gesessen hatte. An der Seite der Kommode hatte sich ein dunkler Fleck abgezeichnet. Ein Stück weiter oben, an der Wand, war ein zweiter, kleinerer Fleck. Ich trat ein Stück näher, um besser sehen zu können. Die Flecken glänzten im Schein meiner Lampe. Es waren Blutflecken. Mir wurde heiß. Was musste ihm zugestoßen sein, dass er solche Spuren hinterließ? Mit den Augen verfolgte ich den Weg, den er gegangen war, und fand immer mehr Flecken an den Wänden. Jedes Mal, wenn er sich abgestützt hatte, hatte er einen hinterlassen. Ich musste etwas unternehmen, sonst würde es womöglich das letzte Mal gewesen sein, dass ich ihn gesehen hatte und wenn ich ihm nicht helfen durfte, dann musste es jemand anderes tun. Sofia! Ich nahm drei Stufen auf einmal, hechtete nach oben und klopfte nervös gegen das Holz. Niemand öffnete. "Sofia! Mach auf!" Ich drückte die Türklinke hinunter und sie wurde mir aus der Hand gerissen, noch bevor ich am Anschlag war. "Was ist?" Sofia sah mich überrascht an, sie trug ein dünnes Nachtkleid und dunkle Schmieren. An ihrer sonst so makellosen Haut klebte Blut. Von ihrem Schlüsselbein war es notdürftig abgewischt worden. Im Gesicht trug sie noch zwei kleine Spritzer. Sie hatte meinen Blick bemerkt und wischte sich hastig über die Wange. Es ging so schnell, dass ich nicht sicher war, ob ich es mir bloß eingebildet hatte. "Was hast du?", fragte sie erneut. Ich wusste nicht mehr, weshalb ich hier war. "Megan?" "Was ist passiert?" Ich sprach so leise, dass ich es selbst kaum hörte. "Was meinst du? Es ist nichts." Dann fiel es mir ein: "Ezra! Sein Blut klebt überall im Flur! Er braucht Hilfe!" "Ich glaube du hast wieder geträumt." "Das war kein Traum." Sofias grüne Augen, die sonst so selbstbewusst strahlten, wirkten unsicher. Sie seufzte leise und sah mich müde an. "Geh in dein Bett, Megan." Warum nahm sie mich nicht ernst? War es ihr egal, ob Ezra sterben würde? "Er wird sterben, wenn wir nichts tun!" Ihr Ausdruck wurde schlagartig härter und ihre Worte zerschnitten die Luft, als sie mir antwortete: "Du solltest dich nicht in Dinge einmischen, die dich nichts angehen!" Ich blieb reglos vor ihr stehen.  Meine Finger hatten sich zu Fäusten verkrampft. Wieso wollte sie ihm nicht helfen? Welchen Grund gab es? Ich konnte nicht kleinbeigeben, aber Sofia machte es mir nicht leicht. Mein Blick blieb an ihrem beschmutzten Schlüsselbein hängen. "Hast du ihm das angetan?" Ich wusste rein gar nichts über diese Frau, außer dass sie meine Geschichten mochte. Ihre Mundwinkel zuckten und ihre Antwort ließ auf sich warten. "Manchmal ändern sich Pläne." Sie sah mich entschuldigend an und ich verstand nicht, worauf sie damit hinaus wollte. "Meiner war ein anderer, aber nun stehst du vor mir und ich weiß, dass sich deine Gedanken nicht in Luft auflösen werden, wenn ich dich anlüge ... Ich wünschte, du wärst in deinem Bett geblieben, aber nun lässt mir keine andere Wahl." Sie sah mich fest an und ich wollte so schnell wie möglich verschwinden. Sie hatte nicht abgestritten, dass sie es gewesen war. Sie hatte es nicht geleugnet. Ich trat einen Schritt zurück. "Ich schätze, ich muss dir etwas erklären." Wollte ich das überhaupt hören? Mein Mund war trocken geworden. In meinen Ohren rauschte das Blut und durch meinen Körper strömte dieses ungute Gefühl, das sich schnell in Angst verwandelte. "Hast du ihm das angetan?", wiederholte ich meine Frage. Ich wollte sicher sein, keine falschen Schlüsse gezogen zu haben. Sofia blickte mich ruhig an, als wolle sie mich damit besänftigen. Diesmal musste ich nicht lange auf ihre Antwort warten. "Das habe ich." Es traf mich wie ein Blitz, obwohl ich es schon befürchtet hatte. Verschwinde! Ich ging zwei Schritte rückwärts, bis ich an der Treppe stand. Sofia rührte sich nicht. "Aber lass es mich dir erklären." Es gab nichts zu erklären. Sie trat aus ihrem Zimmer in den Flur und die Furcht ergriff Besitz von mir. Keine noch so logische Erklärung hätte mich davon abhalten können. Es war nicht logisch, nichts davon. Es war krank. Ich musste fort von hier, so schnell es ging. Ich hastete die Stufen hinunter. Kein Blick zurück. Ich wusste nicht, ob Sofia mir folgte, ich hatte keine Zeit nachzusehen. Alles was ich sehen konnte, war die Tür. Die große, schöne Holztür, hinter der ich mich sicher gefühlt hatte. "Megan, bleib hier!" Sofias Stimme drang schallend durch das Treppenhaus, als ich im Erdgeschoss angekommen war. Sie würde mich nicht aufhalten. Sie durfte mich nicht in die Finger bekommen. Nicht nachdem ich wusste, dass sie eine wahnsinnige Mörderin war! Ich riss die Haustür auf und der Wind blies mir Regentropfen wie Steine ins Gesicht. Keine Sekunde ließen sie mich zögern. Ich schlug die Tür hinter mir zu und rannte, als wäre der Teufel hinter mir her. Haltlos floh ich dorthin, wo ich mich auskannte: in den Wald. Wenn sie mir folgte, so würde sie mich dort niemals finden. Es war die einzige Möglichkeit. Ich wusste nicht, was sie mit mir anstellen würde, sollte sie mich finden. Ich wusste nicht, wozu sie fähig war und wollte es mir nicht ausmalen. Wie hatte ich ihr so blind vertrauen können? Warum hatte ich nicht erkannt, dass sie gefährlich war? Es war zu perfekt gewesen und nichts konnte derart fehlerlos sein. Es war stockfinster, der Boden unter meinen Füßen war aufgeweicht und der Regen peitschte in mein Gesicht, doch ich kannte meinen Weg und ich war willens zu rennen, bis meine Kräfte mich verlassen würden. Kein noch so tosender Sturm würde mich davon abhalten. Wenn selbst Ezra sich nicht gegen sie wehren konnte, wie sollte ich eine Chance haben? Ob er überleben würde? Nicht einen Gedanken hatte ich an ihn verschwendet, als ich aus dem Haus gestürmt war. Ich hatte ihn im Stich gelassen, um meine eigene Haut zu retten. Zwischen all den dunklen Nadelbäumen wurde ich langsamer. Ich warf einen Blick zurück zum Haus und entschied mich für mich. Ich würde ihm nicht helfen können und ich hatte keine Zeit das zu bedauern. Vorsichtig bewegte ich mich durch den Wald. Ich beeilte mich so gut es ging, doch die Dunkelheit machte mir zu schaffen. Jede Wurzel und jeden Dornenstrauch zog ich einem Wiedersehen mit Sofia vor. Ich ging weit in den Wald hinein, ohne zu wissen, was vor mir lag. Erst als ich stehen blieb, um zu verschnaufen, merkte ich, wie weich meine Beine waren. Sie zitterten und zwangen mich zum Verweilen. Ich versteckte mich zwischen Brombeersträuchern und lauschte angespannt meiner Umgebung. Jedes Knacken der Zweige ließ mich verkrampfen und meinen Puls in die Höhe schnellen. Ich wusste nicht, ob Sofia mir gefolgt war. In all dieser Dunkelheit würde sie mich ohnehin nicht finden und dennoch waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt. Mir durfte nichts entgehen. Immer wieder knackte es um mich herum und ich rührte mich keinen Millimeter. Selbst das Atmen hatte ich mir bei jedem Geräusch aufs Neue untersagt. Magdalena hatte mir einst von den Wölfen erzählt, die diesen Wald bewohnten. Heute hatte ich auch vor ihnen Angst. Sicher konnten sie meine Angst riechen. Den Schweiß und das Blut, die sich auf meiner Haut mischten. Ich hielt die Luft an, als es wenige Meter hinter mir knackte. Es war ein leises Knacken, doch es wurde lauter, je öfter es sich wiederholte. Völlig erstarrt blieb ich zwischen den dünnen, stacheligen Zweigen sitzen und redete mir ein, wie unwahrscheinlich es war, dass Sofia mich hier finden würde. Ich war weit gelaufen, saß irgendwo mitten im Wald und kein Licht fiel bis zum Waldboden. Wahrscheinlich war es irgendein Tier, oder hoffentlich ein Jäger, der nach dem Rechten sehen wollte. Ich drehte langsam meinen Kopf, um hinter mich blicken zu können. Dort war kein Licht. Keine Lampe, die das Herannahen eines Menschen ankündigen würde. Ich war nicht sicher, ob ich erleichtert sein sollte, denn einem Wolf wollte ich ebenso wenig begegnen. Wenn es ein Wolf war, so durfte ich nicht davonrennen, mich nicht zur Beute machen. Ich tastete vorsichtig auf dem Boden, um eine passende Waffe zu finden. Einen langen Stock oder einen Stein, den ich nach ihm werfen konnte. Wenn nicht sein Rudel in der Nähe war, so würde ich ihn damit vertreiben können. So leise ich konnte, atmete ich durch. Ich musste mich konzentrieren, doch es fiel mir schwer. Es roch nach Parfum und ich kannte den Duft. Sofia hatte mich gefunden. "Ich weiß, dass du hier bist." Sie sprach so ruhig und vertraut, als wäre nichts gewesen, während sie näher kam. Ich versteifte in meinem Versteck. Wie hatte sie mich finden können? "Du wirst die Tiere anlocken, Megan. Man riecht deine Angst meilenweit." Sollte ich weiterrennen? Ich war schneller als sie. Und auch wenn ich nichts sehen konnte, so musste ich es wenigstens versuchen. Viel Zeit blieb mir nicht, bis Sofia mein Versteck erreicht hatte. Ich musste mich entscheiden, ob ich fliehen oder kämpfen sollte. Würde sie mich noch einmal finden, wenn ich nochmals davonrannte? Darauf musste ich es ankommen lassen. "Komm raus aus dem Brombeerstrauch, ich will dir nichts tun." Ich kam heraus, jedoch nicht um aufzugeben. Stattdessen bahnte ich mir meinen Weg von ihr fort, tiefer in den Wald hinein. Sofias Schritte verfolgten mich. "Lass mich gehen!" Ich war verzweifelt. Natürlich würde sie mich nicht gehen lassen, wenn sie mir schon bis hierher gefolgt war. "Das kann ich nicht", drang ihre Antwort durch den Wald und traf mich wie ein Peitschenhieb. Ich wurde schneller und betete, dass meine Füße mich sicher durch den unwegsamen Wald tragen würden. Ein frommer Wunsch, der nicht in Erfüllung ging. Mein Fuß verfing sich und ich fiel nach vorn. Schützend hatte ich mir die Arme vors Gesicht geworfen und landete weich in Sofias Armen. Ich stieß mich von ihr und schlug nach ihren Händen, die mich greifen wollten. "Nein! Hau ab!", schrie ich ihr entgegen. Ich hastete in eine andere Richtung davon, diesmal achtsamer, und hoffte, sie würde irgendwann aufgeben. Es war wie in einem meiner Alpträume von damals. Ich rannte so schnell ich konnte und dennoch war man mir dicht auf den Fersen. Immer dichter kam sie, ich spürte ihre Gegenwart in meinem Nacken. Sie trieb mich vor sich her wie eine Maus und brachte mich zum Äußersten. Meine Lungen konnten längst nicht mehr genügend Luft aufnehmen, ich keuchte, während mir ununterbrochen Zweige auf Arme und Wangen schlugen. Als ich mich dem Waldrand näherte, wurde es heller. Der Mond beschien die Wiesen, die sich vor mir auftaten. Vom Himmel fielen noch wenige Tropfen. Ich hatte keine Ahnung wo ich mich befand, aber das war mir gleich. Ich musste mich in Sicherheit bringen. "Megan! Das bringt nichts! Bleib stehen!" Ich dachte nicht daran. "Du kannst nicht weglaufen!" Und ob ich das konnte. Sie würde mich nicht bekommen. Ich hastete über die Wiese und war sicher, sie hier endlich abhängen zu können, als sie plötzlich wenige Meter vor mir auftauchte. Der Schock durchfuhr mich bis ins Mark und ich änderte meine Richtung innerhalb eines Wimpernschlags. Ich jagte davon und keine zehn Schritte später stand sie wieder vor mir. Diesmal hielt ich an. Ich saß in der Falle. Egal wohin ich rannte, sie schnitt mir jedes Mal den Weg ab, als wüsste sie genau, welchen Weg ich einschlagen würde. Vergeblich versuchte ich meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Mein Gehirn musste wieder anfangen zu arbeiten, ich brauchte einen neuen Plan. Sofia näherte sich langsam. Sie sah mich eindringlich an, als versuchte sie meinen nächsten Schritt vorauszuahnen. Mein nächster Schritt, der meine letzte Möglichkeit war. Ich musste mich ihr stellen. Ich musste kämpfen. "Komm nicht näher!" Ich drohte ihr, um etwas Zeit zu schinden. Mein Körper war noch nicht bereit für einen Kampf und meine Gedanken schwirrten verzweifelt um die bruchstückartigen Erinnerungen aus den Trainingseinheiten mit Ezra. "Willst du gegen mich kämpfen?", fragte sie und blieb stehen. "Das werde ich, wenn du mir keine andere Wahl lässt!" "Nicht doch, dafür bist du zu schwach." "Das werden wir sehen!" Mir blieb nichts anderes übrig und ich gab mir Mühe so siegessicher wie möglich zu klingen. "Ich bin nicht hier, um dich zu verletzen." "Ich glaube dir kein Wort! Du hast Ezra auf dem Gewissen!" "Es geht ihm gut." Das war lächerlich. Ich hatte mit meinen eigenen Augen gesehen, dass es nicht so war und trotzdem versuchte sie mich anzulügen. Es interessierte mich nicht, warum sie das tat, ich wollte sie loswerden, und wenn das bedeutete, dass ich kämpfen musste, dann würde ich das tun. "Ich möchte mich bei dir entschuldigen", fuhr sie fort. "Ich war nicht ehrlich zu dir." "Natürlich nicht! Ich ärgere mich nur, dass ich es nicht bemerkt habe!" Ich behielt jede ihrer Bewegungen im Auge. Sie senkte den Blick und verschränkte die Arme. "Es tut mir leid." "Mir auch! Und jetzt lass mich gehen oder lass uns kämpfen!" "Ich möchte, dass du bei mir bleibst. Du bist wichtig für mich." Es klang so aufrichtig und ich hätte ihr gerne geglaubt, dass ich wichtig für sie war. "Lüg mich nicht an!", brüllte ich ihr entgegen. "Spar es dir!" Sie sagte nichts mehr und ich war bereit mich zu verteidigen, als sie sich auf mich zubewegte. "Hab keine Angst, ich will dir nichts antun." Nur noch drei Schritte, dann würde sie direkt vor mir stehen. Mein Atem ging schnell und mein Herz raste. Ich wartete auf ihren ersten Zug, doch sie blieb stehen. Ihr Ausdruck war weich, als sie mich ansah, beinahe liebevoll. "Ich habe noch große Pläne für dich." Und plötzlich wurde alles schwarz um mich herum. 014 – Das Angebot ----------------- Ich schlug die Augen auf und über mir erkannte ich eine helle cremefarbene Decke. Ich war in meinem Zimmer und die Sonne schien durchs Fenster. War ich die ganze Zeit hier gewesen? Ich versuchte mir die letzte Nacht ins Gedächtnis zu rufen. Die Erinnerung kam schnell zurück. Ezra war schwer verletzt gewesen und ich war vor Sofia in den Wald geflohen. Sie hatte mich verfolgt und dann wurden meine Erinnerungen trüb. Hatte ich wieder geträumt? Ich fühlte mich so ruhig und entspannt, kein bisschen wie nach einem panischen Fluchtversuch. Wahrscheinlich ging meine Fantasie nun endgültig mit mir durch. Und obwohl meine Erinnerung sich so real anfühlte, war es völlig absurd. Ich setzte mich auf und strich meine Haare zurück. Auf meinen Armen entdeckte ich feine Kratzspuren, wie von Sträuchern. Meine Panik kehrte zurück, bevor ich wirklich verstand, was das bedeutete. Diese Spuren hatte ich mir im Wald zugezogen. Es waren nicht die Erinnerungen an einen Traum, es war die Realität. Sofia hatte mich zurück in ihr Haus gebracht und mein Herz begann laut zu klopfen. Ich ermahnte mich zur Ruhe. Leise schlich ich aus dem Bett und ging aufs Fenster zu. Es war nur der erste Stock und unten war weicher Boden. Sofia würde es nicht merken, wenn ich verschwand. Abgeschlossen. Jemand hatte das Fenster verriegelt. Konzentriere dich! Mein Kopf schien Feuer gefangen zu haben, so brannten meine Gedanken darin. Ich musste einen anderen Weg finden. Einen, der mich unbemerkt aus diesem Haus führen würde. Vorsichtig näherte ich mich meiner Tür und nahm die Klinke in die Hand. Ich atmete tief durch, konzentrierte mich und drückte sie langsam hinunter. Die Tür öffnete sich geräuschlos und ich war erleichtert, dass Sofia nicht draußen im Flur auf mich wartete. Auf Zehenspitzen wagte ich mich die Treppe hinunter. Im Haus war es viel zu still. Ich hörte jeden meiner Schritte, jeden Atemzug. Meine Handflächen waren nass und mein ganzer Körper schwitzte, während ich mich allmählich dem Ausgang näherte. "Sie ist versperrt." Es war die Stimme eines Mannes, die mich zusammenfahren ließ, als ich vor der Haustür stand. Hitze schoss durch meine Adern und ich drehte mich um. Ezra war aus dem dunklen Salon gekommen und blieb vor mir stehen. Er war am Leben. "Wir müssen verschwinden!", flüsterte ich. Ich war froh, ihn zu sehen. Es schien ihm überraschend gut zu gehen und zusammen würden wir gewiss entkommen können. Er sagte nichts, stattdessen kam er zu mir, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. Vielleicht kannte er einen Ausweg. Ich folgte ihm in den Keller, ohne Fragen zu stellen. Jedes Wort konnte eines zu viel sein und ich wollte nichts riskieren. Er brachte mich in unseren Übungsraum und schloss die Tür. "Kommen wir hier irgendwo raus?" "Nein." "Dann ... verstecken wir uns hier?" "Nein." Ich war verwirrt. Warum waren wir sonst hier? "Sofia möchte mit dir sprechen." "Was?" Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich sah mich nervös im Raum um und entdeckte sie. Sofia saß seelenruhig auf dem einzigen Stuhl, den es hier gab und wartete auf mich. Ezra hatte mich hintergangen. Er hatte mich getäuscht und hinters Licht geführt und das schmerzte noch tausendmal mehr, als Sofias Betrug. Weil ich mich um ihn gesorgt hatte und weil er das offensichtlich nicht wert gewesen war. Es machte mich wütend. "Ich sagte doch, es geht ihm gut", wiederholte Sofia ihre Worte und kam mitsamt dem Stuhl zu uns herüber. Ich hatte keine Ahnung, welches Spiel hier gespielt wurde, ich wusste nur, dass ich nicht mitspielen wollte. Mit einem festen Ruck entriss ich mich Ezras Griff und steuerte auf den Ausgang zu. Ich hörte Sofia, wie sie ihm auftrug, mich zurückzuholen und keine Sekunde später hatte er mir die Arme auf dem Rücken verdreht und mich hochgehoben. "Lass mich los, du feiger Verräter!" Ich trat um mich, doch Ezra ließ das völlig kalt. Er brachte mich zurück zu Sofia und setzte mich auf den Stuhl, den sie bereitgestellt hatte. Es war unfassbar, wie stark er war. Ich versuchte mich loszureißen, wollte all das anwenden, was er mir beigebracht hatte, doch es funktionierte nicht. Er hielt mich mühelos auf dem alten Holzstuhl und Sofia setzte sich vor mir auf den Boden. "Beruhige dich bitte." Ich wandte mich Sofia zu und wünschte ihr die Pest an den Hals. Dieser Schlange, die meine Verletzlichkeit ausgenutzt hatte. "Fahr zur Hölle!" "Megan ... bitte, hör mir einen Augenblick zu." Ich schnaubte zornig und ließ sie sprechen. "Ich hege keine bösen Absichten mit dir. Du bist hier sicher, nach wie vor." "Dann erkläre mir, wie ich das glauben kann, nach allem, was letzte Nacht passiert ist!" "Das werde ich versuchen, aber dafür musst du mir zuhören." Ich war überzeugt, dass sie krank sein musste und Ezra genauso. Ich würde verschwinden, sobald sich die Möglichkeit bieten würde, doch vorerst saß ich fest, also sollte Sofia ruhig versuchen, mich aufzuklären. "Bin ich eure Gefangene?" "Nein, natürlich nicht." "Es fühlt sich aber so an!" Sofia warf Ezra einen kurzen Blick zu, er ließ mich los und Sofia fuhr fort: "Ist es so besser?" Ich verschränkte die Arme vor der Brust und überlegte, wie ich den beiden entkommen konnte. Dass ich nicht mehr festgehalten wurde, war immerhin ein Fortschritt. Da ich nicht antwortete, dauerte es ein wenig, bis Sofia weitersprach. "Die letzte Nacht war das Ergebnis einiger Umstände, die sich unglücklich aneinandergereiht haben. Ich kann verstehen, dass es dich verängstigt hat. Es waren sehr viele Eindrücke, die du noch nicht zuordnen kannst und deswegen hat es dich verstört." "Dann erleuchte mich!" Dieses inhaltslose Gerede brachte mich kein Stück weiter. In mir schwelte der Zorn. Er hatte meine Angst vertrieben und machte mich mutig. Ich hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. "Megan ... glaubst du an Vampire?" Ich sah sie ratlos an. Wollte sie mich auf den Arm nehmen? Warum stellte sie mir solch unwichtige Fragen? "Bram Stoker. Er hat eine Geschichte darüber geschrieben. Das ist nur ein Roman." Sie nickte. "Ja, das ist nur ein Roman. Viele andere Geschichten über Vampire sind auch nur Hirngespinste, aber nicht alle." "Was soll das heißen?" "Ich bin sicher, du bist schlau genug, um das selbst herauszufinden." Wollte sie mir etwa weismachen, dass es Vampire gab? Diese tageslichtscheuen, blutsaugenden Wesen, die ... Tageslicht? Ich hatte Sofia tagsüber noch nie draußen gesehen. Eigentlich hatte ich sie tagsüber grundsätzlich so gut wie nie gesehen. Es war absolut unmöglich und trotzdem saßen wir im Keller, obwohl dieses Gespräch genauso gut in jedem anderen Raum dieses Hauses hätte stattfinden können. "Das ist lächerlich!", fuhr ich sie an, nachdem ich lange genug darüber nachgedacht hatte. "Du versuchst mich mit deinem Gerede in den Wahnsinn zu treiben, aber das wird nicht funktionieren. Du bist völlig irre!" Sofia schüttelte den Kopf, ihr Gesicht war entspannt und sie antwortete mir geduldig: "Nein, ich möchte dir die Augen öffnen. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. Er irrt sich, wenn er denkt, er wäre über alle anderen Lebewesen erhaben." "Und du meinst, diesen Titel beanspruchen zu dürfen? Das ist verrückt." "Nein, ich glaube nicht an die Schöpfung. Aber wenn du es auf diese Weise betrachten möchtest, so wäre ich nur das Schwert in Gottes Hand." "Was du tust, ist nicht in Gottes Sinn!" "Es ist in meinem Sinn und das genügt mir", antwortete sie mit einem Lächeln. Sie schien von ihrer eigenen Geschichte so überzeugt zu sein, dass es ohne Zweifel nur ein massives Problem in ihrem Kopf sein konnte. Kein normaler Mensch würde derart wirre Dinge für bare Münze nehmen. "Schön. Und was habe ich damit zu tun?" "Du glaubst mir nicht, oder?" Auf diese Frage bekam sie keine Antwort. "Was glaubst du, wie ich dich letzte Nacht im Wald hätte finden können, wenn ich nur ein Mensch wäre? Wie hätte ich dir so mühelos den Weg abschneiden und dich zurück in dein Zimmer bringen können, wenn ich wäre wie du? Hättest du das gekonnt?" "Nein, aber ..." "Ich möchte, dass du meine Schülerin wirst." Sie hatte mir den Wind aus den Segeln genommen. Ich saß versteinert auf meinem Stuhl fragte mich, wohin all das führen sollte. "Schülerin?" "Ja, ich möchte dich ausbilden und die nächsten Jahrzehnte an meiner Seite wissen." Mir fehlten die Worte. Diese Frau brauchte dringend Hilfe. "Das heißt ... ich würde dann auch ein Vampir werden?" Ich spielte mit. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, dass ich auf diesem Wege entkommen konnte. "Sobald du dazu bereit bist." "Verstehe." "Du glaubst mir noch immer nicht." "Doch, ich glaube dir." Sofia schmunzelte wissend, als könnte sie meine Gedanken lesen. Sie stand auf, kam zu mir und ging vor mir in die Hocke. Ihre Augen bohrten sich in meine. "Ich höre aber, dass du lügst, also ... wie kann ich es dir beweisen?" "Stell dich in die Sonne. Wenn du verbrennst, dann glaube ich dir." Sie stand auf und lachte. "Du überraschst mich", sagte sie höchst amüsiert. "Eine derart makabre Denkweise hatte ich dir nicht zugetraut." Was ich aussprach war nur ein Bruchteil dessen, was ich ihr wünschte. Sofia hatte keine Ahnung, wie es in mir aussah. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, entfernte sie sich einige Schritte von mir. Sie lief geradeaus auf die steinerne Wand zu und legte ihre Hand an die dicken Holzbretter, die die wenigen kleinen Fenster verbarrikadierten. Ich hatte schon einmal versucht sie zu öffnen, um etwas Luft hereinzulassen, aber diese Bretter waren gut vernagelt. Sofia riss sie mit einem Ruck ab und ließ die Sonne herein. Ein schmaler Lichtkegel fiel vor ihr auf den Boden. Wollte sie mir demonstrieren, wie sie verbrennen würde? Ich war gespannt, wie sie mir das vorspielen wollte. "Ich geißle mich für gewöhnlich nicht, aber du hast etwas gut bei mir." Sofia krempelte ihre lange Bluse zurück und wies mich an, ihre Hand im Auge zu behalten. Dann hielt sie sie ins Licht und es passierte nichts. Mir entfuhr ein genervtes Seufzen. Ich hatte geahnt, dass sie mich an der Nase herumführte und jetzt hatte ich den Beweis. Es war mir ein Rätsel, weshalb Sofias Gesicht dennoch verbissen wirkte, als hätte sie Schmerzen. Sie musste eine unglaublich gute Schauspielerin sein. Mein Blick fiel zurück auf ihre Hand und über meinen Rücken breitete sich ein eisiger Schauer aus. Auf ihrer Haut hatten sich Blasen gebildet. Es wurden immer mehr und Sofia zog ihre Hand aus der Sonne, bevor ihr die Haut von den Fingern platzte. Sie kam zu mir zurück. "Hier, dein Beweis." Fassungslos betrachtete ich ihre verbrannte Hand. Als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst. Ich verstand es nicht. Wie konnte das sein? "Sieh hin, es heilt wieder." Ich folgte ihrer Aufforderung und beobachtete, wie all die Blasen sich langsam wieder zurückbildeten, bis sie einige Minuten später völlig verschwunden waren. Ich begann an meinem eigenen Verstand zu zweifeln. War ich es, die wahnsinnig geworden war? Irgendetwas in diesem Haus hatte mich verrückt werden lassen! Ich sprang von meinem Stuhl und ergriff die Flucht. Diesmal wurde ich nicht aufgehalten. Ich verließ den Keller und wollte zur Haustür hinaus. Sie ist versperrt. Ezra hatte es erwähnt. Hier kam ich nicht weiter. Ich wollte in die Küche, um dort durch das Fenster zu flüchten, doch so weit kam ich nicht. Sofia stand im Flur und versperrte meinen Weg. "Hab keine Angst, dir geschieht nichts." Sie sah so friedlich aus und doch war sie eine Ausgeburt der Hölle. Ich wusste nicht mehr, was echt war und was nicht. In meinem Kopf herrschte pures Chaos. Mir war egal, ob sie ein Vampir war oder ob sie nur eine Wahnsinnige war, die mich das glauben ließ. "Ich will hier weg!", schrie ich sie an. "Bitte, lass mich gehen!" "Wo willst du denn hin? Dein Zuhause ist hier." "Das ist nicht mein Zuhause!" Ich war den Tränen nah. Es interessierte mich nicht, dass es sonst keinen Ort gab, an den ich gehen konnte, ich wollte einfach nicht hier sein. "Sei nicht albern, ich weiß, dass du gerne hier bist. Und du kannst für immer hier bleiben, wenn du möchtest." "Ich möchte nicht!" "Du bist verwirrt, ich kann das verstehen. Nimm dir etwas Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken. Du weißt so gut wie ich, dass du hier hingehörst."  Sie zog einen Schlüssel aus der Tasche. "Aber ich will dich nicht zwingen. Mit diesem Schlüssel kannst du gehen, doch ich möchte dir noch etwas zu bedenken geben, bevor du verschwindest: Wenn du bleibst, hast du hier eine Familie, die auf dich aufpasst. Und wenn du dich entscheidest, meine Schülerin zu werden, dann wirst du endlich die Macht erhalten, die du dir wünschst und die du verdient hast. Aber du kannst auch diesen Schlüssel wählen und gehen, um dich alleine durchzuschlagen." Ich fixierte den Schlüssel in ihrer Hand. "Wirf ihn herüber." Sofia warf mir den Schlüssel zu, ohne zu zögern. "Megan? Was glaubst du, warum ich dich die letzten Jahre so sehr habe an dir arbeiten lassen? Ich wollte dich aufbauen und stärken. Hätte ich dich zerstören wollen, gäbe es dich längst nicht mehr." Ich schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. "Du hast mir ein Märchenschloss gebaut und es eingerissen!" "Ich habe die Fassade erneuert." Ihre schlauen Sprüche konnten mich nicht aufhalten. Ich brauchte niemanden, der mich drei Jahre lang angelogen und mir falsche Tatsachen vorgespielt hatte. Ich war selbstständig genug, um alleine zurechtzukommen. Ich schlug die Tür hinter mir zu und ging Richtung Straße. Sofia konnte mir gestohlen bleiben. Ich war froh, dass ich sie nun los war, genau wie alle anderen, die bei Sofias Theater mitgespielt hatten.  Sie hatten mich alle hintergangen, jeder Einzelne von ihnen und ich hasste sie dafür. Ich hasste die Erinnerungen an jede einzelne Trainingseinheit, an jedes tröstende Wort, jedes Lächeln und jede liebevolle Geste, durch die ich mich besser gefühlt hatte. Und ich hasste mich dafür, dass ich es zugelassen hatte und dass die Trauer über diesen Verlust mich so unendlich schmerzte. Sie war kein Stück besser als die ach so rechtschaffenen Gottesdiener, kein bisschen besser als die Menschen, die mich in den Dreck getreten hatten und trotzdem schlug jeder Schritt, den ich mich entfernte, wie ein Hammer auf mein Herz und ließ es brechen. Ich hatte die Straße noch nicht erreicht, als ich auf die Knie sank und mein Gesicht in meinen Händen verbarg. Seit Monaten hatte ich nicht mehr geweint und nun, da ich erneut vor den Scherben meines Lebens stand, quollen die Tränen wie Sturzbäche aus meinen Augen. Ich hatte mir einst geschworen, nie wieder zuzulassen, dass mich jemand so verletzen konnte, und doch hatte ich mich zu sehr in mein neues Leben verliebt, das nun ohne Vorwarnung in sich zusammengefallen war. Ich wäre wohl im Vorgarten vor Kummer gestorben, wenn man mich gelassen hätte. Man ließ mich nicht. Ich spürte den leichten Druck einer Hand auf meiner Schulter und Sofias Stimme klang in meinen Ohren: "Lass uns wieder hinein gehen." Ich wehrte mich nicht, als sie mich vom Boden hob und zurück zum Haus trug. Obwohl ich sie hasste, fühlte ich mich geborgen. Ich konnte sehen, wie sich Blasen in ihrem Gesicht bildeten und trotzdem wurde sie nicht schneller. Sie trug mich zurück, in aller Ruhe. "Warum ich, Sofia?" Ich schluchzte noch immer. "Weil du ein guter Mensch bist." 015 – Vampire ------------- War ich das? Ein guter Mensch? Ich saß auf dem Bett in meinem Zimmer und starrte Löcher in die Luft. Ich war ein naiver Mensch. Leichtgläubig. Und obwohl ich gedacht hatte, ich hätte diese Leichtgläubigkeit hinter mir gelassen, war ich ihr verfallen. Nach den Erfahrungen in Sacramento hatte ich meine Erwartungen zurückgeschraubt. Meine Erwartungen an die Menschen und an die Zukunft, nur hatte ich vergessen, dass diese Einstellung vergänglich sein konnte. Ich hatte mich von diesem neuen Leben blenden lassen und nun musste ich den Preis dafür zahlen. Seufzend schlug ich die Augen nieder, als es an meiner Tür klopfte. "Was?", fragte ich gereizt. Magdalena steckte ihren Kopf herein. "Bist du fertig mit dem Essen?" Ich sagte nichts und starrte nur auf das Tablett, das sie mir vor einer Stunde gebracht hatte. Die Teller waren leer und Magdalena kam herein, um alles mitzunehmen. Sie blieb in der Tür stehen und sah mich traurig an, als täte es ihr leid. "Megan ... sei bitte nicht böse. Ich durfte dir nichts sagen." "Lass mich in Ruhe." Ich warf ihr einen finsteren Blick zu und sie verschwand aus meinem Zimmer. Nachdem Sofia mich heute Mittag wieder zurück ins Haus getragen hatte, war Magdalena zu mir gekommen, um mich zu beruhigen. Sie hatte sich immer wieder entschuldigt, doch ich konnte ihr nicht verzeihen, dass sie mich die ganze Zeit belogen hatte. Bis zum Abendessen hatte sie mich nicht mehr angesprochen und ich war froh, dass sie sich jetzt nur noch auf das Nötigste beschränkte. Sofia war verschwunden, nachdem sie mich hier abgesetzt hatte. Ich vermutete jedoch, dass sie mir noch einen Besuch abstatten würde, nachdem die Sonne hinter den Baumwipfeln versunken war, schließlich konnte sie die Geschehnisse nicht einfach auf sich beruhen lassen. Erschöpft von all der Aufregung, legte ich mich hin, um auf sie zu warten. Ich sortierte meine Gedanken und legte mir die Worte zurecht, die ich ihr sagen wollte. Es war nicht das erste Mal, dass ich das tat. Seit einigen Stunden dachte ich darüber nach und jedes Mal fiel mir etwas anderes ein. Ich wollte ihr so viel sagen, so viel loswerden und ich war bereit dafür, bis sie plötzlich vor meiner Tür stand und um Einlass bat. Mein Selbstbewusstsein war verflogen wie der Duft eines billigen Parfums, als sie den Raum betrat und meine sorgfältig vorsortierten Worte fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. "Ich bin wütend!", knurrte ich sie an. Damit hatte ich nicht beginnen wollen. Ich beobachtete, wie Sofia sich den Stuhl von meinem Schreibtisch heranzog und neben meinem Bett Platz nahm. "Das kann ich verstehen." Meine Finger waren fest um meine Oberarme gespannt, während ich versuchte mein Kartenhaus wieder aufzubauen. Vergeblich. "Du verstehst es überhaupt nicht! Du hast keine Ahnung!", keifte ich weiter. "Du bist wütend, weil ich dir nicht die volle Wahrheit gesagt habe." Sofia blieb unfassbar ruhig. "Ich bin wütend, weil du mich unter einem falschen Vorwand in dein Haus gelockt hast! Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgemacht! Ihr alle!" Sie sah mich mit ihren schönen Augen an, als wollte sie meine Wut mit deren Sanftmut vertreiben. Es würde nicht funktionieren. "Es war kein falscher Vorwand. Ich meinte es ernst, als ich dich bat, Geschichten für mich zu schreiben." Ich glaubte ihr nicht mehr. Jedes Wort, das sie sagte, bezweifelte ich. "Du misst dem Ganzen zu viel Gewicht zu. Wir haben dir nur verschwiegen, wofür du noch nicht bereit warst", fuhr sie fort. "Es steckte keine böse Absicht dahinter." "Keine böse Absicht? Seit mehr als drei Jahren bin ich hier und du hast es in all der Zeit nicht geschafft, mir die Wahrheit zu sagen! Woher soll ich wissen, dass du jetzt ehrlich bist? Woher weiß ich, dass du mich nicht irgendwann auffrisst?" Das Kochen und Brodeln in mir befeuchtete ungebeten meine Augen. Ich musste mich beherrschen und wischte mir eilig die Tränen aus den Augen. Keine Schwäche. Ich war stärker als die lästige Trauer über diese bittere Enttäuschung. "Auffressen?" Sofia sah mich überrascht an. Sie ging nicht auf meine Tränen ein und ich würde es auch nicht tun. "Ich esse keine Menschen." "Was auch immer du mit ihnen tust ..." Ein eisiger Schauer rollte über meine Haut, als ich darüber nachdachte, was es bedeuten mochte, dass sie ein Vampir war. Ein Teil meines Hirns bestand eisern darauf, dass das nicht sein konnte. "Möchtest du es wissen?" Fragend blickte sie mich an, wie eine Lehrerin, die darauf wartete, dass ihr Schüler etwas sagte. Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Für diese Information war ich nicht bereit. Ich fürchtete mich vor dem, was sie sagen könnte, dafür brannte mir jedoch eine andere Frage unter den Nägeln. "Warum hast du mich ausgewählt?" "Das sagte ich doch bereits." "Erkläre es mir!" Mein Ton war schärfer geworden. Sofia nickte ruhig und lehnte sich zurück. "Ich habe jemanden gesucht, der sich von der grauen Masse abhebt. Lass es mich dir so erklären: Jeder trägt sowohl Gutes wie auch Böses in sich. Die meisten Menschen sind nicht dazu in der Lage objektiv zu beurteilen, was gerecht ist und was nicht. Sie sind zu stolz, um sich ihre Fehler einzugestehen. Zu geizig, um Unrecht zu sühnen. Sie sind neidisch auf den Erfolg anderer. Sie wollen alles für den Preis von nichts. Sie sind faul, jähzornig und sie kennen keine Grenzen." Sie ließ das Gesagte einige Sekunden im Raum stehen. "Du bist anders, das weiß ich." "Woher?" "Ich habe dich beobachtet und ich habe deine Geschichten gelesen. Das genügt." "Was heißt, du hast mich beobachtet?" "Seit ich dich in Sacramento das erste Mal getroffen habe, habe ich dich im Auge behalten. Du bist mir aufgefallen, weil du wie eine kleine Kerze in all der Dunkelheit standest und ich wollte wissen, ob mein erster Eindruck sich bestätigen würde." Scheinbar hatte er das. "Dann sind wir uns nicht zufällig immer wieder über den Weg gelaufen?" "Nein." Diese Erkenntnis rückte alles in ein neues Licht. Kein gutes Licht, es war beängstigend. Offenbar wusste sie deutlich mehr über mich, als es mir lieb war. "Dazu hattest du kein Recht. Mein Leben geht dich nichts an!" "Dein Leben wäre zu Ende gewesen, hätte ich dich nicht mitgenommen." "Das kannst du nicht wissen!" Ich hätte sie am liebsten aus meinem Zimmer geschmissen, doch ich wagte es nicht, mich ihr zu nähern. "Nein, das kann ich nicht, aber sag mir, war es falsch? Hätte ich dich dort in deinem Elend zurücklassen sollen?" Ich stellte das nervöse Kauen ab, mit dem ich meine Unterlippe malträtiert hatte. "Nein, aber du hättest mir die Wahrheit sagen können." "Wärst du dennoch mit mir gekommen?" "Wahrscheinlich nicht ... Ich weiß es nicht. Nein, woher soll ich das wissen? Du hast mir nicht die Möglichkeit gegeben!" "Verzeih, aber ich wollte kein Wagnis eingehen." "Wagnis? Dass ich mich weigern könnte, einer Tochter des Teufels zu folgen?" Sofia hob ihre Brauen an, als ich das sagte. "War es schlimmer, als einer Tochter Gottes hinterherzurennen?" Mein Blick war fest in ihre Augen gerichtet. Es war nicht fair, dass sie diese Karte gegen mich ausspielte. Ich biss die Zähne zusammen und schnaufte schwer, bevor ich weitersprechen konnte. "Verschwinde aus meinem Zimmer!" "Megan ..." "Raus!", schrie ich sie an. Sie blieb unbeirrt sitzen. Entspannt, als führten wir eine belanglose Unterhaltung, während der Zorn erneut in mir hochkochte. "Ich werde nicht gehen. Du brauchst mich." "Das tue ich nicht!" "Wer steht dir sonst bei? Dein Gott?" Wollte sie mich nun in den Wahnsinn treiben? Ich stand auf und stapfte durch mein Zimmer. Vielleicht würde sie es begreifen, wenn ich ihr den Weg zeigte. Mit Schwung riss ich die Tür auf und fixierte meinen ungebetenen Gast. "Geh jetzt." Ich bemühte mich, so bedrohlich wie möglich zu klingen. Wenngleich es gegenüber Sofia nicht viel bewirkte, so wollte ich zumindest meine Verzweiflung dahinter verbergen. Sie war aufgestanden, hatte die Arme verschränkt und stand noch immer neben meinem Bett. Erst nach endlosen Sekunden setzte sie sich in Bewegung und kam zu mir. "Darf ich dir noch eine Frage stellen?" Sie war dicht vor mir stehen geblieben. "Was?", knurrte ich sie an. "Wie viele deiner Gebete wurden bisher erhört?" Genervt blies ich die Luft aus meinen Lungen. "Eines." Sofia wirkte überrascht, also fuhr ich fort: "Ich habe gebetet, dass jemand kommen und mich retten würde. Nur hatte ich niemanden wie dich erwartet." Sie lächelte und ich sah ihr weiter erbittert in die Augen, dass sie endlich gehen sollte. "Danke", sagte sie und strich mit den Fingerspitzen über meine Wange. "Wofür?" "Dass du mir eine zweite Chance gibst." Ich nahm ihre Hand aus meinem Gesicht und warf ihr den dunkelsten Blick zu, den ich zustande bringen konnte. "Das habe ich nicht gesagt." "Das brauchtest du nicht." Die blühende Fantasie dieser Frau war unbeschreiblich und ihr Selbstbewusstsein stand dem in nichts nach. Im Gegensatz zu mir schien sie sich sicher zu sein, dass ich bleiben würde, als sie endlich mein Zimmer verließ und ich die Tür hinter ihr schloss. Ich musste über so viele Dinge nachdenken. Ich wusste nicht, ob ich bleiben sollte. Ob es sicher war oder der pure Wahnsinn. Ich wusste nicht einmal was es bedeutete, wenn ich ihre Schülerin würde, oder wenn ich mich dagegen entschied. Wenn ich blieb und wenn Sofia die Wahrheit sagte, würde mein Leben eine völlig neue Richtung bekommen. Ich wusste nicht, ob mir diese Richtung gefallen würde und ob Sofia nicht wieder nur einen Vorwand zusammengesponnen hatte, damit ich blieb. Vielleicht war ich aus einem anderen Grund hier. Vielleicht brauchte sie mich für irgendeinen niederträchtigen Plan. Als Bezahlung, als Pfand, vielleicht als Opfergabe? Schließlich war ich in einem Kloster aufgewachsen und der Kontakt zu Männern war gering gewesen. Möglicherweise hatte ich zu viele Bücher gelesen, schließlich hatte sie mir in all den Jahren nicht ein Haar gekrümmt. Ich musste dringend meine Gedanken ordnen.   Nachdem ich lange genug abgewägt hatte, ob ich mich in Gefahr befand, oder nicht, begab ich mich in das kleine Badezimmer, um heißes Wasser aufzusetzen. Ein warmes Bad konnte mir hoffentlich helfen, das Durcheinander in meinem Kopf zu beseitigen. Ich löste meinen schiefen Zopf und wandte mich dem Spiegel zu. Zwei dünne rote Linien zierten meine Wange. Noch ein Relikt der vergangenen Nacht. Es fröstelte mich bei dem Gedanken daran. Ich konnte mich noch immer nicht daran erinnern, wie Sofia es geschafft hatte, mich außer Gefecht zu setzen. Sorgfältig inspizierte ich meinen Hals. Es war verrückt, aber ich konnte nicht anders. Keine Bissspuren. Sei nicht albern ... Ich band meine Haare nach oben, legte meinen Kopf in den Nacken und rollte ihn nach links und rechts. Auch nichts. Keine Schmerzen, die auf einen Schlag hindeuten würden. Mühsam versuchte ich mir die letzten Minuten ins Gedächtnis zu rufen, bevor Sofia mich eingeholt hatte. Ich erinnerte mich, dass sie mich aufgefangen hatte, als ich gestürzt war und dass ich den Wald kurz darauf verlassen hatte. Danach hatte ich sie nicht mehr gesehen. Das Wasser im Kessel fing an zu brodeln. Ich goss es in die bereits halb befüllte Wanne, legte meine Kleidung ab und versank für eine Weile in meinen Gedanken und dem warmen Wasser.   Einige ergebnislose Gedankengänge später und mit aufgequollenen Fingern verließ ich das Badezimmer. Es gab ein paar Details, derer ich mir alleine nicht klar werden konnte. Und auch wenn ich nach wie vor wütend war, so musste ich mir eingestehen, dass all die Verwirrung nicht ohne Sofias Hilfe entzerrt werden konnte. Nachdem ich mich in frische Kleidung gehüllt hatte, fand ich Sofia in der Bibliothek. Sie saß auf ihrem Sessel und hatte sich wieder dem Buch zugewandt, das ich ihr gegeben hatte. "Ich hatte dich schon erwartet", begrüßte sie mich und lächelte sanft. "Nimm Platz." Ich folgte ihrer Aufforderung, entledigte mich jedoch nicht des prüfenden Blickes, mit dem ich sie bedachte. "Du hast sicher Fragen." "Ja, die habe ich." "Ich werde dir alle beantworten." "Ich möchte die Wahrheit hören, keine Geschichten und keine Märchen." Sie nickte. Es gab viele Fragen, jedoch eine, auf die ich mir am dringendsten eine Antwort erhoffte. "Was passiert mit mir, wenn ich bleibe?" "Du wirst so weiterleben wie bisher. Du kannst schreiben und tun und lassen was du willst." Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. "Muss ich nicht deine Schülerin werden?" "Nur wenn du das möchtest." "Soll das heißen, ich kann hier bleiben, ohne deinem Wunsch zu entsprechen? Wozu dann das Ganze?" "Wie bereits gesagt: Ich mag deine Geschichten. Wenn du dich dagegen entscheidest, dann soll es so sein. Ich werde dich zu nichts zwingen." Sie musterte mein fragendes Gesicht und fuhr fort: "Die Zeit ist für mich nicht so kostbar, wie sie es für dich ist. Du kannst hier alt werden und sterben und ich werde mich nach jemand anderem umsehen, den ich für würdig erachte." "Das heißt du ..." Mir fehlten die Worte, um auszudrücken, was in meinem Kopf vor sich ging. "Das heißt, ich werde dich überleben, wenn du ein Mensch bleiben möchtest. Ich sterbe nicht, wenn ich auf mich achte. Das wolltest du doch wissen, oder?" Ich schluckte. "Ja." Ein beklemmendes Schweigen erfüllte die Luft zwischen uns, bis Sofia wieder das Wort ergriff und zu erzählen begann: "Weißt du Megan, du bist nicht die Erste, die ich frage. Es gab bereits ein paar, die mir gefolgt sind. Die meisten sind längst gestorben, ein paar stellten sich als ungeeignet heraus und und zu einer stehe ich noch immer in engem Kontakt. Als Vampir wäre sie nicht glücklich geworden." "Wie kommst du darauf, dass ich es würde?" "Das weiß ich nicht. Deswegen musst du diese Entscheidung treffen." Ich sah sie ratlos an. "Und woher weiß ich das?" "Du wirst es wissen. Irgendwann." Es war keine sehr aufschlussreiche Antwort. Ich betrachtete Sofias Gesicht, in der Hoffnung, ihm ein Geheimnis entlocken zu können. Sie war zweifellos eine schöne Frau, nichts ließ darauf hindeuten, dass sich hinter dieser Fassade ein altes, dämonisches Monster verbarg. Ihrer Erscheinung nach hatte ich ihr Alter auf Anfang dreißig geschätzt, vielleicht fünfunddreißig, nur konnte das kaum sein. "Dreihundertdreiundzwanzig im November. Etwas älter als dieser Sessel." Ich zuckte zusammen, als sie mir meine ungestellte Frage beantwortete. "Kannst du etwa?" Gedankenlesen? Sie lachte vergnügt. "Nein, deine Gedanken sind sicher, aber ich kann Blicke deuten, wenn man sie mir so unverhohlen entgegenwirft." Sofia schmunzelte und tätschelte die Armlehne ihres Sessels. "Ich habe ihn damals in Russland von Katerina geschenkt bekommen." "Katerina?" Ich musste aussehen wie vom Donner gerührt. "Ich habe dir ihre Geschichte erzählt, erinnerst du dich?" Ich nickte knapp. "Es gibt noch ein Detail, das ich dir damals verschwiegen habe." Sofia schien einen Moment auf eine Reaktion zu warten, doch die musste ich ihr verwehren. Ich war zu verblüfft, also fuhr sie fort: "Sie war meine Meisterin und hat mich zu einem anständigen Vampir herangezogen." Ich mahnte mich, meinen Mund wieder zu schließen. Etwas derart Absonderliches hatte ich noch nie gehört. "Sie war auch ..." "Ein Vampir. Ja. Deswegen haben sie sie verbrannt. Eine der effektivsten Methoden, wenn man sichergehen möchte, dass das Opfer nicht zurückkehrt." "Ich dachte, man müsste sie pfählen ..." Sie schmunzelte bei dieser Bemerkung. "Das könnte man ebenso tun, nur kann kein Mensch sicherstellen, dass der Pfahl dort bleibt, wo er ist. Die meisten Vampire sind für gewöhnlich keine Einzelgänger und wird der Pfahl entfernt, kann die Wunde heilen und man kehrt zurück." Allmählich konnte ich eins und eins zusammenzählen. Sofia war nicht der einzige Vampir in diesem Haus. "Deswegen sind Ezras Wunden so schnell verheilt." Es war eine Feststellung, keine Frage. "Und deswegen findet er sich ohne Augenlicht zurecht." "Du bist wirklich clever. Er kompensiert seine fehlende Sehfähigkeit mit dem Gehör." Sie lachte herzlich, bevor sie weitersprach. "Das ist wirklich wunderbar ironisch. Du hörst es nicht, aber er verhält sich wie eine Fledermaus, um sich in ungewohnter Umgebung zu orientieren." Ich zögerte und überdachte meine nächste Frage. "Verwandelt ihr euch in Fledermäuse?" Wieder lachte Sofia. "Nein, natürlich nicht. Das sind nur Märchen. Ich sehe immer so aus, wie du mich vor dir siehst und ich habe keine Angst vor Knoblauch und Kruzifixen." "Kannst du dann auch in Kirchen gehen?" "Könnte ich, wenn ich es wollte. Du meinst, weil es heiliger Boden ist?" Ich nickte. "Nun ... so heilig ist der Boden nicht. Es sind alles nur menschliche Werke und selbst wenn der Boden tatsächlich heilig wäre, wer sagt, dass ich nicht würdig bin, ihn zu betreten? Die Kirche?" Ich wusste keine Antwort darauf, also wartete ich ab, bis Sofia sie mir gab. "Es sind nur die Menschen, die in ihren Geschichten davon schreiben, dass wir unheilig wären. Sie verstehen nicht, wie es etwas geben kann, was ihnen schaden möchte, deswegen verteufeln sie die Vampire." Mir war nicht ganz wohl bei dieser Antwort. Schaden möchte? Wie viel Wahres steckte in den Geschichten, die ich gelesen hatte, wenn so vieles nicht zutraf? "Was heißt das?", fragte ich vorsichtig. Ich hoffte auf eine beruhigende Antwort, etwas, das ich akzeptieren konnte, doch das wurde mir verwehrt. "Ich trinke ihr Blut und ich töte sie, wenn mir danach ist." Sofort spannten sich alle Muskeln in meinem Körper und ich machte mich bereit zur Flucht, sollte es nötig sein. Auf eine derart direkte und unverblümte Antwort war ich nicht gefasst gewesen. Wie ein Faustschlag hatte sie mich erschüttert und in Unruhe versetzt. Das war es, was sie unheilig machte. Sie töteten Menschen. Sofia betrachtete mich mit ihrem trügerischen Lächeln. "Hab keine Angst. Ich will weder dein Blut, noch will ich dich töten." Sie konnte so schön reden. "Wer garantiert mir das?" "Niemand, nur ich." Mein Herz schlug eilig in meiner Brust. Mein Körper war bereit zu fliehen, doch ich blieb. "Warum tötest du sie?" Es musste einen Grund geben und ich hoffte sehr, dass er gut genug war, um mich wieder zu beruhigen. "Manche Menschen verdienen das Leben nicht. Ich sorge dafür, dass jeder seine gerechte Strafe erhält." "Wie ein Richter?" "Wie Richter und Henker." "Und Ezra? Tötet er auch Menschen?" "Gelegentlich." "Nach demselben Prinzip?" Jedes Wort war ein Kampf, obwohl Sofia so normal wirkte. Entspanne dich! Dir passiert nichts. "Nein, er hat seine ganz eigenen Beweggründe." "Ist er dein Schüler?" "Auch das nicht. Ezra und ich sind auf andere Weise verbunden, aber das würde jetzt zu weit führen. Ich denke das waren genug Informationen für einen Tag." Wahrscheinlich hatte sie recht. Ich wusste nicht einmal, wie und ob ich all das verarbeiten konnte. "Eine Frage habe ich noch." "Nur zu." "Wie hast du mich letzte Nacht wieder zurückgebracht? Ich erinnere mich nicht, dich außerhalb des Waldes noch einmal gesehen zu haben." "Du wurdest bewusstlos, nachdem ich dich gebissen habe." 016 – Gewitter sind selten -------------------------- Erstarrt krallte ich mich in die Polster meines Sessels. Sofia saß mir mit offensichtlicher Genugtuung gegenüber und sah mich schweigend an. Sie hatte mich gebissen. Hatte sie mir damit die Entscheidung abgenommen? War ich bereits kurz davor, mich in ein Monster zu verwandeln? Ich sog scharf die Luft ein und stellte ihr noch eine Frage: „Warum?“ „Weil es so leichter für uns beide war.“ Sie öffnete die kleine Schachtel, die auf dem Tisch stand, und nahm sich eine ihrer Zigarren heraus. „Du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Es braucht ein bisschen mehr, um jemanden in einen Vampir zu verwandeln.“ Ich war erleichtert, dass sie das sagte, doch rechtfertigte es ihre Tat nicht. Ich war keine Mahlzeit, in die man genüsslich hineinbeißen konnte. „Dann hast du doch mein Blut getrunken. Du hast gelogen.“ Ein weiches Lächeln zierte ihre Lippen. Verständnisvoll und mütterlich auf eine widersprüchliche Weise. „Nein, das habe ich nicht.“ Es ergab keinen Sinn. „Der menschliche Körper reagiert auf vampirischen Speichel mit Bewusstlosigkeit und dem Verlust kürzlich erhaltener Informationen. Deswegen erinnerst du dich nicht, dass du mich auf der Wiese gesehen hast und deswegen habe ich dich gebissen. Nicht wegen deines Blutes. Ich wollte dich sicher zurück nach Hause bringen.“ „Nach Hause?“ Es klang lächerlich und ich verlieh meinem Missfallen zähneknirschend Ausdruck. „Ein schönes Zuhause, in dem man um sein Leben fürchten muss ... mir reicht es. Gute Nacht.“ Sofia ließ mich gehen und ich verschwand schnellen Schrittes aus der Bibliothek. Ich wollte nicht länger mit dieser Frau im selben Zimmer sitzen. Als ich die Tür zu Ezras Zimmer passierte, fror ein eisiger Schauer meine Schritte ein. Seit über drei Jahren hatte mich ein Vampir trainiert ... der Gedanke wollte sich noch immer nicht in meinem Kopf niederlassen. Vampire. Es war Irrsinn. Wahrscheinlich war er tagsüber nicht ein einziges Mal zum Arbeiten in der Stadt gewesen, hatte nicht eine einzige Nacht in seinem Bett geschlafen und hatte sich nur von mir besiegen lassen, weil ... ja, warum eigentlich? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine einfache nette Geste gewesen sein könnte, auch wenn Fay des Öfteren versichert hatte, er sei ein guter Kerl. Ein guter Kerl, der des Nachts Menschen umbrachte. Ob Fay das wusste? Sie kannte ihn schließlich länger als ich und vielleicht hatte man ihr längst die Wahrheit gesagt. Vielleicht wusste sie ganz genau was er war und kam trotzdem hierher ... oder eben genau deswegen. Ein abscheulicher Gedanke, der sich in meinem Kopf geformt. Ich schloss die Tür hinter mir ab, als ich in meinem Zimmer war. Ich wollte kein Risiko eingehen, auch wenn ich sicher war, dass das bisschen Holz mich kaum schützen konnte. Es war zwei Uhr nachts, als ich mich ins Bett begab. Wie sollte ich über all das denken? Konnte ich es glauben und würde Sofia ihr Wort halten? Ich wagte es nicht, meine Augen zu schließen. Aus Angst vor dem, was mich erwarten würde, wenn ich anfing, alles zu verarbeiten. So blieb ich wach, bis die Sonne den Himmel pfirsichfarben leuchten ließ und ich sicher war, dass kein Vampir sich mehr in mein lichtdurchflutetes Zimmer wagen würde. Wenige Stunden später erwachte ich schweißgebadet. Mein erster Blick galt meinen Händen, sie waren zittrig, sahen jedoch normal aus, dann tastete ich nach meinem Gesicht, auch hier war alles wie immer. Ich atmete erleichtert aus. Keine blutigen Klauen, keine verzerrte Fratze mit wolfsartigem Gebiss. Mein Bett war zerwühlt, aber es war noch in einem Stück und nirgendwo lag eine leblose Frau, deren Kehle ich zerfetzt hatte. Nur vier Stunden Schlaf, doch ich war hellwach. Nachdem ich selbst das Monster in meinem Alptraum geworden war, musste ich etwas unternehmen. Ich konnte nicht hier bleiben. Eilig holte ich einen Koffer aus der Kammer hinter dem Salon. In der Küche hatte ich Magdalena das Mittagessen zubereiten gehört. Ich packte, so leise es möglich war, ein paar Sachen zusammen, wusch mich geschwind und schlich zurück ins Erdgeschoss. Wenn ich erst draußen war, konnte mich niemand mehr aufhalten. Ich ging zur Tür, öffnete sie und blickte in Magdalenas überraschtes Gesicht, die einen Bund frischer Kräuter in der Hand hielt. Sie musterte mich und meinen Koffer. „Du willst gehen?“ „Ja, ich muss. Ich bin nicht gemacht für solchen Wahnwitz.“ „Das kann man dir nicht verdenken. Aber sei vorsichtig, die Welt da draußen ist gefährlicher, als man meinen möchte.“ Sie trat beiseite und ließ mich passieren. „Ich werde auf mich aufpassen. Danke.“ Magdalena nickte und mir war schwer ums Herz, als ich mich abwandte und Richtung Pierre aufbrach. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich wollte nicht Teil der Geschichte werden, die Sofia für mich erdacht hatte. Ich wollte kein Vampir sein und ich wollte nicht mit ihnen leben, bis ich irgendwann alt und grau war. Sie waren Mörder und die Ungewissheit, was mit mir passieren würde, wenn ich blieb, ängstigte mich zu sehr, als dass ich es hinnehmen konnte. Bis nach Pierre waren es etwa zwanzig Meilen. Es würde ein langer Fußweg werden. Sechs Stunden, vielleicht sieben, schätze ich. In jedem Fall würde ich noch vor Einbruch der Nacht in Pierre sein und von dort aus konnte ich hoffentlich bald mit dem Zug in eine andere Stadt verschwinden. Sofia hatte mir jeden Monat ein bisschen Geld gegeben, damit ich mir etwas kaufen konnte, wenn Magdalena mich zum Einkaufen mit in die Stadt genommen hatte. Ich war sparsam gewesen und meine Reserven würden mich eine ganze Weile über Wasser halten. Nach ein paar Meilen wurde ich langsamer. Der Koffer wurde immer schwerer, je näher ich der Stadt kam und ich bereute, ihn dermaßen vollgepackt zu haben. Meine Füße schmerzten, aber ich würde nicht stehen bleiben. Während ich lief, flogen die Gedanken kreuz und quer durch meinen Kopf. Ich musste mir etwas einfallen lassen, wie ich mein Leben künftig gestalten wollte. Wie ich es finanzieren sollte, ob ich mich niederlassen, oder ob ich für immer das Leben eines Vagabunden führen wollte. Ich war noch nicht zu alt, um mir irgendwo einen Ehemann zu suchen, auch wenn das sicher nicht die idealste Lösung war. Ich wollte mich nicht an irgendjemanden binden, wollte nicht riskieren, dass man mein Vertrauen missbrauchte, nur wusste ich nicht, ob ich für immer allein bleiben konnte. Trotzdem. Es wäre allemal besser, als mit dem Tod unter einem Dach zu leben. Sie waren gefährliche Monster und hätten mich zu einem solchen gemacht, wäre ich geblieben. Ich war ohne sie um einiges besser dran und dabei spielte es keine Rolle, welcher dieser Aspekte am schwersten wog. Ich schwankte zwischen Enttäuschung, Furcht, zwischen der Angst vor dem was sie waren und der Angst, selbst zum Ungeheuer zu werden. Erst als die Stadt in Sicht kam, konnte ich meine Gedanken zurück auf Kurs bringen. Ich musste mich auf meine weitere Reise konzentrieren und verdrängte die Gedanken an Sofia, Ezra und Magdalena. Gegen halb sieben Uhr abends stellte ich meinen Koffer endlich in einem gemütlichen kleinen Wirtshaus ab und bestellte mir Bangers and Mash – gebratene Würste mit Kartoffelpüree. Das Wirtshaus befand sich direkt neben dem Bahnhof, wo man mir gesagt hatte, dass der nächste Zug erst in zehn Stunden fahren würde, Richtung Minneapolis. Es war nicht ganz ideal, aber für den Anfang würde es genügen. Ich betrachtete das Ticket in meiner Hand, während ich aufs Essen wartete. Vielleicht konnte ich irgendwann wieder etwas weiter gen Süden reisen. Nach Louisiana oder Mississippi, wo es warm war. „Bitte sehr.“ Eine hübsche junge Frau – etwa in meinem Alter – stellte mir ein neues Glas Wasser und einen gut gefüllten Teller auf den Tisch. Es roch köstlich. Ich bedankte mich und nahm gleich einen Schluck aus meinem Glas. So ausgedörrt war ich lange nicht gewesen. Die Bedienung hatte sich schon abgewandt, als ich mir ihre Aufmerksamkeit zurückholte: „Entschuldige! Kann ich dich etwas fragen?“ „Sicher.“ „Gibt es hier in der Nähe ein ordentliches Hotel, in dem man zu einem guten Preis nächtigen kann?“ „Ja, es ist nur ein Stück die Straße hinunter, oder unten neben dem Rathaus, das ist etwas größer.“ „Danke.“ Nach dem Essen machte ich mich auf den Weg. Es galt ein wenig Schlaf nachzuholen und ich wollte nicht länger als nötig durch die Stadt laufen, selbst wenn sie mir bei Weitem friedlicher vorkam als in Sacramento. Die Menschen auf der Straße waren freundlich, sie trugen – trotz des üblen Wetters – stets ein leichtes Lächeln auf den Lippen, daher war es nicht weiter schlimm, dass das erste Hotel voll war. Das Rathaus lag nur ein paar Straßen weiter und ich erwiderte höflich jedes Nicken, das man mir zuwarf. Vor mir tat sich der Rathausplatz auf. Ich beeilte mich, den weitläufigen Platz zu überqueren und betrat die erste Stufe vor dem Hotel, als man mir den Koffer aus der Hand riss. „Hey!“ Ich fuhr herum und blickte ich in das dreckig grinsende Gesicht eines jungen Burschen. „Gib mir meinen Koffer zurück!“ Er sprang eilig ein paar Schritte von mir fort. „Fang mich, wenn du kannst!“ Der Junge würde sein blaues Wunder erleben, wenn ich ihn erwischte. Er hastete davon und ich ihm hinterher. Die Anstrengungen des Tages machten sich schnell bemerkbar. Meine Beine waren viel zu müde, um diesen Tunichtgut durch die halbe Stadt zu jagen. Er wäre keine zehn Fuß weit gekommen, wäre ich ausgeruht gewesen, doch so zog es sich durch zahlreiche Straßen und Gassen. „Für ein Mädchen bist zu ganz schön schnell!“, witzelte er, während er mit Leichtigkeit auf eine Mülltonne kletterte und mitsamt meinem Koffer über einen Zaun sprang. Ich sparte mir meine Spucke und sprang hinterher. Wenn es noch länger dauerte, würde ich ihn verlieren. Ich musste etwas unternehmen, bevor es zu spät war, und mobilisierte meine letzte Kraft für einen kurzen Sprint, um ihn endlich zu fassen zu bekommen. Dann packte ich ihn am Kragen und wollte ihn festhalten, als er sich entsetzt zu mir umdrehte und schließlich rücklings auf die Straße stürzte. Er keuchte mir ins Gesicht, als er hart auf den Boden prallte und ich stemmte mich sofort wieder hoch. „Verdammter Dieb, das hast du jetzt davon!“, fluchte ich und rollte von ihm herunter. Ich hob meinen Koffer auf und beobachtete, wie er sich langsam aufsetzte. „Komm mir nicht zu nahe, ich warne dich.“ Zur Sicherheit behielt ich ihn im Auge, während ich mich von ihm fortbewegte. Als ausreichend Distanz zwischen uns gebracht war, drehte ich mich um und trat fluchs den Rückweg an. Es dauerte nicht lange, bis ich seine Schritte hinter mir vernahm. Er wollte nicht hören. „Hey, warte mal!“, rief er, während er zu mir aufschloss, und kassierte dafür einen harten Faustschlag auf die Nase. „Au! Mann!“ „Ich hatte es dir gesagt. Lass mich in Ruhe!“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt der Junge seine Nase. Er sah mich wütend an, dann glitt sein Blick an mir vorbei zum Ende der Gasse, an der ein anderer Kerl aufgetaucht war, deutlich größer und stämmiger. Ich überlegte nicht lange und ging zügig in die andere Richtung. Nur ein paar Schritte, dann stand auch dort eine bärige Gestalt. Das kann doch nicht wahr sein ... „Was soll das hier werden?“, fragte ich den jungen Kerl, der sich noch immer die Nase hielt. Er wischte sich das Blut von der Oberlippe und blickte mich unschuldig an. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Na schön.“ Ich entschied mich für den direkten Rückweg und ging auf den Kerl zu, der dort so felsähnlich den Weg versperrte. „Würden Sie mich bitte durchlassen?“, fragte ich. Keine Reaktion seinerseits. Ich wartete geduldig und stellte meinen Koffer ab, als dieser Koloss mich schief angrinste. Er würde mich nicht passieren lassen, das hatte ich verstanden. Mir war mulmig zumute, also atmete ich tief durch. Es wäre zweifelsfrei besser gewesen, hätte ich den Dieb mit meinem Koffer davonkommen lassen. Jetzt ließ es sich nicht mehr ändern, also konzentrierte ich meine Gedanken auf den Mann, der mir den Weg abgeschnitten hatte. Körperlich war er mir unbestritten überlegen, also wartete ich ab, bis sich eine Gelegenheit bot. „Lasst sie bloß nicht entwischen!“, wies der Dieb seine Schergen an. „Na los, schnappt sie euch!“ Auf sein Stichwort löste sich der Mann aus seiner Starre und kam auf mich zu. Ich wich ein Stück zurück und duckte mich unter seinen Armen hinweg. Er war nicht sehr schnell und ich wartete einige Augenblicke auf den richtigen Moment. Dann trat ich ihm mit voller Wucht gegen die Kniescheibe. Er sackte weg und ich setzte mit einem Schlag gegen seinen Kehlkopf nach. Ein tiefes Röcheln floh aus seiner Kehle und ich nutze den kurzen Moment seiner Unachtsamkeit, um an ihm vorbeizuschlüpfen. Im Vorbeirennen griff ich meinen Koffer und schwang ihn hinter mich, als die Schritte meines Verfolgers lauter wurden. „Finger weg!“, brüllte ich ihn an, während wir aus der Gasse jagten und ich hart gegen eine andere muskulöse Brust prallte. Der Griff meines Koffers entglitt meinen Fingern, als die schmerzvolle Umarmung diese übel riechenden Mannes mich empfing. Sie waren zu viert. Ein Schmächtiger und drei gleichermaßen abstoßende Hünen. Ich wollte nicht wissen, was sie von mir wollten, ich wusste nur, dass sie es nicht bekommen würden. „Ihr seid so armselig!“, fluchte ich und rammte mein Knie zwischen die Beine des Mannes, der mich festhielt. Er brüllte laut und beschimpfte mich, während er seine Hände schützend um sein Gemächt platzierte und sich zusammenkrümmte. Ich stellte mich auf den dritten der bärigen Männer ein, der auf mich zu walzte, kaum war ich seinem Partner entkommen. Er streckte seine Pranken nach meinem Hals aus. Ich wartete, bis er nahe genug war, hob meinen Arm, drehte mich zur Seite und schlug ihm mit dem Ellenbogen aufs Handgelenk, dass sein Angriff ins Leere lief. Dann riss ich meinen Ellenbogen wieder nach oben gegen sein Kinn und streckte meinen Arm, um ihm meinen Daumen ins Auge zu drücken. Er keuchte und brachte sein Gesicht in Sicherheit. Noch während er sich abwandte, zog ich mein Knie nach oben, stieß es ihm in die Magengrube und ergriff sofort die Flucht, bevor er sich wieder sammeln konnte. Einen Kampf Eins gegen Vier musste ich vermeiden. Ich hörte noch immer Schritte, die mich verfolgten. Sie waren leicht und schnell und ich war sicher, dass es der junge Dieb war. Ich flehte meine Beine an, sie würden mich noch eine Weile tragen und in Sicherheit bringen, hielt Ausschau nach Hilfe oder einem sicheren Versteck, bis es mir schlagartig dämmerte. Ich floh aus Reflex. „Glaubst du wirklich, dass du entkommen kannst?“, rief er mir nach. Wahrscheinlich nicht, also ließ ich ihn herankommen. Ich spürte seine Anwesenheit direkt hinter mir, wie rauen Herbstwind. Noch ehe er mich erfassen konnte, stürzte ich zu Boden, wie eine Katze auf ihre Beute, rollte mich ab und stieß ihm den abgebrochenen Besenstiel entgegen, den ich dabei vom Boden geklaubt hatte. Er rannte ungebremst hinein und das gesplitterte Holz bohrte sich in seinen Bauch. Er durfte ruhig spüren, dass er sich mit der Falschen angelegt hatte. Keuchend und schimpfend ging er zu Boden. Er sah nicht gut aus. „Du hättest mich in Frieden lassen sollen.“ „Verfluchtes Miststück!“, keifte er. Ich hatte weder Zeit noch Lust, mich über seine Worte zu ärgern. Es war wertlos. Viel wichtiger waren seine kolossalen Gefährten, die sich erholt hatten und bedrohlich nah gekommen waren. „Den brauche ich wohl noch.“ Bevor der Dieb meine Worte verstand, hatte ich ihm den Stock aus Bauch und Händen gerissen. Er schrie und ich spannte meine Hand um den Besenstiel, um ihn mit einem schnellen Schlag wieder ruhig zu stellen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich eine andere Wahl getroffen. Heute nicht. Heute durchströmte mich Genugtuung, als der Bursche bewusstlos zusammenklappte. Sein Gefolge stand ein paar Fuß entfernt und beäugte mich skeptisch. Sie waren verunsichert, man konnte es beinah riechen. „Also?“, fragte ich und musterte sie der Reihe nach. „Wollt ihr mich nun gehen lassen, oder nicht?“ „Du wirst dafür bezahlen!“, fauchte der Größte der Drei und donnerte tollwütig auf mich zu. Seine Freunde taten es ihm gleich, nachdem sie sein Startsignal begriffen hatten. Ich nutze den kleinen Vorsprung, den er hatte, täuschte links an und schlug nach schneller Drehung schwungvoll rechts gegen seinen Schädel. Er taumelte zur Seite und ich schmiss mich im Hechtsprung zwischen den anderen beiden hindurch, um hinter ihnen wieder auf die Beine zu kommen. Er würde nicht mehr aufstehen. Nummer zwei machte Bekanntschaft mit meinen Fingerknöcheln, als er sich zu mir umdrehte. Er war geduckt – der andere mit erhobener Faust aufrecht – und wollte mich packen. Ich donnerte sie ihm auf die Nase und riss meinen Stab herum, um den Angriff des anderen zu unterbrechen, während ich über den Rücken seines gekrümmten Freundes rutschte. Es funktionierte und war so leicht. Diese Typen waren dämlich und vor allem langsam. Als ich wieder fest auf dem Boden stand, holte ich erneut aus und traf die Nieren des Kerls, dessen Nase ich gebrochen hatte. Er stöhnte schmerzerfüllt und ging in die Knie. Einer war noch fit. Unter den buschigen Augenbrauen dieses Mannes funkelte ein zorniges Paar Augen. Er wollte es besser machen, wollte mich büßen lassen. „Ich bring dich um!“, knurrte er und stürzte auf mich zu. Zeit das Ganze zu beenden. Ich wich zur Seite, schwang meinen Stab und zielte auf seinen breiten Nacken. Das Holz zerbrach an seinem Unterarm. Er fuhr herum und riss mich von den Füßen. Meine Reaktion kam zu spät. Ich lag auf dem Boden und sah seine mächtige Schuhsohle auf mich zukommen. Er wollte mich wie einen Käfer zerquetschen, doch den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Ich rollte zur Seite und sein Schuh schlug hart auf dem Boden neben mir auf. Meine Position war ideal, ich lag direkt unter ihm und schwang mein Bein nach oben. Der Tritt saß, mein Gegner schnappte nach Luft und ließ sich auf mich fallen. So wich auch mir die Luft aus den Lungen. Er hatte mich unter seiner enormen Maße begraben und tat alles dafür, es mir so ungemütlich wie möglich zu machen. Sein Knie drückte tief in meinen Magen. „Jetzt bist du nicht mehr so stark, was?“, höhnte er und legte seine Hand um meinen Hals. Meine Arme waren eingeklemmt. Ich steckte fest. „Stark genug für dich!“, fauchte ich ihn an und freute mich über seine Verblüffung angesichts der plötzlichen Lautstärke. Mein Körper war zum Zerreißen gespannt, der letzte Ton war nicht verklungen, als ich meine Hüfte ruckartig nach oben stemmte und ihn seines Gleichgewichts beraubte. Er fiel nach vorn und ich trat mit dem Schienbein nach. Nicht eine Sekunde zögerte ich, um ihn mit einem gezielten Schlag meiner Handkante gegen seinen Hals außer Gefecht zu setzen. Erst als er sich nicht mehr rührte, holte ich wieder Luft. Drei von vier waren bewusstlos, einer beobachtete mich mit blutender Nase und tränenden Augen. Er wirkte verstört und nahm dennoch Kampfhaltung ein. „Lass es. Kümmere dich besser um deine Freunde.“ Keiner von uns rührte sich. Eine halbe Ewigkeit geschah nichts, dann entspannte er sich und ich verstand. Es war vorbei, ich konnte gehen. Erleichtert trat ich den Rückzug an. Sobald ich außer Sichtweite war, würde ich mich setzen müssen, mir war flau im Magen und meine Ohren rauschten und pochten. Langsam ging ich weiter, bis ein lauter Knall die Luft und durchdrang. Ein Schuss. Ich fuhr herum und blickte in das vom fahlen Mondlicht beschienene, blutige Gesicht des Mannes, der mir den Lauf seiner Pistole entgegenstreckte. Er hatte mich verfehlt, aber ... hatten wir uns nicht stillschweigend darauf geeinigt, dass es zu Ende war? Ich war fassungslos. Es war von Anfang an ein ungleicher Kampf gewesen, dessen Verlauf soeben eine unerwartet aussichtslose Wendung genommen hatte. Ich setzte einen Schritt zurück und überlegte mir einen Fluchtplan, als der Schütze wie aus dem Nichts von der Straße gefegt wurde. Er verschwand im Dunklen und plötzlich war es totenstill. Selbst der Wind war verstummt. Ich hielt die Luft an. Eine Sekunde. Zwei. Nichts. Dann riss ich meinen Arm herum und schlug hinter mich, mit dem Ellenbogen voran. „Habt ihr noch nicht genug?“, brüllte ich. Mein Schlag wurde geblockt. Mühelos. Mir entglitten die Gesichtszüge, als ich meinen Gegner erkannte. Meine Gegnerin. Sofia. „Hallo Megan.“ „So- ha? Was?“, stammelte ich und riss mich los. „Was tust du hier?“ „Das erkläre ich dir, sobald wir fort sind. Lass uns gehen.“ Ich trat zurück. „Nein. Ich komme nicht mit. Lass mich in Ruhe!“ Dann wandte ich mich ab und eilte in die andere Richtung davon. Weit kam ich nicht. Nur wenige Fuß, bis eine zweite, wohlbekannte Gestalt aus dem Schatten trat. Ezra. Sein Mund und Kinn glänzten dunkel. „Du auch? Seid ihr hier, um mich zurückzuholen?“ „Nein.“ Seine Antwort fiel erwartungsgemäß knapp aus. „Nicht? Warum dann?“ „Später.“ Noch bevor ich erneut nachfragen konnte, hatte Sofia mich am Handgelenk gepackt und zog mich davon. „Wir müssen verschwinden, bevor uns jemand sieht. Komm. Lass uns dich zum Hotel bringen.“ Eine große Wahl hatte ich nicht. Sofia führte mich eilig davon. Sie wurde erst langsamer und ließ mich los, als wir zahlreiche Straßen entfernt waren. „Genug!“, protestierte ich. „Sag mir, was los ist!“ „Du hast dich nicht verabschiedet.“ Ich holte Luft, um zu antworten, hielt inne und dachte kurz darüber nach, während wir weitergingen. „Und deshalb habt ihr mich gesucht?“ Ich klang eher überrascht als skeptisch. Mein Fehler. „Zum Teil.“ „Warum noch?“ „Ich hatte ein ungutes Gefühl und ich wollte nach dir sehen. Offenbar hatte ich recht.“ „Ach ja?“ „Nicht?“ „Ich weiß nicht. Bis ihr beiden aufgetaucht seid, hatte ich alles unter Kontrolle.“ Sofia blieb still. Wollte sie mir nicht widersprechen, oder hatte ich recht? „Schon möglich“, gab sie schließlich zu. „Er hatte auf dich gezielt, nicht wahr?“ „Als er den Abzug zog, ja.“ Ein einfaches Ja hätte genügt. Dass sie es so sagte, verunsicherte mich. „Dann ... hatte er ursprünglich mich im Visier?“ Sie blieb stehen und warf mir einen ihrer warmen, mütterlichen Blicke zu. „Die Hauptsache ist, dass dir nichts zugestoßen ist. Denk besser nicht darüber nach. Es ist nichts geschehen.“ Dennoch ein beunruhigender Gedanke. Er hing mir nach, während wir durch die Stadt liefen. Wir schwiegen. Sehr lange. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, wusste aber nicht was. Also brach Sofia das Schweigen, bevor ich es tun konnte. „Ich habe übrigens deinen Koffer gefunden. Du wirst ihn wohl brauchen.“ „Oh ... ja, danke. Wo ist er?“ „Im Hotel.“ „Wie?“ „Nun, da ich nicht annahm, dass du auf der Straße schlafen möchtest und eine gewisse Nähe zum Bahnhof benötigst, gab es nur zwei Möglichkeiten. Eine war ausgebucht, also habe ich ihn im Hotel am Rathaus abgegeben und für dich reserviert.“ Wahrscheinlich hätte ich mich darüber freuen sollen, doch es war mir unangenehm. „Danke“, sagte ich trocken. „Es ist schon in Ordnung. Du musst kein schlechtes Gewissen haben.“ Hatte ich aber. Und es ließ sich nicht einfach abstellen. Sofia fuhr fort: „Das Risiko war mir von Beginn an bewusst. Sei unbesorgt, ich bin dir nicht böse.“ Mir fehlten noch immer die Worte. Ich jonglierte mit ihnen in meinem Kopf und versuchte etwas Passendes zu formulieren, bis wir vor dem Hotel standen. „Sofia ... das alles ist für mich zu verrückt. Es macht mir Angst und ... deshalb ich kann nicht bei euch bleiben. Es tut mir leid.“ Sie lächelte. „Es ist dein Leben und deine Entscheidung. Du solltest dich nicht dafür entschuldigen.“ Ich nickte und reichte ihr meine Hand. Ein Abschied. „Pass auf dich auf.“ „Werde ich. Und ... grüß Ezra.“ Dann kehrte sie mir den Rücken zu und schritt mit ungebrochenem Stolz zurück in die Nacht. Sie drehte sich nicht mehr um und war im nächsten Moment verschwunden. Ich überwand die wenigen Stufen zum Eingang des Hotels und klopfte an das Holz. Es dauerte nicht lang, bis man mir öffnete. „Schönen guten Abend, Miss. Kommen Sie herein, es ist kühl draußen.“ Ich trat ein und folgte der freundlichen Dame zur Empfangstheke. Sie überreichte mir meinen Koffer und den Schlüssel zu meinem Zimmer. Es war bereits bezahlt. Das war er also, der Beginn eines neuen Kapitels. Ein wenig gewöhnungsbedürftig war er. Ich hatte keine Angst. Hatte keine Zweifel mehr, dass ich es alleine schaffen konnte. Ich war durchaus in der Lage, mich zu verteidigen. Mich störte nur ein winziges Detail an diesem Plan: Ich rannte davon. Ich ergriff die Flucht, weil ich mich fürchtete und weil ich hoffte, an einem anderen Ort in Frieden leben zu können. Dabei war ich nicht mehr die Megan von vor drei Jahren. Das Mädchen, das nicht fähig war, sich zu behaupten, das keine andere Wahl hatte, als zu fliehen. Das war ich nicht mehr und zumindest einen Teil von mir hielt diese Erkenntnis hier fest. Ich wusste, wem ich es zu verdanken hatte. „Miss? Wollen Sie nicht auf Ihr Zimmer gehen?“, fragte mich die nette Dame. Ich stand noch immer vor dem langen Flur. Er wirkte freundlich, verlockend. „Ich kann nicht.“ „Ich verstehe nicht.“ Die arme Frau sah mich ratlos an. „Ich kann nicht gehen. Ich kann hier nicht fort, ich ... ich meine, ich kann, ich könnte, aber ... es brächte mir nichts. Wissen Sie, was ich meine?“ Nach wie vor machte die Empfangsdame einen irritierten Eindruck. „Es ist ganz einfach: Wenn Sie die Wahl hätten zwischen ... einem heftigen Gewittersturm und einem warmen Schauer, was würden Sie wählen?“ Sie überlegte eindeutig zu lang. „Das Gewitter, Ma'am! Der Schauer mag angenehm sein, aber aus dem bisschen Wasser kann kaum etwas Brauchbares werden und das Gewitter war heftig bisher und sehen Sie mich an. Es hat mich wachsen lassen.“ Sie blinzelte, ich winkte ab und gab ihr den Schlüssel zurück. „Schon gut. Haben Sie vielen Dank, aber ich muss gehen!“ Dann ging ich zur Tür. „Miss?“, rief sie mir hinterher, „Gewitter sind hier selten.“ „Weiß ich.“ 017 – Heimat ------------ Mein Platz war nicht in Minneapolis, nicht in Louisiana oder Mississippi, er war hier. „Sofia? Bist du noch hier?“ Ich ging ein paar Schritte. Natürlich war sie fort. Warum hätte sie warten sollen? „Sofia!“, schrie ich in die Dunkelheit. „Ruhe da unten!“, wetterte jemand von irgendwoher und knallte die Fensterläden zu. Sollte ich laufen? Versuchen, Sofia zu finden? Falls sie die Stadt schon verlassen hatte, würde ich sie nicht mehr einholen. Ich konnte die Nacht im Hotel verbringen und morgen den Heimweg antreten. Möglich war es, aber mir fehlte die Ruhe. Ich war aufgekratzt, todmüde und unfähig mich in ein Bett zu begeben, also lief ich. Zurück über den Rathausplatz, Richtung Bahnhof und von dort aus der Stadt, bis ich die letzte Laterne erreicht hatte. Keine Spur von ihr. Die Luft war kühl und klar. Ich konnte den Weg vor mir sehen, der mich zurück zu Sofias Haus bringen würde. Es war so schrecklich weit und eine Nacht im Hotel zu verbringen, klang immer verlockender. „Ist es nicht ein wenig spät für einen Spaziergang?“ Meine Nackenhaare stellten sich blitzartig auf und der Schauer rannte meinen Körper hinab, als ich mich umdrehte. Sofia stand nur ein paar Fuß entfernt. Vielleicht war sie mein Untergang, vielleicht meine Rettung. Ich musste das Risiko eingehen. „Du bist noch da.“ Ich war erleichtert. „Nein, du bist noch da. Ich dachte, du wolltest uns verlassen.“ „Das wollte ich. Aber ... darf ich meinen Abschied zurücknehmen?“ Sie sagte nichts und ich hielt die Luft an. Der Wind pfiff mir um die Ohren, während ich auf ihre Reaktion wartete. „Ich hatte gehofft, dass du das tun würdest“, sagte sie und winkte mich zu sich. Ein kurzes Lächeln und ich folgte der Einladung. Wir gingen schweigend zurück in die Stadt. Ich wusste nicht, was unser Ziel war. Es war zweitrangig. Vielmehr interessierte mich, was in ihrem Kopf vor sich ging. Ob sie mir böse war, ob meine Flucht Konsequenzen nach sich ziehen würde. Sie war unheimlich still, zeigte keine Regung. „Wohin gehen wir?“ Ich musste irgendetwas tun, um die Stille aufzubrechen. „Zum Bahnhof. Wir benötigen eine Kutsche für den Heimweg“, antwortete sie mir ganz sachlich. Sofia klang beinah so nüchtern, wie Ezra es tat. „Bekommen wir so spät noch eine?“ „Selbstverständlich. Ich bekomme immer eine Kutsche.“ Tatsächlich saßen wir fünf Minuten nach betreten des Bahnhofs in einer Kutsche, die uns holpernd aus der Stadt brachte. Der Kutscher hatte es eilig. „Warten wir nicht auf Ezra?“ „Nicht nötig, er kennt den Weg.“ Ich fragte nicht weiter und konzentrierte mich stattdessen auf die Stadt, die an uns vorbeizog. Sofias Blick lag auf der Seite meines Gesichts. Ich konnte es im Augenwinkel sehen und es beunruhigte mich. Sollte ich fragen, oder besser abwarten, bis sich die Nerven aller wieder entspannt hatten? Ich entschied mich für Ersteres und wandte mich ihr zu. „Bist du mir böse?“ Ihre Antwort kam, ohne zu zögern: „Nein.“ „Was ist es dann? Es ist merkwürdig.“ „Ich bin in Gedanken“, gab sie knapp zur Antwort. Ich fragte nicht weiter, sah sie nur an und wartete, dass sie fortfuhr. Dass ihre Erklärung mir nicht genügte, musste ihr aufgefallen sein. Sie seufzte leise, dann brachte sie ein Lächeln zustande und sprach weiter: „Komm hierher, Megan.“ Sie klopfte auf das Polster neben sich. Ich saß ihr gegenüber. Jetzt sollte ich meinen Platz wechseln und es behagte mir nicht. Obwohl ich mich entschieden hatte, bei ihr zu bleiben, war mir nicht wohl bei dem Gedanken, so nah neben diesem ... dieser Frau zu sitzen. „Denkst du wirklich, es macht einen Unterschied, ob du eine Handbreit oder drei Fuß Abstand zu mir hast? Ich will dir nichts Böses.“ „Das weiß ich. Sonst hättest du es längst getan.“ „Und dennoch misstraust du mir.“ „Ich kann dir nicht mein vollstes Vertrauen schenken, nach allem, was in den letzten Tagen geschehen ist.“ „Und nach allem, was ich in den letzten Jahren für dich getan habe.“ Es was ein berechtigter Einwand. Sie hatte mir viel gegeben. Mehr als irgendjemand sonst und trotzdem fiel es mir schwer, auf sie zuzugehen. Vielleicht war es an der Zeit, meine alten Denkweisen über Bord zu werfen, wenn ich mich schon für diesen Weg entschieden hatte, und ihr ein kleines bisschen zurückzugeben. Mir war klar gewesen, was sie war, als ich mich entschieden hatte und warum dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte, bevor ich den Rückzug angetreten war? Reiß dich zusammen! Ich atmete entschlossen durch, erhob mich und nahm direkt neben Sofia wieder Platz. „Ich danke dir“, sagte sie mir einem Lächeln. „Wofür?“ „Ich werde dir zeigen, dass ich nicht das Monster bin, das du vermutest. Und ich will dir beweisen, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast.“ Ihr Tonfall war rein und weich. So sanft, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich war sicher, dass das eine Fantasie fernab der Realität war. Sofia legte ihre offene Hand mit der Fläche nach oben auf mein Bein. „Gib mir deine Hand.“ Ich zögerte kurz, dann ging ich ihrer Aufforderung nach und legte meine Hand in ihre. Sie verschränkte unsere Finger ineinander. Eine eigenartige Verbindung. „Solange du bei mir bist, werden meine Hände dir ein Schutzschild sein. Sie werden dich leiten und stützen, wann immer du sie benötigst.“ Meine Blicke waren noch immer auf unsere beiden Hände gerichtet, die so fest miteinander verbunden waren. Ein seltsames Gefühl, das ich in ihrer Gegenwart zuvor noch nie verspürt hatte. Geborgenheit. In diesem Moment, da sie meine Hand hielt und der Klang ihrer Worte so aufrichtig war, konnte ich nicht anders, als ihr zu glauben. So absonderlich es sein mochte, ich fühlte mich sicher an ihrer Seite. „Kannst du mir das versprechen?“ Der leichte Anflug eines Schmunzelns flog über ihre Lippen, als ich versuchte mit meinen Blicken ihre Augen zu durchbohren. Nur einen Moment später wurde sie wieder ernst und schwor es mir. „Bei meinem Leben“, fügte sie hinzu und ich versucht in diesen Tiefen zu erkennen, ob sie die Wahrheit sagte. Sie glänzten bernsteinfarben, im Licht der Laterne und ich wollte so gerne hinter ihre Fassade sehen. Was zählte dieser Schwur bei einem Vampir? Zählte er mehr, weil ein Vampirleben ewig dauerte, oder weniger, weil ein Vampir nach seinem Tod wiederauferstehen konnte? Über Sofias Gesicht breitete sich ein sanftes Lächeln aus. „Was ist mit dir?“, fragte sie und hielt meinen Blicken problemlos stand. „Nichts. Ich wollte nur sehen, ob du ehrlich bist.“ „Kannst du das in meinen Augen erkennen?“ Sie schien vergnügt, während sie auf meine Antwort wartete. „Ich hatte es gehofft.“ Es war unmöglich eine Antwort in diesen grünen Abgründen zu finden, die mich jetzt so golden anstrahlten. Ich musste mich geschlagen geben. Hier war nichts zu entziffern. Nicht der kleinste Gedanke, also wandte ich mich wieder dem Fenster der Kutsche zu. Draußen war kaum etwas zu sehen. Nur ab und zu schimmerten Grashalme im silbrigen Mondlicht und der Sand knirschte unter den Rädern der Kutsche. Meine Gedanken kreisten um Sofias Hand, die die meine noch immer festhielt. Sie war kalt, eisig und es wunderte mich kein Bisschen. Wir waren des Nachts in einem der kältesten Staaten der USA unterwegs und auch meine Hände waren Eiszapfen, obwohl es nicht einmal Winter war. Sofia drückte meine Hand sanft, bevor sie die Stille brach: „Ich möchte dich um Verzeihung bitten.“ Sofort hatte sie meine volle Aufmerksamkeit. Hatte ich mich verhört? „Mein Egoismus bringt zuweilen zweifelhafte Ideen hervor. Ich wollte, dass du bleibst, und habe dir dadurch viel zugemutet. Das tut mir leid.“ Mit etwas Abstand betrachtet, war die Idee überhaupt nicht derart zweifelhaft. Aus Sofias Sicht betrachtet, ergab es durchaus Sinn. Allmählich verstand ich, was sie dazu bewogen hatte, mich erst so spät einzuweihen. „Wahrscheinlich ... war es die klügere Entscheidung.“ Sie atmete leise aus und ich meinte, Erleichterung darin zu hören. „Eines musst du noch wissen“, fuhr sie fort, „Ich bin nicht gutmütig, wie Magdalena und ich bin nicht aufrichtig, wie Ezra. Ich spiele nicht immer fair und ich bin mir stets selbst die Nächste. Aber dir ... dir würde ich, ohne zu zögern, den Platz auf meinem Thron schenken.“ Nichts von dem, was sie sagte, überraschte mich. Sie war nicht der mütterliche Typ Frau. „Vorausgesetzt, ich stimme zu, deine Schülerin zu werden“, ergänzte ich ihre Aussage. „Das ist richtig.“ Natürlich war ihr Versprechen an diese Bedingung geknüpft. Als Mensch war mein Leben für Sofia nicht viel mehr als das Vorbeiziehen der Jahreszeiten. Manchmal erheiternd, manchmal mühsam und nur ein Bruchteil ihres Lebens. Den Platz auf ihrem Thron gab es nicht umsonst. „Was würde es bedeuten, wenn ich deine Schülerin würde?“ Diese Entscheidung war noch lange nicht gefallen, trotzdem interessierte es mich. „Einhundert Jahre an meiner Seite, in denen ich dir alles beibringen würde, was du wissen musst.“ Ich schluckte schwer. „Einhundert Jahre?“ „So viel ist das nicht.“ Sie drückte meine Hand und fuhr fort: „Wenn man unsterblich ist.“ Vermutlich hatte sie recht. Es gab jedoch noch eine andere Frage, deren Beantwortung mich weitaus mehr interessierte: „Wäre ich dann überhaupt noch ich selbst?“ „Ja sicher!“ Sie lachte herzlich. „Du wärst nur noch etwas mehr, als du es jetzt bist. Du wärst schneller, stärker und deine Sinne würden schärfer. Allerdings ...“ Ihr schien etwas eingefallen zu sein, was nicht mit einem fröhlichen Lächeln verpackt werden konnte. „Was ist?“ Erwartungsvoll beobachtete ich, wie Sofia überlegte. Wohl eher ob, nicht wie sie es mir sagen sollte. „Eine Mutterschaft wäre damit ausgeschlossen.“ Ich blinzelte sie wortlos an. Ob Sofia gerne Kinder gehabt hätte? Sie wirkte beunruhigt, während sie auf meine Reaktion wartete. „Das wäre das geringste Problem“, antwortete ich schließlich. Es mochte ungewöhnlich sein, für eine Frau meines Alters, doch ich hatte noch nie den Wunsch verspürt, einmal Kinder zu gebären. Nun war es also an mir, ein amüsiertes Schmunzeln aufzusetzen, während ich in Sofias überraschtes Gesicht blickte. „Ich möchte keine Kinder. Es wäre verantwortungslos. Würde mir etwas zustoßen, gäbe es niemanden mehr, der meine Kinder beschützt und sie wären der Willkür anderer ausgesetzt. Deshalb möchte ich lieber überhaupt keine Kinder.“ „Sie hätten noch immer einen Vater.“ „Hätten sie das? Nun, ein Vater hat andere Prioritäten.“ „Ich verstehe.“ Sie fragte nicht weiter nach und ich war froh darum. Diese Unterhaltung entwickelte sich in eine Richtung, die mir nicht gefiel. Sofia wechselte kurzerhand das Thema: „Ich würde ohnehin viel lieber wissen, warum du dich entschieden hast, bei mir zu bleiben.“ Womit fing ich an? „Das ist schwer zu beantworten. Ich denke ... vor allem, weil kein anderer Weg mich weitergebracht hätte. Nicht im Allgemeinen und auch nicht weiter, als bis ins nächste Wirtshaus.“ „Du wolltest also doch lieber den sicheren Weg gehen.“ Sie lachte. „Ganz im Gegenteil. Das hier ist der unsicherste Pfad, den ich je beschritten habe.“ Sofia dachte einen Moment darüber nach, bevor sie antwortete: „Aus deinem Blickwinkel betrachtet, mag es zutreffend sein.“ „Außerdem hatte ich das-“ Die Kutsche wurde plötzlich unnatürlich stark erschüttert. „Was war das?“ „Ezra.“ „Wie?“ Meine Verwirrung ging so fließend in Verblüffung über, wie Ezra durch das Fenster ins Innere der Kutsche glitt. Du wärst schneller ... Er hatte sich auf der Sitzbank niedergelassen, als hätte er schon die ganze Zeit über dort gesessen. Keinerlei Anzeichen von Erschöpfung. Noch ehe ein Wort der Begrüßung fiel, hatte Sofia meine Hand losgelassen und sich zu ihm hinübergebeugt. Sie drückte ihm ihre Lippen auf den Mund, als wäre es das Normalste der Welt und ich konnte nicht umhin, als das offensichtliche Missfallen in Ezras Gesichtszügen zu bemerken. Er drehte seinen Kopf zur Seite und schob Sofia zurück. „Lass das!“, schnaubte er. „Was?“, fragte Sofia, „Ich kann nichts dafür, wenn du schlampig arbeitest. Das tust du andauernd.“ Wie war das nun zu verstehen? „Sei nicht albern. Sie weiß es.“ Sie? Er meinte mich. „Was weiß ich?“ Sofia seufzte. „Dass unser Speiseplan anders aussieht, als der deine.“ Das wusste ich durchaus. „Aber was hat das mit … ah!“ Es dämmerte mir. Ezra war eine Kleinigkeit „Essen“ gewesen und hatte vergessen, eine Serviette zu verwenden, also hatte Sofia diese Spuren beseitigt. Mehr oder minder unauffällig. Je länger ich darüber nachdachte, desto höher stieg der Säurepegel in meinem Hals. Ich wusste, dass sie Blut tranken. Das war nicht mehr neu, nur hatte ich es verdrängt. „Ich hatte dich vor zwanzig Minuten erwartet“, fuhr Sofia fort. Ezra ging nicht darauf ein. Er hielt die Augen geschlossen – wie üblich – und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Du bist verstimmt“, stellte sie schließlich fest. „Wundert es dich?“ „Durchaus.“ Er blies abfällig die Luft aus seinen Lungen und ich hatte fast vergessen, wie übel mir war. Als würde man die Sehne eines Bogens langsam zurückziehen, wurde die Anspannung immer deutlicher. Gleich würde jemand schießen und ausnahmsweise war ich nur Zaungast. „Tu nicht so“, knurrte Ezra. „Du weiß ganz genau, was mein Problem ist.“ „Du bist ein elender Schwarzmaler“, gab Sofia zur Antwort und schien sich von seiner miesen Laune nicht beeinflussen zu lassen. „Sicher.“ Dann schwiegen sie. War es das? Kein Schuss? Besser ich mischte mich nicht in deren Probleme ein, auch wenn es mich brennend interessierte, was genau Ezra meinte. Ich überlegte noch, ob ich fragen sollte, als er mir ein Stück entgegenkam. „Soll ich dir etwas sagen, Megan?“, fragte er. Natürlich sollte er. „Was?“ „Sie ist eine verdammte Hexe!“ „Ezra!“, fuhr Sofia ihn an, wurde aber sofort wieder ruhiger. „Erzähle keinen Unsinn.“ „Das ist mein ernst. Sei froh, dass du dich nicht gegen sie entschieden hast.“ „Wie? Ich verstehe nicht …“ Ezra hatte mich gekonnt in Unruhe versetzt. Bevor ich mich weiter dazu äußern konnte, meldete Sofia sich wieder zu Wort: „Er meint, dass ich mich zuweilen wie eine verhalte. Eine Metapher. Ich bin nicht wirklich eine Hexe.“ „Aber es passt“, fügte Ezra hinzu. Beruhigend zu wissen, dass zumindest die Hexerei nicht zu ihren Fähigkeiten zählte. Sofia seufzte. „Wie auch immer.“ Dann lehnte sie sich entspannt zurück. „Er übertreibt.“ "Ist das so?" Ezra klang, als würde er ihr jeden Moment ein Messer an die Kehle setzen wollen. Sofias Stimmung war gekippt. Ihre Miene war steinhart und ich rutschte so unauffällig wie möglich zur Seitenwand der Kutsche. „Kann mir bitte jemand sagen, was hier los ist?“, fragte ich todesmutig und machte mich sicherheitshalber bereit, aus der fahrenden Kutsche zu springen. „Nichts, das ist nicht wichtig“, versuchte Sofia mich zu beschwichtigen. "Er ist nur noch immer schlecht auf mich zu sprechen, wegen neulich Nacht." Ich musste kurz überlegen, dann fiel es mir wieder ein. Ich erinnerte mich, wie Ezra am Fuß der Treppe gesessen hatte. Blutüberströmt. Wie Sofia mir gestanden hatte, dass sie es gewesen war. "Unter anderem", knurrte Ezra, sagte danach aber nichts mehr. Es war still in der Kutsche und ich hoffte, dass wir bald ankamen. Die Erinnerung beschäftigte mich. Sofia war gefährlich. Sich etwas anderes einzureden, wäre falsch. „Du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Es betrifft dich nicht. Ich weiß sehr wohl, wann ich wie weit gehen kann", erklärte Sofia. Aus Ezras Richtung war ein kurzes Schnauben zu hören. Sofia ignorierte es. „Was bedeutet das?“ Ich sprach so leise, dass ich nicht einmal sicher war, ob sie es gehört hatte, und wollte mich räuspern, um es zu wiederholen, doch Sofia hatte alles verstanden. „Das bedeutet, dass ich mir gelegentlich eine Auszeit von der zivilisierten Zurückhaltung gönne, wenn ich mit jemandem mein Bett teile, der das verkraften kann.“ Ich hatte angenommen, es wäre im Streit passiert. Offenbar war das ein Irrtum gewesen. Ich sah sie entgeistert an. Es war völlig abstrus. „Das ist doch Wahnsinn ...“ Noch bevor Sofia antworten konnte, schoss Ezra dazwischen: „Das ist es. Vor allem, wenn man es auf eine so heimtückische Art tut.“ Sofia seufzte entnervt, ließ Ezras Aussage aber unkommentiert stehen und beschloss das Thema zu beenden. „Wie dem auch sei, es ist nichts, was dich betrifft. Sei unbesorgt.“ Es fiel mir schwer, bei derartigen Informationen unbesorgt zu bleiben. Das einzig Beruhigende daran, war die Tatsache, dass es – so merkwürdig es auch klingen mochte – nicht während eines Streits zu einem solchen Exzess gekommen war. Das verschaffte mir einen gewissen Sicherheitsabstand zu derartigen Zwischenfällen. Das letzte Stück der Fahrt war Folter und ich war unendlich dankbar, als wir nach einer Viertelstunde endlich am Haus hielten und ich aussteigen konnte. Raus aus diesem Gefährt, in dem die Luft so dick war, dass man kaum atmen konnte. Eilig griff ich meinen Koffer und sputete mich, zur Haustür zu kommen. Drinnen brannte noch Licht. Ich schätzte, dass es mindestens halb elf sein musste und gewöhnlich befand Magdalena sich zu dieser Zeit im Bett. Heute nicht. Als ich die Tür öffnete, erhellte sich ihr sorgenvolles Gesicht, wie eine Lampe, die man entzündet hatte. Sie kam hastig zu mir herüber und schlang ihre Arme fest um meinen Körper. Beinah wäre ich erstickt, so fest drückte sie mich an sich. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ „Magda ... es ist doch alles gut. Drück nicht so stark.“ „Entschuldige.“ Sie gab sich Mühe, mich etwas weniger innig zu umarmen. Es wurde nicht wirklich besser. Als hätte sie mich seit Jahren nicht gesehen. Eine verschollene Tochter, endlich zurück im Schoß der Familie. Es war schön und ich hätte es vermisst, wäre ich gegangen. Ich ließ den Koffer los und schloss die Augen. Irgendwo in der Ferne wünschte man mir eine gute Nacht. Ich antwortete nicht. Magdalenas Freude über meine Rückkehr hatte mich getroffen. Ich bereute, überhaupt gegangen zu sein. Wie unüberlegt es gewesen war. „Entschuldige ... ich war die letzten Tage nicht sehr nett zu dir“, murmelte ich leise in Magdalenas Halsbeuge. „Schon gut, ich weiß ganz genau, was in deinem Kopf vor sich geht.“ Und ich fragte mich ernsthaft, wie ich jemals hatte annehmen können, dass Christina einem Engel glich. 018 – Die Schneidermeisterin ---------------------------- Meine geschundenen Nerven und der wenige Schlaf der letzten Nacht ließen mich wie einen Stein bis spät in den Nachmittag im Bett bleiben. Mein Kopf musste währenddessen einiges verarbeitet haben und ich hatte es nicht mitbekommen. Ich blinzelte verschlafen über mein Kissen und versuchte in Ruhe die Informationen zu ordnen, die Sofia mir in den letzten Tagen gegeben hatte. Es war noch immer Irrsinn und es würde noch eine Weile dauern, bis ich alles begreifen konnte. Ich zog mir bequeme Kleidung an und ging nach unten, um eine Kleinigkeit zu Essen. Magdalena hatte gefüllte Teigtaschen gezaubert, sie waren köstlich und schmeckten auch lauwarm. Von meinem Platz neben dem Waschbecken konnte ich beobachten, wie sie draußen im Vorgarten Unkraut jätete. Es war zu normal, wenn man die Umstände bedachte. Ein Haus mit Vorgarten, Kräuterbeeten und bunten Blumen. Es gab auch ein paar Gemüsebeete, die Magdalena regelmäßig pflegte und wunderbare kleine Ernten einfuhr. Diese Idylle war trügerisch. Der schöne Schein verbarg einige Tiefen und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es nicht nur das Grundstück war, hinter dessen Fassade sich Abgründe aufgetan hatten. Wollte ich das Gleiche für mich? Wollte ich so werden wie Sofia? Ein Ungeheuer, das mit Freundlichkeiten blendete? Ich blies ratlos die Luft durch meine Nase aus und verließ mit der letzten Teigtasche die Küche. Mein Ziel war der Keller. Auf dem Weg hinunter band ich meine Haare in einen hohen Pferdeschwanz und wickelte Bandagen um meine Hände. Ich musste meine innerliche Anspannung loswerden und ein paar kräftezehrende Minuten am Sandsack erschienen mir dafür am sinnvollsten. Durch das schmale Fenster, das Sofia geöffnet hatte, fiel Licht in den kahlen Raum. Ich dachte an ihre Hand, die sie mir voller Brandblasen vor die Nase gehalten hatte. Hier, dein Beweis. Ich verpasste meinem Gegner einen festen Schlag in die Magengegend. Sieh hin, es heilt wieder. Noch ein Schlag. Führhand. Dein Zuhause ist hier. Ich schlug auf den Sandsack ein wie eine Wahnsinnige und mir wurde wärmer. Führhand-Schlaghand, zwei-, drei- und viermal in Folge, immer wieder von vorne. Weil du ein guter Mensch bist. Rechter Aufwärtshaken. Ich war verbissen. Du misst dem Ganzen zu viel Gewicht zu. Ja, vielleicht. Ich habe dich beobachtet ... Ich trinke ihr Blut und ich töte sie ... Kopfhaken, Viererfolge. Wilde Kombinationen, wie es mir gerade passte. Ich drosch so lange auf den Sandsack ein, bis mein Körper sich weigerte fortzufahren. Schweiß rann über meine Stirn und den Nacken hinunter und meine Finger schmerzten. Ich musste eine kurze Pause einlegen. Gezwungenermaßen. Das Licht, das durch das Fenster fiel, war ein gutes Stück gewandert. Ich vermutete, dass ich seit etwas mehr als drei Stunden hier sein musste. Hatte ich die ganze Zeit auf den Sandsack eingeschlagen? Offensichtlich. Ich ließ mich auf dem Boden nieder und betrachtete meine Hände. "Au ..." Sie fühlten sich an wie damals, als ich das erste Mal mit dem Sandsack trainiert hatte. Nur waren es bei meinem ersten Versuch wenige Minuten gewesen, keine Stunden. Ich hatte zweifelsfrei übertrieben, aber es ging mir besser und das war es wert. Meine Pause würde länger dauern, wahrscheinlich ein paar Tage, bis meine Hände sich erholt hatten. Ich legte mich in den Sand und warf meinen Blick an die steinerne Decke, während ich langsam wieder abkühlte. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich an Sofias Glaubwürdigkeit zweifelte. Was, wenn sie mir keine Wahl lassen würde? Wenn sie andere Pläne hatte, als sie das sagte? Nein, ich musste damit aufhören! Ich hatte mich entschieden zu bleiben und ich hatte das Risiko in Kauf genommen, mich in die Hände eines Vampirs zu begeben. Ich wollte kein gewöhnliches Leben, wollte nicht die unscheinbare Hausfrau sein, die keine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Ich wollte tun, was mich glücklich machte und das konnte mir nur Sofia ermöglichen. Ob ich irgendwann ihre Schülerin sein wollte, konnte ich jetzt noch nicht abwägen. Die Thematik war mir zu fremd, als dass ich die Vor- und Nachteile in irgendeiner Weise logisch abwägen konnte. Es war nicht logisch. Da meine Hände zu keinen weiteren Trainingseinheiten mehr in der Lage waren, entfernte ich die Bandagen, schüttelte den Sand von meiner Kleidung und ging nach oben, um mir ein Glas Wasser zu holen. Die Küche war noch immer verlassen, als ich eintrat. Magdalena war sicher in der Waschküche. Heute war Waschtag. Ich leerte mein Glas, spülte es ab und ging mich waschen. Bis ich fertig war, dauerte es keine zwanzig Minuten. Frisch eingekleidet verließ ich das Haus und lief schnurstracks in den hinteren Garten, wo Magdalena lange Leinen von trockener, sauberer Wäsche befreite. Yasha und Isaak leisteten ihr Gesellschaft und ruhten zufrieden neben dem Apfelbaum. "Megan, da bist du ja!" Sie lächelte mich herzlich an. "Ich dachte schon, ich bekomme dich heute gar nicht mehr zu Gesicht. Wie geht es dir?" Eine berechtigte Frage, nach den jüngsten Ereignissen. "Gut, denke ich." Ich griff mir das nächstbeste Kleidungsstück und nahm es von der Wäscheleine. Meine Finger musste ich erst noch davon überzeugen, dass sie wieder arbeiten sollten. Sie sträubten sich noch. "Was tust du da?" Magdalena sah mich fragend an, als ich die Klammern in meinen Taschen verstaute. "Dir helfen." "Das sollst du doch nicht ... Sofia möchte nicht-" "Ich möchte", entgegnete ich ihr mit Nachdruck. Diesmal würde sie es mir nicht ausreden. Ich faltete die Hose sorgsam zusammen und legte sie in den Wäschekorb, dann nahm ich mir das nächste Teil. Magdalena beobachtete mich verblüfft. Es dauerte einen Moment, bis sie ihr Lächeln wiederfand. "Na schön. Du sollst schließlich tun, worauf du Lust hast." Wir hängten die restliche Wäsche gemeinsam ab. Es war schön, Magdalena wenigstens ein bisschen behilflich sein zu können. "Magda? Ich muss dich etwas fragen." Sie nahm gerade das letzte Kleid von der Leine. "Ja?" "Warum hast du dich dafür entschieden, ein Mensch zu bleiben?" Die Heiterkeit in ihrem Gesicht wich überraschtem Schrecken. "Woher weißt du das?" "Sofia erzählte mir, dass ich nicht die Erste bin, die sie gefragt hat, und du meintest, du wüsstest was in meinem Kopf vor sich geht. Also nahm ich an, dass du es sein müsstest, von der sie sprach." Magdalena seufzte leise und hob den Korb vom Boden, bevor sie zu mir herüberkam. "Deine Frage ist nicht so leicht zu beantworten." "Versuche es bitte." Sie nickte, ließ sich aber einige lange Sekunden Zeit, bis sie mir antwortete: "Ich hatte Angst davor. Ich hatte Angst, dass ich mich verlieren würde, dass ich mich nicht unter Kontrolle haben könnte und dadurch zu einer Gefahr würde." "Sofia sagte, dass man nicht zu jemand anderem wird." Magdalena zuckte mit den Schultern. "Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass man einen starken Willen braucht, um sich selbst zu beherrschen. Ich habe es mir nicht zugetraut." "Du wolltest niemanden töten." "Ja. Ich bin zu friedliebend dafür." Sie lächelte. "Und ich hätte die Sonne vermisst." Richtig. Die Sonne. Sie warf gerade die letzten rot-goldenen Strahlen des Tages über die Weiten der Landschaft und in unsere Gesichter. Es war ein lauer Sommerabend und für einen kurzen Augenblick bedauerte ich Sofia und Ezra, dass sie die Schönheit dieses Augenblicks nicht genießen konnten. "Ich bringe die Wäsche rein. Kommst du mit, oder bleibst du noch hier?", fragte sie mich. "Ich bleibe noch." Sie nickte, rief die Hunde und wandte sich ab, um ins Haus zu gehen. "Man muss doch niemanden töten, oder?", rief ich ihr hinterher, bevor sie um die Hausecke bog. Magdalena drehte sich noch einmal zu mir um. Ich konnte keine Bedenken in ihrem Gesicht erkennen, als sie mir antwortete: "Nein, muss man nicht." Ein beruhigender Gedanke. Ich ging ein paar Schritte und ließ mich auf der hölzernen Bank nieder, deren Anstrich schon bessere Tage gesehen hatte. Die Sonne färbte sich tiefrot, bevor sie langsam und majestätisch hinter dem Horizont versank. Es war ein nicht zu verleugnender Nachteil, den das Vampirleben mit sich brachte. Ich liebte die Sonne und ihre Wärme, das konnte ich nicht leichtfertig aufgeben. Kaum war sie verschwunden, wurde es kühler. Es fröstelte mich ein wenig. Ob es an der hereinbrechenden Nacht, oder an meinen eigenwilligen Fantasien eines Vampirlebens lag, konnte ich nicht sagen. Bevor die Gänsehaut sich über meinen gesamten Körper ausbreiten konnte, verließ ich den Platz im Garten. Ich hatte Lust auf einen Tee. Minze vielleicht. Noch bevor ich die Front des Hauses erreichte, kam mir Ezra entgegen. Er hatte es eilig. "Hast du Betty gesehen?", fragte er im Vorbeigehen. "Nein. Ist sie verschwunden?" Er ging unbeirrt weiter, ohne zu antworten. Ich überlegte, wann ich die Katze zuletzt gesehen hatte. Vor ein paar Tagen? Einer Woche? Ich drehte auf dem Absatz um und folgte Ezra zurück in den hinteren Garten. "Wie lange ist sie denn schon weg?" "Drei Nächte." Mir war nicht klar gewesen, dass Ezra sich tatsächlich um seine Katze sorgen würde. Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Ich suchte die Umgebung mit den Augen ab. Es war gerade noch hell genug, dass ich alles gut erkennen konnte. "Sie wird schon irgendwo sein." "Halt die Luft an!", wies Ezra mich zurecht. "Was?" Hatte ich etwas Falsches gesagt? "Spreche ich Russisch? Du atmest zu laut. Hör auf damit!" Er meinte es wortwörtlich. Ich hielt sie an und verhielt mich still. Ezra ging noch ein Stück, bis er neben dem Apfelbaum stand. Ich vermutete, dass er versuchte, Betty zu hören. Eine andere Möglichkeit hatte er schließlich nicht. Er ging noch ein paar Schritte weiter, blieb wieder stehen und lauschte. Ich rührte mich solange nicht von der Stelle und bemühte mich, so leise wie möglich Luft zu holen. Meine Anwesenheit war offenbar nicht sehr hilfreich. Noch ein paar Minuten beobachtete ich Ezra, wie er den Garten absuchte, dann wurde es zu dunkel, um etwas zu sehen. "Soll ich im Haus suchen?", fragte ich und versuchte, meine Verunsicherung hinter einer festen Stimme zu verbergen. "Nicht nötig." "Oh ... das hast du wohl schon getan." "Das ist alles Sofias Schuld!", knurrte er leise vor sich hin, während er von einer Ecke des Gartens zur anderen lief. "Was hat sie denn gemacht?" "Vergiss es. Geh ins Haus." Ezra hatte seinen distanzierten Tonfall wiedergefunden. An jedem anderen Tag wäre ich gegangen und hätte ihn in Ruhe gelassen, heute nicht. "Sei nicht albern", wiederholte ich seine Worte, die er Sofia letzte Nacht an den Kopf geworfen hatte. Er antwortete nicht. Sollte ich mich jetzt geschlagen geben? Oder sollte ich noch einmal nachfragen, um meiner Bitte mehr Gewicht zu verleihen? Meine Überlegungen erübrigten sich, als Ezra sich zu einer Antwort durchrang. "Betty ist verschwunden, nachdem Sofia neulich den Verstand verloren hat." Er klang nicht genervt, einfach nur sachlich. Ich wagte mich ein paar Schritte näher an ihn heran, um ihn besser sehen zu können, und hoffte, dass meine Atmung ihn nicht all zu sehr störte. "Kann ich nachvollziehen ..." Betty war nicht die Einzige, die die Flucht ergriffen hatte. "Das ist nicht lustig." Ich folgte ihm ihn die Waschküche. "So war es auch nicht gemeint." "Schön, und jetzt verschwinde endlich. Ich brauche hier ein bisschen mehr Ruhe." "Ich bin gleich weg." "Gleich?" "Ich will noch etwas wissen." Er seufzte leise, widersprach aber nicht. "Und was?" "Ist Sofia so gefährlich, wie ich denke?" Durfte er überhaupt mit mir über sie sprechen? Vielleicht hatte Sofia ihm einen unsichtbaren Maulkorb angelegt. "Woher soll ich wissen, was du denkst?" Er lehnte sich an den Tisch, auf dem einige Gefäße mit Seife und Bleiche neben verschiedenen Bürsten standen. Es sah ganz danach aus, als wartete er darauf, dass ich meine Frage neu formulierte. "Sie ist nicht so freundlich, wie sie es vorgibt zu sein, richtig?" "Richtig." "Ist sie stärker als du?" "Kommt drauf an." Es war nicht leicht, etwas aus ihm herauszubekommen. "Worauf kommt es an?" "Ob du von reiner Muskelkraft sprichst, oder nicht." "Nein, ich meine es ganz allgemein." "Dann ist sie stärker als ich." Es überraschte mich nicht einmal, dass sie stärker war. So wie ich die beiden zusammen erlebt hatte, war es definitiv Sofia, die das Zepter führte. Außerdem konnte sie sehen, im Gegensatz zu Ezra. Das konnte nicht ohne Auswirkungen sein. "Sind wir fertig?" Er hatte die Arme verschränkt. Offensichtlich hatte er genug von meinen Fragen. Ich hätte gerne noch ein paar Antworten bekommen. "Ja, ich ..." Er löste sich vom Tisch und steuerte zurück Richtung Garten. "... ich wollte nur noch wissen, ob sie für mich gefährlich werden könnte." Ezra blieb in der Tür stehen. "Sie steht zu ihrem Wort, solange du sie dir nicht zum Feind machst ... Wir sehen uns übermorgen um sieben Uhr abends zum Training. Gute Nacht." Er verschwand und setzte seine Suche auf der anderen Seite des Hauses fort. Ich glaubte ihm. Er war nicht der Typ, der etwas schönredete. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass es ihn besonders stören würde, wenn ich nicht mehr hier wäre, also gab es keinen Grund, dass er mich anlügen musste. Obwohl ich mit ihm mehr Zeit verbracht hatte, als mit Sofia oder Magdalena, führten wir eine nahezu ausnahmslos geschäftliche Beziehung. Wenn man das so nennen konnte. Für ihn war ich nicht viel mehr als eine Aufgabe, die Sofia ihm übertragen hatte. Es war in Ordnung für mich und auch Ezra hatte sich inzwischen damit arrangiert, schließlich war ich eine fleißige Schülerin.   Ich ging mir einen Tee aufsetzen und zog mich mit dem heißen Kessel und ein paar Keksen in mein Zimmer zurück. Auf meinem Nachttisch lagen zwei Bücher. Lady Rose's Daughter, das ich mir zum Lesen aus dem Regal der Neuerscheinungen in Sofias Schatzkammer geholt hatte, und ein dickeres Buch, das ich zuvor noch nicht gesehen hatte. Ich stellte den Tee daneben und nahm das Buch mit dem schlichten schwarzen Einband in die Hände. Es war kein Titel darauf zu lesen, kein Autor. Auf der Rückseite stand winzig klein ein Datum: 10. Dezember 1603. Das war vor dreihundert Jahren. Ein ziemlich altes Buch, obwohl es noch gut erhalten war. Vielleicht ein Nachdruck? Ich schlug es auf, um herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte, dämmerte es mir. Die Sprache und die Formulierungen waren mir vertraut. Sofia hatte es geschrieben und ich ahnte, was es war: ihre Geschichte. Ich war sicher, dass es nicht die Originalfassung war, eher eine zeitgemäße Übersetzung, damit ich es überhaupt lesen konnte, schließlich war ich der russischen Sprache nicht mächtig und ich nahm nicht an, dass Sofia schon in jungen Jahren meine Sprache gesprochen hatte. Ob sie noch ein Mensch gewesen war, als sie dieses Werk verfasst hatte? Das Mädchen in dieser Geschichte war so anders, als die Sofia, die ich kannte. Es war befremdlich, einen so tiefen Einblick in ihre Gedankenwelt zu erhalten, doch mit jeder Seite wurde ich weiter hineingezogen, bis ich völlig vergessen hatte, dass ich in Sofias Vergangenheit gereist war. Es war 1587, als ihre Mutter starb. Sie war nicht einmal zehn Jahre alt, als Darja nach kurzer Krankheit von ihr ging. Es war schnell gegangen, überraschend, und ich fühlte den Schmerz, der das Kind übermannte. Sofia hatte mich fest in ihren Bann gezogen. Ich wollte sie gerne trösten und ihr sagen, dass alles gut werden würde. Es wäre eine Lüge gewesen. Sofias Vater starb ein Jahr später bei einem Überfall auf dem Weg von Moskau nach Twer und plötzlich stand sie alleine da. Mit acht Jahren. Ich wusste nicht, wie ich mich an ihrer Stelle verhalten hätte. Wahrscheinlich wäre ich verzweifelt, genau wie sie. Ich atmete tief durch, bevor ich weiterlesen konnte. Der Tod ihres Vaters hatte mich mehr mitgenommen, als ich es erwartet hatte. Sofia wurde zwei Wochen später von den Nachbarn mit in die große Stadt genommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie noch nie in Moskau gewesen. Man brachte sie in eines der Waisenhäuser, das dort vor Kurzem eröffnet worden war und sie begann Kleidung zu nähen, um überleben zu können. Es war das Prinzip dieses Hauses, dass die Kinder selbst für die nötigen Einkünfte sorgten und es gab viel zu tun. Die Kinder konkurrierten miteinander. Es waren harte, lehrreiche Jahre, bis das ruhige Mädchen wusste, wie sie sich zu verhalten hatte, um nicht unterzugehen. Sie wollte nicht in der Masse verschwinden und den anderen das Feld überlassen. Sie hatte gelernt, sich unter all den Kindern zu behaupten. Sie erledigte ihre Arbeiten tadellos und es gab nie etwas zu beanstanden. Sie war schnell und geschickt. Mit vierzehn hatte sie sich weit nach oben gearbeitet. Nur noch Sonderanfertigungen für reiche Kunden, keine Massenware mehr für das gemeine Volk. Ihre Vorgesetzten waren vollauf zufrieden, nur vergiftete Neid und Missgunst die Beziehungen zu den anderen Mädchen und Jungen. Sofia musste einiges über sich ergehen lassen. Häme und Spott, so unbegründet, dass ich diesen Kindern am liebsten die Ohren lang gezogen hätte. Warum waren sie so ungerecht zu ihr? Sofia hatte niemandem etwas getan. Ich war froh, als Sofia mit der Zeit immer besser damit umzugehen wusste. Sie wehrte sich und entwickelte sich zu einer halsstarrigen jungen Frau, die sich nichts mehr gefallen ließ und die herausstach. Nicht immer positiv. Sie eckte an, weil sie widersprach und sich beschwerte, wenn etwas nicht stimmte. Es war ihr Glück, dass sie es sich dank ihrer fehlerlosen Arbeit leisten konnte, obwohl ich fand, dass sie jedes Recht dazu hatte. Es ging so weit, dass die Leiterin des Waisenhauses sie für einige Tage in ein Einzelzimmer verlegen ließ. Eine Strafe, die im Grunde keine war. Sie würde ohnehin bald gehen müssen, weil sie zu alt geworden war. Dabei wäre sie gerne geblieben und hätte eine Stelle als Lehrerin für die Neuzugänge angetreten, doch man hörte sie nicht an. Sofia zog alle Register, bis man sie endlich ins Büro der Waisenhausleitung beorderte. Es war ihre letzte Chance und dort saß sie: Katerina Orlova. Eine erfahrene Geschäftsfrau, die nach all den Berichten ihrer Angestellten nun keine andere Wahl mehr hatte, als sich diesem Problem mit Namen Sofia anzunehmen. Sofia hatte keine Angst, sie hatte nichts mehr zu verlieren. Entweder würde man sie hinausschicken, oder man gab ihr eine Chance, sich als Lehrerin zu beweisen. Die beiden Frauen sprachen lange miteinander und Sofia wurde klar, dass dies das Ende ihrer Zeit im Waisenhaus war. Endlich. "Du könntest meine persönliche Schneiderin werden. Hast du Interesse?" Ich rieb mir die Augen. Sie waren müde geworden und mein Tee war kalt, als ich mich daran erinnerte, dass ich ihn mitgenommen hatte. Der Blick auf die Uhr verriet, dass es längst Schlafenszeit war. Ein Uhr nachts. Ich schob einen von Magdalenas Keksen in meinen Mund, trank einen Schluck eiskalten Tee und las weiter. Ich konnte jetzt beim besten Willen nicht aufhören. Solange meine Lider mich ließen, würde ich weiterlesen. Katerinas Rolle interessierte mich ungemein. Sie war der jetzigen Sofia so viel ähnlicher, als die Sofia in dieser Geschichte. Eine unbeschwerte Frau, kaum einzuschätzen und ebenso eigensinnig. Auch sie ließ Sofia lange im Ungewissen, was ihre wahre Natur betraf. Ich wusste schon, worauf es hinauslaufen würde, nur Sofia schneiderte unwissend weiter die schönsten und teuersten Kleider in Moskau. Ich wollte unbedingt wissen, wie Sofia Katerinas Geheimnis aufnehmen würde, doch meine Konzentration wurde von Minute zu Minute schlechter. Es hatte keinen Zweck mehr, meine Augen noch länger offen zu halten. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen und ich musste mich geschlagen geben. Es war gleich vier Uhr.   —    "Megan! Aufstehen!" Fay warf mich fast aus dem Bett mit ihrem Gebrüll. Ich riss entsetzt die Augen auf. "Was ist?" "Steh endlich auf! Hast du mal auf die Uhr gesehen?" Sie lachte und zog mir die Decke weg. "Los jetzt!" "Aber warum denn?" Ich verstand die ganze Aufregung nicht. Es war noch früh am Nachmittag. Fay rollte mit den Augen und seufzte, dann zog sie mich aus dem Bett und schob mich ins Bad auf der anderen Seite des Flurs. "Das wirst du gleich sehen, aber zuerst musst du dich ein bisschen herrichten." Ich war kein Freund von Überraschungen, doch Fay gab nichts preis, also nahm ich meine Zahnbürste zur Hand, während sie ungefragt meinen Zopf löste, und begann meine Haare zu kämmen. Sie hatte mir schon häufiger die Haare geflochten, das war nichts Besonderes. Diesmal wurde es ein dicht an meinem Kopf entlanggeflochtener Seitenzopf, der knapp hinter meinem Ohr nach unten über die Schulter fiel. "Darf ich mir noch etwas anderes anziehen?" Sie nickte mit einem breiten Grinsen und folgte mir zurück in mein Zimmer. Was war bloß los mit ihr? Sie war aufgeregt, wie ein Kind, das sich auf die weihnachtliche Bescherung freute. Zumindest machte sie aber einen überaus gesunden Eindruck. Ich war froh, dass es ihr wieder besser ging. "Hose", sagte sie, als ich ein Kleid aus dem Schrank zog. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch Fay eine Hose trug. Das tat sie sonst nie. Ich ließ diesen ungewohnten Anblick auf mich wirken, bis Fay mich nochmals zur Eile anhielt. Es musste wirklich wichtig sein. Schnell schlüpfte ich in meine Kleidung und sputete mich, Fay hinterherzukommen. Sie hatte mein Zimmer bereits verlassen und lief die Stufen hinunter ins Erdgeschoss. "Du wirst Augen machen!", verkündete sie und tänzelte zur Tür. Ich war vollkommen planlos. Hatte ich irgendetwas nicht mitbekommen? Fay wartete ungeduldig. Ihr entglitten für einen Moment die Gesichtszüge, als Magdalena aus dem Salon kam und mich aufhielt. "Megan! Warte!" Magdalena auch? Sie war genauso überschwänglich. Warum? Ich blieb stehen und ließ mich von ihr umarmen. Waren sie denn plötzlich alle verrückt geworden? "Alles Gute zum Geburtstag!" 019 – Unverhofft ---------------- Richtig, mein Geburtstag. Er war mir entfallen. "Kommst du endlich?", fragte Fay ungeduldig wie ein Hund vor dem Spazierengehen. "Sofort." Ich dankte Magdalena für die Glückwünsche und erlöste Fay aus ihrer schieren Verzweiflung. Draußen stand ein fremder Mann im Vorgarten, er war vermutlich so alt wie Magdalena und wirkte ein wenig schmutzig. Hatte die Überraschung etwas mit diesem Herrn zu tun? Ich zweifelte, ob mir gefallen würde, was auf mich zukam. Zumindest nickte er freundlich, als er mich entdeckte. "Das ist Mr. Philip", stellte Fay mir den Mann vor, "er borgt uns heute seine Pferde." "Pferde?" Ich sah den Fremden verblüfft an. "Sie stehen hinten im Garten", erklärte er und begleitete uns ums Haus. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich vergaß beinah zu atmen, so sehr hatte mich die Aufregung gepackt. Meine Stimmung war schlagartig umgesprungen. Jetzt konnte auch ich es kaum mehr erwarten, endlich die Überraschung sehen zu dürfen. Dort standen sie und sie waren wunderschön. Zwei rotbraune Füchse, mit glänzendem Fell und ordentlich gekämmten Mähnen. Sie trugen bereits Sattel und Zaumzeug und warteten auf uns. "Sie können sicher reiten, oder?", fragte mich Mr. Philip. Ich nickte. "Ja, es ist nur schon eine Weile her." "Gut, geben Sie fein auf meine Pferde Acht." "Natürlich!" Reiten verlernte man nicht. Mr. Philip verabschiedete sich und ging mit Magdalena ins Haus. Ich wagte es noch nicht, mich den Tieren zu nähern. Sie standen ruhig im Schatten unter dem Apfelbaum und ich fürchtete aufzuwachen, wenn ich mich noch einmal rührte. "Megan?" Fay band das Pferd mit der schmalen Blesse zuerst vom Zaun. "Kommst du?" Es war kein Traum. Die Pferde standen wahrhaftig in Sofias Garten. Ohne mein Zutun waren meine Mundwinkel bis zu den Ohren gewandert. Schon vor einigen Jahren hatte ich den Wunsch begraben, noch einmal auf dem Rücken eines Pferdes durch die Wiesen zu pflügen, und jetzt war ich unverhofft im Himmel gelandet. Ich ging Fay ein Stück entgegen und sie überreichte mir die Zügel. "Das ist Rosi." "Danke." Ich nahm die Zügel und betrachtete mein Pferd, während Fay das zweite vom Zaun löste. "Hast du das eingefädelt?", fragte ich. "Ich hatte meine Finger mit im Spiel. Das meiste hat Sofia organisiert." Das hatte ich mir denken können. Niemandem sonst wusste, dass ich früher gerne geritten war, nur Fay. Jedenfalls bis jetzt. Ich machte mich in Ruhe mit Rosi vertraut, streichelte ihren Hals und sog ihren Duft in mir auf. Es roch wunderbar vertraut, nach Pferd und Heu. Stundenlang hätte ich dort stehen können, hätte das Schnauben ihrer Nüstern genossen und mich in ihrer Wärme verloren, hätte Fay mich nicht daran erinnert, dass wir ausreiten wollten. "Worauf wartest du noch?" Sie grinste mich zufrieden an und trieb ihr Pferd langsam vorwärts. Es war das schönste Geschenk, das ich je bekommen hatte. Ich schwang mich hinauf in den Sattel und steuerte mein Pferd aus dem Garten. Ein paar langsame Schritte, nicht viele, bis nur noch freies Feld vor uns lag, dann drückte ich dem Tier meine Fersen in die Seiten und trieb es zum Galopp. Die Stute gehorchte auf der Stelle und preschte mit mir davon. Wie hatte ich es vermisst. Die Geschwindigkeit und das Gefühl unaufhaltbar und frei zu sein. Der Wind riss an meiner Kleidung und die ganze Welt wurde greifbar. Ich spürte die Kraft in meinen Händen und die Stärke des Pferdes, die mich beflügelte. Trotz all des Gewichts waren wir federleicht. Es fehlte nicht viel und ich glaubte zu fliegen. Keine Droge der Welt hätte mich mehr berauschen können. Wir jagten zwischen aufgeschreckten Vögeln hindurch. Ein Schwarm Sperrlinge und ein Fasan flatterten eilig davon, als wir durch die Wiesen donnerten. Rosis Hufe trommelten dumpf auf dem weichen Boden, sie schnaufte angestrengt und ich zog die Zügel sachte zurück, damit sie langsamer wurde. "Braves Mädchen." Sie hatte sich eine kurze Pause verdient. Ich ließ sie gemütlich weitergehen und wandte mich zurück, um zu sehen, wo Fay blieb. Sie war ein ganzes Stück entfernt, schloss jedoch zügig auf, nachdem ich langsamer geworden war. "Sieht aus, als hättest du Spaß." Fay wirbelte mit ihrem Zeigefinger in Richtung meines Gesichts. "Der Gesichtsausdruck gefällt mir." Ich musterte ihren Finger und versuchte mein Gesicht zu entspannen. Es ging nicht. "Was meinst du?" "Du strahlst. Das bin ich nicht gewohnt." Lag es an mir, oder war es wärmer geworden? Ich konnte es nicht abstellen. Mein breites Grinsen war festgenäht. "Was machst du da?", fragte Fay und sah mich verwundert an. "Ich versuche, nicht wie eine Verrückte auszusehen." Ihr plötzliches Lachen erfüllte die warme Sommerluft und ihr Pferd zuckte kurz zusammen. Es war laut und herzlich. "Du bist so blöd manchmal!", prustete sie hervor und versuchte sich wieder einzukriegen. "Es sieht schön aus, wenn du lächelst. Nur deine Grimassen, die sind verrückt." "Oh, verstehe." Ich beendete die erfolglosen Versuche, meine Gesichtszüge in einen normalen Zustand zu versetzen – wahrscheinlich sah es tatsächlich um einiges seltsamer aus – und schenkte Fay mein glückseliges Lächeln. Sie war nicht die Einzige, die es nicht gewohnt war. Dieses belebende, aufgeregte Schlagen in meiner Brust, das Kribbeln in meinem Bauch und das Glühen meiner Wangen hatte ich lange nicht mehr gespürt. Ich war erfüllt von diesem Gefühl. Bis in die letzte Faser meines Körpers war ich glücklich. Ich lebte.   Wir ritten weiter querfeldein, bis ich nicht mehr wusste, wo wir waren. Es spielte keine Rolle. Der Himmel über uns war wolkenfrei, strahlend blau und endlos weit. Ein wunderschöner Anblick. Auf dem Kamm eines Hügels blieben wir stehen. Um uns herum war nichts, außer Wiesen mit wilden Blumen, ein paar Bäumen und Sträuchern und zirpenden Grillen. "Wollen wir dort unten eine Pause machen?", frage Fay. "Ich habe Proviant dabei." "Gerne." Ich hatte heute noch nichts gegessen. Es wurde Zeit. Wir ließen die Pferde langsam den Hügel hinunterlaufen und banden sie an einen ausreichend stabilen Strauch. Fay breitete eine Decke für uns aus und holte belegte Brote und zwei Flaschen Wasser aus ihrer Ledertasche. "Danke." "Keine Ursache, heute ist dein Geburtstag! Das ist ein guter Tag für einen Neustart." Ich unterbrach das Auspacken meines Brotes. "Neustart?" Fay schmunzelte mich wissend an. "Genau, Neustart. Ich weiß Bescheid. Du hast dich entschieden zu bleiben. Das heißt, du bist jetzt offiziell ein Teil dieser eigenwilligen Gemeinschaft." "Hat Magdalena dir das erzählt?" Ich biss in mein Brot. Es war frisch und lecker. "Nein, Ezra." "Was-" Krümel kitzelten meine Speiseröhre. Ich hustete. Dass er mit Fay über mich reden würde, hatte ich nicht erwartet. "Was hat er denn gesagt?" "Naja ... dass du jetzt hier bleiben wirst." Sie reichte mir eine Flasche. "Trink was." Ich nahm einen Schluck und mein Hals beruhigte sich. "Hat er noch etwas gesagt?" Fay sah mich nachdenklich an. "Nur, dass es knapp war. Du hättest fast die Stadt verlassen." "Stimmt ..." Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Sie erwiderte ihn mit strenger Miene und tippte fest gegen meine Stirn. "Komm mir jetzt nicht so!" "Wie?" Ihr entschiedener Ton überraschte mich. "Na, du sollst jetzt nicht wieder so grüblerisch dreinschauen. Dafür sind wir nicht hierher gekommen." Sie biss ein Stück Brot ab und begann zu grinsen. Fays fröhliches Wesen hatte ein unheimlich hohes Ansteckungspotenzial. Und gerade heute, wo mein Laune ohnehin weit über dem Standard schwebte, konnte ich mich dem nicht erwehren. Mit einem lauten, zufriedenen Seufzen legte sie sich längs auf die Decke und schloss die Augen. "Das ist herrlich", verkündete sie vergnügt und aß weiter ihr Brot. Sie hatte recht. Ich ließ meinen Blick über die blauen und gelben Blumen im hohen Gras streifen, beobachtete die Pferde, wie sie gemütlich grasten, und blieb an Fay hängen, die friedlich in der Sonne lag. Sie leuchtete, weil ihre Haut so hell war. Genau so stellte ich mir Schneewittchen aus den grimmschen Märchen vor, nur dass Fays Haare nicht schwarz waren, eher ein sehr dunkles Braun. Ich legte mich neben sie und verfolgte die Vögel, die zwitschernd vorbeizogen. Zu gerne hätte ich die Zeit angehalten, um diesen Moment ewig genießen zu können. Es war traumhaft friedlich und wir lagen lange schweigend inmitten der Natur. Worte waren überflüssig.   Eine halbe Ewigkeit später beschloss ich die Stille zu stören. "Kann es sein, dass er mich nicht mag?" Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie sie ihren Kopf zu mir drehte. "Wer?" "Ezra." "Ach." Sie schnaubte abfällig. "Der alte Skeptiker. Er hat so seine Probleme mit Menschen." "Du bist auch ein Mensch." "Ja, aber das ist ein Sonderfall." "Und Magdalena?" Fay überlegte. "Die sieht er kaum." "Mag er sie auch nicht?" "Das habe ich nicht gesagt. Ich sage auch nicht, dass er dich nicht mag. Er ist nur manchmal ein wenig eigen." Ich ging fest davon aus, dass Fay es mir nicht verraten würde, hätte er ihr gesagt, dass er mich nicht mochte. "Mag er dich?", fragte ich leise. Fay antwortete nicht. Ich drehte mich auf die Seite und musterte ihr errötetes Gesicht. "Nun also ... ich ... ", stammelte sie, "Ich denke schon." "Entschuldige." Ich hatte sie nicht in Verlegenheit bringen wollen, legte ich mich wieder auf den Rücken und wandte meinen Blick in die Luft. "Ich dachte, weil er mit dir auch recht kühl ist." "Ist er nicht", widersprach sie mir. "Das kommt dir nur so vor." "Hm ... na gut." Es war nicht nötig eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Fay mochte ihn, und wenn er für sie nett genug war, wollte ich das nicht in Frage stellen. Es war ihre Sache. "Ich komme ihn übrigens freiwillig besuchen ... Er hat mich noch nie zu irgendetwas gezwungen." Fay hatte sich aufgesetzt und sah mich abwartend an. "Aber ich weiß, was du denkst." Von irgendetwas wollte sie mich überzeugen. "Ich denke doch gar nichts." "Doch, ich kann es an deinem Tonfall hören. Du denkst, dass er mich nur benutzt." Ich hatte mich ebenfalls aufgesetzt. "Nein, warum? Das geht mich ja nichts an." "Weil ich immer wieder vorbeikomme und ihm mein Blut gebe und-" "Warte!" Ich musste sie unterbrechen. "Du kommst wirklich hierher, weil ..." Fay hob die Brauen. "Haben sie dir das noch nicht gesagt?" "Nein." "Oh. Naja, jetzt weißt du es. Aber das ist alles halb so wild." Mir fehlten die Worte. Warum tat sie das überhaupt? Bekam sie Geld dafür? "Kommst du wirklich jedes Mal nur, um ..." Es fiel mir schwer, das auszusprechen. "Hast du keine Angst?" Sie kicherte. "Nein, gar nicht. Er passt gut auf mich auf. Das hat er schon immer getan." "Und wie lange willst du das noch machen?" Sie warf mir einen strengen Blick zu. "So lange, bis ich keine Lust mehr habe." "Verstehe." Ich verstand es nicht. Seit ich bei Sofia eingezogen war, kam Fay regelmäßig vorbei, um Ezra zu besuchen. Ich wusste nicht, wie lange das vorher schon gegangen war, und ich begriff nicht, was sie sich davon versprach. Sie konnte wohl kaum ernsthaft daran interessiert sein, bis an ihr Lebensende Blut für ihn zu lassen. Kein klar denkender Mensch würde etwas Derartiges tun. Es entbehrte jeglicher Logik. Es sei denn ... "Fay, bist du verliebt?" "Wie bitte?" Ihre Stimme war nach oben geschrillt und diesmal leuchtete ihr Gesicht noch viel roter als zuvor. "Ich frage ja nur." Sie räusperte sich und gewann ihre Fassung zurück. "Nun ... ein bisschen vielleicht." "Du weißt aber, dass er-" "Dass er was?" Diesmal unterbrach sie mich. "Ein zuverlässiger, fürsorglicher Mann ist, der – und das kannst selbst du nicht verleugnen – wirklich überwältigend gut aussieht?" Mein Mund stand noch offen. Ich hatte widersprechen wollen, als Fay mich mit ihren dunklen Rehaugen gnadenlos niederstarrte. Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar und legte mich zurück auf die Decke. Auf eine irrwitzige Art und Weise war es bezaubernd, wie sie ihn verteidigte, auch wenn ich nicht der Meinung war, dass man ihn verteidigen sollte. Ich wollte mich nicht weiter einmischen, es waren genug zweifelnde Worte gefallen und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, die Stimmung in den Keller zu diskutieren. "Ich bin schon still", versprach ich und verschränkte meine Arme hinter dem Kopf. "Gut, danke." Wir schwiegen beide. Ich konnte sehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf sich drehten, und zog kurz am Zipfel ihrer Bluse, damit sie mich ansah. "Was ist?" Sie klang überrascht. "Tut mir leid, ich bin manchmal auch ein Skeptiker." Keine Sekunde war verstrichen, da strahlte sie mich wieder herzlich an. Ich war erleichtert. "Ist gut, du hast nicht ganz unrecht." Sie nahm es mir nicht übel und sprang auf die Beine. "Trotzdem bist du mir etwas schuldig." "Was denn?" "Ein Wettrennen." Sie zeigte auf einen Hügel, ein gutes Stück höher als der, über den wir gekommen waren. "Wer zuerst oben ist, bekommt das letzte Brot!" "Im Ernst? Fay, wir sind ..." Sie rannte los. "... viel zu alt dafür. Hey!" Bis ich auf den Beinen war, hatte sie einen beträchtlichen Vorsprung. Eine zugegebenermaßen kindische Art und Weise, ein Thema zu wechseln, aber es funktionierte. Ezra war von jetzt auf gleich uninteressant. Ich sprintete Fay hinterher. Aber wollte ich überhaupt gewinnen? Sie hatte geschummelt und trotzdem hätte ich sie mit Leichtigkeit überholen können. Stattdessen ließ ich sie gewinnen und beschloss mich lieber an ihrem Siegeslächeln zu erfreuen. Uns trennten sicher fünfzig Fuß, als Fay hektisch bremste. Sie fuchtelte wild mit den Armen und verschwand urplötzlich aus meinem Sichtfeld. Ihr spitzer Schrei ließ mich die Luft anhalten. "Fay!" Sie war abgestürzt. Von jetzt auf gleich war sie verschwunden. Feuer schoss durch meinen Kopf und brannte sich durch meinen Körper, um mich zu Höchstleistungen anzutreiben. Meine Schritte wurden schneller, bis ich endlich oben ankam und sah, was geschehen war. An den Hügel schloss sich ein steiler Hang an. Es ging senkrecht hinunter. Ich sank auf die Knie, als ich Fay unten erkannte. Sie schwamm vergnügt im Wasser und winkte mir zu. "Alles gut, ich habe mich bloß erschreckt!", rief sie. Keine Worte konnten beschreiben, wie erleichtert ich war. Ich hatte mit dem Schlimmsten gerechnet. Zerklüftete Felsen, ein tödlicher Abgrund. Fays blutüberströmter Körper mittendrin, zertrümmert. Ich brauchte ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Es waren keine dreißig Fuß bis nach unten und dort lag ein kleiner See. Ruhig und friedlich glitzerte er im Sonnenlicht. "Verdammt Fay! Hast du keine Augen im Kopf? Man sieht doch, dass es hier hinuntergeht!" Ich war wütend. Erleichtert, aber dennoch wütend, dass sie mir einen solchen Schrecken eingejagt hatte. "Entschuldige! Ich hatte sie geschlossen, damit ich schneller bin." "Das ist lebensmüde! Tu das bloß nie wieder!" "Ist gut! Und jetzt komm runter, das Wasser ist angenehm kühl." Diese Frau ... nein, dieses Mädchen musste man vor sich selbst schützen, so unvernünftig und leichtsinnig wie sie sich verhielt. Sie war vier Jahre älter als ich und dennoch beschlich mich das Gefühl, auf sie aufpassen zu müssen. Ich ging zurück zu unserem Picknickplatz und verstaute alles in Fays Tasche, holte die Pferde und ritt hinunter zum See. Als ich ankam, stand Fay am Ufer und zog ihre nasse Bluse aus, um sie über einen Ast zu hängen. Ich befestigte die Pferde daneben und bedachte Fay mit vorwurfsvollen Blicken. "Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt." "Tut mir leid, das wollte ich nicht." Ich atmete tief durch, um runter zu kommen. "Lass nächstes Mal einfach die Augen offen, ja?" "Ich werd's versuchen!" Sie schmunzelte munter, dann schlüpfte sie aus ihrer Hose und begann mich nachdenklich von oben bis unten zu betrachten. "Idealerweise solltest du das ausziehen, bevor wir schwimmen gehen." "Wer hat gesagt, dass ich schwimmen gehe?" "Ich."  Sie lachte. "Stell dich nicht so an, es ist heiß. Die Abkühlung wird dir gut tun." "Aber ... ich kann nicht schwimmen." Fays Gesicht war kurzzeitig erstarrt, bis sie ihren Frohsinn wieder fand. "Ich bringe es dir bei. So schwer ist das nicht", verkündete sie so zuversichtlich, dass ich es beinahe geglaubt hätte.   Dass ich dabei den halben See leer trinken würde, hatte sie mir verschwiegen. Ich war froh, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit ein Einsehen mit mir hatte. Wir waren so weit gekommen, dass ich mich mehr schlecht als recht über Wasser halten konnte. Zumindest würde ich nicht sofort ertrinken, falls ich noch einmal in die Verlegenheit kommen sollte, in einen See gezerrt zu werden. Diese Schwimmerei war unwahrscheinlich kräftezehrend. Nicht mein Element. Ich hatte mich auf einen flachen Stein gesetzt und den Kopf auf die Knie gelegt, während ich wartete, dass meine Unterwäsche trocknete, die momentan noch hartnäckig an mir klebte. "Das war nicht schlecht, fürs erste Mal!" Fay ließ sich beschwingt neben mir nieder. "Fürs letzte Mal", korrigierte ich sie. "Ach komm schon, du musst doch schwimmen können." "Findest du?" Ich hob meinen Kopf und musterte sie skeptisch. Fay streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus und löste eine Haarsträhne, die an meiner Wange geklebt hatte. "Ja, finde ich. Das ist genauso wichtig, wie beim Rennen die Augen offen zu lassen." Verblüffend, wie leicht sie mich mit ihrem Lächeln entwaffnen konnte. "Vielleicht können wir das irgendwann noch einmal versuchen", gab ich schließlich nach. Sie nickte zufrieden und lehnte sich zurück.   Wir mussten nicht allzu lange warten, bis wir trocken waren. Selbst für einen Tag im August war es heute außergewöhnlich warm. Es wurde Zeit, dass wir uns auf den Rückweg machten, bevor uns die Sonne vollends die Haut verbrannte. Bis wir zu Hause waren, hatte es zu dämmern begonnen. Wehmütig stieg ich vom Pferd und verabschiedete mich schweren Herzens von diesem wundervollen Tier. Mr. Philip wartete gewiss schon auf uns. Als wir das Haus betraten, war alles still. Sofia und Ezra waren noch in ihren Zimmern und warteten darauf, dass die Sonne unterging, aber wo waren Magdalena und Mr. Philip? Salon und Küche waren verlassen und draußen hatten wir sie nicht gesehen. "Jemand da?", rief ich ins Treppenhaus. Keine Antwort. "Denkst du, sie sind spazieren?" "Nein, eher nicht." Fay wusste offenbar mehr als ich. "Wo sind sie dann?" Sie zuckte mit den Schultern. "Lass uns draußen warten. Sie werden schon auftauchen." Es war mir nur recht. So konnte ich mich noch eine Weile mit Rosi beschäftigen. Je länger es dauern würde, desto besser für mich. Fay hatte sich auf den Stufen vor dem Haus niedergelassen. Sie beobachtete mich, während ich die Pferde streichelte und kleine Zöpfe in die Mähnen flocht. "Sieht so aus, als wäre das genau das richtige Geschenk für dich gewesen." "Ach? Findest du?", scherzte ich. Fay schmunzelte vergnügt. "Ich bin froh, dass du hier bleibst. Du hättest mir gefehlt." "Sei nicht albern." "Das meine ich ganz ernst. Ich mag dich." Ich unterbrach das Flechten und war überaus froh, dass Fay nur meinen Rücken sehen konnte. Eisern starrte ich auf die rötlichen Haare zwischen meinen Fingern. Sollte ich das erwidern? Erwartete sie das? Ich mochte sie schon, aber es ging nicht. Ich flocht weiter und ließ Fays Worte unkommentiert. So war es am Besten. Bevor sie noch ein weiteres Wort sagen konnte, trat Mr. Philip aus der Tür und erlöste mich. "Sie sind schon zurück?" "Nach sechs Stunden ... ja", antwortete Fay trocken, "das war länger als vorgesehen." "Richtig", erwiderte Mr. Philip und kam herüber, um die Pferde zu begutachten. "Hübsche Zöpfe." "Eh ... danke." Ich nahm meine Finger aus Rosis Mähne und trat einen Schritt zurück. Mr. Philip hatte nichts zu beanstanden. Er verstellte die Steigbügel ein Stück und stieg auf, nachdem ich mich zum wiederholten Male bedankt und er sich verabschiedet hatte. Dann richtete er seinen Blick zum Haus, hob die Hand und gab Rosi den Befehl, sich in Gang zu setzen. Meine Augen hatten sich an den Tieren festgesogen, als sie das Grundstück verließen und Richtung Stadt trabten. Ich vermisste sie schon jetzt. Erst als sie winzig klein geworden waren, ließ ich das tiefe Seufzen meine Lippen verlassen und wandte mich zum Haus um. Auch Fay stand noch dort und sah mich mitfühlend an. Oben an der Haustür stand Magdalena, die ebenfalls sehnsüchtige Blicke in die Ferne warf. Irgendetwas sagte mir, dass es nicht die Pferde waren, denen sie nachblickte. Als sie meinen fragenden Blick bemerkte, breitete sich ein verlegenes Grinsen in ihrem Gesicht aus. "Ich ... gehe euch das Abendessen aufwärmen", verabschiedete sie sich und verschwand eilig nach drinnen.  Fays Blick sprach Bände. "Sie ist eben auch nur eine Frau", bestätigte sie mir meine Vermutung und sprang die Stufen hinauf, um Magdalena in die Küche zu folgen. Natürlich war sie nur eine Frau. Trotzdem erstaunte mich ihr Verhalten. Meine kindliche Vorstellungskraft hatte das nicht erwogen und ich musste mich noch mit dem Gedanken anfreunden, dass auch Hausmädchen ganz menschliche Bedürfnisse hatten. Dass sie sich nichts mehr anmerken ließ, als wir uns in die Küche setzten, erleichterte mir den Umgang mit dieser neu gewonnenen Erkenntnis. "Hattet ihr einen schönen Tag?", fragte Magdalena, während sie in einem Topf rührte. "Sehr sogar!", antwortete Fay. Dass ich zwischenzeitlich beinah vor Schreck gestorben wäre, unterschlug sie dabei. Ich ließ es gut sein. "Es war wirklich schön", bestätigte ich Fays Aussage, nachdem Magdalena mich fragend angesehen hatte. "Das freut mich." Magdalena wirkte zufrieden. Sie wandte sich wieder der Suppe zu und Fay und ich warteten artig. Im Ofen stand noch eine herrlich duftende Pastete, die sich aus den Überbleibseln der Hühnersuppe ergeben hatte. Eine köstliche Kombination.   Nach dem Essen diskutierte ich mit Magdalena über die Zuständigkeit für den Abwasch. Ein heikles Thema. Ich brauchte lange, um die Diskussion für mich zu entscheiden. Magdalena gab sich geschlagen und ich übernahm das Regiment über die Küche für diesen Abend. "Na schön, dann werde ich mich zurückziehen", verkündete sie. "Gute Nacht." Es machte mir nichts aus, diese Arbeiten für sie zu übernehmen. Magdalena arbeitete genug in diesem Haus. Sie war die Einzige, die alles in Schuss hielt. "Hast du ein Tuch?", fragte Fay. Sie war aufgesprungen, nachdem ich mit dem Abwasch begonnen hatte. "Hier." Wir erledigten die Arbeit gemeinsam. So ging es schneller. "Ist alles in Ordnung", fragte sie, nachdem einige Minuten lang kein Wort gefallen war. "Ja, alles gut." Ich klang so überzeugend, dass ich es selbst glaubte, obwohl mein Kopf zuhauf mit Abwägungen und wirren Überlegungen beschäftigt war. Fay fragte nicht weiter nach. "Bleibst du heute Nacht hier?" "Nein, nein, meine Kutsche kommt gleich. Ich muss nach Hause." "Morgen ist Sonntag. Hast du etwas vor?" "Ich muss Wäsche machen." "Am Sonntag?" Fay sah mich überrascht an, dann grinste sie. "Sicher. Heute war ich schließlich hier." "Oh ... ach so. Und was ist mit-" Ezra. Er stand in der Tür, als ich mich zum Schrank umdrehte, um das Geschirr aufzuräumen. War er schon länger hier? Fay legte ihr Küchentuch beiseite. "Frederic ist gleich da", sagte er und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Frederic war der Kutscher, der Fay nach Hause bringen sollte. Sie verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung von mir und folgte Ezra hinaus. Er musste sie vollkommen um den Finger gewickelt haben. Wie sie ihm hinterherdackelte ... Ich wollte die drei Gläser von der Anrichte nehmen, um sie in den Schrank zu stellen, als meine Aufmerksamkeit sich ihren Weg durch das Fenster nach draußen bahnte.  Fay und Ezra gingen durch den Vorgarten und warteten schließlich am Straßenrand auf die Kutsche, die noch ein gutes Stück zurückzulegen hatte. Es hätte mich nicht weiter interessiert, hätten sie ruhig dort gestanden, doch das taten sie nicht. Fay lachte und hing am Arm dieses Kerls. Ich war sicher, er würde es jeden Moment unterbinden. Nichts. Sie sah glücklich aus, als sie sich eng an ihn schmiegte. Ich lehnte mich mit den Ellenbogen auf die hölzerne Arbeitsplatte und beobachtete die beiden. Ungewöhnlich, dass Ezra so viel Nähe gestattete. Wahrscheinlich lag es an der fragwürdigen Beziehung, die die beiden führten. Fay würde kaum zu ihm zurückkehren, wenn er sie die ganze Zeit genauso abweisend behandelte, wie er es bei mir tat. Ich wünschte, er wäre weniger freundlich. Fay musste doch klar sein, dass ihre Schwärmereien zu nichts führten. Was erwartete sie bloß davon? Als die Kutsche zum Stehen kam, verabschiedeten sich die beiden. Es war falsch, dass Ezra ihre Wange berührte und liebevoll ihr Haar zurückstrich. Dieser Narr. Merkte er nicht, was er ihr antat? Ich seufzte schwermütig, als Fay endlich in die Kutsche verschwand, dabei ging es mich überhaupt nichts an. Fay war erwachsen, es war ihre Sache. Trotzdem störte es mich und ich konnte nichts dagegen tun. "Du hast sie gerne, nicht wahr?", fragte Sofia. Ich schreckte zusammen. Sie war aus dem Nichts neben mir aufgetaucht. "Seit wann bist du hier?" "Lange genug, um das zu bemerken." Es wurde Zeit, dass ich die Gläser endlich aufräumte. Sofia wartete geduldig auf meine Antwort. "Ich verbringe gerne Zeit mit ihr. Sie ist nett." " Mehr nicht?" Sofia beäugte mich skeptisch. "Mehr nicht." Ich wischte zügig das Wasser von der Arbeitsplatte und faltete das Tuch zusammen. "Ich finde, sie hat etwas sehr Unbeholfenes an sich", fuhr Sofia fort. "Sie ist trottelig und geradezu einfältig." Jetzt übertrieb sie. Fay war gelegentlich ein wenig tollpatschig und handelte ohne nachzudenken, aber trottelig und einfältig war sie nicht. Ich musste widersprechen. "Sie ist ein herzlicher Mensch, sprich bitte nicht so schlecht von ihr", bat ich so höflich wie möglich. Ich wollte Sofia nicht vor den Kopf stoßen, nachdem sie mir ein solch wunderbares Geschenk gemacht hatte. Sie wirkte überrascht, verwandelte ihre Verwunderung jedoch schnell in ein verzücktes Lächeln. "Ich weiß was du hier spielst", verkündete sie siegesgewiss. Sofia wusste offenbar mehr als ich selbst. "Was soll das heißen?" "Du verleugnest es." "Was denn?" Sie trat einen Schritt auf mich zu und legte ihre Hand auf meine Schulter. Ihre Augen waren gütig. "Nimm dir, was dich glücklich macht. Dir wird nichts geschehen, solange du dich nicht darin verlierst." Ich blinzelte sie ratlos an. Sollte ich etwas dazu sagen? Ich war mir nicht sicher, ob ich es verstanden hatte. "Ist gut", antwortete ich und war erleichtert, dass Sofia sich damit zufriedengab. Sie nickte knapp und ließ mich los. Dann ging sie und wünschte mir eine gute Nacht. Neugierig, giftig, anmaßend und zärtlich. Sie war viel, vor allem aber schwer zu durchschauen. Eine rätselhafte Frau. 020 – Spiel mit dem Feuer ------------------------- Der Tag war lang vergangen. Durch das schmale Fenster fiel Mondlicht in Sofias Arbeitszimmer und auf dem großen Holztisch tanzte der Feuerschein ihrer Kerze. Sie hätte sich längst zu Bett begeben, hätte Katerina sie nicht gebeten, heute länger aufzubleiben. Sie erwartete hohen Besuch. Herrn Konstantin Svačić, ein wohlhabender Geschäftsmann, der ein neues Wams mit passendem Beinkleid in Auftrag geben wollte, wie Sofia es schon einige Male für ihn geschneidert hatte. Edle Brokatstoffe lagen vor ihr und schimmerten im Kerzenlicht. Wunderschöne, teure Materialien, die Katerina gerne für einen ihrer besten Kunden anforderte. "Katerina! Ich befürchte, es gibt ein Problem." Keine fünf Sekunden später stand sie in der Tür. In schlichte Eleganz gehüllt, ihre nussbraunen Haare locker nach oben gesteckt, trat sie an Sofias Tisch und betrachtete den Stoff. Noch bevor Sofia erklären konnte, was das Problem war, hatte sie es schwer seufzend erkannt: "Webfehler." "Ich kann die Schnittmuster darum herum platzieren, aber wir sollten beim Verkäufer einen Preisnachlass verhandeln. Das entspricht nicht der versprochenen Qualität." Katerina nickte. "Ich werde mich darum kümmern." Sie warf einen Blick durch das Fenster und fuhr fort: "Herr Svačić lässt sich heute reichlich Zeit. Ich hoffe, er wird bald erscheinen, sonst muss ich ihn leider auf morgen vertrösten." "Wieso das?" Ein mildes Lächeln breitete sich über Katerinas Lippen aus. "Ich kann nicht verantworten, dass meine beste Schneiderin die ganze Nacht wach bleiben muss. Wenn sich in einer halben Stunde nichts getan hat, kannst du zu Bett gehen." "Danke." Sie verließ das Zimmer und Sofia legte den burgunderfarbenen Stoff neu aus, um den Webfehler zu verbergen. Auch wenn er später nicht zu sehen sein würde, musste der Kunde nicht zwingend davon wissen. Als die Hälfte der Frist verstrichen war, erhob sie sich und ging zum Fenster. Draußen lag das tief verschneite Moskau. Friedlich schlummernd, nachdem das geschäftige Treiben des Tages nach Einbruch der Nacht abgeebbt war. Sofia wollte nicht schlafen gehen. Sie würde bis zum Morgen warten, wenn es sein musste und jeder Moment, in dem es ruhig war, machte sie nervöser. Herr Svačić musste kommen. Er konnte es ihr nicht antun, das Treffen platzen zu lassen. Sie hatte sich fein herausgeputzt zu diesem Anlass und eine Verschiebung würde ihr die Stimmung bitter verderben. Sie dribbelte mit den Fingern auf dem Fensterbrett und zählte die Sekunden. Von der Kutsche war weit und breit keine Spur. Wo bleibt er bloß? Zwischen dem Heulen des Windes und dem Klappern der Fensterläden war kaum etwas zu hören. Irgendwo in der Ferne hallte der Klang von Pferdehufen durch die Straßen und Sofia hoffte, dass es keine Einbildung war. Es kam näher und nur wenig später zogen die Pferde ihre Fracht über die Kreuzung und trabten auf das Waisenhaus zu. Das mussten sie sein. Über Sofias Lippen breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus, als die Kutsche unten hielt und sie erkannte, wer im Kerzenschein das Gefährt verließ. Konstantin Svačić in Begleitung seines Beraters. Ein faszinierender Mann. Sofia trat einen Schritt vom Fenster zurück und betrachtete ihre Reflexion in der Scheibe. Jede Haarsträhne war dort, wo sie sein sollte, das Kleid lag ordentlich. Sie kniff sich kurz in die Wangen, um eine gesunde Röte in ihr Gesicht zu zaubern, und begab sich zurück an ihren Arbeitstisch, um auf die beiden Männer zu warten. Obwohl es keine fünf Minuten waren, bis draußen Stimmen durch den Flur drangen, erschien es ihr wie eine Ewigkeit. Nur um sicherzugehen, richtete sie noch einmal ihren Kragen. Die Stimmen wurden lauter und Sofia konnte hören, dass Katerina sich mit Konstantin über die Schwierigkeiten mit den immer zahlreicher werdenden Bettlern unterhielt. Sie hatten die Kutsche aufgehalten, um an Nahrung zu gelangen, deswegen kam er so spät. Die Ernten waren in diesem Jahr wieder schlecht gewesen, das spürte man in der ganzen Stadt und umso wichtiger waren Geschäfte mit den Kunden von außerhalb. Konstantin war Kroate, lebte jedoch seit geraumer Zeit in Rumänien und pflegte regelmäßigen Kontakt zu Katerina. Die beiden traten in die Schneiderstube und Konstantin wünschte einen guten Abend. "Schönen guten Abend, der Herr." Sofia machte einen Knicks, wie es sich gehörte, richtete ihre Aufmerksamkeit für einen Moment zur Tür, bevor sie sich wieder den Brokatstoffen zuwandte, aus denen Konstantin einen auswählen sollte. "Dieser soll es sein?", fragte Katerina, als Konstantin seine Hand auf den karmesinroten Stoff gelegt hatte, der von goldenem Faden durchzogen war. "Ich bitte darum", erwiderte er und wandte seine Blicke an Sofia. "Ihr könnt dieselben Schnittmuster wie beim letzten Mal verwenden, Fräulein Volkova. Dazu die auffälligsten Spitzenmanschetten, die Ihr habt. Die Hose zwei Fingerbreit enger an den Beinen, so wie es die Spanier tragen. Die Feinabstimmung überlasse ich dann ganz Euch." Sie nickte. "Sehr gerne." Konstantin lächelte trocken, dann strich er über einen zweiten, anthrazitfarbenen Stoff mit königsblauen Ornamenten. "Dieser ist ebenfalls überaus ansprechend." Katerina sah ihn überrascht an. "Ich hatte nicht erwartet, dass du noch mehr in Auftrag geben willst." "Möchte ich nicht. Zu dezent, trotzdem ist er schön." "So?" Katerina schmunzelte. "Der teuerste Stoff ist dem Herrn zu dezent. Das hat außer dir bis jetzt noch niemand behauptet." "Ich bin und bleibe Liebhaber der Extravaganz. Daran wird sich nie etwas ändern." Er schmunzelte vergnügt. "Nichts anderes hatte ich erwartet", gestand Katerina und bot ihrem Gast an, sich das eine oder andere Glas Wein mit ihr zu teilen. Konstantin nahm die Einladung gerne an und verschwand mit Katerina aus der Stube. Sofia wartete, bis die beiden in ein anderes Zimmer verschwunden waren, und warf einen Blick in den Flur. Er war leer und ihr entfuhr ein leises Seufzen. Für einen kurzen Augenblick hing sie ihrer Enttäuschung nach, straffte ihre Schultern und ging zurück an den Tisch. Ein wenig mehr Geduld. Wahrscheinlich verstaute er noch das Gepäck in Katerinas Gästezimmer. Der ausgewählte Stoff nahm einigen Platz auf Sofias Arbeitstisch ein. Sie breitete die alten Schnittmuster zielsicher darauf aus und begann sie festzustecken. Wenn sie schon wartete, wollte sie die Zeit zumindest sinnvoll verbringen. Als sie die Kreide zum wiederholten Male ansetzte, klopfte es an ihrer Tür. Sofia unterbrach die Arbeit nicht, als sie den Besucher hereinbat. Sie zog den Strich zu Ende und hob den Blick. Ein dunkelhaariger Mann mit feiner Kleidung und einem unwiderstehlichen Lächeln stand im Türrahmen. "Herr Şerban, guten Abend. Ich hatte nicht erwartet, Euch heute noch zu sehen." "Verzeiht den späten Besuch, wir wurden aufgehalten." "Die Bettler, ich habe es gehört." Er nickte und kam herüber, um sich den Stoff anzusehen, den Konstantin ausgewählt hatte. Seine dunklen Augen musterten skeptisch die auffälligen Muster, die sich durch den roten Stoff zogen. "Er hat einen außergewöhnlichen Geschmack", stellte er trocken fest und ging ein paar Schritte, um die anderen Textilien in Augenschein zu nehmen, die Sofia zur Seite geräumt hatte. Die junge Frau beobachtete ihn dabei. Alexander Şerban war ein Mann, an dem sich ihre Blicke gerne festsogen. Ungeniert verfolgte sie seine Bewegungen. Wie er seine Finger sanft über die Stoffbahnen gleiten ließ und schließlich den anthrazitfarbenen Stoff auswählte, der schon Konstantin aufgefallen war. Er hielt ihn an seine Brust. "Den burgunderfarbenen Stoff solltet Ihr zurückgeben, aber denkt Ihr, dieser würde mir stehen?" Sofia hob die Brauen und legte die Kreide beiseite. "Selbstverständlich. Das ist ein ausgesprochen edler Stoff. Er würde wunderbar zu Euch passen." Seine Augen waren scharf wie Rasiermesser, anders hätte er den Webfehler im Halbdunkel nicht bemerken können. "Gut, dann möchte ich Euch bitten, meine Maße zu nehmen." "Gerne." Sie griff ihr Maßband aus dem Fach unter dem Tisch. "Würde es Euch etwas ausmachen, an den Tisch zu kommen? Hier ist das Licht besser." Er legte seinen Mantel ab, bevor er herüberkam und begann die Knöpfe seiner Weste zu öffnen. "Das genügt. Ihr müsst nicht ..." Sofia unterbrach sich selbst, als Alexander die Weste abgelegt und die Finger an die Knöpfe seines Hemdes geführt hatte. Töricht, ihn jetzt aufzuhalten. "Was meintet Ihr?", frage er nach. "Ich dachte, es ist ein wenig kalt." Nur ein müdes Lächeln, mehr hatte er für ihre Erklärung nicht übrig. Er ließ sein Hemd auf den Arbeitstisch fallen und Sofia öffnete das kleine Glas voll Tinte, um seine Maße zu notieren. Viele Kunden behielten ihre Hemden an. Sie waren verspannt und oft glaubte man, es wäre ihnen unangenehm, wenn Sofia ihre Maße nahm. Dennoch hatte sie in den vergangenen Jahren einiges gesehen. Dicke Bäuche, dünne Gerippe, lange Narben, dunkle Flecken. Unschöne Details, die die Menschen zu verbergen pflegten. Es waren auch durchaus ansehnliche Kunden in ihr Arbeitszimmer gekommen, schöne, gepflegte Männer und bildhübsche Frauen. Keiner von ihnen konnte Alexander das Wasser reichen. Seine Gesichtszüge, die so entspannt und ruhig waren, sie waren scharf geschnitten und seine Augen stießen einem Dolche entgegen. Gut verborgen unter der kontrollierten Oberfläche lag etwas, das pures Leben, Abenteuer und Leidenschaft versprach. Sofia vermaß seine Armlänge. Wie gerne hätte sie sich in dieses Abenteuer hineingestürzt. Er war so anders, als die Männer, die sie kannte. Es hatte den einen oder anderen Interessenten gegeben. Jüngere Männer, unerfahren, flegelhaft und zuweilen widerwärtig. Sofia hatte sich nie für diese Männer begeistern können. Es war um sie geschehen, als sie Alexander vor fünf Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Er war gebildet, hatte Klasse und konnte ihr mit seinem Lächeln den Atem rauben. So einen Mann wollte sie, keinen anderen. Gewissenhaft notierte sie seinen Hüftumfang und wandte sich dem Bauch zu. Unaufgefordert folgten ihre Augen dem schmalen Streifen dunklen Haars, der von seinem Bauchnabel abwärts führte und unter seinem Hosenbund verschwand. Nur eine Sekunde, oder zwei ... "Stimmt etwas nicht?", fragte er. Sofia kam sofort wieder zu sich. Hatte sie so lange auf seinen Hosenbund gestarrt, dass es ihm aufgefallen war? Möglich. "Nein, alles bestens." Sie zog sich einen Schemel heran und stieg eine Stufe hinauf, um Alexanders Hals zu vermessen. Ein warmes Lächeln hatte sich über sein Gesicht ausgebreitet und sie war kurz davor, darin einzusinken, als ihr Verstand sich meldete. Er ist nur ein Mann! ... Nur ein faszinierender, halb entkleideter Mann ... Sie war ihm rettungslos verfallen. Nur noch ein letztes Maß. Sofia legte das Band um seinen Hals und las die Ziffern ab. Beeindruckend, wie seine Haut sich unter dem Band sanft hob und gleich wieder senkte. Sein Herzschlag. Ob er ebenso aufgeregt war? Eher nicht. Er war entspannt, als sie ihn ansah, beinahe zu ruhig. Kein Lächeln mehr auf seinen Lippen. Ahnte er etwas? "Geht es Euch gut?", fragte er und fixierte sie durchdringend. "Ihr wirkt nervös." "Höhenangst!" Es war die einzige Ausrede, die ihr in den Sinn kam. "Ihr seid zu groß." "Ihr seid zu klein", antwortete er, ohne die Miene zu verziehen, "und es ist nur ein Schemel." "Das genügt." "Bedauerlich." "Findet Ihr?" "Nicht die Höhenangst. Ich weiß, dass Ihr nicht die Wahrheit sagt." Unmöglich, dem heißen Glühen ihrer Wangen noch Einhalt zu gebieten. "Das ist nicht wahr!", beteuerte Sofia und hielt seinen prüfenden Blicken eisern stand. "Zweifelt Ihr an meinem Urteilsvermögen?" Seine Brauen hoben sich, während er Sofias Antwort erwartete. "Wenn Ihr mir keine andere Wahl lasst." Sicher war es nicht die klügste Entscheidung, sich mit Herrn Şerban anzulegen. Er war ein Kunde. Man legte sich nicht mit Kunden an. Besonders nicht mit wohlhabenden Kunden. Er schwieg. Auch Sofia sagte kein Wort. War sie zu weit gegangen? Nein, so empfindlich war er nicht, das konnte sie sich nicht vorstellen. Er dachte nach. Nur worüber? Sollte sie es zurücknehmen? Sollte sie ihre Schuld eingestehen? Auf keinen Fall. Sofia stand noch immer auf dem Schemel und wartete auf seine Reaktion. Es war Folter. Seine Art der Bestrafung vermutete sie. Bitteres Schweigen. Trotz allem würde sie nicht nachgeben und dann, als sie es kaum noch für möglich gehalten hatte, schlug er die Augen nieder, griff sein Hemd und wandte sich ab. "Wie auch immer ...", murmelte er leise vor sich hin, während er die Knöpfe schloss. Seine Reaktion traf sie härter, als sie es erwartet hatte. Hätte er nicht wütend werden können? Ein wenig ungehalten? Es passte ihr nicht. Sofia sprang auf den Boden und folgte ihm zum Fenster. "Darf nun ich etwas fragen?", wollte sie wissen. "Was?" "Ob es Euch gut geht." Er seufzte leise, verschränkte die Arme und sah sie nachdenklich an. "Nein, Fräulein Volkova, nicht mehr, seit ich Euer Zimmer betrat." Ein überraschendes Geständnis. Es zu deuten fiel ihr schwer. "Ich weiß nicht, was Ihr meint." "Eure Blicke. Ich sehe, wie Ihr mich anseht und ich weiß, was es bedeutet." Sie war enttarnt. Jede Sehne entflammt. "Was bedeutet es?" Sicher wusste er es, trotzdem wollte sie es hören. "Wie eine läufige Hündin verzehrt Ihr Euch nach mir. Ihr seht mich an mit euren großen Augen und ich weiß, dass ich nichts weiter tun müsste, als zuzugreifen." Es war nicht charmant, doch seine Worte entfachten Feuerglut in ihren Adern. "Warum tut Ihr es dann nicht?" Wieder schwieg er. Doch diesmal beobachtete er sie gebannt. Sein Ausdruck gefiel ihr. Er war überrascht, neugierig und je weiter ihre Finger an der Knopfleiste ihrer Jacke nach untern wanderten, desto deutlicher konnte sie das gierige Funkeln erkennen, das sich in seine Augen schlich. Der letzte Knopf, ihre Jacke rutschte und Alexander löste sich aus seiner Reglosigkeit. Er schritt eilig auf sie zu, griff den dicken Stoff und zog ihn wieder über ihre Schultern. "Ihr führt mich in Versuchung ..." Noch sträubte er sich. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. "Seid nicht so edelmütig, oder gefalle ich Euch nicht?" "... mehr als es gut ist." Sie lächelte zufrieden und zog die Haarnadel aus dem Gebinde an ihrem Hinterkopf. Das rote Haar fiel in langen Wellen ihren Rücken hinab. "Dann möchte ich Euch gehören." Ein stiller Augenblick, kein Wimpernschlag, dann schlug ihr Herz so stark, dass ihr Körper bebte. Fest drückte er seine Lippen auf ihre. Seine Hände lagen nah an ihrem Hals, die Finger in ihren Nacken gedrückt. Welch berauschendes Gefühl. Es war neu und aufregend, als würden Funken aus seinen Fingerspitzen sprühen und ihr durch alle Glieder jagen. Sie zitterte. Die Aufregung ließ sie nicht stillstehen, als Alexanders Hände die Schleifen und Bänder ihres Kleides öffneten. Es rutschte. Der weiche Stoff der Ärmel glitt über ihre Schultern. Alexander zog das Kleid mitsamt dem Unterrock hinunter. Es waren nur wenige Handgriffe und Sofia stand im engen Mieder vor ihm. Sie fröstelte. Immer wieder jagten Schauer über ihre Haut, egal wie eng Alexander sie an sich zog, oder vielleicht gerade deswegen. Am liebsten hätte sie es abgestellt, doch es ging nicht. Sie versuchte, sich zu entspannen. Vergeblich. Zielsicher löste er die Schnüre ihres Mieders, sie bekam wieder Luft, und endlich ging ein Ruck durch Sofias Körper. Sie wollte nicht tatenlos dastehen, wollte nicht das verängstigte Schäfchen sein, das dem Wolf keinen Widerstand bot. Kein ernst zu nehmender Widerstand, nur eine Spielerei. Sie drückte ihn von sich und ging zwei Schritte zurück, er folgte ihr und sie konnte den hungrigen Wolf sehen, der hinter seiner Fassade hauste. Er sollte sie ruhig holen, sie wollte es nicht anders. Und noch ehe er bei ihr war, hatte sie die letzte Schlaufe ihres Mieders geöffnet und ließ es zu Boden fallen. In ihren Augen lag keine Furcht, keine Unsicherheit. Sie wusste nicht genau, was sie erwartete, sie hatte keine Ahnung, was zu tun war, doch Alexander schien zu wissen was er tat und das war ein erregender Gedanke. Er hob sie vom Boden, schob den teuren Brokatstoff vom Tisch und setzte Sofia darauf ab. Sie war ihm so nah, dass ihr Herz wilde Kapriolen schlug. Es sprang vom Hals bis in die Hose und dort blieb es, als Alexander sich über sie beugte und ihre Brust umfasste. Es kribbelte in ihrem Unterleib. Ein sanftes Kitzeln, das sich in sie eingenistet hatte und von Alexander unaufhörlich gefüttert wurde. Er küsste ihren Hals, vergrub seine Hand in ihren Haaren, strich mit den Fingerspitzen über ihre Brüste und zu ihrem Bauch hinab, während sie sich mühte, ihm das Hemd wieder auszuziehen. Ein kleiner Kampf um sein Hemd, dann fiel es hinab und Sofia legte die Hände an seinen Hosenbund. Sie nestelte daran herum, bis er sich erbarmte und ihr half. Sie riskierte einen Blick, blinzelte und er war nackt. So nackt, wie sie noch nie einen Mann gesehen hatte. Flackernde Schatten tanzten über seine Lendenmuskulatur. Sofia lenkte ihren Blick aufwärts über seine Brust nach oben, bis sie sein Gesicht sehen konnte. Der kurze Anflug von Sorge verflog, als er einen sanften Kuss auf ihre Lippen drückte und beinahe bedächtig die Unterwäsche von ihren Beinen streifte. Sie wusste, dass sie keine Angst haben musste, nicht bei ihm. Er war vorsichtig und sanft. Seine Hände glitten über ihre Schenkel, schoben sie auseinander und griffen nach ihren Hüften. Er näherte sich und Sofia schlang die Arme um seinen Hals. Sie schloss die Augen. Es zog zwischen ihren Beinen. Es drückte. Sie hielt sich an ihm fest und er bewegte sich noch einmal auf sie zu, fester. Er drang tiefer und sie schlug ihre Finger fest in seine Haut, als der kurze Schmerz sie zusammenfahren ließ. Ein schwaches Seufzen. Sie spürte ihn. Er löste sich ein kleines Stück, um erneut in sie vorzudringen. Ein Keuchen entglitt ihren Lippen und langsam verflog der Schmerz. Nur noch eine trübe Erinnerung in Angesicht des Höhenflugs, den er ihr schenkte. Er war es wert. Jedes Opfer war er wert. Seine Finger fanden ihren Weg zurück über ihren Rücken – sie brannten sich tiefer in ihre Haut als zuvor – hinauf zu ihrem Nacken, hielten sie dort fest und sie konnte seine Fingernägel spüren. Sie bohrten sich in ihr Fleisch und befeuerten die längst entflammte Begierde. Sie fing ihre Unterlippe mit den Zähnen ein, um sie unter Kontrolle zu halten. Nur leise gestattete sie der Lust, sich zu äußern. Sie atmete schwer. Alexanders Bewegungen schlugen Wellen durch ihren Körper, die schäumend zurück in ihr Becken brandeten. Obwohl Eisblumen von innen an den Fensterscheiben blühten, fror sie nicht mehr. Ihr war warm, heiß. Sie glühte. Sie schwebte. Irgendwo zwischen Himmel und Hölle spürte sie sich mit ihm verschmelzen. Er pulsierte in ihr, sein Atem strich über ihre Haut und er hatte sie fest an sich gezogen. Fast schmerzhaft eng schnürten sich seine Arme um ihren Brustkorb. Ein wohliges Ersticken, dann wurde er ruhiger und gab sie frei. Er nahm seinen Kopf zurück und seine Augen waren geschlossen. Sie waren sich noch immer nah. Ein zartes Band hielt sie zusammen und Sofia strich vorsichtig sein Haar zur Seite, um ihn besser sehen zu können. Seine Lippen glänzten sinnlich im Kerzenlicht, sie küsste ihn sanft. Er war so atemberaubend schön. Dann lächelte er sein unwiderstehliches Lächeln und sie verspürte das tiefe Verlangen, sich in seine Arme sinken zu lassen und für immer dort gefangen zu bleiben.   —   Dumpfes Schlagen und lautes Rasseln ließ sie zu sich kommen. Es war noch dunkel. Sofia konnte nichts sehen. Ein sanftes Flackern, sie öffnete die Lider. Sie war in ihrem Bett und ihr Kopf dröhnte, wie nach einer feuchtfröhlichen Nacht, nur hatte sie nichts getrunken. Alexander hatte ihr die Sinne vernebelt ... hatte er sie hierher gebracht? Sie rieb sich die Schläfen und das Geräusch ihrer Finger war unendlich laut. "Wie geht es dir?", fragte eine vertraute Stimme aus der Dunkelheit. Es war Katerina. Sie saß neben ihrem Bett und hatte das Kinn auf ihre Hände gestützt. Nur ein schwacher Lichtschein fiel von draußen unter dem Türschlitz hindurch. Gerade genug, dass Sofia den sorgenvollen Blick in Katerinas Gesicht erahnen konnte. Sofias Mund war trocken. Ihre Zunge klebte am Gaumen, sie hatte schrecklichen Durst. "Sofia?" Katerinas Stimme klang beunruhigt. "Ja ...", krächzte sie leise, räusperte sich und fuhr fort: "Ich denke, ich bin krank." Katerina seufzte schwer. "Du bist nicht krank." "Ich fühle mich nicht gut." Als Sofia sich setzte, raschelten die Laken lautstark, als riebe man Steine übereinander. Noch immer dröhnte dumpfes Schlagen in ihren Ohren. Es war schneller geworden, nachdem sie aufrecht saß, und erschütterte sie gänzlich, als ein eigenartiger Geruch in ihre Nase stieg. Wasser lief ihr im Mund zusammen. Es war nicht süß, nicht herzhaft, überhaupt roch es nicht nach etwas Essbarem. Es roch herb, metallisch und köstlich. Katerina reichte ihr etwas. Sofia konnte es nicht erkennen. Es war der Ursprung dieses Geruchs und sie musste nichts weiter tun, als sich darüber herzumachen. Gierig schlug sie ihre Zähne in das zarte Stück Fleisch und warm ergoss sich sein Saft in ihren Mund. Das war es, was sie brauchte. Ihre Medizin. Ein Heilmittel für ihren ausgezehrten Körper, das ihr langsam die Steine von der Brust nahm. Es rann ihre Kehle hinunter und sandte neue Kraft durch ihre Adern. Sie fühlte sich leichter, als würden ihr Ketten abgenommen, die sie am Boden hielten. "Mach langsam", sagte Katerina und ihre Stimme klang seidig weich. Langsam ... Sofia musste sich zwingen, eine kurze Pause einzulegen. Es war kaum möglich. Sie hatte ihre Finger fest in ihre Mahlzeit gegraben, konnte die Lippen nicht lösen und erstarrte plötzlich, als das Stück Fleisch sich bewegte. Nur leicht. Ein Zucken. Sie lockerte ihren Griff, tastete und fand eine Hand am rechten Ende. Sie war schlank und geschmeidig, oder bildete sie sich das ein? Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sie erkannte Katerinas Gesicht, das noch immer voller Sorge vor ihr ruhte. Sie hatte ihren Arm ausgestreckt und herübergereicht. Jetzt konnte Sofia es sehen: Es war Katerinas Handgelenk, an dem sie trank. Ihr Blut. Ein nicht zu unterdrückendes Würgen bahnte sich seinen Weg ihre Kehle hinauf. Katerina löste ihren Arm aus Sofias Umklammerung. "Bleib ganz ruhig", flüsterte sie und legte ihre Hand an Sofias Wange, "es ist alles in Ordnung." Nichts war in Ordnung. Wie ein wildes Tier hatte sie sich auf Katerinas Blut gestürzt und das Schlimmste dabei war, dass es ihr geschmeckt hatte. "Was ist mit mir?" Sofia konnte das Würgen hinunterschlucken, nicht aber die Angst, die von ihr Besitz ergriff. Etwas Böses war in Gange. Ihr Herz flatterte wild, ihre Lungen arbeiteten auf Hochtouren. In ihrem Kopf sprangen Gedanken willkürlich umeinander. Schlimmes Fieber. Vielleicht hatte sie Wahnvorstellungen? Oder sie träumte. Dann nahm Katerina ihren Kopf in beide Hände, wartete, bis Sofias Blicke nicht mehr Hilfe suchend nach links und rechts flogen, und sah sie eindringlich an. "Sofia, du musst dich beruhigen. Atme langsamer." Sie versuchte es, die Augen starr in Katerinas Gesicht gerichtet. Katerina ließ ihr den Moment, dann sprach sie weiter: "Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Ich habe versprochen dafür zu sorgen, dass es dir immer gut geht, solange du unter meiner Obhut bist, aber letzte Nacht habe ich eine egoistische Entscheidung getroffen." Sofia holte wieder Luft. "Was heißt das?" "Ich habe ein Band geknüpft ..." Sie schlug die Augen nieder. Es schien zu schmerzen, was sie sagen wollte und sie musste sich sammeln, bevor sie fortfahren konnte: "Ein Band, das uns für immer verbindet. Ich habe entschieden, dich zu einer der Meinen zu machen. Ich habe dich zum Vampir gemacht." Es klang herrlich verworren. Vampir. Sofia wusste nicht einmal, was das bedeutete. "Das heißt, du bist kein Mensch mehr. Du bist unsterblich", erklärte Katerina weiter. Unsterblich. Kein Mensch. Sofia musste es sich durch den Kopf gehen lassen. Abwägen, ob sie nicht doch träumte. "Unfug! Was ist das für ein faules Spiel, das du mit mir treibst?" Wut begann in ihr zu brodeln. Konnte Katerina nicht die Wahrheit sagen? Sie schlug die Hände weg, die ihr Gesicht hielten. "Hab keine Angst, ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst." Sie klang überzeugend. "Das genügt jetzt!", fuhr Sofia sie an, schlug die Decke zurück und stand auf, "Ich will das nicht hören! Ich werde dieses Haus gemeinsam mit Alexander verlassen. Er wird mich mitnehmen, das hat er versprochen, also danke für alles, aber jetzt leb wohl." Sie stapfte zur Tür und riss sie auf. Im Flur brannten Kerzen. "Ich habe ihn längst weggeschickt ... letzte Nacht", gestand Katerina, als Sofia in den Flur trat. "Was?" Blankes Entsetzen verzerrte Sofias Gesicht. Katerinas niedergeschlagener Ausdruck verriet ihr, dass sie richtig verstanden hatte. Alexander war fort. Seit letzter Nacht. Sie hatte einen vollen Tag versäumt. Nie würde sie ihn noch einholen können. Zornig riss sie am Türgriff und wurde vom ohrenbetäubenden Aufeinandertreffen von Metall in die Knie gezwungen. Die Tür war zugeschlagen und hatte sie bis ins Mark erschüttert. Ihre Hände lagen schützend über ihren Ohren. Nie würde sie ihr das verzeihen. Niemals.   —   Ich blätterte um. Nichts. Die folgende Seite war blank. Sofia ließ mich rätselnd zurück. Ich klappte das Buch zu, betrachtete noch ein letztes Mal das kleine Datum auf der Rückseite, und löschte mein Licht. 10. Dezember 1603. 020 – Spiel mit dem Feuer [zensiert] ------------------------------------ Der Tag war lang vergangen. Durch das schmale Fenster fiel Mondlicht in Sofias Arbeitszimmer und auf dem großen Holztisch tanzte der Feuerschein ihrer Kerze. Sie hätte sich längst zu Bett begeben, hätte Katerina sie nicht gebeten, heute länger aufzubleiben. Sie erwartete hohen Besuch. Herrn Konstantin Svačić, ein wohlhabender Geschäftsmann, der ein neues Wams mit passendem Beinkleid in Auftrag geben wollte, wie Sofia ihn schon einige Male für ihn geschneidert hatte. Edle Brokatstoffe lagen vor ihr und schimmerten im Kerzenlicht. Wunderschöne, teure Materialien, die Katerina gerne für einen ihrer besten Kunden anforderte. "Katerina! Ich befürchte, es gibt ein Problem." Keine fünf Sekunden später stand sie in der Tür. In schlichte Eleganz gehüllt, ihre nussbraunen Haare locker nach oben gesteckt, trat sie an Sofias Tisch und betrachtete den Stoff. Noch bevor Sofia erklären konnte, was das Problem war, hatte sie es schwer seufzend erkannt: "Webfehler." "Ich kann die Schnittmuster darum herum platzieren, aber wir sollten beim Verkäufer einen Preisnachlass verhandeln. Das entspricht nicht der versprochenen Qualität." Katerina nickte. "Ich werde mich darum kümmern." Sie warf einen Blick durch das Fenster und fuhr fort: "Herr Svačić lässt sich heute reichlich Zeit. Ich hoffe, er wird bald erscheinen, sonst muss ich ihn leider auf morgen vertrösten." "Wieso das?" Ein mildes Lächeln breitete sich über Katerinas Lippen aus. "Ich kann nicht verantworten, dass meine beste Schneiderin die ganze Nacht wach bleiben muss. Wenn sich in einer halben Stunde nichts getan hat, kannst du zu Bett gehen." "Danke." Sie verließ das Zimmer und Sofia legte den burgunderfarbenen Stoff neu aus, um den Webfehler zu verbergen. Auch wenn er später nicht zu sehen sein würde, musste der Kunde nicht zwingend davon wissen. Als die Hälfte der Frist verstrichen war, erhob sie sich und ging zum Fenster. Draußen lag das tief verschneite Moskau. Friedlich schlummernd, nachdem das geschäftige Treiben des Tages nach Einbruch der Nacht abgeebbt war. Sofia wollte nicht schlafen gehen. Sie würde bis zum Morgen warten, wenn es sein musste und jeder Moment, in dem es ruhig war, machte sie nervöser. Herr Svačić musste kommen. Er konnte es ihr nicht antun, das Treffen platzen zu lassen. Sie hatte sich fein herausgeputzt zu diesem Anlass und eine Verschiebung würde ihr die Stimmung bitter verderben. Sie dribbelte mit den Fingern auf dem Fensterbrett und zählte die Sekunden. Von der Kutsche war weit und breit keine Spur. Wo bleibt er bloß? Zwischen dem Heulen des Windes und dem Klappern der Fensterläden war kaum etwas zu hören. Irgendwo in der Ferne hallte der Klang von Pferdehufen durch die Straßen und Sofia hoffte, dass es keine Einbildung war. Es kam näher und nur wenig später zogen die Pferde ihre Fracht über die Kreuzung und trabten auf das Waisenhaus zu. Das mussten sie sein. Über Sofias Lippen breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus, als die Kutsche unten hielt und sie erkannte, wer im Kerzenschein das Gefährt verließ. Konstantin Svačić in Begleitung seines Beraters. Ein faszinierender Mann. Sofia trat einen Schritt vom Fenster zurück und betrachtete ihre Reflexion in der Scheibe. Jede Haarsträhne war dort, wo sie sein sollte, das Kleid lag ordentlich. Sie kniff sich kurz in die Wangen, um eine gesunde Röte in ihr Gesicht zu zaubern, und begab sich zurück an ihren Arbeitstisch, um auf die beiden Männer zu warten. Obwohl es keine fünf Minuten waren, bis draußen Stimmen durch den Flur drangen, erschien es ihr wie eine Ewigkeit. Nur um sicherzugehen, richtete sie noch einmal ihren Kragen. Die Stimmen wurden lauter und Sofia konnte hören, dass Katerina sich mit Konstantin über die Schwierigkeiten mit den immer zahlreicher werdenden Bettlern unterhielt. Sie hatten die Kutsche aufgehalten, um an Nahrung zu gelangen, deswegen kam er so spät. Die Ernten waren in diesem Jahr wieder schlecht gewesen, das spürte man in der ganzen Stadt und umso wichtiger waren Geschäfte mit den Kunden von außerhalb. Konstantin war Kroate, lebte jedoch seit geraumer Zeit in Rumänien und pflegte regelmäßigen Kontakt zu Katerina. Die beiden traten in die Schneiderstube und Konstantin wünschte einen guten Abend. "Schönen guten Abend, der Herr." Sofia machte einen Knicks, wie es sich gehörte, richtete ihre Aufmerksamkeit für einen Moment zur Tür, bevor sie sich wieder den Brokatstoffen zuwandte, aus denen Konstantin einen auswählen sollte. "Dieser soll es sein?", fragte Katerina, als Konstantin seine Hand auf den karmesinroten Stoff gelegt hatte, der von goldenem Faden durchzogen war. "Ich bitte darum", erwiderte er und wandte seine Blicke an Sofia. "Ihr könnt dieselben Schnittmuster wie beim letzten Mal verwenden, Fräulein Volkova. Dazu die auffälligsten Spitzenmanschetten, die Ihr habt. Die Hose zwei Fingerbreit enger an den Beinen, so wie es die Spanier tragen. Die Feinabstimmung überlasse ich dann ganz Euch." Sie nickte. "Sehr gerne." Konstantin lächelte trocken, dann strich er über einen zweiten, anthrazitfarbenen Stoff mit königsblauen Ornamenten. "Dieser ist ebenfalls überaus ansprechend." Katerina sah ihn überrascht an. "Ich hatte nicht erwartet, dass du noch mehr in Auftrag geben willst." "Möchte ich nicht. Zu dezent, trotzdem ist er schön." "So?" Katerina schmunzelte. "Der teuerste Stoff ist dem Herrn zu dezent. Das hat außer dir bis jetzt noch niemand behauptet." "Ich bin und bleibe Liebhaber der Extravaganz. Daran wird sich nie etwas ändern." Er schmunzelte vergnügt. "Nichts anderes hatte ich erwartet", gestand Katerina und bot ihrem Gast an, sich das eine oder andere Glas Wein mit ihr zu teilen. Konstantin nahm die Einladung gerne an und verschwand mit Katerina aus der Stube. Sofia wartete, bis die beiden in ein anderes Zimmer verschwunden waren, und warf einen Blick in den Flur. Er war leer und ihr entfuhr ein leises Seufzen. Für einen kurzen Augenblick hing sie ihrer Enttäuschung nach, straffte ihre Schultern und ging zurück an den Tisch. Ein wenig mehr Geduld. Wahrscheinlich verstaute er noch das Gepäck in Katerinas Gästezimmer. Der ausgewählte Stoff nahm einigen Platz auf Sofias Arbeitstisch ein. Sie breitete die alten Schnittmuster zielsicher darauf aus und begann sie festzustecken. Wenn sie schon wartete, wollte sie die Zeit zumindest sinnvoll verbringen. Als sie die Kreide zum wiederholten Male ansetzte, klopfte es an ihrer Tür. Sofia unterbrach die Arbeit nicht, als sie den Besucher hereinbat. Sie zog den Strich zu Ende und hob den Blick. Ein dunkelhaariger Mann mit feiner Kleidung und einem unwiderstehlichen Lächeln stand im Türrahmen. "Herr Şerban, guten Abend. Ich hatte nicht erwartet, Euch heute noch zu sehen." "Verzeiht den späten Besuch, wir wurden aufgehalten." "Die Bettler, ich habe es gehört." Er nickte und kam herüber, um sich den Stoff anzusehen, den Konstantin ausgewählt hatte. Seine dunklen Augen musterten skeptisch die auffälligen Muster, die sich durch den roten Stoff zogen. "Er hat einen außergewöhnlichen Geschmack", stellte er trocken fest und ging ein paar Schritte, um die anderen Textilien in Augenschein zu nehmen, die Sofia zur Seite geräumt hatte. Die junge Frau beobachtete ihn dabei. Alexander Şerban war ein Mann, an dem sich ihre Blicke gerne festsogen. Ungeniert verfolgte sie seine Bewegungen. Wie er seine Finger sanft über die Stoffbahnen gleiten ließ und schließlich den anthrazitfarbenen Stoff auswählte, der schon Konstantin aufgefallen war. Er hielt ihn an seine Brust. "Den burgunderfarbenen Stoff solltet Ihr zurückgeben, aber denkt Ihr, dieser würde mir stehen?" Sofia hob die Brauen und legte die Kreide beiseite. "Selbstverständlich. Das ist ein ausgesprochen edler Stoff. Er würde wunderbar zu Euch passen." Seine Augen waren scharf wie Rasiermesser, anders hätte er den Webfehler im Halbdunkel nicht bemerken können. "Gut, dann möchte ich Euch bitten, meine Maße zu nehmen." "Gerne." Sie griff ihr Maßband aus dem Fach unter dem Tisch. "Würde es Euch etwas ausmachen, an den Tisch zu kommen? Hier ist das Licht besser." Er legte seinen Mantel ab, bevor er herüberkam und begann die Knöpfe seiner Weste zu öffnen. "Das genügt. Ihr müsst nicht ..." Sofia unterbrach sich selbst, als Alexander die Weste abgelegt und die Finger an die Knöpfe seines Hemdes geführt hatte. Töricht, ihn jetzt aufzuhalten. "Was meintet Ihr?", frage er nach. "Ich dachte, es ist ein wenig kalt." Nur ein müdes Lächeln, mehr hatte er für ihre Erklärung nicht übrig. Er ließ sein Hemd auf den Arbeitstisch fallen und Sofia öffnete das kleine Glas voll Tinte, um seine Maße zu notieren. Viele Kunden behielten ihre Hemden an. Sie waren verspannt und oft glaubte man, es wäre ihnen unangenehm, wenn Sofia ihre Maße nahm. Dennoch hatte sie in den vergangenen Jahren einiges gesehen. Dicke Bäuche, dünne Gerippe, lange Narben, dunkle Flecken. Unschöne Details, die die Menschen zu verbergen pflegten. Es waren auch durchaus ansehnliche Kunden in ihr Arbeitszimmer gekommen, schöne, gepflegte Männer und bildhübsche Frauen. Keiner von ihnen konnte Alexander das Wasser reichen. Seine Gesichtszüge, die so entspannt und ruhig waren, sie waren scharf geschnitten und seine Augen stießen einem Dolche entgegen. Gut verborgen unter der kontrollierten Oberfläche lag etwas, das pures Leben, Abenteuer und Leidenschaft versprach. Sofia vermaß seine Armlänge. Wie gerne hätte sie sich in dieses Abenteuer hineingestürzt. Er war so anders, als die Männer, die sie kannte. Es hatte den einen oder anderen Interessenten gegeben. Jüngere Männer, unerfahren, flegelhaft und zuweilen widerwärtig. Sofia hatte sich nie für diese Männer begeistern können. Es war um sie geschehen, als sie Alexander vor fünf Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Er war gebildet, hatte Klasse und konnte ihr mit seinem Lächeln den Atem rauben. So einen Mann wollte sie, keinen anderen. Gewissenhaft notierte sie seinen Hüftumfang und wandte sich dem Bauch zu. Unaufgefordert folgten ihre Augen dem schmalen Streifen dunklen Haars, der von seinem Bauchnabel abwärts führte und unter seinem Hosenbund verschwand. Nur eine Sekunde, oder zwei ... "Stimmt etwas nicht?", fragte er. Sofia kam sofort wieder zu sich. Hatte sie so lange auf seinen Hosenbund gestarrt, dass es ihm aufgefallen war? Möglich. "Nein, alles bestens." Sie zog sich einen Schemel heran und stieg eine Stufe hinauf, um Alexanders Hals zu vermessen. Ein warmes Lächeln hatte sich über sein Gesicht ausgebreitet und sie war kurz davor, darin einzusinken, als ihr Verstand sich meldete. Er ist nur ein Mann! ... Nur ein faszinierender, halb entkleideter Mann ... Sie war ihm rettungslos verfallen. Nur noch ein letztes Maß. Sofia legte das Band um seinen Hals und las die Ziffern ab. Beeindruckend, wie seine Haut sich unter dem Band sanft hob und gleich wieder senkte. Sein Herzschlag. Ob er ebenso aufgeregt war? Eher nicht. Er war entspannt, als sie ihn ansah, beinahe zu ruhig. Kein Lächeln mehr auf seinen Lippen. Ahnte er etwas? "Geht es Euch gut?", fragte er und fixierte sie durchdringend. "Ihr wirkt nervös." "Höhenangst!" Es war die einzige Ausrede, die ihr in den Sinn kam. "Ihr seid zu groß." "Ihr seid zu klein", antwortete er, ohne die Miene zu verziehen, "und es ist nur ein Schemel." "Das genügt." "Bedauerlich." "Findet Ihr?" "Nicht die Höhenangst. Ich weiß, dass Ihr nicht die Wahrheit sagt." Unmöglich, dem heißen Glühen ihrer Wangen noch Einhalt zu gebieten. "Das ist nicht wahr!", beteuerte Sofia und hielt seinen prüfenden Blicken eisern stand. "Zweifelt Ihr an meinem Urteilsvermögen?" Seine Brauen hoben sich, während er Sofias Antwort erwartete. "Wenn Ihr mir keine andere Wahl lasst." Sicher war es nicht die klügste Entscheidung, sich mit Herrn Şerban anzulegen. Er war ein Kunde. Man legte sich nicht mit Kunden an. Besonders nicht mit wohlhabenden Kunden. Er schwieg. Auch Sofia sagte kein Wort. War sie zu weit gegangen? Nein, so empfindlich war er nicht, das konnte sie sich nicht vorstellen. Er dachte nach. Nur worüber? Sollte sie es zurücknehmen? Sollte sie ihre Schuld eingestehen? Auf keinen Fall. Sofia stand noch immer auf dem Schemel und wartete auf seine Reaktion. Es war Folter. Seine Art der Bestrafung vermutete sie. Bitteres Schweigen. Trotz allem würde sie nicht nachgeben und dann, als sie es kaum noch für möglich gehalten hatte, schlug er die Augen nieder, griff sein Hemd und wandte sich ab. "Wie auch immer ...", murmelte er leise vor sich hin, während er die Knöpfe schloss. Seine Reaktion traf sie härter, als sie es erwartet hatte. Hätte er nicht wütend werden können? Ein wenig ungehalten? Es passte ihr nicht. Sofia sprang auf den Boden und folgte ihm zum Fenster. "Darf nun ich etwas fragen?", wollte sie wissen. "Was?" "Ob es Euch gut geht." Er seufzte leise, verschränkte die Arme und sah sie nachdenklich an. "Nein, Fräulein Volkova, nicht mehr, seit ich Euer Zimmer betrat." Ein überraschendes Geständnis. Es zu deuten fiel ihr schwer. "Ich weiß nicht, was Ihr meint." "Eure Blicke. Ich sehe, wie Ihr mich anseht und ich weiß, was es bedeutet." Sie war enttarnt. Jede Sehne entflammt. "Was bedeutet es?" Sicher wusste er es, trotzdem wollte sie es hören. "Wie eine läufige Hündin verzehrt Ihr Euch nach mir. Ihr seht mich an mit euren großen Augen und ich weiß, dass ich nichts weiter tun müsste, als zuzugreifen." Es war nicht charmant, doch seine Worte entfachten Feuerglut in ihren Adern. "Warum tut Ihr es dann nicht?" Wieder schwieg er. Doch diesmal beobachtete er sie gebannt. Sein Ausdruck gefiel ihr. Er war überrascht, neugierig und je weiter ihre Finger an der Knopfleiste ihrer Jacke nach untern wanderten, desto deutlicher konnte sie das gierige Funkeln erkennen, das sich in seine Augen schlich. Der letzte Knopf, ihre Jacke rutschte und Alexander löste sich aus seiner Reglosigkeit. Er schritt eilig auf sie zu, griff den dicken Stoff und zog ihn wieder über ihre Schultern. "Ihr führt mich in Versuchung ..." Noch sträubte er sich. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. "Seid nicht so edelmütig, oder gefalle ich Euch nicht?" "... mehr als es gut ist." Sie lächelte zufrieden und zog die Haarnadel aus dem Gebinde an ihrem Hinterkopf. Das rote Haar fiel in langen Wellen ihren Rücken hinab. "Dann möchte ich Euch gehören." Ein stiller Augenblick, kein Wimpernschlag, dann schlug ihr Herz so stark, dass ihr Körper bebte. Fest drückte er seine Lippen auf ihre. Seine Hände lagen nah an ihrem Hals, die Finger in ihren Nacken gedrückt. Welch berauschendes Gefühl. Es war neu und aufregend, als würden Funken aus seinen Fingerspitzen sprühen und ihr durch alle Glieder jagen. Sie zitterte. Die Aufregung ließ sie nicht stillstehen, als Alexanders Hände die Schleifen und Bänder ihres Kleides öffneten. Es rutschte. Der weiche Stoff der Ärmel glitt über ihre Schultern. Alexander zog das Kleid mitsamt dem Unterrock hinunter. Es waren nur wenige Handgriffe und Sofia stand im engen Mieder vor ihm. Sie fröstelte. Immer wieder jagten Schauer über ihre Haut, egal wie eng Alexander sie an sich zog, oder vielleicht gerade deswegen. Am liebsten hätte sie es abgestellt, doch es ging nicht. Sie versuchte, sich zu entspannen. Vergeblich. Zielsicher löste er die Schnüre ihres Mieders, sie bekam wieder Luft, und endlich ging ein Ruck durch Sofias Körper. Sie wollte nicht tatenlos dastehen, wollte nicht das verängstigte Schäfchen sein, das dem Wolf keinen Widerstand bot. Kein ernst zu nehmender Widerstand, nur eine Spielerei. Sie drückte ihn von sich und ging zwei Schritte zurück, er folgte ihr und sie konnte den hungrigen Wolf sehen, der hinter seiner Fassade hauste. Er sollte sie ruhig holen, sie wollte es nicht anders. Und noch ehe er bei ihr war, hatte sie die letzte Schlaufe ihres Mieders geöffnet und ließ es zu Boden fallen. In ihren Augen lag keine Furcht, keine Unsicherheit. Sie wusste nicht genau, was sie erwartete, sie hatte keine Ahnung, was zu tun war, doch Alexander schien zu wissen was er tat und das war ein erregender Gedanke. Er hob sie vom Boden, schob den teuren Brokatstoff vom Tisch und setzte Sofia darauf ab. Sie war ihm so nah, dass ihr Herz wilde Kapriolen schlug. Es sprang vom Hals bis in die Hose und dort blieb es, als Alexander sich über sie beugte und ihre Brust umfasste. Es kribbelte in ihrem Unterleib. Ein sanftes Kitzeln, das sich in sie eingenistet hatte und von Alexander unaufhörlich gefüttert wurde. Er küsste ihren Hals, vergrub seine Hand in ihren Haaren, strich mit den Fingerspitzen über ihre Brüste und zu ihrem Bauch hinab, während sie sich mühte, ihm das Hemd wieder auszuziehen. Ein kleiner Kampf um sein Hemd, dann fiel es hinab und Sofia legte die Hände an seinen Hosenbund. Sie nestelte daran herum, bis er sich erbarmte und ihr half. Sie riskierte einen Blick, blinzelte und er war nackt. So nackt, wie sie noch nie einen Mann gesehen hatte. Flackernde Schatten tanzten über seine Lendenmuskulatur. Sofia lenkte ihren Blick aufwärts über seine Brust nach oben, bis sie sein Gesicht sehen konnte. Der kurze Anflug von Sorge verflog, als er einen sanften Kuss auf ihre Lippen drückte und beinahe bedächtig die Unterwäsche von ihren Beinen streifte. Sie wusste, dass sie keine Angst haben musste, nicht bei ihm. Er war vorsichtig und sanft. Seine Hände glitten über ihre Schenkel, schoben sie auseinander und griffen nach ihren Hüften. Sie schloss die Augen und ließ sich von ihm in eine Welt entführen. Eine Welt zwischen Himmel und Erde, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Obwohl Eisblumen von innen an den Fensterscheiben blühten, fror sie nicht mehr. Ihr war warm, heiß. Sie glühte. Sie schwebte und gab sich bereitwillig dem Mann hin, den sie so lange begehrt hatte.   Fest hatten sich seine Arme um ihren Brustkorb geschlossen. Ein wohliges Ersticken, für einen kurzen Moment, dann gab sie frei. Er nahm seinen Kopf zurück und seine Augen waren geschlossen. Sie waren sich noch immer nah. Ein zartes Band hielt sie zusammen und Sofia strich vorsichtig sein Haar zur Seite, um ihn besser sehen zu können. Seine Lippen glänzten sinnlich im Kerzenlicht, sie küsste ihn sanft. Er war so atemberaubend schön. Dann lächelte er sein unwiderstehliches Lächeln und sie verspürte das tiefe Verlangen, sich in seine Arme sinken zu lassen und für immer dort gefangen zu bleiben. —   Dumpfes Schlagen und lautes Rasseln ließ sie zu sich kommen. Es war noch dunkel. Sofia konnte nichts sehen. Ein sanftes Flackern, sie öffnete die Lider. Sie war in ihrem Bett und ihr Kopf dröhnte, wie nach einer feuchtfröhlichen Nacht, nur hatte sie nichts getrunken. Alexander hatte ihr die Sinne vernebelt ... hatte er sie hierher gebracht? Sie rieb sich die Schläfen und das Geräusch ihrer Finger war unendlich laut. "Wie geht es dir?", fragte eine vertraute Stimme aus der Dunkelheit. Es war Katerina. Sie saß neben ihrem Bett und hatte das Kinn auf ihre Hände gestützt. Nur ein schwacher Lichtschein fiel von draußen unter dem Türschlitz hindurch. Gerade genug, dass Sofia den sorgenvollen Blick in Katerinas Gesicht erahnen konnte. Sofias Mund war trocken. Ihre Zunge klebte am Gaumen, sie hatte schrecklichen Durst. "Sofia?" Katerinas Stimme klang beunruhigt. "Ja ...", krächzte sie leise, räusperte sich und fuhr fort: "Ich denke, ich bin krank." Katerina seufzte schwer. "Du bist nicht krank." "Ich fühle mich nicht gut." Als Sofia sich setzte, raschelten die Laken lautstark, als riebe man Steine übereinander. Noch immer dröhnte dumpfes Schlagen in ihren Ohren. Es war schneller geworden, nachdem sie aufrecht saß, und erschütterte sie gänzlich, als ein eigenartiger Geruch in ihre Nase stieg. Wasser lief ihr im Mund zusammen. Es war nicht süß, nicht herzhaft, überhaupt roch es nicht nach etwas Essbarem. Es roch herb, metallisch und köstlich. Katerina reichte ihr etwas. Sofia konnte es nicht erkennen. Es war der Ursprung dieses Geruchs und sie musste nichts weiter tun, als sich darüber herzumachen. Gierig schlug sie ihre Zähne in das zarte Stück Fleisch und warm ergoss sich sein Saft in ihren Mund. Das war es, was sie brauchte. Ihre Medizin. Ein Heilmittel für ihren ausgezehrten Körper, das ihr langsam die Steine von der Brust nahm. Es rann ihre Kehle hinunter und sandte neue Kraft durch ihre Adern. Sie fühlte sich leichter, als würden ihr Ketten abgenommen, die sie am Boden hielten. "Mach langsam", sagte Katerina und ihre Stimme klang seidig weich. Langsam ... Sofia musste sich zwingen, eine kurze Pause einzulegen. Es war kaum möglich. Sie hatte ihre Finger fest in ihre Mahlzeit gegraben, konnte die Lippen nicht lösen und erstarrte plötzlich, als das Stück Fleisch sich bewegte. Nur leicht. Ein Zucken. Sie lockerte ihren Griff, tastete und fand eine Hand am rechten Ende. Sie war schlank und geschmeidig, oder bildete sie sich das ein? Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sie erkannte Katerinas Gesicht, das noch immer voller Sorge vor ihr ruhte. Sie hatte ihren Arm ausgestreckt und herübergereicht. Jetzt konnte Sofia es sehen: Es war Katerinas Handgelenk, an dem sie trank. Ihr Blut. Ein nicht zu unterdrückendes Würgen bahnte sich seinen Weg ihre Kehle hinauf. Katerina löste ihren Arm aus Sofias Umklammerung. "Bleib ganz ruhig", flüsterte sie und legte ihre Hand an Sofias Wange, "es ist alles in Ordnung." Nichts war in Ordnung. Wie ein wildes Tier hatte sie sich auf Katerinas Blut gestürzt und das Schlimmste dabei war, dass es ihr geschmeckt hatte. "Was ist mit mir?" Sofia konnte das Würgen hinunterschlucken, nicht aber die Angst, die von ihr Besitz ergriff. Etwas Böses war in Gange. Ihr Herz flatterte wild, ihre Lungen arbeiteten auf Hochtouren. In ihrem Kopf sprangen Gedanken willkürlich umeinander. Schlimmes Fieber. Vielleicht hatte sie Wahnvorstellungen? Oder sie träumte. Dann nahm Katerina ihren Kopf in beide Hände, wartete, bis Sofias Blicke nicht mehr Hilfe suchend nach links und rechts flogen, und sah sie eindringlich an. "Sofia, du musst dich beruhigen. Atme langsamer." Sie versuchte es, die Augen starr in Katerinas Gesicht gerichtet. Katerina ließ ihr den Moment, dann sprach sie weiter: "Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Ich habe versprochen dafür zu sorgen, dass es dir immer gut geht, solange du unter meiner Obhut bist, aber letzte Nacht habe ich eine egoistische Entscheidung getroffen." Sofia holte wieder Luft. "Was heißt das?" "Ich habe ein Band geknüpft ..." Sie schlug die Augen nieder. Es schien zu schmerzen, was sie sagen wollte und sie musste sich sammeln, bevor sie fortfahren konnte: "Ein Band, das uns für immer verbindet. Ich habe entschieden, dich zu einer der Meinen zu machen. Ich habe dich zum Vampir gemacht." Es klang herrlich verworren. Vampir. Sofia wusste nicht einmal, was das bedeutete. "Das heißt, du bist kein Mensch mehr. Du bist unsterblich", erklärte Katerina weiter. Unsterblich. Kein Mensch. Sofia musste es sich durch den Kopf gehen lassen. Abwägen, ob sie nicht doch träumte. "Unfug! Was ist das für ein faules Spiel, das du mit mir treibst?" Wut begann in ihr zu brodeln. Konnte Katerina nicht die Wahrheit sagen? Sie schlug die Hände weg, die ihr Gesicht hielten. "Hab keine Angst, ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst." Sie klang überzeugend. "Das genügt jetzt!", fuhr Sofia sie an, schlug die Decke zurück und stand auf, "Ich will das nicht hören! Ich werde dieses Haus gemeinsam mit Alexander verlassen. Er wird mich mitnehmen, das hat er versprochen, also danke für alles, aber jetzt leb wohl." Sie stapfte zur Tür und riss sie auf. Im Flur brannten Kerzen. "Ich habe ihn längst weggeschickt ... letzte Nacht", gestand Katerina, als Sofia in den Flur trat. "Was?" Blankes Entsetzen verzerrte Sofias Gesicht. Katerinas niedergeschlagener Ausdruck verriet ihr, dass sie richtig verstanden hatte. Alexander war fort. Seit letzter Nacht. Sie hatte einen vollen Tag versäumt. Nie würde sie ihn noch einholen können. Zornig riss sie am Türgriff und wurde vom ohrenbetäubenden Aufeinandertreffen von Metall in die Knie gezwungen. Die Tür war zugeschlagen und hatte sie bis ins Mark erschüttert. Ihre Hände lagen schützend über ihren Ohren. Nie würde sie ihr das verzeihen. Niemals.   —   Ich blätterte um. Nichts. Die folgende Seite war blank. Sofia ließ mich rätselnd zurück. Ich klappte das Buch zu, betrachtete noch ein letztes Mal das kleine Datum auf der Rückseite, und löschte mein Licht. 10. Dezember 1603. 021 – Blut und Asche -------------------- "Ich habe dein Buch gelesen." Sofia zog an ihrer Zigarre. Es war eine knappe Woche her, dass ich es zu Ende gelesen hatte. "Das freut mich", antwortete sie. "Danke." "Wofür?" Sie wirkte überrascht. "Dass du mir das anvertraut hast." Ein sanftes Lächeln, dann legte sie ihr Buch beiseite und brachte mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit entgegen. "Ich fand es nur gerecht, dir einen Teil meines Lebens zu zeigen, wenn ich etwas über einen Teil deines Lebens erfahren möchte." Ein Tausch also. Es verwunderte mich nicht. Im Gegenteil, ich hatte erwartet, dass sie das sagen würde, alles andere hätte mich erstaunt. Dennoch wollte ich noch nicht darauf eingehen. "Mir war nicht klar, dass du gezwungen wurdest, ein Vampir zu werden." "Nun, das ist meist der Weg, den ein Vampir geht. Es ist unüblich, einen Menschen zu fragen, ob er interessiert ist." Sie ging auf meinen Themenwechsel ein. Ich hoffte, dass es dabei blieb. "Du warst sicher lange wütend auf Katerina." "Sehr. Sie hat über meinen Kopf hinweg eine gravierende Entscheidung getroffen. Aber im Nachhinein betrachtet bin ich ihr dankbar." "Wünschst du dir manchmal, dass es anders gekommen wäre? Dass Katerina dich mit Alexander hätte ziehen lassen?" Für mich wäre es nachvollziehbar gewesen. Sie hatte sich verliebt, hatte seine Frau werden wollen und Katerina war rücksichtslos dazwischen gegangen. Sofia lachte. "Nein, überhaupt nicht. Nicht mehr. Dieser Bastard hätte mich niemals zur Frau genommen. Das war der naive Wunsch einer jungen Frau. Er war nicht wirklich an mir interessiert, sonst wäre er geblieben." Die vielen Jahre hatten ihre Sichtweise verändert. Wohl auch, weil es anders nicht zu ertragen gewesen wäre. "Du hast Katerina verziehen?" "Selbstverständlich. Sie hat mir alles erklärt, die Regeln, und warum sie mich gewandelt hat. Nach ein paar Jahren konnte ich ihr verzeihen und nach ein paar Jahrzehnten konnte ich ihr wieder vertrauen." Sofias Heimlichtuerei war ein neckisches Zwicken, im Vergleich zu dem, was Katerina ihr angetan hatte. "Hast du mich deswegen gefragt, ob ich es möchte? Weil du mir das ersparen wolltest?" "Nicht ganz", sagte sie und sinnierte für einen Moment über den Rauch ihrer Zigarre, bevor sie weitersprach. "Ich überlasse dir diese Entscheidung, um mir den Zorn zu ersparen, den ich gegenüber Katerina hegte." Das klang überaus logisch. Ich konnte mir vorstellen, wie schwer es sein musste, mit jemandem zusammenzuleben, dessen Leben man zerstört hatte. Oder den man für die Zerstörung seines Lebens verantwortlich machte. "Verstehe. So ist es wohl für beide einfacher." Sie nickte. "Warum ist es dann unüblich?" Sofia setzte ein verschmitztes Grinsen auf. "Nun ... weil es gegen die Regeln ist." "Vampirregeln?" "Ja. Es gibt nur eine einzige oberste Regel und alle anderen dienen der Einhaltung dieser Regel. Sie besagt, dass die Existenz unserer Art vor den Menschen geheim gehalten werden muss." "Das heißt ..." "Das heißt, ich hätte dir nichts erzählen dürfen, solange du noch ein Mensch bist. Dasselbe gilt für Magdalena. Ihr seid Regelverstöße. Und Katerina hat sich an diese Regel gehalten." Wenn es nur diese eine Regel gab, so war ein Verstoß gewiss keine Kleinigkeit. "Wirst du dafür bestraft?", fragte ich vorsichtig. "Nein, schließlich weiß niemand davon." "Ezra?" "Er hat es Fay gesagt, damit ist er genauso schuldig und wir decken uns gegenseitig." Ich wagte nicht zu fragen, welche Strafe darauf stand. Und wenn Menschen nichts über die Vampire wissen sollten, so mochte ich mir nicht ausmalen, was mit mir geschehen würde, sollte jemand davon erfahren. "Du musst dir keine Sorgen machen", versicherte sie, "solange du niemandem erzählst, was du weißt, droht keine Gefahr." Ich nickte knapp und bemühte mich, ruhig zu bleiben. Magdalena war seit zwanzig Jahren bei ihr und bisher war nichts geschehen. Es gab keinen Grund, sich deswegen verrückt zu machen. "Megan?" Ich löste meinen starren Blick von der Tischplatte. "Ja?" "Ich würde mich freuen, wenn du irgendwann kein Regelverstoß mehr wärst ... aber, bevor du irgendeine Entscheidung triffst, möchte ich, dass du deine Geschichte aufschreibst." "Ist das deine Bedingung, dass ich bleiben darf?" "Keine Bedingung. Ein Rat." "Dann danke." Ich zögerte. "Aber ich weiß nicht, ob ich es kann und ob ich überhaupt möchte." "Warum nicht?" "Es ist nicht einfach irgendeine Geschichte, weißt du?" "Das weiß ich." Sie sah mich verständnisvoll an. "Aber bitte überleg es dir." "Ist gut ... ich werde es mir überlegen, ich kann dir aber-" Man unterbrach mich: "Megan!" Ezra stand in der Tür. "In den Keller. Jetzt!" Ich sah ihn überrascht an, als er sich dreist in unsere Unterhaltung einmischte und ohne Entschuldigung wieder verschwand. Sofia schmunzelte. "Wir können später weiterreden", sagte sie und schlug das Buch auf, das sie zuvor beiseitegelegt hatte. Noch etwas sprachlos erhob ich mich von meinem Platz und verließ die Bibliothek, um Ezra in unserem Trainingsraum zu folgen. War es schon so spät? Hatte ich die Zeit vergessen? Am anderen Ende des Raums brannte eine einsame Lampe, als ich eintrat. "Ezra?" Keine Antwort. Stattdessen fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Ich drehte mich um. Dunkelheit. Das Licht des Flurs war ausgesperrt und die Lampe warf wenig Licht in den Raum. "Ezra, was wird das?" Wieder Stille. Hatte er mich eingesperrt? Ich atmete seufzend aus und fragte mich, womit ich ihn verärgert hatte, während ich die wenigen Schritte zurück zur Tür ging. Meine Hand fand die Klinke und Ezras Arm mit Nachdruck meinen Rücken. Es drückte mir die Luft aus den Lungen und hallte schmerzvoll in meinem Kopf, als ich gegen die metallene Tür schlug. "Du wirst bleiben", knurrte er in mein Ohr. Klang nicht, als würde er mit sich reden lassen. Ich gab mir Mühe, das Dröhnen hinter meiner Stirn zu ignorieren und spürte, wie er seinen Unterarm von meinem Rücken nahm. Mir wurde leichter um die Brust, ich holte Luft und stieß sie mit einem erschrockenen "Hey" wieder aus, als er mir in die Haare griff und mich hinter sich herzog. Fort von der Tür. Zur Mitte des Raums. Ich versuchte seine Hand zu greifen, um mich zu befreien. Aussichtslos. "Welche Laus ist dir bitte über die Leber gelaufen? Lass los, das tut weh!", schimpfte ich. Er antwortete nicht und warf mich mit Schwung in den Sand zu seinen Füßen. So hatte noch keine unserer Trainingseinheiten begonnen. Das schwache Licht der Lampe offenbarte mir eine – selbst für Ezras Verhältnisse – außergewöhnlich granitartige Miene. Ich konnte nichts daraus lesen und er ließ mich nicht raten. Sein Bein schwang in meine Richtung, als ich mich aufsetzte. Ich riss die Arme nach oben, um mein Gesicht zu schützen und wurde von der Wucht seines Angriffs zurück in den Dreck geworfen. Keine Sekunde verging, bis ich eilig zur Seite rollte, seinem nächsten Tritt auswich und mich hastig auf die Beine stellte. Unter seinem Faustschlag hinweggeduckt, wechselte ich meine Position, um aus der Schussbahn zu kommen. Sein Kinnhaken saß. Ich war zu langsam und mein Kiefer pochte. Reiß dich zusammen! Tu etwas! Ich musste mich fokussieren. Über das Warum konnte ich mir später Gedanken machen ... falls Ezra davon absehen würde, mich in meine Einzelteile zu zerlegen. Momentan schien das sein Ziel zu sein. Der Luftzug seiner Faust streifte mein Gesicht, ich wich zur Seite und machte schmerzliche Bekanntschaft mit seinem Schienbein, das gegen meine Rippen prallte. Ich biss die Zähne zusammen, bis mir das lästige Pochen wieder einfiel, das meinen Kiefer befallen hatte. Für eine Sekunde lenkte es mich ab, genug für Ezra, um seine steinerne Faust in meinem Gesicht zu schlagen. Als hätte er mir die Nase direkt ins Hirn gerammt. Der dumpfe Schmerz erfasste jeden Winkel meines Kopfes und trieb mir Tränen in die Augen. Ich taumelte zurück. Paukenschläge hallten zwischen meinen Ohren, es pulsierte. Kein glorreiches Ende, kein guter Tag und gewiss eine Trainingsstunde, von der ich noch länger etwas hatte. Eine gebrochene Nase. Leise fluchend stand ich dort und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ. Ich hörte nichts, sah nichts und verlor für einen Moment meine Fassung, als ich gewaltsam zu Boden gerissen wurde. Von den nackten Wänden hallte mein entsetzter Aufschrei wider. Es war noch nicht zu Ende. Ich wollte liegen bleiben, doch Ezra ließ mich nicht. Er griff mein Bein und hob mich empor. Mein Kopf stand kurz vor der Explosion. Lange würde es nicht dauern, bis mein Bewusstsein mich verließ. "Du bist so erbärmlich." Nicht die Worte, die ich zu hören gehofft hatte. "Ich weiß", keuchte ich hervor. "Jetzt lass mich bitte runter. Du hast längst gewonnen."  "Gewonnen." Er sagte es mit solcher Verachtung, dass ich mich noch schlechter fühlte als ohnehin schon. Dann senkte er den Arm und ich näherte mich dem Boden. Ehe ich ihn berührte, riss Ezra mich herum und ich flog durch den Raum wie eine Puppe durch ein Kinderzimmer. Nichts anderes war ich für ihn. Eine Puppe. Nur wollte ich das nicht sein. Ich fiel zu Boden und rollte mich ab, um sofort wieder auf die Beine zu kommen. Das Blut lief in Strömen aus meiner Nase. "Mistkerl!" Er blies abfällig die Luft aus seinen Lungen, kam auf mich zu und ich trat zurück. Seine Schritte waren langsam, es sah nicht aus, als wollte er angreifen und doch war ich sicher, dass er keine guten Absichten hegte. Auf halber Strecke lüftete er sein Geheimnis. Er griff mit beiden Händen hinter seinen Rücken und stand einen Wimpernschlag später direkt vor mir. An meiner Kehle eine Klinge. Ein Messer. Die Spitze auf meinen Hals gerichtet. Ich war erstarrt. "Ich bin es leid", sagte er und ich begriff, dass das Training vorbei war. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und gab mir Mühe, meine Stimme furchtlos klingen zu lassen. "Was?", fragte ich, "Was bist du leid?" Eine dunkle Vorahnung wand sich durch meinen Kopf. Ich wusste, was er sagen würde. Ich hatte es von Anfang an geahnt. "Dich. Es hat keinen Sinn mit dir. Sofia wird es nie verstehen und ich habe keine Lust meine Zeit noch länger mit dir zu verschwenden!"." "Willst du es jetzt beenden?" "Ja." Alles in mir gefror. Er wollte einen Schlussstrich ziehen. Jetzt. Hier. Und ich hatte kaum eine Chance gegen ihn. Meine Glieder waren starr vor Angst, mein Hirn war leer und sein "Ja" hallte durch meine Gehörgänge. War das das Ende? Gab es einen Ausweg? Ich wusste es nicht. Ich wusste nichts. Ich spürte die kalte Klinge an meinem Hals und wusste nur eins: Ich wollte nicht sterben. Nicht kampflos. Ezra gab Druck auf das Metall – es fühlte sich an wie ein Nadelstich – dann riss ich mein Bein nach oben, um ihn fortzustoßen. "Versuch's mal!", brüllte ich ihm entgegen und bereitete mich auf seinen nächsten Angriff vor. Er kam. In beiden Händen blitzten scharfe Klingen, die nach meiner Haut lechzten. Er wollte mir wehtun, sonst hätte er mir mit dem kleinen Finger das Genick gebrochen. Sollte er kommen, ich war bereit. Ezra war unheimlich schnell. Ich konzentrierte mich auf seine Hände. Eine davon flog auf mich zu, ich wartete, bis er nah genug war, sprang ihm entgegen, unter seiner Hand hindurch, und schlug meine Faust auf seinen Kehlkopf. Er keuchte erstickt, als ich mich zu Boden fallen ließ, um einem Gegenschlag zu entgehen. Hinter ihm kam ich auf die Beine, das dachte ich, bis sein Fuß meine Ohren klingeln ließ. Ich sackte zur Seite. Das Bild vor meinen Augen verschwamm, also blinzelte ich einige Male und fiel nach hinten. Knapp unter Ezras Messerschwung hinweg. Mit beiden Beinen stieß ich ihn von mir. Ich kroch ein Stück durch den Sand, mir war schwindelig, hob mich auf die Knie und hörte den Windzug, der auf mich zukam. Die Muskeln meiner Beine waren gespannt, ich sprang in die Luft. Höher als jemals zuvor. Ezras Angriff ging ins Leere. Ich fiel auf ihn hinab und donnerte mein Knie gegen seinen Kopf. Er riss mich mit sich, als er sein Gleichgewicht verlor und beißende Schmerzen rannten über meinen Schenkel. Ich schrie. Es waren die höllischsten Qualen, die ich in meinem gesamten Leben hatte ertragen müssen. Das Messer steckte bis zum Griff in meinem Fleisch. Mein Körper war zum Zerreißen gespannt, ich wusste weder vor noch zurück und mein Gegner kannte keine Gnade. Er schickte mich mit einem festen Tritt in die Luft. Ich landete unsanft auf dem Rücken, die Finger zu eisernen Fäusten zusammengepresst. Gefangen im eigenen Körper, der unfähig war, sich noch länger zur Wehr zu setzen, erwartete ich Ezras nächsten Schlag. Ich hörte seine Schritte im Sand. Er griff nach mir. Packte meinen Hals und hob mich hoch. Zwischen meinen Tränen erkannte ich sein Gesicht. Es war kalt. Er war entschlossen, dieses Kapitel zu beenden und ich war ein Wrack, das keinem Sturm mehr trotzen konnte. Ich war so kurz davor, es zu akzeptieren. Mich einzufügen in mein Schicksal. "Das ist also das Ende?", fragte ich. Ein letzter Versuch. "Es war längst überfällig." "Hat Sofia dir endlich die Erlaubnis erteilt?" Schweigen. Ich konnte es nicht deuten. Mir blieb nur noch meine Wut. "Du hast mir so viel beigebracht und jetzt hast du plötzlich keine Lust mehr? Ich weiß, dass es dich ungemein langweilen muss, aber ..." Ich nahm meine letzte Kraft zusammen. "... das gibt dir nicht das Recht, mich zu Tode zu quälen!" Die Partie um seine Augen zuckte kurz, als ich ihm das Messer aus meinem Bein zwischen die Rippen jagte. Seine Hand an meinem Hals spannte sich. "Nett. Aber zu tief, Megan." "Findest du?" Ich drückte den Griff meiner Waffe nach unten. Ezra zuckte wieder, ich konnte sehen, dass das scharfe Metall ihm Schmerzen bereitete, dann ließ er mich los und ... lächelte. Tat er das, oder träumte ich? Meine Beine gaben nach und ich sank auf den Boden. Ezra lächelte. Er wirkte zufrieden und zog das Messer aus seiner Brust. Sein Hemd tränkte sich mit Blut und er wandte sich von mir ab, wie nach einer gewöhnlichen Trainingsstunde. "Ich werde dir Magdalena herunterschicken", sagte er und ging zur Tür. Ich war sprachlos. Vor wenigen Sekunden hatte er mich umbringen wollen und jetzt? "Ezra!" Er blieb nicht stehen, sagte kein Wort und öffnete die Tür. Erst dann antwortete er: "Sei stolz auf dich, du hattest mich ... und ich hoffe, du fühlst dich jetzt besser." Besser? Ich fühlte mich schrecklich. Jede Faser meines Körpers schmerzte, ich konnte kaum noch sehen, meine Nase war gebrochen, mein Schädel dröhnte, mein Bein und mein Gesicht waren blutüberströmt ... ich war am Ende. Doch konnte ich nicht leugnen, dass ich, neben all der Erleichterung über den überraschenden Ausgang unseres Kampfes, froh über meine Entscheidung war, Ezra die Stirn geboten zu haben. Er hatte mich durch die Hölle geschickt, mich noch einmal an die Klippe gestellt und es nicht geschafft, mich hinunterzustoßen. Ich hatte es nicht zugelassen. 022 – Renaissance ----------------- Wie versprochen, hatte Ezra Magdalena zu mir geschickt, um mich wieder zusammenzuflicken. Mein Zustand ließ ihr sämtliche Farbe aus dem Gesicht weichen. "Mein Gott! Kind, was hat er bloß mit dir gemacht?" Mir war nicht nach Antworten. Ich nickte knapp, als sie mich fragte, ob ich mich ein Stück bewegen könnte, und ließ mich auf die Decke fallen, die Magdalena für mich ausgebreitet hatte. "Das ist wirklich unfassbar!", schimpfte sie und öffnete die hölzerne Kiste, in der sie das Verbandszeug aufbewahrte. "Dieser miese Hund! Verbrennen sollte man ihn!" Hätte es nicht so sehr wehgetan, hätte ich über Magdalenas Flüche geschmunzelt. Sie war völlig außer sich, das kannte ich von ihr nicht. "Hier, schluck das." Sie steckte mir einen Löffel in den Mund und begann gleich danach, mein Bein abzubinden, während ich mit einem feuchten Tuch vorsichtig mein Gesicht unterhalb der Nase reinigte. "Später werde ich das nähen", erklärte sie. "Magda ... mir ist übel." Sie rutschte ein Stück herauf und musterte mich seufzend. "Das könnte vom Morphium kommen ... allerdings glaube ich eher, dass dein Kopf sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Halt noch etwas aus, gleich wird es besser." Es dauerte noch eine halbe Ewigkeit, in welcher sie mich vorsichtig abtastete und ich mit meinem Mageninhalt kämpfte, dann wurde es erträglicher. Ich fühlte mich leichter, die Schmerzen wurden weniger und meine Laune war überraschend gut, dafür, dass mein Bein mit Nadel und Faden geflickt werden musste. "Ich hab ihn erwischt!", verkündete ich stolz, nachdem Magdalena mich in mein Bett verfrachtet hatte. "Wen? Ezra?" "Jep. Ich war fast erledigt, aber dann!" Bedeutungsvoll reckte ich meinen Zeigefinger in die Luft. "Dann hab ich ihm das Messer in die Brust gerammt. Und ich hab sein Herz getroffen!" Magdalena saß auf meiner Bettkante und lächelte. "Das hatte er auch verdient." "Ganz genau!" Ich grinste vergnügt. "Er hat mich ziemlich schlecht behandelt." "Ja und dafür wird er noch seine Strafe bekommen." "Hat er doch." "Ich meine von Sofia." "Sofia wird ihn bestrafen?" "Ich bin mir sicher, dass sie dieses Vorgehen nicht gutheißen wird." Noch immer war das Grinsen fest in mein Gesicht gemeißelt. Trotzdem musste ich widersprechen. "Ahh, nein nein nein ... schon in Ordnung. Sie muss ihn nicht bestrafen. Er hat's nicht böse gemeint ... glaube ich." Ein mildes Lächeln legte sich über Magdalenas Lippen. "Na schön, aber jetzt ruh dich aus. Ich werde in ein paar Stunden nochmals nach dir sehen." "Vielen Dank." —   Die nächsten Tage stand ich unter Dauermedikation. Ich war high – mal mehr, mal weniger – und es ging mir gut. Unangenehm wurde es erst, als Magdalena das Morphium allmählich absetzte. Den Rest musste ich ohne das Schmerzmittel schaffen, hatte sie gesagt. Die verordnete Bettruhe hatte mir viel Zeit zum Nachdenken gegeben. Sehr viel Zeit und ich glaubte zu wissen, was Ezra hatte bewirken wollen, wenn auch auf eine äußerst fragwürdige Weise. Ich musste endlich aufstehen. Vorsichtig schob ich die Decke zurück. Ich spürte den Druck auf meinen Rippen – sie waren grünlich blau – und zwang mich in eine aufrechte Position. Meine Atmung war eingeschränkt, aber ich konnte nicht länger im Bett bleiben. Langsam schlich ich hinüber an meinen Schreibtisch. Es juckte seit Tagen in meinen Fingern. Aus dem Schubfach zu meiner Linken nahm ich ein paar beschriebene Seiten und begann sie aufmerksam zu lesen. So ein Schwachsinn! Noch bevor ich die erste Seite beendet hatte, fielen die Blätter viergeteilt in meinen Papierkorb. Auf diese Weise konnte ich das nicht schreiben. Auf diese Weise würde ich es nie schreiben können, also begann ich von vorne. Kapitel 1: Falsches Blut. Ich widmete es Elizabeth und war wild entschlossen, mich diesmal nicht von den Erinnerungen überwältigen zu lassen.   Stunden später, so vermutete ich, spürte ich sanfte Hände auf meinen Schultern. "Ist alles in Ordnung?", fragte Sofia. "Ja, warum nicht?" "Dein Herz schlägt sehr schnell ." Ich nahm meine Hände von der Schreibmaschine und lehnte mich zurück. "Es geht mir gut. Ich bin nur wütend." "Worauf?" "Elizabeth, meine Stiefmutter. Und auf meinen Vater, auf mich selbst, auf alles irgendwie." "Verstehe." Sie nahm die Seiten, die ich in den letzten Stunden geschrieben hatte, und betrachtete sie kurz. "Woher der Sinneswandel?" Ich zuckte mit den Schultern. "Es war längst überfällig." "Wohl wahr." Sofias Miene war beherrscht. Keine Anzeichen überschwänglicher Freude über meinen Entschluss. "Mute dir nicht zu viel auf einmal zu." "Das versuche ich ... aber es ist leichter gesagt, als getan." Momentan bewegte ich mich auf einem schmalen Grat, ziemlich kühl und unaufgeregt. Ein Schritt nach rechts, und ich stand vor Wut in Flammen, links ertrank ich in Trauer. Sofia strich mir noch einmal über die Schultern, dann holte sie sich den Stuhl neben meinem Bett und setzte sich zu mir. "Darf ich es lesen?", fragte sie und ich nickte. Während sie las, starrte ich unwillkürlich Löcher in meine Wand. In mir herrschte ein Auf und Ab an Gefühlen, nur zeigen wollte ich sie nicht. "Das ist sehr nüchtern geschrieben." Ich wandte meine Blicke zurück zu Sofia, die mich sorgenvoll ansah. "Ja, weiß ich." "Weshalb ist das so?" "Es ist der erträglichste Weg." Ob es der richtige Weg war, das galt es herauszufinden. Sofia las noch einige Zeilen, bevor sie die Blätter in ihrem Schoß bettete und wieder das Wort ergriff: "Ich glaube nicht, das es so funktionieren wird." "Was meinst du? Ich versuche, es so ordentlich wie möglich zu schreiben." "Wie willst du damit abschließen, wenn du die ganze Zeit über versuchst, dich nicht hineinziehen zu lassen?" Sie stellte es sich so einfach vor. Was sollte ich ihrer Meinung nach tun? "Soll ich mich so tief hineinstürzen, dass ich zerbreche?" Mein Ton war lauter geworden. Aggressiver. "Wenn es das ist, was nötig ist, damit du heilen kannst", gab sie mir ruhig zur Antwort. Ich schnaubte entnervt. "Das ist lächerlich." "Überhaupt nicht." Sie ließ nicht mit sich reden. Ich wusste genau, was sie erwartete. Ich sollte die Geschichte so schreiben, wie ich sie erlebt hatte. Mit allen Gefühlen, die ich empfunden hatte. Eine Aufgabe von monströsem Ausmaß, von der ich nicht wusste, ob ich sie bewältigen konnte. Im Moment wollte ich das nicht einmal. "Es war ein Rat", fuhr ich fort. "Ich muss das hier nicht tun. Und wenn ich es tue, dann so, wie ich es will." Sofia nickte. "Und ich gebe dir nur weitere Ratschläge." "Danke, aber ich brauche sie nicht", gab ich knapp zur Antwort und musterte ihr verständnisvolles Gesicht. Sie tat nur so. Ich war mir sicher, dass dieses Verständnis nur Fassade war. Am liebsten hätte sie mich wohl zusammengestaucht, weil ich undankbar war, auch wenn sie dieses Bedürfnis gut zu verbergen verstand. Wir sahen uns schweigend an. Würde sie gleich mit einem weiteren weisen Ratschlag auftrumpfen, oder würde sie es einsehen und mich weiterarbeiten lassen, wie ich es wollte? Vorerst vielleicht, bis sie eine gute Gelegenheit fand, mich erneut von ihrer Meinung zu überzeugen. Ihre Geduld war beeindruckend. Sie schien auf irgendetwas zu warten, während sie dort saß. In den letzten Wochen hatte sie mich oft so angesehen. Sie hatte viel Zeit mit mir verbracht. Wir hatten über allerlei gesprochen, während ich meine Verletzungen auskuriert hatte. Zuweilen belanglose Dinge. So wusste ich zum Beispiel, dass sie bereits mehrfach quer durch Asien und Europa gereist war. Dass sie ein Faible für nordische Mythologie hatte und außerdem neben Hunden auch unheimlich auf Bären stand, nur war deren Freiheitsdrang zu groß, als dass man sie als Haustier halten konnte. Nach einer Weile war sie mir beinahe normal vorgekommen. Ich sammelte mich kurz und entschied, etwas gegen die Stille zu unternehmen. "Sofia, ich ... ich bin nicht einmal dort, wo die Erinnerungen noch frisch sind. Dieses Kapitel ... sein Inhalt liegt weit über zehn Jahre zurück und trotzdem wühlt es mich auf, als wäre es gestern gewesen." Ich krallte die Finger in meine Oberarme. "Und du sagst das so, als ob es eine Kleinigkeit wäre." Sie schüttelte den Kopf. "Ich weiß, dass es keine Kleinigkeit ist. Und ich weiß auch, dass es Zeit braucht. Jetzt hast du diese Zeit, nimm sie dir. Stürze dich hinein, weine, sei wütend und dann schließe damit ab." Ich dachte einen Moment darüber nach. Ihr Vorschlag war wahnsinnig. Wenn ich nur daran dachte, was mich erwartete, wenn ich erst dort ankommen würde. Dort, wo mein Abstieg begonnen hatte. Wo ich mich verliebt hatte und mir der Boden unter den Füßen hinfort gezogen wurde. "Es ist schwer ...", flüsterte ich und blinzelte eilig. "Natürlich ist es das. Und das macht es nur umso wichtiger." Sie griff meine Hand und strich mit dem Daumen darüber. Das war's. Sofia hatte den Damm gebrochen und mir liefen Tränen übers Gesicht. Hätte sie mich nur nicht berührt. "Ich will überhaupt nicht heulen!", fluchte ich schluchzend. "Ich hasse das!" "Es ist in Ordnung." Ihre Stimme war wie Seide und gab meinen Tränen nur mehr Bestätigung. "Das ist es nicht." Ich schluckte schwer. "Nichts von all dem Elend ist es wert, noch länger darüber zu trauern! Ich will das nicht mehr!" Ich musste ein überaus widersprüchliches Bild abgeben. Je mehr ich mich dagegen sträubte, desto schlimmer wurde es. Meine Versuche, ruhig zu atmen, scheiterten, als Sofia mich plötzlich hochzog und fest in die Arme schloss. Meine geprellten Rippen stachen und ich wusste nicht mehr wohin mit mir, also hielt ich mich an ihr fest und ließ zu, was sie ohnehin von mir erwartete: Ich weinte und nichts auf der Welt würde mich trösten können. Zumindest nicht in den nächsten Minuten. So aufgelöst war ich das letzte mal gewesen, als ... ja, wann überhaupt? Als Christina mich endgültig verlassen hatte? Nachdem der Schuster mich überfallen hatte?  Wahrscheinlich. Nur war es diesmal ein wenig anders. Ich fühlte den Schmerz wie damals, heulte wie damals und dennoch hatte ich keine Angst, zu fallen. Sofia hielt mich fest. Ich war nicht allein mit meinem Kummer. "Es war ungerecht ...", brachte ich nach einer Weile hervor. "Was war ungerecht?" "Was sie mit mir gemacht haben. Alle. Es war nicht fair! Ich bin nicht deren Spielball!" "Das bist du gewiss nicht. Du bist niemandes Spielball." Richtig. Das war ich nicht. Jedenfalls nicht mehr. Ich klammerte mich noch ein paar Minuten an Sofia und die verzehrende Trauer, ließ es so lange zu, bis es langsam von allein verebbte. Während ich mich allmählich beruhigte, fiel mir auf, wie wunderbar weich Sofias Brust war und wie gut sie roch. Ihre Nähe war angenehmer, als ich es mir vorgestellt hatte. In meiner Fantasie war sie nicht derart zart gewesen, eher kantig und streng, weniger warm. Ich war froh über diese positive Überraschung und genoss es noch, solange es ging. Sofias Hand lag tröstend auf meinem Kopf. Als sie sie löste, umfasste ich sie fester. "Können wir noch einen Moment so stehen bleiben?", fragte ich. Ich war nicht bereit, wieder losgelassen zu werden. "Sicher." Es lag unüberhörbare Freude in ihrer Stimme. Wahrscheinlich war ich nicht die einzige, die in dieser Nacht einen großen Schritt vorangekommen war. Ich hielt sie fest, so lange, bis es merkwürdig wurde. "Danke, das hatte ich gebraucht." Sie lächelte, umfasste mein Gesicht mit ihren Händen und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. "Ich auch, glaub mir." Dann ging sie zur Tür. "Und wenn du später aufwachst, wird es dir noch um einiges besser gehen. Ich wünsche dir eine gute Nacht." Damit verschwand sie. Mein Blick fiel auf die Uhr, es war wieder einmal spät geworden. Früh, vielmehr und ich war unheimlich müde. Diese Weinerei war furchtbar und anstrengend.   —   Wie angekündigt, erwachte ich in völliger Klarheit. Ich betrachtete die tanzenden Lichtpunkte, die an meiner Wand herumwirbelten. Ein Sonnenstrahl, der sich in der Glaskaraffe brach, die auf meinem Nachttisch stand. Ein hübsches kleines Spektakel. Als ich es lange genug beobachtet hatte, warf ich meine Decke zurück, riss mein Fenster auf und sog die herrlich warme Luft ein. "Au! Verdammt!" Durch meine Brust bohrte sich ein tiefer Stich. Die Rippen. Ich musste langsam machen. Von meinem Zimmer aus, konnte ich in den hinteren Garten blicken. Die Hunde waren dort. Yasha jagte irgendetwas, wahrscheinlich eine Biene, und Isaak sah ihm dabei zu. "Yasha! Nein! Du tust dir noch weh", rief ich ihm zu. Er hielt an und blickte erschrocken zu mir hoch. So interpretierte ich es zumindest. Nachdem ich den großen Wildfang vor Schlimmerem bewahrt hatte, verschwand ich im Badezimmer. Mein Gesicht war noch voller Salz und die Haut spannte darunter. Es war an der Zeit mein Äußeres dem Inneren anzupassen, also gönnte ich mir ein langes, ausgiebiges Bad, um mich wieder rundum frisch zu fühlen. Als ich fertig war, war ich praktisch ein neuer Mensch. So kam es mir vor. Ich verbrachte die nächsten paar Stunden draußen bei den Hunden. Magdalena umsorgte mich mit Speisen und Getränken und war verblüfft über meine neu gewonnene Ausgeglichenheit. Beinahe ebenso sehr, wie ich selbst. "Es ist schön, dich endlich so zu sehen." "So? Entspannt?", fragte ich nach und nahm Yasha den Ball ab, den er mir brachte. "Ja, ich habe jeden Tag gehofft, dass es endlich so weit wäre. Du hattest so lange diese dunklen Wolken über deinem Kopf." "Das stimmt wohl ..." Der Ball in meiner Hand war nass und klebrig. Yasha und Isaak warteten gespannt. Ich wandte mich Magdalena zu, die sich neben mich auf die Bank gesetzt hatte, und fuhr fort: "Es war nicht leicht, sie ziehen zu lassen. Wahrscheinlich habe ich mich auch ein wenig dahinter versteckt." "Hauptsache, du weißt jetzt, dass das nicht mehr nötig ist." Das wusste ich. Aber vor allem wusste ich, dass es mich nur in der Vergangenheit festgehalten hatte und dort wollte ich weiß Gott nicht bleiben. "Was hast du jetzt vor?", fragte sie weiter. "Ich werde mein Buch schreiben." "Und ... dann?" Mir war klar, was sie wissen wollte. "Darüber muss ich noch nachdenken. Im Moment bin ich noch nicht bereit, das hier aufzugeben." "Das hier?" Ich hob den Ball auf Augenhöhe und die Hunde waren sofort wieder auf Empfang. "Das. Draußen in der Natur zu sein. Sonne, Schmetterlinge, Bienen, die Vögel. Ich liebe das alles." Magdalenas Gesicht verriet mir, dass sie ebenso empfand. Bevor die Hunde nun völlig den Verstand verloren, erlöste ich sie, und rollte den Ball durch den Garten. Werfen war noch nicht drin. Die beiden preschten hinterher. "Ich würde es nie wieder zurückbekommen", fügte ich hinzu. "Und ich wäre die Letzte, die dir dazu raten würde, es fortzuwerfen. Ich bin froh, dass du so denkst." Ein wenig überraschte sie mich mit ihrer Reaktion. "Ich dachte, du wärst auf Sofias Seite", gestand ich und lächelte ihr erleichtert entgegen. "Das bin ich. Aber ich bin eben auch ein Mensch und weiß um die Vorzüge dieses Lebens. Ich würde nicht wollen, dass du eine solch schwerwiegende Entscheidung triffst, ohne dir ausreichend Gedanken darüber zu machen." "Keine Sorge, das wird nicht passieren. Ich neige nicht dazu, mir keine Gedanken zu machen." Wäre das Thema nicht so ernst, hätte sie gelacht. So begnügte Magdalena sich mit einem kurzen Grinsen und fuhr mit etwas weniger Ernstem fort: "Betty ist übrigens wieder aufgetaucht." "Ja? Wo war sie denn?" Sie zuckte mit den Schultern. "Wissen wir nicht. Sie stand plötzlich vor der Tür. Wirkte ziemlich verschreckt, aber sie ist wohl auf." "Das trifft sich sehr gut!" "Wieso?" "Ich wollte mit Ezra sprechen. Seit er mich vor drei Wochen zusammengefaltet hat, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Und da Betty wieder da ist, wird seine Laune hoffentlich gut sein." "So gut sie eben sein kann, nehme ich an." "Das genügt mir." Ich schmunzelte vergnügt und hob den Ball auf, den Isaak mir vor einer gefühlten Ewigkeit vor die Füße gelegt hatte. 023 – Zerstreuung ----------------- Sieben verdammte Tage. So lange hatte es gedauert, bis ich Ezra endlich zu fassen bekam. Jedes Mal, wenn ich mich zu Sonnenuntergang vor seinem Zimmer eingefunden hatte, kam er nicht heraus, ging zügig an mir vorbei, oder hatte irgendeinen Grund, jetzt nicht mit mir reden zu können. Es nervte. Nach einer Woche wurde es mir zu dumm. Es würde ewig so weitergehen, wenn ich nichts tat, also ergriff ich meine Chance und packte ihn am Arm, als er einmal mehr an mir vorbeigehen wollte. "Warte!", bat ich ihn um seine Aufmerksamkeit. "Ich will nur kurz mit dir reden. Bitte." Er seufzte genervt und wand seinen Arm aus meinem Griff. "Gut. Kurz. Was willst du?" "... Können wir uns irgendwohin setzen?" "Sag einfach, was dein Problem ist." "Na du!" "Ich?", fragte er skeptisch. "Im Moment schon. Du gehst mir aus dem Weg und ich will wissen wieso." "Ich gehe dir nicht aus dem Weg." "Ach nein? Das ist das erste Mal in vier Wochen, dass wir mehr als zwei Worte wechseln." "Und?" "Nichts Und?", imitierte ich seinen Tonfall. "Ich habe mich entschieden, hier zu bleiben und ich werde das Gefühl nicht los, dass dir das nicht passt." "Stimmt." Seine eiskalte Ehrlichkeit war erschreckend. "Das gibst du einfach zu?" Ich war entsetzt. "Ja, es passt mir nicht. Aber das ist nicht dein Problem." "Na und ob!", protestierte ich. "Hast du mich deshalb so übel zugerichtet?" "Nein." Alles musste man ihm aus der Nase ziehen. "Warum dann?" "Um dir etwas klar zu machen." Auch diese Theorie hatte ich bereits mehrfach durchdacht und stark gehofft, dass es eine Lektion gewesen war, kein purer Hass. "Und was? Dass ich als Mensch schwach bin und lieber ein Vampir werden sollte? Dir gefällt es nicht, dass ich als Mensch deine Zeit verschwende, das meintest du doch, oder?" "Zweiteres ist korrekt. Ersteres nicht." Ezra hatte sich inzwischen gesetzt. Entgegen seines anfänglichen Widerstandes, auf die oberste Treppenstufe. Ich lehnte am Handlauf. "Was wolltest du dann damit erreichen?" "Dass du aufwachst." "Wie?" "Sofia hat mir erzählt, was du mit den Kerlen in der Stadt angestellt hast und obwohl du sie problemlos ins Jenseits hättest befördern können, warst du nicht fähig, deine geistige Schutzmauer abzubauen. Du warst noch immer in deiner verfluchten Opferrolle gefangen und ich war nicht willens zuzulassen, dass du dich wieder einigelst. Rückzug ist keine Option. Wenn du weiterkommen willst, musst du dich wehren.“ Dass das seine Absichten gewesen sein konnten, war mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Ich war beinahe sprachlos. "Ein riskanter Plan." "Es hat funktioniert, oder?" "Schon ... irgendwie. Trotzdem gefällt es dir nicht, dass ich bleibe? Ich verstehe nicht, warum du mir dennoch helfen willst." "Das musst du nicht verstehen." Ich sah ihn vorwurfsvoll an. Vielleicht konnte er es spüren, jedenfalls sprach er weiter: "Ich bin nicht begeistert davon, dass du nach wie vor nicht weißt, wohin du willst. Und ich helfe dir, damit du es erkennst." "Du wärst zufriedener, wenn ich kein Mensch mehr wäre?", deutete ich seine Erklärung. "Richtig." "Verstehe. Ich dachte mir schon, dass du mich nicht leiden kannst." Er schwieg einen Moment und widersprach schließlich: "Das habe ich nicht gesagt." "Aber ich nerve dich, oder?" "Das schon." "Wo ist da der Unterschied?" "Es ist ein gravierender Unterschied." Er legte eine kurze Gedenkpause ein. „Könnte ich dich nicht leiden, hätte ich dich längst beseitigt. Du hast mir bisher jedoch keinen Grund dafür gegeben. Dass du nervst, genügt nicht.“ Eine überaus überraschende Antwort von beunruhigender Natur. „Und … was müsste ich tun, damit es genügt?“ „Nicht wichtig. Ich kenne dich gut genug, um beurteilen zu können, dass es nie so weit kommen wird. Dazu wärst du nicht fähig.“ Es war befreiend, dass er das sagte. Die Anspannung fiel so schnell von mir ab wie sie gekommen war. Vielleicht hatte Fay recht und hinter dieser abweisenden Fassade steckte mehr, als man vermutete. "Wow", stieß ich schließlich voller Erleichterung aus. "Was?" "So viel hast du noch nie gesprochen. Und ... ich bin froh, dass du das gesagt hast." "Gewöhn dich nicht daran." "Werde ich nicht, keine Sorge." Er stand auf. "Gut, wir sind fertig." "Danke." Er winkte ab und ging die Treppe hinunter. Besser hätte unser Gespräch nicht laufen können. Ich war froh, denn hiermit konnte ich leben und meine Beklemmung über diese Situation löste sich auf. Nun war ich bereit. Ich musste mich der Vergangenheit annehmen und dort für Ordnung sorgen. Von mir aus konnte es losgehen. Ich war bereit, mich an die Schreibmaschine zu setzen und nahm mir die Zeit, die ich benötigte – wie Sofia es mir geraten hatte.   ꟷ Bis ich mit dem ersten Kapitel fertig war, hatte es – die mehrfache Überarbeitung mit eingerechnet – gute zwei Monate gedauert. Trotz all meiner Motivation war es schwierig gewesen. Immer wieder war ich abgedriftet. War wütend geworden, traurig, zu impulsiv, zu melancholisch und dann gefiel mir das, was ich zuvor geschrieben hatte, überhaupt nicht mehr. Mehrere lange Pausen waren die Folge gewesen. Ich stand vor Sofias Zimmer, klopfte und wartete. "Komm herein!", kam die Antwort. Ich hatte diesen Raum zuvor noch nie von innen gesehen. Er war groß, üppig und auch hier reihten sich unzählige Bücher in Regalen aneinander. Sofia saß an einem gigantischen Schreibtisch und blätterte sich, mit einem Glas Wein in der Hand, durch einen Stapel Manuskripte. "Ich wollte dir das hier geben", erklärte ich meinen Besuch und hielt das erste Kapitel meiner Geschichte hoch. "Wahrscheinlich muss ich es noch einmal überarbeiten. Ich bin nicht sicher." Sofia streckte ihren Arm in meine Richtung. "Lass mich sehen." Ich reichte ihr die paar Seiten und war kurz davor zu gehen, doch Sofia schob mir stattdessen einen Hocker vor die Füße. Ich nahm Platz und ließ meine Blicke durch ihr Zimmer streifen. In meiner Vorstellung hatte es anders ausgesehen. Unheimlicher, eher wie eine Gruft, doch das tat es überhaupt nicht. Ein paar Lampen erhellten den Raum. Ein großes Bett, ein Kleiderschrank, Regale, Schreibtisch, Kommode, ein paar Bilder. Ähnlich meinem Zimmer, nur größer und mit viel mehr Büchern. Über ihrem Schreibtisch hing das Gemälde einer elegant gekleideten Frau. Ich vermutete, dass es Katerina war, wie Sofia sie in ihrem Buch beschrieben hatte. "Das ist gut", ließ sie nach der zweiten Seite verlauten. "Ich war nicht sicher, weil ..." "Nein, das ist sehr gut. Wehe, du überarbeitest es." "Danke. Das freut mich." Sofia schob mir ihr Glas zu, las weiter und ich wartete, bis sie fertig war. Mein Kapitel endete mit der letzten Umarmung, die ich von meinem Vater erhalten hatte, bevor ich ins Kloster gegangen war. Es war ein langes Kapitel. "Du liebst ihn sehr, nicht wahr?" Ich zuckte mit den Schultern. "Er ist mein Vater und er war immer gut zu mir. Dass er mich fortgeschickt hat, kann ich ihm nicht verübeln. Er wusste es nicht besser und wollte, dass es mir gut geht. Er konnte nicht ahnen, dass meine Reise mich so weit hinab führen würde. Ihn trifft keine Schuld." Sofia nickte. "Das ist sehr weise." "Ja ... nein, ist es nicht. Es ist einfach nur ein Gefühl. Ich konnte nicht länger wütend auf ihn sein. Das hätte er nicht verdient." Sie lächelte und füllte das Weinglas auf, das ich in Händen hielt. Der Wein war besser geworden. Dann reichte sie mir das Kapitel zurück. "Bewahre es gut auf." "Möchtest du es nicht?" "Du schreibst das nicht für mich, Megan. Also muss ich es nicht besitzen. Bring mir das zweite Kapitel, sobald es fertig ist." "Das werde ich." Ich nahm noch einen Schluck Wein, gab ihr das Glas zurück und verschwand mit dem Kapitel zurück in mein Zimmer. Ein wenig war ich froh, dass Sofia diese Seiten nicht behalten hatte. Obwohl ich entschlossen war, meiner Vergangenheit keine Furcht mehr zuzugestehen, und offen damit umzugehen, war es beruhigend, zu wissen, dass Sofia nicht darauf bestand, sie zu behalten. Ich platzierte den Stapel sorgfältig in meiner Schreibtischschublade und spannte neues Papier in die Maschine. Kapitel 2: Gebet. Ich tippte drei Zeilen und verharrte. Die ersten Monate im Kloster, die langen Nächte, in denen ich meinen Vater verteufelt und vermisst hatte. Ich erinnerte mich an die Verzweiflung über meine unabänderliche Lage. Wie oft ich dafür gebetet hatte, dass Vater mich zu sich zurückholte. Meine Finger weigerten sich, weiterzuschreiben. Ich war wieder dort. Ich roch den Weihrauch, hörte die Gebete der Nonnen, ein monotones, fremdartiges Aneinanderreihen von Worten, ihre Gesänge, die Glocke. Wie schwere Sandsäcke hängte sich die Erinnerung an mich. Sie lähmte mich, weil ich wusste, wohin es führen würde und ich war noch nicht bereit dafür. Bevor ich Christina erneut in mein Leben lassen würde, musste darüber nachdenken, musste mich wappnen, um es niederschreiben zu können, und zuerst musste ich mir eine Auszeit von all der Negativität gönnen. Der Sommer war bald vorbei und ich war nicht bereit die letzten schönen Tage im Oktober damit zu verbringen, auf ein leeres Blatt Papier zu starren. Dafür war im Winter noch genügend Zeit, und allzu eilig hatte ich es ohnehin nicht. Dieses Projekt sollte nicht jeden Tag meines Lebens in ein Trauerspiel verwandeln. Ich musste auf andere Gedanken kommen und da kam mir nichts gelegener, als die Wiederbelebung meiner Trainingsstunden mit Ezra. Nachdem meine Verletzungen verheilt waren, konnte es fortgesetzt werden. Wir fingen an und er war – allen Ereignissen zum Trotz – kein bisschen nachsichtig. Genauso, wie ich es haben wollte. Es war nicht seine Art, sich von Mitleid aus dem Konzept bringen zu lassen. Vermutlich empfand er nicht einmal etwas Derartiges und mir blieb nichts anders übrig, als meine vollkommene Konzentration in unser Training zu investieren. Die Ablenkung tat gut und dennoch fand ich noch Wochen später keinen Weg zurück an die Schreibmaschine. Sie wirkte plötzlich viel beängstigender, als während des ersten Kapitels. Ich betrachtete die wenigen Zeilen, die verloren auf dem Papier standen, und stieß seufzend die Luft aus. Lange durfte ich es nicht mehr vor mir herschieben. Für heute hatte ich jedoch andere Pläne. Ich nahm meine Tasche vom Bett, richtete meinen Mantel und verließ das Zimmer. Es war spät am Nachmittag, Fay würde gleich vorfahren. "Hast du etwas vor?", fragte Magdalena, als ich die Küche betrat. Ich hatte mich herausgeputzt und trug das wunderschöne Kleid, das Sofia für mich geschneidert hatte. Ein tiefes Weinrot mit schwarzer Verzierung. Ich hatte es mir gewünscht. Es saß perfekt. "Ja, ich werde einen Ausflug machen." "In die Stadt? Soll ich dich begleiten?" "Nicht nötig. Ich will nur eine Weile unter Leute. Mir fällt die Decke auf den Kopf." Sie lachte. "Verstehe. Ich wünsche viel Spaß." "Danke. Bis später." Ich wartete, bis die Kutsche nah genug war, und begab ich mich nach draußen unter den grauen Novemberhimmel. Ein schrecklich ungemütliches Wetter. Nicht schrecklich genug, um mich von meinem Vorhaben abbringen zu können. "Megan! Hallo! Schön dich zu sehen!", begrüßte mich Fay gewohnt überschwänglich. "Freut mich auch, aber ich muss los. Der Kutscher hat es eilig." Ich verlor kein weiteres Wort und stieg in die Kutsche. Fays Gesicht musste ich nicht sehen. Ich hatte es die letzten Wochen vermieden, lange mit ihr zu sprechen, oder etwas mit ihr zu unternehmen und ich kannte den enttäuschten Ausdruck, der ihr hübsches Gesicht befleckte, sobald ich sie abwies. Es ging nicht anders. Während der Fahrt in die Stadt besann ich mich auf etwas anderes. Jemand anderen. Ich war nicht nur deshalb unterwegs, um unter Leute zu kommen, ich hatte einen Plan, ein Ziel. Seit Mitte August dachte ich darüber nach, wägte ab, durchdachte alle Möglichkeiten und hatte mich entschieden. Ich musste zurück in das Wirtshaus am Bahnhof.   Die Kutsche holperte über das Kopfsteinpflaster des großen Platzes und hielt schließlich vor dem Postgebäude. Ich bezahlte den Kutscher, wünschte einen schönen Abend und ging ein Stück. Ich war da. Ich wusste, was ich wollte und doch ... war ich kurz davor, den Rückzug anzutreten. So einfach, wie ich gedacht hatte, war es nicht. Die hölzerne Bank neben dem Bahnhofsgebäude sah einladend aus. Ob ich Platz nehmen sollte? Für einen Augenblick ließ ich diese Möglichkeit zu, dann entschied ich anders. Ich hatte nichts zu verlieren, warum zögern? Schnellen Schrittes überquerte ich den Bahnhofsplatz und trat ein, bevor mich der Mut verließ. Das Wirtshaus war voll, wie letztes Mal. Eine rundliche Dame wies mir einen Tisch weiter hinten zu und ich kämpfte mich durch die Menge an Menschen. Viele Reisende mit großem Gepäck, ein paar überaus hungrige Städter und zwei Männerrunden, die den Feierabend begossen. Nicht weiter spektakulär, dennoch unterhaltsam, sie zu beobachten. Ein paar stritten, andere waren einander sehr zugetan. Ich spekulierte über den Ausgang dieser Begegnungen, bis die Kellnerin vor mir stand, auf die ich gewartet hatte. "Guten Abend, Miss. Was darf es sein?" Ich hatte mich nicht getäuscht. Sie war ebenso schön, wie das erste Mal, dass ich sie gesehen hatte. Dunkles Haar, helle Augen, ein ebenmäßiges Gesicht, aus welchem ein herzliches Lächeln strahlte. "Ein Glas Rotwein, bitte." "Danke, kommt sofort." Sie wandte sich ab und ich konnte nicht umhin, zu bemerken, wie wohlgeformt ihre Rückansicht war. Sie gefiel mir. Ich nahm das Buch aus meiner Tasche, das mir die Zeit vertreiben sollte, in der ich warten musste. Rausch aus Sofias Feder. Eine Geschichte, die einem des Öfteren die Schamesröte ins Gesicht trieb. Sofia las nicht nur unheimlich gerne Geschichten, sie schrieb sie auch. Ich hatte ein Regal in ihrer Bibliothek gefunden, in dem ausschließlich ihre Werke standen. Zwei Fuß breit, vier Fuß hoch. Und dieses Exemplar war bemerkenswert freizügig. Ich schreckte hoch, als das Glas Wein an meinem Tisch ankam. "Bitteschön." "Danke", entgegnete ich ein wenig schrill und schlug das Buch zu. Wahnsinnig abgeklärt ... Meine aufgesetzte Gelassenheit war dahin. Trotzdem musste ich etwas tun, bevor sie verschwand. "Hey, eh ... ist hier immer so viel los?", fragte ich recht hilflos. "Um diese Uhrzeit ist das normal. Mittags ist es ruhiger." "Verstehe. Arbeitest du immer hier?" "Nein, eigentlich nur abends. Das Haus gehört meinem Cousin, da muss ich öfter einspringen, als mir lieb ist. Familie eben." "So ist es wohl." Sie nickte. "Ich muss weiter, das Essen serviert sich nicht von alleine." Damit verschwand sie und mir blieb nur die Ernüchterung über meinen einfallsreichen Kommentar und ein Glas Rotwein. Immerhin. Ich ließ mir Zeit mit meinem Wein, bestellte erst spät ein zweites Glas. Das Wirtshaus leerte sich nach und nach und ich hoffte auf deutlich mehr Ruhe, um ein vernünftiges Gespräch zu beginnen. "Noch ein Glas?" Sie stand mit ihrem unzerstörbar fröhlichen Wesen vor meinem Tisch. "Gerne. Ich bin übrigens Megan." "Amanda." "Freut mich." Sie schenkte mir ein Lächeln und eilte davon, um die Flasche Wein zu holen, die ich bereits angebrochen hatte. "Bitteschön." Ich bedankte mich und ließ sie gehen, um die letzten Tische abzukassieren. Sie würde zurückkommen, da war ich sicher, nachdem alle Gäste gegangen waren. Solange konnte ich mich gedulden. Ich beobachtete Amanda, wie sie durch die Gänge und von Tisch zu Tisch eilte. Sie bewegte sich fließend, wie ein junger Bach, der eilig um die Felsen sprang. Es war herrlich anzusehen. Ich verfolgte sie mit meinen Blicken, bis keiner mehr übrig war, außer mir. Ich war der letzte Gast. "Willst du nicht nach Hause gehen?", fragte sie. "Nein, jetzt noch nicht." "Es ist gleich elf." "Ich weiß." "Wir schließen um elf." "Das weiß ich auch." Ich schob ihr mein Glas zu. "Trinkst du noch ein Glas mit mir?" Ein kurzer Moment der Verwunderung, dann nahm sie Platz. "Ausnahmsweise. Und nur, weil du seit Stunden alleine hier sitzt." Das Schmunzeln konnte ich mir nicht verkneifen. "Aus Mitleid also. Nun gut, damit kann ich leben. Besser als nichts." "Gut, Cheers." Sie nahm mein Glas und prostete mir zu, bevor sie sich einen Schluck genehmigte. "Auf den Feierabend." Ich stimmte ihr wortlos zu und verwickelte sie in ein völlig belangloses Gespräch über den Beruf der Kellnerin – da kannte ich mich aus. Über aufdringliche Gäste und Männer. Sie hatte keinen.   Die zweite Flasche Wein war leer, ebenso wie das Wirtshaus, und wir unterhielten uns noch immer angeregt über Gott und die Welt. Amanda war nicht nur schön, sie war auch unterhaltsam. Sie hing mit seligem Grinsen in ihrem Stuhl. Ich schrieb es dem Wein zu, und packte die Gelegenheit beim Schopfe. Ein kurzes Zeichen mit meinem Zeigefinger, und sie lehnte sich mir entgegen. Warum nicht? Von mir schien keine Gefahr auszugehen. Nur war ich nicht hier, um eine nette Unterhaltung mit der Kellnerin zu führen. Ich beugte mich über den Tisch, streckte meine Hände nach ihrem Nacken aus und zog sie ungefragt heran. Mitten in ihrer Erzählung über geräucherten Lachs und was man dazu servieren sollte, nahm ich ihre Lippen in Beschlag. Ich war unendlich angespannt. Sie erstarrte unter meinen Fingern. Ich hatte einen Atemzug lang Zeit, dann wich sie aufgebracht zurück und schlug mir schallend ihre Hand ins Gesicht. Ich hatte diese Ohrfeige zweifelsfrei verdient. "Was in Gottes Namen ist bloß in dich gefahren?", wetterte sie hysterisch. Ich rieb meine glühende Wange. "Du bist mir nicht aus dem Kopf gegangen." "Ah ja? Na, schön für dich." Amanda erhob sich zügig und ließ den Stuhl geräuschvoll über den Boden quietschen. "Du bist doch nicht mehr voll bei Trost", fügte sie hinzu und sputete sich, davonzukommen. "Ich muss noch zahlen!“, rief ich ihr nach und blieb unbeirrt auf meinem Stuhl sitzen. Keine Antwort. Sie hatte das Zimmer verlassen. Und plötzlich – ohne Vorwarnung – wurde es stockdunkel im Wirtshaus. Amanda hatte die Lichter gelöscht. "Du hättest ruhig warten können, bis ich draußen bin!", tat ich meinen Unmut kund. Klasse gelaufen … Ein tiefes Seufzen bahnte sich seinen Weg ins Freie. Ich hatte es überstürzt. Frustriert ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Wie hatte ich bloß derart unvorsichtig sein können? Mit der Tür ins Haus. Es war die schlechteste Idee, die ich hätte haben können und jetzt brauchte ich hier gewiss nie wieder aufzuschlagen. Ich stemmte mich hoch und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Durch die Fenster fiel kaum Licht. Ein Hindernisparcours. Ich tastete mich vorsichtig hinter meinem Tisch hervor und schlich langsam dorthin zurück, wo ich den Ausgang vermutete. Die Hälfte der Strecke war geschafft, als eine ruhige Hand meine Schulter fand. Mein Herz stürzte im Freiflug steil hinab. "Du hast keine Ahnung, was du tust, oder?" "Nicht die geringste." Sie schnaubte amüsiert und ich kehrte der Tür den Rücken. Amanda war nicht zu sehen, doch ich wusste sehr wohl, dass sie direkt vor mir stand. "Du kannst mich nicht im hell erleuchteten Wirtshaus küssen. Jemand könnte es sehen." "Das war ein wenig unüberlegt." "Sehr unüberlegt. Es ist verboten." "Ich weiß." "Und trotzdem bist du hier." "Trotzdem hast du mich nicht gehen lassen." Ich hatte mich nicht geirrt, Amanda hatte mich angesehen. Schon letztes Mal hatte sie mich mit diesem Blick angesehen, der alles verhieß. Ihre Hände fanden den Weg zu meinem Gesicht und ihre Lippen die meinen. Mein Körper war entflammt und ich war augenblicklich süchtig. Ich brauchte mehr davon. Mehr von ihr, mehr von diesem aufregenden Knistern. Sie nahm ihre Hände von meinem Gesicht und löste den Kuss. „Komm hier lang“, flüsterte sie und griff meinen Arm. Ich folgte ihr durch den Raum. Sie führte mich sicher zwischen Stühlen und Tischen hindurch. Noch ein kleines Stück und wir verschwanden aus dem Hauptraum. Amanda bremste abrupt, nachdem sie hinter einer Trennwand verschwunden war, ich stürzte in sie hinein und sie hielt mich fest. Sie bebte und der Wein ließ uns taumeln. Nur ein paar holprige Schritte und ihre Hand lag fest an meiner Taille. Ich lehnte mich gegen sie und stützte mich an die Wand, die uns vor fremden Blicken verbarg. Unsere Lippen fanden sich immer wieder aufs Neue. Ihre Finger lösten Schauer aus, die mit rasender Geschwindigkeit meine Wirbelsäule hinabfegten. „Ich hatte gehofft, dass du zurückkommen würdest“, gestand sie und küsste meinen Hals. Es kribbelte. Dort, wo sie mich berührte und in meinem Schoß. Ein wunderbares Gefühl, das stärker wurde, je weiter ich ihre Bluse öffnete. „Man trifft nur selten jemanden mit ähnlichen Neigungen …“, seufzte sie in meine Halsbeuge, „der bereit ist, es zuzugeben.“ Sie mochte recht haben, im Moment interessierte es mich nicht. Ich packte ihren Kopf mit beiden Händen und hob ihn an, um sie küssen zu können. „Das ist mir ganz gleich“, beendete ich die Unterhaltung und verschloss ihren Mund. Ein leichtes Vortasten mit der Zungenspitze, sie ließ mich hinein und erneut stoben Funken durch all meine Glieder. Es gab so viel zu entdecken, zu erleben, zu spüren. Neu und aufregend. Ich fühlte mich lebendiger, als je zuvor. Und obwohl ich bis heute nicht wusste, was mir entgangen war, so war ich sicher, dass es mir gefehlt hatte. Ein kurzer Ruck – ich dankte dem Wein, dass er mir Mut gemacht hatte – und Amanda war aus ihrer Bluse befreit. Für einen Moment vergas ich zu atmen, als meine Hand sich ihren Weg unter das dünne Hemdchen bahnte, das locker über ihrer weichen Brust lag. Ihr Herz schlug schnell unter der zarten Haut. Ich griff den leichten Stoff und zog ihr das Hemd über den Kopf. Amanda hatte mein Kleid geöffnet, sie musste es nur noch absteifen. Ich half ihr dabei. Es musste schnell gehen. Jede Verzögerung ließ mich darüber nachdenken, was wir taten und wie riskant es war. Ich durfte diese Verunsicherung nicht zulassen, sie würde alles verderben und ich wollte diese Frau. In dieser Nacht wollte ich sie ganz und gar. 024 – Frühjahrsputz ------------------- 024 Frühjahrsputz   Es kitzelte. Irgendetwas kitzelte meine Nase. Ich schlug die Augen auf und erkannte dunkles Haar. Eine lange Strähne lockte sich über das weiße Kissen und hatte mich geweckt. Meine Mundwinkel wanderten in tiefer Zufriedenheit ein Stück nach oben. Amandas schlafendes Gesicht war der bestmögliche Anblick, einen Tag zu beginnen. Der zweitbeste, wenn man ehrlich war. Wir hatten uns gestern nicht wieder angezogen. Unsere Beziehung basierte auf einem einfachen Prinzip. Sie war rein körperlich und wir sprachen nie darüber. Es funktionierte. Ich rutschte leise aus ihrem Bett und begann meine Kleidung vom Boden zu sammeln. Ich musste verschwinden, bevor die ganze Stadt auf den Beinen war. „Du gehst schon?“, fragte Amanda und blinzelte mich verschlafen an. „Ich bin spät dran. Wir sehen uns in zwei Wochen.“ Eilig band ich meine Haare in einen ordentlichen Zopf, kam nochmals zurück ans Bett und gab ihr einen Abschiedskuss. „Bis dann.“ Sie lächelte verhalten und ich verschwand. Draußen war es still. Die Sonne war vor wenigen Minuten aufgegangen und ich saß in einer Kutsche, ehe der erste Hahn krähte und fuhr aus der Stadt. Die nächsten vierzehn Tage musste ich mich gedulden. Das war in Ordnung. Es wäre nicht gut gewesen, hätten wir uns öfter gesehen. Eine Nacht, alle zwei Wochen, seit einem halben Jahr. Dazwischen ging ich meinen gewohnten Aktivitäten nach. Half Magdalena in der Küche, ließ mich von Ezra im Keller bis zum Äußersten treiben und verwandte die Zeit, die übrig war, mir darüber klar zu werden, wie dumm es gewesen war, Christina mit Haut und Haar verfallen gewesen zu sein. Alles konnte leicht und unkompliziert sein, wenn man die richtige Frau kennenlernte und alles nüchterner betrachtete. Inzwischen wusste ich das und dieses Wissen gestattete mir, noch einmal zuzulassen, dass sie mich verletzte. Dass ich die Wunden erneut aufreißen konnte, weil ich erkannt hatte, dass Christina nicht alles war. „Da bist du ja“, begrüßte mich Magdalena, die im Garten emsig säte. „Hast du dich gut amüsiert?“ „Bestens.“ Sie lächelte zufrieden. „Du kannst sie gerne hierher einladen. Sofia hätte sicher nichts dagegen.“ „Eh … ich weiß nicht.“ Amandas Familie hatte nicht die geringste Ahnung. Bei mir sah das anders aus. Sie hatten es mir sofort angesehen und leugnen war zwecklos. Ich war froh darum, zumindest hier kein Geheimnis daraus machen zu müssen, dass ich andere Vorlieben hatte. Weder Magdalena noch Sofia verurteilten mich dafür und Ezra interessierte es am allerwenigsten, welche Art Vergnügung ich bevorzugte. Ich hatte geweint, als Sofia mir damals ganz selbstverständlich ihre Freude über meinen Erfolg verkündet hatte. „Das ist doch ganz wunderbar!“, hatte sie gesagt und ich hatte meinen Ohren kaum getraut. „Warum nicht?“, fragte Magdalena und goss Wasser über die frisch ausgebrachten Körner. „Eine solche Beziehung ist das nicht. Wir haben nur Spaß und ich will, dass es so bleibt.“ Magdalena zog eine enttäuschte Grimasse. „Und dabei hätte ich sie zu gerne kennengelernt.“ „Daraus wird leider nichts. Tut mir leid, ich muss jetzt rein.“ Dann wackelte ich kurz mit allen zehn Fingern und Magdalena verstand sofort. „Viel Erfolg. Ich bin nachher in meinem Zimmer, falls du mich brauchst.“ „Danke.“ Es tat gut, zu wissen, dass ich jederzeit zu ihr kommen konnte, wenn die Dämonen meiner Vergangenheit mich heimgesucht hatten. Ich sprach viel öfter mit ihr über meine Erlebnisse, als ich es mit Sofia tat. Magdalena verstand es ausgezeichnet, sich in meine Lage hineinzuversetzen. Sie half mir weiter, wenn ich in einem Strudel aus Gefühlen feststeckte und nicht mehr wusste, wohin die Reise gehen sollte. Es ging voran. Stück für Stück und mir fehlte nur noch eine letzte Szene in diesem Kapitel. Der Moment, in dem ich von Christinas Verrat erfahren hatte.   Bis zum Abend war ich fertig. Mit dem Kapitel und meinen Nerven. Erschöpft ruhte mein Kopf auf meinen Händen. Ich verabscheute diese Frau, noch mehr als zuvor. Sie hatte meine Vergebung nicht verdient und ich war froh, als ich Sofia den zweiten Teil meiner Tragödie vorlegen konnte und diese Hürde endlich genommen war. Danach ging es mir besser. Es lag noch viel vor mir, doch ich war zuversichtlich und musste mir eingestehen, dass die Entscheidung richtig gewesen war, sich noch einmal durch alles hindurchzuquälen. Meine Sicht auf die Dinge war klarer. Ich konnte es fein sortiert ablegen, auch wenn ich noch immer nicht verstand, warum alles so gekommen war. Die Beantwortung dieser Frage überstieg meinen Horizont. Vielleicht gab es keine logische Antwort, nur die Gewissheit, dass einige Menschen nicht im Stande waren, gerechte Entscheidungen zu treffen. Es sollten nicht die letzten gewesen sein. Breits als ich zwei Wochen später erneut in die Stadt aufbrach, hatte ich ein komisches Gefühl. Die Tage zuvor, war es mir blendend gegangen. Ich hatte meine neu gefundene innere Ruhe genossen, die ich heute vermisste. Die ganze Fahrt über ließ es mich nicht los und als ich mich am Treffpunkt einfand und Amanda nicht dort war, bestätigte sich mein Bauchgefühl. Hier stimmte etwas nicht. Ich wartete zehn Minuten, um sicher zu sein, dann begann ich, sie zu suchen. Amanda würde mich nicht versetzen, es musste einen Grund geben und ich hoffte, dass ich ihn im Wirtshaus fand. Bis dorthin waren es nur drei Straßen. Ich beeilte mich und konnte nach zwei Ecken hören, dass dort einiges los war. Drinnen herrschte Betrieb, wie immer und ich trat ein. Ihr Cousin empfing mich: „Wir sind voll.“ „Wie?“ Ich konnte problemlos drei leere Tische erkennen und wollte widersprechen. „Reserviert. Verschwinde!“ Erneut suchte ich den Raum nach Amanda ab, bis ihr Cousin mich grob zur Tür hinaus schob. „Hast du nicht gehört? Ich will dich hier nicht sehen!“, knurrte er mich an. Ich musste nicht fragen, was sein Problem war. Ich wusste es. Es gab nur eine Möglichkeit. „Wo ist Amanda?“ Er drängte mich weiter zurück, schloss die Tür hinter sich und stieß mich kraftvoll auf die Straße. „Das geht dich nichts an. Du hast ihr genug angetan!“ Ich richtete mich auf und blieb ruhig. Für ihn war ich ein Teufel, der seine Familie beschmutzt hatte und darüber gab es nichts zu diskutieren. Die Nachbarschaft brauchte es nicht wissen. „Ich will keinen Ärger machen. Es tut mir leid.“ „Ja, scher dich davon!“, schimpfte er lautstark. Ich wäre gegangen. Ich hätte mich umgedreht, hätte die Stadt verlassen und wäre nie wieder in dieses Haus gekommen. Schon deswegen, weil ich Amanda noch mehr Probleme ersparen wollte, doch sie trat aus der Tür, mit sorgenvollem Gesicht und ich konnte sie kaum erkennen. Die Partie um ihre Augen war dunkel und geschwollen. „Tu ihr bitte nichts“, flehte sie und griff nach seinem Arm. „Fass mich nicht an, du Hure!“, brüllte er und hob drohend seine Hand. Sie duckte sich weg und ich konnte mir genau vorstellen, wie es abgelaufen war. Ich kannte die Verletzungen in ihrem Gesicht, ich wusste was er getan hatte und es war genug. „Wag es nicht!“, ermahnte ich ihn und brach meinen Vorsatz, mich nicht weiter einzumischen. Er betrachtete mich abfällig. „Lass es gut sein, man kann nicht mit ihm reden“, versuchte Amanda mich zu warnen. Er holte aus, um sie für ihren unverschämten Kommentar zu bestrafen, doch sein Arm traf den meinen und ich schlug zurück. Ein fester Schlag mit der flachen Hand auf sein Ohr und er verzerrte das Gesicht. „Schämst du dich überhaupt nicht?“, fragte ich ihn. „Ich glaube du spinnst!“ Es war nicht die Antwort auf meine Frage, jedoch ausreichend informativ. Er holte zum Gegenschlag aus, und ich brauchte nicht lange, um zu bemerken, dass er nur ein einfacher Gastwirt war. Seine kämpferischen Fähigkeiten waren begrenzt. So hatte ich ihn, nach nur wenigen Handgriffen und einigen gezielten Schlägen keuchend in die Knie gezwungen. Er schnappte nach Luft, als ich ihm mein Knie in die Rippen drückte. Seine Stirn berührte bereits den Boden und ich beugte mich zu ihm hinunter, damit er mich nicht falsch verstand. „Du hast Glück, dass deine Cousine mich eben so entsetzt angesehen hat, sonst hätte das hier anders geendet. Ich werde jetzt loslassen und gehen.“ Ich packte mit einer Hand fest in seinen Nacken. „Aber ich schwöre dir, ich werde dich im Auge behalten und wenn du ihr noch ein einziges Haar krümmst, wirst du es bitter bereuen.“ Dann gab ich ihn frei und er rappelte sich mühsam auf. Er sagte nichts, machte keine Anstalten mehr, sich aufzuplustern und dabei hatte ich ihn nicht halb so deutlich zurechtgewiesen, wie ich es gewollt hatte. Amanda sah mich entgeistert an. „Ich habe nicht gewollt, dass es so kommt“, sagte ich, obwohl es auf der Hand lag. Irgendetwas musste ich sagen. Sie tat mir schrecklich leid. „Das weiß ich. Schon gut.“ Amanda brachte den Ansatz eines Lächelns zustande. „Ich werde nach dir sehen. Wenn er dir etwas antut …“ „Wird er nicht. Er ist eigentlich nicht so.“ Ich hoffte, dass sie recht hatte. „Ich verschwinde besser.“ Sie nickte. „Danke.“ Nichts, wofür sie mir danken sollte. Ich ging und drehte mich nicht mehr um. Trotz all meiner Vorsicht und aller Distanz, ging mir die Art und Weise nahe, wie wir es beendeten. Wie es beendet wurde. Wir hatten keine andere Wahl. Obwohl wir alles getan hatten, diese Verbindung geheim zu halten, war es herausgekommen. Amanda stand als Hure da, als Sünderin. Im besten Fall war sie ein Opfer, das der Verführung erlegen war. Auch wenn ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich hing meinen Gedanken nach, während ich mich auf den Weg zum Postgebäude machte, wo die Kutschen standen. Ein unerwartet kurzer Aufenthalt, doch hier gab es für mich nichts mehr, weshalb ich bleiben sollte. Meine Laune war in den Keller gestürzt. Verdammte Idioten! Alles wäre halb so schlimm, wäre sie ein Mann. Dann wäre ich die Hure, aber das würde niemanden kümmern und alles wäre in bester Ordnung. Was interessierten mich auch die Frauen? Ich hatte es ja so gewollt. Ich hatte gewusst, wie es enden konnte und dennoch war ich immer wieder zu ihr gekommen. Wir waren selbst schuld an diesem Ende. Schwachsinn. Es war einfach ungerecht. Ich beobachtete eine Gruppe junger Männer, die gemeinsam vor dem Bahnhof rauchten. Einen nach dem anderen, sah ich sie mir an. Sie wirkten gepflegt, amüsierten sich gut und ich fragte mich, wie es wäre. Noch bevor ich den Gedanken zu Ende bringen konnte, schüttelte es mich. Nein. Das war keine Option. Meine Kutsche fuhr vor und ich verschwand aus der Stadt. Frustriert und verärgert. Den ganzen Weg über, gelang es nicht, mich zu beruhigen. So stapfte ich hastig ins Haus und wollte meiner Wut über diesen Zustand schnellstmöglich Luft machen. „Du bist schon zurück?“ Sofia trat aus dem Salon und sah die Treppe hinauf, die ich zur Hälfte hinter mir gelassen hatte. „Es ist etwas dazwischengekommen.“ „Gab es Ärger?“ „Ja.“ Ich ging noch ein paar Stufen, machte Kehrt und kam zurück. „Er hat sie verprügelt! Ihr dämlicher Cousin hat es herausgefunden und hat sie verprügelt!“ „Mit dir ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. „Wie? Natürlich, seine Technik ist ein Witz, aber darum geht es nicht! Es ärgert mich, dass es schlimm ist, dass wir uns getroffen haben!“ „Es ist nur schlimm, weil er es nicht begreift. Du kannst nichts dafür, dass die Menschen engstirnig sind.“ „Wohl wahr, aber es macht mich wütend, dass Amanda deswegen leiden muss. Ich kann es nicht ungeschehen machen.“ Sofia hatte diesen mitleidsvollen Blick, den ich im Augenblick nicht recht leiden mochte. Als wollte sie sagen, sie wolle mir gern helfen, wusste aber nicht wie. Ich brauchte keine Hilfe. „Du musst mich nicht trösten“, stellte ich klar, bevor sie sich etwas einfallen lassen konnte. „Ich bin okay. Ich bin nur unzufrieden und aufgebracht. Ist Ezra oben?“ Sie schmunzelte. „Er ist draußen im Garten. Holz hacken.“ „Gut. Danke.“ Ich verlor keine weitere Sekunde und steuerte zielstrebig in den hintern Garten. „Ezra!“, rief ich auf halber Strecke. „Können wir das morgige Training auf heute verschieben?“ Die Axt schlug krachend durch das Holzscheit. „Warum?“, fragte er. „Ich muss Dampf ablassen.“ „So läuft das nicht.“ Er nahm ein weiteres Holzscheit, legte es auf den Baumstumpf und teilte es. Frechheit. Ich klaubte ein Stück Holz vom Boden. „Wie läuft es denn?“ Warf es und Ezra fing. Dann streckte er mir den Stiel seiner Axt entgegen. „Nimm.“ Ich griff zu und war bewaffnet. Von mir aus konnte es losgehen, nur Ezra machte keine Anstalten, gegen mich antreten zu wollen. Er ging ein paar Schritte und nahm auf der Bank Platz. „Du kannst Holz hacken“, sagte er und lehnte sich gemütlich zurück. „Aber ich wollte …“ „Dampf ablassen, also mach schon. Du bist unkonzentriert.“ Schön. Dann eben das. So war es zumindest produktiv. Ich nahm mir ein Scheit vom Stapel, platzierte es und schlug zu, mit voller Kraft. Es tat gut, als die beiden Stücke auseinander flogen. Ich machte weiter, bis der komplette Stapel in halbierten Stücken über den Garten verteilt war. Meine Handflächen waren aufgeplatzt, als ich die Axt beiseite stellte. „Ich fürchte, das genügt nicht. Es ärgert mich noch immer, dass … eh … Ezra?“ Er war verschwunden. „Dein Ernst?“, schrie ich wütend in die Nacht. Es kam keine Antwort. Was hatte ich auch erwartet? Dass er sich mit meinen Problemen beschäftigte? Natürlich nicht. Ich wusste genau, was er gesagt hätte: „Das geht mich nichts an.“ Es wäre ebenso hilfreich gewesen, wie nicht mit ihm zu sprechen. Ich musste alleine damit klarkommen, vielleicht war das seine Botschaft. Die Verfahrenheit meines Dilemmas verfolgte mich noch wochenlang. Wie freche Gespenster, schwirrte sie durchs Haus, tauchte immer wieder auf, verschwand und ärgerte mich ohne Rücksicht. Ich kam auf keinen grünen Zweig und weder Sofia noch Magdalena konnten mir hilfreiche Ratschläge erteilen. Mir blieb nichts anderes, als es hinzunehmen – obwohl es mir bis ins Mark widerstrebte. Zu lange hatte ich mich damit aufgehalten. Kapitel drei bis acht waren fertig, als allmählich die Blätter von den Bäumen fielen. Den Sommer über war ich wenig produktiv gewesen. Zu dieser Jahreszeit gab es andere Dinge, die mich beschäftigten. Besonders das Fahrrad, das ich zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag bekommen hatte. Es war nicht in gleicherweise erfüllend, wie der Rücken eines Pferdes, doch zumindest im Ansatz ging es in die richtige Richtung. Ein tolles Gefährt. Mitten im neunten Kapitel – Christina hatte zu diesem Zeitpunkt meine letzten Hoffnungen zerschlagen und ich dachte über Michaels Heiratsantrag nach – drängte sich ein Bedürfnis in den Vordergrund, dessen Befriedigung mir weit dringender erschien, als die Beendigung des Kapitels. Ich nahm das begonnene Papier aus der Maschine, spannte neues ein und verharrte. Meine Fensterläden knatterten laut. Seit heute Morgen tobte ein Blizzard von historischem Ausmaß vor unserer Tür und bald würden wir sie nicht mehr öffnen können. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Nachdem ich das kahle Papier ausreichend lange mit Blicken durchbohrt hatte, nahm ich es heraus, um es flach auf die Tischplatte zu legen. Ich hatte noch einen Füllfederhalter vom letzten Weihnachtsfest – ein Geschenk von Magdalena – der mir hierfür das richtige Instrument zu sein schien.   Lieber Vater, es ist lange her, seit ich den letzten Brief schrieb. Bitte verzeih‘. Die letzten Jahre hielten viele Veränderungen für mich bereit, ich habe Sacramento den Rücken gekehrt und bin weiter nach Norden gezogen. Es geht mir gut, nur sind die Winter hier sehr streng und ich vermisse die Hitze Kaliforniens.   Umso mehr, je lauter der Wind ums Haus pfiff. Doch war die Hitze nur ein Bruchteil dessen, was ich tatsächlich vermisste. Seit fast siebzehn Jahren hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Eine unfassbar lange Zeit. Er musste um die vierzig sein, in etwa … genau konnte ich es nicht sagen.   Ich hoffe, es ist dir gut ergangen und ich habe dir keine allzu großen Sorgen bereitet. Auf dem Hof hat sich sicher vieles verändert.   Ob meine Großeltern noch lebten? Meine liebe Nina galoppierte sicher längst nicht mehr auf dieser Welt. Ein tiefes Seufzen, dann fuhr ich fort. Es gab viel zu schreiben, viel zu erklären und viel zu begraben. Mein Vater sollte wissen, dass ich ihm verziehen hatte.   Als ich meinen Brief ein paar Tage später zur Post brachte, war mir unendlich leicht. Nur ein paar Unzen Papier und ich verlor mehrere hundert Pfund. Noch ein bisschen mehr und der kalte Wind hätte mich davongeweht. Es wurde Zeit, eine zweite Fessel zu lösen.   Kurz nach Neujahr verabschiedete sich Sofia für die kommenden Wochen, um geschäftlich nach New York zu reisen. Es war das erste Mal, seit meinem Einzug, dass sie derart lange fort war und mich mit Magdalena und Ezra alleine ließ. Meine emotionale Labilität der ersten Jahre mochte einen Teil dazu beigetragen haben und ich war bestrebt, weiter dagegen vorzugehen. Eine Chance – und die nötige Courage – fand ich an einem eisigen Tag Ende Januar. Ich hatte keinen Plan zurechtgelegt, war nicht darauf gefasst, und es platzte aus mir heraus, kaum war die Haustür aufgeflogen. „Fay, ich muss mit dir reden!“, begrüßte ich sie. Sie sperrte die weißen Flocken aus und sah mich skeptisch an. „Auf einmal?“ Den säuerlichen Unterton konnte ich ihr nicht verdenken. „Ich weiß, ich war sehr abweisend zu dir. Das …“ Es gab keine anständige Erklärung dafür. „Ich war blöd.“ „Hört, hört“, brummte sie. „Also, was willst du?“ „Kommst du mit herein?“ Nichts, was man zwischen Tür und Angel besprechen konnte. Sie willigte ein und wir ließen uns im Salon nieder. Dem einzig warmen Raum, in dem man zu dieser Zeit des Jahres wirklich entspannen konnte. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte ich, um Zeit zu schinden. Was hatte ich bloß losgetreten? „Nein, danke. Sag mir lieber was los ist.“ Trotzdem schob ich ihr ein Glas Wein über den Tisch. Sie nahm es. „Ich war unhöflich.“ Sie sah mich abwartend an und schwenkte beiläufig den Wein in ihrem Glas. „Und das hattest du wirklich nicht verdient“, fuhr ich fort. „Danke“, sagte sie trocken und trank einen Schluck. „Ich … ich wollte dir nur sagen …“ Mein Herz hämmerte, als ginge es um mein Leben. „Was?“, fragte sie nach, als ich die Worte nicht herausbekam. Sei nicht so verdammt kindisch! Ich atmete tief durch. „Ich habe mich in dich verliebt, obwohl ich es überhaupt nicht wollte und deswegen musste ich Abstand gewinnen. Ich hätte dich nicht so lange um Unklaren lassen dürfen, das tut mir leid.“ Fay zeigte keine Reaktion. Überhaupt keine. Sie war erstarrt. „Fay?“ Sie holte scharf Luft und sog die letzten Tropfen Wein ein, die sich noch in ihrem Mund befunden hatten. Ihr Gesicht verzerrte sich und sie hustete erstickt. Einige Male, bis ihre Augen tränten. „Geht es?“, fragte ich und erhob mich, um ihr auf den Rücken zu klopfen. „Nein …“, keuchte sie und hustete weiter, „lass.“ Ich nahm wieder Platz. Es war wohl keine Minute und kam mir vor wie eine Stunde, bis sie sich beruhigt hatte. „Alles in Ordnung?“ Sie rieb ihren Hals und räusperte sich noch einige Male, bevor sie antwortete: „Wieso sagst du so etwas?“ „Was meinst du?“ „Na, dass du dich …“ Weiter kam sie nicht. Nur ein bedeutungsvoller Blick. Ich wusste, was sie meinte. „Ist es schlimm?“ Nur zwei fassungslose Augen, die mich anstarrten. „Fay, was hast du? Ich sage das nicht, um dich zu ärgern.“ „Du weißt, dass sich das nicht gehört? Es ist falsch und ich will davon auch überhaupt nichts wissen.“ Ihr Ton war vorwurfsvoll. Es war ihr Ernst und ich konnte es ebenso wenig begreifen, wie sie. Sie war genauso verbohrt, wie alle anderen. Ich musste aussehen, wie vom Donner gerührt. „Wenn du es sagst. Bitte um Entschuldigung und viel Spaß mit Ezra.“ Ich sprang von der Couch und beeilte mich, den Salon zu verlassen. Als ob sie wüsste, was sich gehörte. Gerade sie. „Megan! Warte!“, rief sie mir hinterher. „Was denn noch? Es ist alles gesagt.“ „Bitte sei mir nicht böse. Ich wollte dich nicht kränken!“ „Hast du nicht. Vergiss einfach, was ich sagte.“ Weshalb ich etwas anderes erwartet hatte, war mir ein Rätsel. Wohl, weil Sofia und Magdalena mich zu sehr in Sicherheit gewogen hatten. Dabei war Fay völlig anders, weniger gereist, weniger erfahren. Vielleicht erschrocken. Ich wollte es jetzt nicht herausfinden, schloss die Tür hinter mir und ließ mich quer über mein Bett fallen. Ein unbefriedigendes Ergebnis. Frustrierend und dennoch besser, als dieses Geheimnis weiter unter Verschluss zu halten. Ein tiefes Seufzen ließ mich entspannen und kaum hatte ich ausgeatmet, klopfte es an meiner Tür. Eine Entschuldigung? „Ich bin es.“ Magdalena. Ein weiteres Seufzen. „Es ist offen.“ „Wie geht es dir?“ Sie nahm neben mir Platz und bedachte mich mit mitleidsvollen Blicken. „Es geht.“ „Bitte entschuldige, ich habe euer Gespräch gehört. Ich dachte, du bräuchtest vielleicht jemanden, mit dem du reden kannst.“ „Nein, ich bin selbst schuld. Ich hatte zu viel erhofft, das war dumm.“ Da ich es laut sagte, wurde es mir um einiges klarer. „Ich habe nicht erwartet, dass sie sich darüber freut, oder … es erwidert. Ich wollte nur, dass sie es weiß. Es … ist nur schade, dass es für sie schlimmer ist, als ich gedacht hatte.“ Erleichterung machte sich in Magdalenas Gesicht breit, mit Bedauern durchsetzt. „Sie wird sich damit arrangieren“, versicherte mir Magdalena. „Das würde mich freuen. Aber ich werde nicht darauf hoffen.“ Sie nickte und erhob sich. Ich brauchte keinen Trost. Fay bekam ich an diesem Abend nicht mehr zu sehen – ich legte es auch nicht darauf an. Stattdessen ließ ich den ersten Schreck verrauchen, gönnte uns beiden etwas Bedenkzeit und erkannte bald, dass es keines weiteren Gesprächs bedurfte. Was hätte ich sagen können, dass ihre Sicht auf die Dinge sich änderte? Eine Überzeugung ließ sich nicht über Nacht ändern, doch sie gab sich Mühe, das Unbehagen zu verbergen, das ich ihr bereitete und ich war dankbar, dass sie es zumindest versuchte. So konnte ich mich wieder auf die Aufgabe konzentrieren, die ich mir selbst gestellt hatte: Ein weiteres Kapitel beenden und die Geschichte zu Ende schreiben. Ich nahm vor meiner Schreibmaschine Platz, begab mich noch einmal ins Zimmer des Schusters und es zerbrach mich, wie damals. Ich ertrank in der Erinnerung und trieb kraftlos dahin. Erst regungslos, dann erfasst vom Sog. Er riss mich fort und ich machte keine Pause, nachdem ich es abgeschlossen hatte. Kein besonnenes Korrekturlesen, stattdessen schrieb ich weiter. Verbrachte die Stunden in Gedanken. Ich wusste wieder, warum ich damals hatte sterben wollen. Lange hatte ich mich dafür geschämt, jetzt verstand ich es. Ich wollte nicht sterben – nicht mehr, doch ich wusste, weshalb dieser Weg mich vor Jahren gelockt hatte und ich musste es zu Ende schreiben, bevor mein Geist sich verschloss. All die Kapitel. Ich hatte sie lange vor mir her geschoben, hatte gezögert, mich abgelenkt und Monate dafür verwandt. Dieses letzte überrollte mich vollkommen. In nur einer Nacht schlug ich meine Wut, meine Trauer und meine Angst in die Tastatur. In dicken schwarzen Lettern donnerten sie aufs Papier.   So ging ich fort.   Ende. Ich war fertig. Der letzte Punkt war gesetzt und ich bettete mein Gesicht in meinen Händen. Sie zitterten. Mein Herz schlug schnell – es war kaum auszuhalten. Das Gefühl, den Sturz überlebt zu haben. 025 – Merry Christmas and a Happy New Year ------------------------------------------ Ich behielt es für mich. Sofia erhielt das vorletzte Kapitel und ich verwahrte das Letzte sicher in meinem Schreibtisch. Nicht ein Wort war über meine Lippen gekommen, dass es fertig war, zu niemandem. Es war ein Geheimnis. Die Zufriedenheit über den Abschluss meiner Geschichte entwickelte sich schnell zu einer unangenehmen Leere. Ziellose und langweilige Monate. Ich füllte sie mit Büchern, Gesprächen, Alltag und gelegentlichen Ausflügen nach Pierre. Das tat ich regelmäßig, wie ich es Amanda versprochen hatte, um nach dem Rechten zu sehen. Es ging ihr gut, ihr Cousin hatte sich beruhigt und ich war froh, dass sie sich schnell erholt hatte.   Mit einer Tasche voll Lebensmittel kam ich zurück nach Hause – Magdalena hatte mich um den Einkauf gebeten. Schon vor der Tür fiel mir auf, dass sich drinnen etwas Außergewöhnliches zutrug. Ich hörte Musik. Weihnachtsmusik – das gab es gewöhnlich nicht. Umso erstaunlicher war es, dass nicht Magdalena dahinter steckte. „Was ist hier los?“, fragte ich verblüfft, nachdem ich sie in der Küche antraf. Magdalena zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was plötzlich in sie gefahren ist. Sie feiert Weihnachten eigentlich nicht.“ Sofia stolzierte mit einem großen Korb voll weihnachtlicher Dekoration durch den Salon und verteilte Engel und Sterne überall im Raum. Ein imposantes Schauspiel. Magdalena und ich beobachteten sie durch den Flur. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie uns bemerkte. „Ist etwas?“, fragte sie und kam herüber. „Du summst Weihnachtslieder. Wir machen uns Sorgen“, klärte ich sie auf. „Mögt ihr es nicht?“ Komisch, dass sie das fragte. „Schon“, antwortete Magdalena. „Dass du es magst, das wundert uns.“ „Manchmal tut ein wenig Abwechslung einem gut“, erklärte Sofia ihre plötzliche Begeisterung und drückte mir ihren Korb in die Hand. „Hier, du kannst den Rest verteilen.“ Sie ließ uns ratlos zurück und rief ihre Hunde zu sich, um mit ihnen nach draußen zu verschwinden. Derart aufgedreht sah man sie selten – eigentlich nie – und ein bisschen steckte mich ihre Vorfreude an. Ich wünschte Magdalena noch einen schönen Abend und begann die restlichen Tannenzweige und glänzende Christbaumkugeln im Haus zu verteilen. Sofia hatte reichlich Material gekauft und alles war neu. Während ich ein paar Zweige auf dem Fensterbrett drapierte, öffnete sich weiter hinten im Gang eine Tür und Ezra kam mir entgegen. „Hey Ez... oh.“ Ich stellte augenblicklich das Sprechen ein, nachdem ich sein Gesicht gesehen hatte. Wenn Sofia heute der Sommer war, so herrschten bei Ezra die kältesten Minusgrade, die je gemessen wurden. Er hatte derart schlechte Laune, dass sein Anblick mich frösteln ließ. Zur Sicherheit hielt ich die Luft an, bis er an mir vorbeigegangen war, ich wollte das Fass nicht zum Überlaufen bringen. Vielleicht hatte Sofia sich den letzten Rest seiner positiven Energie einverleibt. Gut, dass wir für den heutigen Abend nicht verabredet waren. Ich platzierte noch ein paar Kugeln in der Bibliothek, dann verschwand ich mit einem Stapel Bücher in mein Zimmer und entschied, mich nicht in deren Probleme einzumischen. Es ging mich nichts an – wie Ezra sagen würde.   Ein paar Tage später ging es mich dann doch etwas an. Es war noch eine Woche bis Weihnachten und ich packte ein paar Kleinigkeiten in hübsches Papier. Die Weihnachtsstimmung hatte mich voll erwischt. Neben mir knisterte das Feuer im Kamin und ich band die letzte Schleife um das Geschenk für Magdalena, als jemand an unserer Haustür klopfte. Ein Besucher? Außer mir war niemand im Haus. Magdalena war heute Morgen in die Stadt verschwunden, sie verbrachte ein paar Tage mit William. William Philip – der Mann mit den wunderschönen Pferden. Vor dem zweiten Weihnachtsfeiertag erwarteten wir sie nicht zurück. Sofia und Ezra waren in Rapid City, der nächstgrößeren Stadt in der Nähe, um Besorgungen zu machen. Ich wusste genau, was das bedeutete: Sie waren hungrig. Wieder klopfte es. „Komme!“ Ich legte die Bänder beiseite und ging zur Tür. Vielleicht ein verirrter Wanderer oder ein Bote. Ich zog die Tür auf und blickte hinauf in das Gesicht eines groß gewachsenen Mannes. Er sah nicht aus wie ein Wanderer. Im Gegenteil, er trug einen dunklen Mantel über seinem weißen Hemd und einen Zylinder auf dem Kopf, den er kurz lüftete. Eine bemerkenswert edle Garderobe. „Guten Abend“, begrüßte er mich. „Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?“ „Ich bin ein alter Freund von Miss Volkova. Sie erwartet mich.“ „Sie hat nicht erwähnt, dass jemand zu Besuch kommen würde.“ „Sicher. Ich bin zu früh. Ist sie nicht zu Hause?“ Seine dunklen Augen bohrten sich wie scharfe Messer in mich hinein. Eine Lüge an dieser Stelle hätte er sofort durchschaut. „Warten Sie einen Moment.“ Ich wollte ihn nicht hereinlassen, er war mir nicht geheuer, doch es war zu spät. Seine Hand lag auf dem Holz und er war um einiges stärker. Mühelos schob er mich mitsamt der Tür in den Flur zurück. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun.“ Mit diesen Worten trat er ein. Er legte seinen Hut und den Mantel ab und begab sich in den Salon, als wäre es sein eigenes Haus. Wie selbstverständlich holte er sich ein Weinglas aus dem Schrank und öffnete eine Flasche. „Möchten Sie auch etwas?“, fragte er mich, bevor er sich in Sofias Sessel niederließ. Ich schüttelte den Kopf und schloss die Tür. Offenbar kannte er sich hier aus. „Sie sind also ein Freund von Sofia“, wiederholte ich seine Worte. „Kennen Sie sich schon lange?“ „Länger als Sie ahnen, Miss Paine.“ Ich nahm auf dem Sofa ihm gegenüber Platz. „Sofia hat Ihnen von mir erzählt?“ Er nickte. „Das Experiment.“ „Experiment?“ „Sie sind das Experiment. Die gebrochene Regel. Ich bin sehr daran interessiert, ob Sofias Idee Früchte tragen wird.“ Er auch. Ein Vampir. Natürlich, Sofia gab sich nicht oft mit Menschen ab. „Sie müssen ein guter Freund sein, wenn Sofia Ihnen das anvertraut hat.“ „Der Beste.“ Er lächelte zufrieden in seinen ordentlich getrimmten Zehntagebart. Es war ein weiches, schönes Lächeln. „Nun, Sie wissen, wer ich bin. Darf ich dann auch erfahren, wer Sie sind?“ „Alexander Şerban.“ Ein kurzer Moment, in dem mir die Augen aus dem Kopf fielen, dann fuhr er fort: „Wie ich sehe, haben Sie von mir gehört. Das wundert mich nicht.“ „Möglicherweise brauche ich doch ein Glas Wein. Ich dachte, Sie ... also, das ist wirklich verrückt. Ich dachte, Sie wären längst tot.“ Er lachte herzlich. „Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich noch recht lebendig.“ Ein seltsames Gefühl, ihm gegenüberzusitzen. Ich kannte diesen Mann im Grunde nicht und dennoch hatte ich ihn nackt gesehen. In meiner Fantasie. Sofia hatte mit ihrer Beschreibung nicht übertrieben, er war zweifellos ein atemberaubend schöner Mann. Mir war warm. „Gut“, unterbrach ich die unangenehme Stille, „Und Sie sind hier, weil?“ „Ich möchte mir ein Bild von Ihnen verschaffen.“ „Von mir?“ „Sofia kann wirklich zufrieden mit ihrer Wahl sein. Sie machen auf mich einen äußerst ordentlichen Eindruck.“ „Danke...“ „Sie erinnern mich ein wenig an eine hübsche Porzellanpuppe.“ „Wie bitte?“ Es war befremdlich, wie seine Blicke mich Inch für Inch untersuchten. Wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. „Ihr Gesicht, die blonden Haare. Sie erinnern mich an eine Puppe. Das gefällt mir.“ „Ich bin keine Puppe!“ Alexander schmunzelte über meinen energischen Widerspruch. „Gewiss nicht. Verzeihen Sie diesen Vergleich.“ Er trank einen Schluck Wein, bevor er weitersprach: „Ich bin nicht ausnahmslos wegen Ihren hier, Miss Paine. Vielmehr noch interessiert mich, ob Sofias Methode das Risiko wert ist.“ Der Themenwechsel kam mir äußerst gelegen. „Wie kommen Sie darauf, dass sie das jetzt schon beantworten kann?“ „Können Sie es?“ Eine gute Frage. Konnte ich? „Nun ... ja, ich denke, sie ist das Risiko wert.“ „Bitte erklären Sie mir das.“ Alexander hatte sich gespannt nach vorne gebeugt und ruhte mit dem Ellenbogen auf der Armlehne. Ich musste einen Augenblick darüber nachdenken, dann fand ich die Worte, die es am besten beschreiben konnten: „Ich vertraue ihr.“ Er wirkte beinah überrascht. "Das ist durchaus ein nicht zu verachtender Grund. Womöglich sollte ich diese Methode in Betracht ziehen." Klang, als wäre es nicht nur das reine Interesse an Sofias revolutionärem Handeln. "Sie haben konkrete Pläne?" "In der Tat. Der Gedanke reizt mich seit geraumer Zeit." Er winkte ab. "Überlegungen, die ich mit Sofia besprechen möchte." "Verstehe. Sie haben jemanden im Auge." Er nickte. "Einen jungen Mann, etwa dein Alter. Recht begabt an der Geige ... ich denke, Sie würden ihn mögen." Alexander ließ seine Blicke durch den Raum streifen und wechselte wiederholt das Thema: "Leben Sie gerne hier?" "Ja." Seine Präsenz hatte innerhalb kürzester Zeit den gesamten Raum eingenommen. Ein beängstigendes Gefühl, jedes Mal, wenn sein Blick mich streifte. Als versuchte er tief in mich hineinsehen, durch jede Pore meiner Haut. Ich ertrug es noch ein paar Minuten, dann fixierte ich seine Augen. "Hören Sie auf, mich so anzusehen." Er schmunzelte sanft und mein Puls beschleunigte sich spürbar, als er meine Aufforderung verneinte. "Ich sehe Sie gerne an", sagte er und lehnte sich entspannt zurück. Ob er Sofia auch auf diese Weise angesehen hatte? Meine Nackenhaare stellten sich. "Bereitet es Ihnen Unbehagen?", fragte er. Viel mehr als er zu ahnen glaubte. "Sie bringen mich aus dem Konzept", gestand ich und beobachtete, wie seine Gesichtszüge mit Überraschung auf diese Aussage reagierten. "Hören Sie auf damit." "Ich tue nichts", gab er zur Antwort. "Sie-", setzte ich an, um zu widersprechen, dann warf er mir einen Blick zu, der mit Worten kaum zu beschreiben war, und ich verstummte. Er war durchdringend, herrisch und über alle Maßen anziehend. Alexander zog mich in seinen Bann und ich konnte nichts dagegen tun. Wie konnte er bloß? Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und beschloss, mich nicht weiter einschüchtern zu lassen. "Sie sind kein Mann, der oft zurückgewiesen wird, nicht wahr?" Er stellte sein Glas beiseite. "Üblicherweise nicht, aber ich vermute, Sie möchten das ändern?" Das wollte ich, nur sprach ich es nicht aus und Alexander erhob sich. Ich beobachtete, wie er sich die Haare zurechtlegte, den Nacken dehnte und erwartungsvoll zur Tür sah, als hätte er mich von jetzt auf gleich vergessen. Von dichtem Schneegestöber umrahmt, trat Sofia in den Flur – er hatte sie gehört. "Sofia, meine Liebe. Schön, dich zu sehen", begrüßte er sie. "Sieh an." Sofia trat zu uns in den Salon und blieb mit prüfendem Blick vor Alexander stehen. "Ihr seid früh dran, Herr Şerban. Wie ungebührlich für einen Mann von Welt." "Bitte um Verzeihung." Sofia sprach weiter und ich verstand nichts mehr. Vermutlich war es Russisch. Die beiden wechselten ein paar Worte, Sofias Miene erhellte sich zunehmend und mir war von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, die beiden zu beobachten. Sie waren vertraut miteinander. Beinah konnte man hören, wie es knisterte und ich war drauf und dran, den Raum zu verlassen, als Sofia ihre Hände auf seiner Brust platzierte. Welche Intimitäten sie auch immer austauschen wollten, dessen brauchte ich nicht beiwohnen. Mein Entschluss war gefasst und plötzlich – als Alexander sich zu Sofia hinunter beugen wollte – schlug sie ihm ihre Hand ins Gesicht und bohrte ihre roten Fingernägel tief in seine Haut. "Nenn mir einen Grund, dir nicht den Hals umzudrehen!", knurrte sie ihn an. "Es gibt keinen", entgegnete er so ruhig, dass ich glaubte, er wollte es darauf anlegen. "Ganz recht." Zu meinem Erstaunen gab sie ihn frei und nahm sich stattdessen das Glas vom Tisch. Sie trank einen Schluck und fuhr in aller Ruhe fort: "Darf ich vorstellen: Alexander Şerban, ein alter Freund, Gefährte und schlimmster Alptraum. Ich habe ihm bereits hunderte Male gesagt, er solle die Finger von meinen Schützlingen lassen, aber ... da ist er unverbesserlich." "Dabei habe ich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Sie traut mir dennoch nicht", verteidigte er sich. Sofia schnaubte skeptisch und ließ sich neben mir auf dem Sofa nieder. "Er hat eine Vorliebe für menschliche Frauen", klärte sie mich auf. "Ich hoffe, er ist dir nicht zu nahe getreten?" Mir ging etwas ganz anderes durch den Kopf. "Dann war er schon damals ein Vampir?" Verblüffung spiegelte sich in Sofias Gesicht, dann lachte sie und weihte mich ein: "Natürlich. Er ist der Grund, weswegen Katerina keine Wahl blieb, als mich zu wandeln." "Ich war jung", warf Alexander ein, nachdem er erneut in Sofias Sessel Platz genommen hatte. "Hätte sie es nicht getan, wäre ich in dieser Nacht nicht zurückgekehrt." Eine entsetzliche Wendung. "Er hat dich umgebracht?" "Versehentlich, ja", erklärte Sofia und lächelte dabei. "Aber das ist lange her. Dafür habe ich ihm ein halbes Jahrhundert lang das Leben zur Hölle gemacht." "Du übertreibst. Wir hatten eine schöne Zeit", widersprach Alexander und schien in Erinnerungen zu schwelgen. "Wie dem auch sei. Auch das ist lange her und inzwischen sind wir Freunde." Er nickte zustimmend. Für mich war diese Entwicklung weit weniger nachvollziehbar. Er hatte sie umgebracht und dennoch waren sie Freunde. Eine verdrehte Welt, in der die beiden sich bewegten. "Die nächsten Tage wird er unser Gast sein und ...", sie warf ihm einen warnenden Blick zu, "sollte er dich erneut in eine unangenehme Situation bringen, werde ich ihn mit Freude in kleine Stücke zerreißen." Ein liebevolles Lächeln rundete ihre Warnung ab. "Ihr habt sicher viel zu besprechen", kündigte ich meinen Abschied an. "Ich will euch nicht länger aufhalten, also: Gute Nacht." Zeit dieses ungewöhnliche Paar sich selbst zu überlassen. Ich streifte mir meinen Mantel über und eilte hinaus ins Schneegestöber, um Brennholz aus der Vorratshütte zu holen. Ein wenig frische Luft tat mir ebenfalls gut. Ich stapelte die Scheite in einen Korb und wollte den Rückweg antreten, als mir der Schreck durch die Glieder fuhr. Ezra hatte direkt hinter mir gestanden. "Verdammt, Ezra!", fuhr ich ihn an. "Du hast mich erschreckt! Was tust du hier?" Er hob die Hand und eine glühende Zigarre beantwortete meine Frage. "Warum hier drinnen?" "Es schneit." Richtig. Trotzdem war das Haus groß genug, um in Ruhe irgendwo rauchen zu können. "Ist irgendetwas?" "Was soll sein?", fragte er zurück. "Du rauchst nicht, wenn nichts ist." Schweigen. Ich hatte Geduld. Eine Weile geschah nichts, dann blies Ezra amüsiert die Luft aus. "Beeindruckende Beobachtungsgabe." "Danke." Sollte ich nachfragen? Nein. Ich entschied, zu warten. Die bessere Entscheidung, wie ich feststellte. Ezra zog an der Zigarre und ergriff das Wort: "Ich würde gerne ein paar Tage verschwinden, wie Magdalena, aber ich kann nicht." "Wieso?" "Wegen dir." "Oh ... wegen unserem Training? Ich kann ruhig ein paar Tage ohne dich damit verbringen." Er seufzte leise. "Nein, wegen Alexander." Sein herablassender Tonfall verriet mir einiges. "Du magst ihn nicht?" "Korrekt. Er bedeutet nichts als Ärger." "Sofia scheint das anders zu sehen." "Er ist ein schmieriger Hund. Selbst dich hat er um den Finger gewickelt!" "Wie? Du spinnst doch!", protestierte ich. Ich fühlte mich ertappt. "Nein. Ich weiß, dass er diese Wirkung auf Frauen hat, besonders auf die menschlichen und ... es kotzt mich an, mit welcher Selbstverständlichkeit er glaubt, sich alles nehmen zu können." "Mich nicht!", behauptete ich felsenfest. "Sicher." Er klang nicht überzeugt. "Bist du deswegen hier draußen? Weil du ihm nicht begegnen willst?" "Weil ich ihm nicht den Kopf abreißen will. Magdalena wäre wenig begeistert, die Sauerei beseitigen zu müssen." "Verstehe." Ich konnte nicht anders, als über diese Aussage zu schmunzeln. Interessant, worüber er sich sorgte. "Gut, dann werde ich zurück ins Haus gehen und mich in meinem Zimmer verbarrikadieren. Zur Sicherheit." Ezra antwortete nicht, also nahm ich an, ich könnte gehen. Falsch. Er war nicht fertig. "Wann gibst du es ab?", fragte er, nachdem ich ihn passiert hatte. "Was?" "Das letzte Kapitel. Wovor hast du Angst?" Ein beeindruckender Themenwechsel. Ich fragte erst gar nicht, woher er das wusste. Es war ein Trugschluss, Geheimnisse vor ihm verbergen zu können, bekam er doch trotz seiner Blindheit deutlich mehr mit, als die Sehenden. "Ich habe keine Angst." "Dann gib es ab." "Ich glaube nicht, dass du das zu entscheiden hast. Man sieht sich." Damit erklärte ich die Unterhaltung für beendet und zog mich ins Haus zurück. Ezra hatte keine Einwände. Er ließ mich ziehen, doch seine Worten klebten wie Harz. Ein geschickter Schachzug, das musste man ihm lassen. Vielleicht hatte er recht, vielleicht nicht. Immerhin verwahrte ich das Kapitel seit nunmehr einem halben Jahr in meinem Schreibtisch. Möglich, dass es Zeit wurde, jedoch nicht, solange Alexander zu Besuch war. Ich verwandte die Tage seiner Anwesenheit, mein Bild zu vervollständigen, dass ich von Sofia und ihrem Leben vor mir hatte. Allmählich fügten sich die Teile zusammen, insofern war Alexander mir überaus hilfreich, wenngleich ich ihn mit Vorsicht genoss. Ezras Warnung hatte ich nicht vergessen und wahrte stets den nötigen Abstand, was leichter war, da Sofia uns nicht alleine in einem Raum ließ. Er hielt meine Hand und hauchte einen Kuss darauf, als er sich am Abend des ersten Weihnachtsfeiertags verabschiedete. "Ich freue mich, Sie bald wieder zu sehen, Miss Paine." Ich nickte höflich und wünschte ihm eine gute Heimreise, dann überließ ich Sofia das Feld und verschwand zurück in den wohlig warmen Salon. Sofia folgte einige Minuten später. Ich legte das letzte Kapitel auf den Tisch und sie sah mich verblüfft an. "Ich habe mich entschieden." Sie nahm das Papier und begutachtete es ausgiebig. "Du hast mich lange warten lassen, aber es freut mich, dass ich es doch lesen darf." "Das meine ich nicht. Ich will nicht länger euer aller Zeit verschwenden." Sofia hob den Blick von meinem Kapitel und bedachte nun mich mit prüfenden Blicken. "Wie meinst du das?" "Ich möchte deine Schülerin werden." Sie schwieg. In ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung, also sprach ich weiter: "Ich hatte etwas mehr Freude erwartet." "Hast du es dir gut überlegt? Du weißt, was das bedeutet." Als würde sie mich vom Gegenteil überzeugen wollen. "Natürlich habe ich das. Seit Jahren denke ich darüber nach!" "Gibt es einen bestimmten Grund, warum du dich so plötzlich entschieden hast?" "Benötige ich einen?" Ich war nicht sicher, ob sie sich freute. Im Augenblick sah es weniger danach aus. "Nein." Sie lächelte und hob mein Kapitel ein Stück an. "Ich werde das hier lesen, solange kannst du deine Entscheidung noch überdenken." "Ist gut. Aber sie steht fest." Sie schenkte mir ein wohlwollendes Nicken und verließ den Raum. "Wohin gehst du?", rief ich ihr nach. "Du hast sechs Jahre gebraucht, gönn mir ein paar Tage." Ein berechtigter Einwand, schließlich betraf meine Entscheidung nicht nur mich. Auf ein paar Tage kam es ohnehin nicht an, wenn die Unendlichkeit einen erwartete. So blieb mir genug Zeit, auch Magdalena einzuweihen. Sie hatte es weniger gut aufgenommen, als ich gehofft hatte, doch sie machte keine Anstalten, mich umzustimmen. Mein Entschluss war endgültig. Ich wollte das Geschenk annehmen, das Sofia mir bot. Die Stärke und die Veränderung, die sich daraus ergab. Ich war weit gekommen und bereit den Preis für den letzten Schritt in eine völlig neue Richtung zu zahlen.   "Heute ist wahrscheinlich der beste Tag, für einen Neubeginn", sagte Sofia, als sie kurz nach Mitternacht am Neujahrstag in die Bibliothek kam. "Wenn du noch immer sicher bist." Ich legte mein Buch zur Seite. "Das bin ich." Sie nickte zufrieden und kam herüber, um mir ein halb gefülltes Weinglas zu reichen. Es war kein Wein darin. "Ist das ... Blut?" "Deine erste Mahlzeit, sobald du erwachst", sagte sie ruhig und setzte sich mir gegenüber. "Deines?" "Nein, es ist Menschenblut. Trink, bevor es gerinnt." Sie stieß ihr eigenes Glas gegen meines und leerte ihres in einem Zug. "Es ist besser, du hast etwas im Magen, wenn du aufwachst." Es kostete mich einige Überwindung, diese Flüssigkeit hinunterzuwürgen. Es war noch warm ... Ein widerwärtiger Geschmack nach Metall. Besser ich dachte nicht länger darüber nach. Ich hatte es so gewollt. "Du gewöhnst dich daran", versicherte mir Sofia mit vergnügter Miene. "Was passiert jetzt?" Sie legte ihre Hand offen auf den Tisch. "Deine Hand." Ich gab sie ihr und spürte, wie die Aufregung sich unaufhaltsam durch meinen Körper bahnte. Sofia sprach weiter, ihre Stimme klang wunderbar beruhigend: "Es wird kurz schmerzen, danach wirst du nichts mehr spüren. Es wird schnell vorbei sein. Bist du bereit?" Meine letzte Chance. War ich bereit? Jetzt, da sie fragte ... ich nickte. Sofia zückte ein Messer und hielt ihr Versprechen. Es ging schnell. Sie jagte es durch unser beider Hände, ich schrie und sie war bei mir. Ein kurzer Kuss auf meine Stirn. "Wir sehen uns gleich wieder." Sie sank ein Stück herab und heißes Brennen entflammte meinen Hals. Die Bilder vor meinen Augen verschwammen, meine Hand pochte und viel zu langsam wurde mein Körper taub. Er wurde schwer, meine Lider ergaben sich zuerst und ich wurde ruhig. Ein wohliges Gefühl umfing mich. Ich spürte keine Schmerzen mehr. 026 – Herzschlag ---------------- Sanft strich lauer Wind über meine Haut. Um mich war Dunkelheit und das Zirpen von Grillen zwischen raschelndem Gras. Ich blinzelte und fand mich inmitten der silbrig glänzenden Halme im weichen Mondlicht. Es roch nach Lindenblüten und Getreide. Erdig und vertraut. Über mir funkelte ein prächtiger Sternenteppich, endlos weit und wunderschön. Eine makellose Sommernacht. Das Rascheln im Gras wurde lauter, es knackte und näherte sich eilig. Hastig wurde die Luft eingesaugt und ausgeblasen. Jemand hatte mich entdeckt und bahnte sich seinen Weg zu mir. Eine neugierige Hundenase drängte durchs hohe Gras und blies entsetzt die Luft aus, als sie mich anstieß. Ich streckte meine Hand nach dem Tier aus und grub meine Finger in sein weiches, lockiges Fell. "Hallo Sam." Er begann freudig mit dem Schwanz zu wedeln, kaum hatte ich seinen Namen gesagt, und fuhr mit der feuchten Zunge über mein Gesicht. "Oh Sam, nein, lass das!" Ich setzte mich notgedrungen auf, um ihn abzuwehren. Er quietschte vor Freude und drängte sich unabbringlich weiter an mich. Wie lange hatte ich diesen kleinen, liebenswerten Teufel nicht gesehen? Lange. Zu lange. Er war stürmisch und nicht zu beruhigen, anders als das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte. "Sam! Wo steckst du?", rief eine tiefe, bärige Stimme. "Komm hierher!" Ich kannte diese Stimme. Sie hatte mich viele Male vor Dummheiten bewahrt. Aufmerksam sah ich mich um und erkannte ihren Ursprung einige Fuß entfernt. Joseph? Mein Großvater stand dort und wartete auf seinen Hund. Sam, der kurz nach meinem fünften Geburtstag verstorben war, spitze die Ohren und riss sich los, um seinem Herrn zu gehorchen. Er sprang davon und mein Großvater hob die Hand zum Gruß. Joseph winkte mir und ich starrte zurück, bis Sam bei ihm angekommen war und beide gemeinsam im Schatten verschwanden. Ich rieb mein Gesicht und streckte meine Glieder, die, zu meiner Überraschung, völlig unbekleidet waren. Ich trug nichts als meine Haut. Eigenartig frei fühlte es sich an, als ich aufstand. Ich war leicht und ließ mich vom Wind durch die Nacht führen. Er wusste, wohin ich gehen sollte und ich folgte seinem Willen unbeirrt. Eine Daunenfeder für sein Spiel. Es waren nicht die Wiesen meiner alten Heimat, doch ganz ähnlich. Unendlich weit und lebendig in ihrer nächtlichen Verschlafenheit. Ich trieb dahin und das Licht des Mondes schien heller zu werden, je weiter ich ging. Der Wind frischte auf und fegte durch die Zweige über meinem Kopf. Stürmisch ließ er sie rascheln, in seiner eigenwilligen Melodie. Ich schloss meine Augen und lauschte dem nächtlichen Konzert, dem wilden Kanon von Wald und Wiese, von Gesträuch und Getier. Vielleicht durfte ich eine Weile bleiben. Für immer, ich würde es nicht bedauern. Unter allen Geräuschen der Wildnis erkannte ich eines, das mir die Nackenhaare aufstellte. Es war der einzigartige Klang meiner Kindheit, den ich unter Tausenden wiedererkennen konnte. Das dumpfe Schlagen auf weichem Boden. Er bebte unter Ninas Hufen. Sie galoppierte übermütig auf mich zu und ich konnte nicht erwarten, meine Arme um ihren Hals zu schlingen. Endlich. Nach all den Jahren durfte ich sie noch einmal berühren. Die Wärme, der Geruch von früher, ich würde sie nie wieder loslassen, doch Nina hatte andere Pläne. Ein leiser Pfiff und sie entriss sich meiner Umarmung. Ich konnte sie nicht halten. "Warte!", rief ich ihr nach und beeilte mich, hinterherzukommen. Sie war schnell und ihr Galopp dröhnte laut in meinen Ohren. Was hatte sie aufgeschreckt? Meine Beine wurden schwer. Meine Leichtigkeit war mir geraubt und ich kam kaum voran. Nina wurde langsamer, sie hatte ihr Ziel erreicht: eine junge Frau in einem weißen Kleid – sie lächelte vergnügt, als mein Pferd sie begrüßte. Mühsam versuchte ich näher heranzukommen. Der Boden hielt mich gefangen, wie Moor, und zwang mich in die Knie. Ich blickte zu meinen Füßen, dort war nichts. Kein Moor, keine Fessel, nur Gras und trockene Erde, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter. "Du bist groß geworden", sagte die Frau. Sie war plötzlich herübergekommen und ich glaubte, in einen Spiegel zu blicken. Sie sah mir gespenstisch ähnlich. Je näher sie kam, desto klarer konnte ich sie sehen. Ihre Augen waren meinen gleich. Oder ... meine den ihren. Die Nase, die Wangenknochen, ein genaues Ebenbild. Nur die Partie um ihren Mund war ein wenig anders – wie mein Vater es erzählt hatte. Sie fuhr fort und ihre Stimme war seidenweich, wie Balsam umhüllte mich ihr Klang: "Komm, steh auf." Maryann reichte mir ihre Hand. Ich hob die meine vom Boden und wurde erschüttert, als mein eigenes Herz mit all seiner Kraft gegen meine Rippen schlug. Immer wieder. Es schmerzte in meiner Brust und überschallte den heftigen Wind, der laut um mich pfiff. Ich wollte zugreifen, wollte ihre Hand fassen, ein einziges Mal, doch mit jedem Schlag sank ich tiefer. "Es ist Zeit aufzuwachen", klang Sofias Stimme durch all den Lärm in mir. Mir blieb nichts, als ein Blick hinauf zu meiner Mutter, ein letztes Sträuben gegen den Sog, der mich von diesem Ort holen wollte. Sie beugte sich herab, die Hand noch immer ausgestreckt, und strich über meine Wange, bevor sie vom nächsten Windhauch hinfort getragen wurde und ihre Berührung nicht mehr als eine blasse Erinnerung war. Der Boden tat sich auf, kleine Steine und Erde flogen durch die Luft, umkreisten mich, der Mond versank und Sterne fielen brennend aus dem Firmament. Um mich herrschte Chaos, als ich tiefer sank und von der friedlichen Weite nichts übrig blieb als wilder Sturm und das unbändige Schlagen in meiner Brust. "Megan? Hörst du mich? Mach deine Augen auf." Wie? Wenn doch alles um mich herum unter lautem Getöse zusammenbrach? Ich wollte nicht sehen, was geschah. "Du musst ruhiger atmen. Langsam, dann wird es besser." Ich versuchte es, atmete bewusst und der Sturm legte sich. Das tiefe Schwarz wich flackerndem Kerzenschein, als ich Sofias Aufforderung nachkam und die Augen öffnete. Ich lag friedlich in meinem Bett und es war ruhig in meinem Zimmer. Nur der Stoff von Sofias Kleid knisterte leise, als sie sich nach vorne beugte. "Wie geht es dir?", fragte sie. "Ich habe meine Mutter gesehen ...", gab ich zur Antwort. "Hat sie etwas gesagt?" "Dass ich groß geworden bin ... und dass ich aufstehen soll." Sofia lächelte. "Eine weise Frau." Sie erhob sich aus dem Stuhl neben meinem Bett und entfernte sich aus meinem Sichtfeld. Ich wusste, wo sie stehen geblieben war: neben meinem Kleiderschrank. "Ich schlage vor, du folgst ihrem Rat, ziehst dir etwas Passenderes an und wir gehen nach draußen." "Ich war tot, nicht wahr?" Ein Gedanke, der mir nicht aus dem Kopf gehen mochte. Ich hatte meine Mutter gesehen, Nina, meinen Großvater und Sam. Sofia kam mit einem Bündel Kleidung zurück an mein Bett und nahm darauf Platz. Ihre Bewegungen lösten leichte Wellen aus, die mich erfassten, es fühlte sich merkwürdig an. "Für einen Moment warst du das, ja." "Dann habe ich das Jenseits gesehen?" Ein sanfter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als sie antwortete: "Das zu beurteilen, vermag ich nicht." Wie sollte sie auch, wenn selbst ich mir nicht sicher war. Vielleicht war es ein Traum gewesen, vielleicht mehr. Berührt hatte es mich in jedem Fall. "Möchtest du noch einen Moment alleine sein?" "Nein. Ich ..." Ich setzte mich vorsichtig auf und versuchte mir über meine Situation klar zu werden. Das Gefühl des Stoffes, der über meine Haut streifte, war anders. Detailreicher als zuvor. Ich spürte jede kleine Unebenheit in den Fasern, wenn ich meine Finger darübergleiten ließ. Auf meinem Handrücken zeichnete sich eine feine, rosafarbene Linie ab – fast verheilt. Ich schloss noch einmal meine Augen. Es knarzte leise in den Wänden und im Boden, der Wind strich ums Haus und ich hörte ein zweites Herz schlagen, eine zweite Lunge atmen und das Rauschen des Blutes in Sofias Adern. "Ich kann es hören." "Was hörst du?" "Alles. Den Wind, das Holz, mich, dich ..." Ich lauschte nochmals auf die Geräusche, die mich umgaben. "Ich höre die Uhr im Salon und die Hunde. Sie schlafen unten, der Ofen ist noch nicht aus und draußen im Apfelbaum schreit ein Kauz." Sofia nickte. "Es sind zwei." Ich hörte noch einmal genauer hin. Sofia hatte recht – natürlich hatte sie das. Es war eigenartig, die Dinge in solchem Maße klar wahrzunehmen. Sie alle waren bisher unbemerkt an mir vorbeigegangen. Selbst der Geruch meines Bettes – es roch nach Staub und Seife, ich selbst roch nach Seife, mein Nachthemd am allermeisten. "Ich habe dich gebadet und frisch eingekleidet", erklärte mir Sofia diesen Umstand, ehe ich fragen konnte. Irgendetwas zwischen all der Seife roch süßlich, herber als Karamell, leichter als Rosen, eine feine Note, die ich nicht zuordnen konnte. "Bist du das?", fragte ich Sofia. "Dieser süße Geruch?" Sie lachte. "Schon möglich. Ich rieche das selbst nicht." "Das ist mir vorher nie aufgefallen ... ich habe immer nur die Zigarren gerochen." "Ein Mensch kann auch nichts anderes wahrnehmen. Wir haben keinen sehr ausgeprägten Eigengeruch, das wäre von Nachteil bei der Jagd." "... weil Menschen unterschiedliche Präferenzen haben?" "Ja." "Verstehe." "Du hast mir noch nicht verraten, wie es dir geht." Gut. Eigentlich gut. Ich fühlte mich zerbrechlich, was ich nicht erwartet hatte. In meiner Fantasie hatte mich ein Gefühl von Unbesiegbarkeit durchströmt, doch so war es nicht, im Gegenteil. "Es ist anders. Ich hatte nicht gedacht, mich so verletzlich zu fühlen." "Nun, in gewisser Weise bist du das auch, aber es wird sich legen, hab keine Sorge. Du musst dich noch daran gewöhnen, wie scharf deine Sinne sind." "Wie lange wird das dauern?" "Ein paar Tage, vermutlich. Es geht recht schnell." Sie reichte mir die Kleidung, die sie bisher auf ihrem Schoß verwahrt hatte. "Zieh dich an." Ich verharrte kurz, dann griff ich nach dem Bündel und rutschte aus dem Bett, um mich umzuziehen. Ich beeilte mich, um es hinter mich zu bringen. Der Stoff verursachte eine unangenehme Gänsehaut, es schüttelte mich kurz, dann war ich fertig und wir verließen mein Zimmer. Jeder meiner Schritte erschien mir trampelnd, sie waren lauter als Sofias Schritte. Kein Wunder, dass Ezra auch blind genau wusste, wo ich war. Ich gab mir Mühe, etwas leiser zu laufen und folgte Sofia die Treppe hinunter. Das Schnaufen der Hunde wurde lauter. Das Feuer im Salon knisterte noch, die Uhr tickte leise und jetzt konnte ich auch Magdalena hören. Sie schlief ruhig in ihrem Zimmer neben dem Salon. Ich hörte ihren Atem, ihr Herz, ihr Blut, dann öffnete Sofia die Haustür und die kühle Winterluft verdrängte den rauchigen, holzigen Geruch des Hauses. "Komm." Ich folgte ihr hinaus, ohne Jacke, so kalt kam es mir nicht vor, und sog die kalte Luft tief in meine Lungen. Ein herrliches Gefühl. Sofia hatte sich mir zugewandt, sie lächelte zufrieden. "Ich möchte dir etwas zeigen. Ich denke, es wird dir gefallen." Ich sah mich kurz um. Wir standen im vorderen Garten, ich konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Alles lag in gewohntem Winterschlaf. "Was?" "Wie schnell du bist." Dann gab sie mir mit ihrem Zeigefinger zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte, und bewegte sich von mir fort. Erst langsam, dann immer schneller, geschmeidig, wie eine Katze. Ich nahm die Verfolgung auf. Sofia war mir weit voraus, sie was schneller, sehr viel schneller. Ich versuchte, mehr Geschwindigkeit aufzunehmen. Vergeblich. Wohl eine Sache der Übung nahm ich an. "Du rennst wie ein Mensch!", rief Sofia mir zu. "Es geht nicht anders!" "Unsinn." Sie war zurückgekommen, griff meine Hand und zog mich mit. Wir wurden schneller, ich verlor den Halt unter meinen Füßen. "Nicht so schnell!", flehte ich. Jeden Moment würde ich fallen. Ich konnte gerade noch erkennen, was unter mir war. Steine, Erde, Gras, alles flog an mir vorbei, doch Sofia scherte sich nicht darum. "Du musst rennen!", trieb sie mich an. "Das tue ich!" "Nein, du gehst! Schluss damit!" Sie packte meine Hand noch fester und riss mich mit sich, als sie ruckartig schneller wurde. Ich hatte keine Chance. Ich würde fallen, oder musste laufen. Also lief ich. Ich rannte und vergaß den Boden unter mir. Er war nicht wichtig, ich musste nur laufen. Sofia ließ mich los und ich flog weiter – völlig frei, von Euphorie berauscht. Kein Pferd der Welt konnte eine solche Geschwindigkeit erreichen. Ich musste doppelt so schnell sein, mindestens. Die Luft rauschte an mir vorbei, noch ein wenig schneller. Meine Augen begannen zu tränen – vom Wind. Ich konnte kaum mehr etwas sehen, doch das Feld war weit und leer, ich konnte rennen, fliegen und alles um mich herum vergessen. Nur ich und die Geschwindigkeit, die mich süchtig machte. Das Grinsen in meinem Gesicht musste einmal rundherum um meinen Kopf gespannt sein. Mein Herz überschlug sich schier und in meinem Bauch sprühten Funken. Ich drohte zu explodieren und schrie einen Teil dieser Freude laut in die Nacht. Es war fabelhaft. Ich wurde erst langsamer, als mir ein fremdartiger Geruch in die Nase stieg. Er hatte sich durch den herben Duft der winterlichen Wiesenfelder gedrängt und machte mich neugierig. Er machte mich hungrig und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, also folgte ich seiner Fährte, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. "Ich dachte schon, du bemerkst es nie." Sofia lachte, als ich mich langsam näherte. Sie roch plötzlich unfassbar köstlich. "Was ist das?" "Blut", gab sie knapp zur Antwort. "Ich wusste, dass du nicht widerstehen könntest, wenn du es erst gerochen hast. Offenbar hat deine erste Mahlzeit ihren Zweck erfüllt, aber irgendwann ..." Irgendwann interessierte mich nicht mehr. Viel mehr interessierte mich, wie sie schmeckte. Ich stand knapp drei Fuß von ihr entfernt. Sie erklärte mir irgendetwas. Belanglos. Ich verstand kein Wort, hörte aber sehr wohl das Rauschen unter ihrer Haut. Ein hypnotisches Geräusch. Mein Herz schlug eilig, mein Atem ging schwer. Ich brauchte ihr Blut  sofort! Rasend schnell hatte ich die kurze Distanz überbrückt und meine Arme fest um sie geschlungen. Sofia wehrte sich nicht und meine Zähne versanken tief in der weichen Haut ihres Halses. Sie gab nach und Sofias Blut strömte meine Kehle hinab. Das Beste, was ich je gekostet hatte. 027 – Festmahl -------------- Irgendwann – ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – hörte ich lautes Schnippen neben meinem Ohr. Ich konnte es nicht zuordnen und noch weniger deuten. "Genug. Lass los", sagte Sofia und legte ihre Hand an meinen Hals. Loslassen? Hielt ich sie fest? Ich musste meine Arme wiederfinden. Sie waren meinem Bewusstsein meilenweit entglitten und ich fand sie, einen um Sofias Brustkorb, den anderen um ihre Taille geklammert. Meine Finger fest in den Stoff ihrer Kleidung gekrallt. Vorsichtig öffnete ich meine Augen – ich war nicht sicher, was mich erwarten würde – und lockerte meinen Kiefer, als ich den vollen Umfang unserer Situation erfasste. Mein Geist war wieder klar, ich musste meinen Mund von ihr lösen, meine Arme entspannen, und zwar sofort, das gab sie mir unmissverständlich mit festem Druck auf meinen Kehlkopf zu verstehen, also beeilte ich mich, etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Sofia stand entspannt vor mir, in ihrem Blick lag Zufriedenheit. Stolz. Offenbar hatte ich mich richtig verhalten, trotz des unkontrollierten Überfalls. Ich schmeckte noch ihr Blut auf meiner Zunge, auf meinen Lippen und vielleicht hätte ich es eigenartig finden müssen, widerwärtig, doch es ekelte mich nicht im Geringsten. Sie zog ein Tuch aus einer kleinen Tasche ihres Kleides und trat auf mich zu, um mir den Mund abzuwischen – das halbe Gesicht, wenn man es genau nahm. "Wie fühlst du dich?", fragte sie dabei. "Gut." Ich ließ sie machen. "Besser als erwartet. Ich dachte, es wäre schwieriger." "Das freut mich." Sie wischte noch einige Male über ihren Hals, dann verstaute sie das Tuch wieder in ihrer Tasche – das Kleid war ohnehin kaum mehr zu retten. "Tatsächlich bin auch ich erstaunt über die Leichtigkeit, mit der du dich lösen konntest. Gewöhnlich funktioniert es nicht gewaltlos und selten endet es ohne Panik." Ich zuckte mit den Schultern. "Das ist doch gut, oder?", fügte ich hinzu. "Sehr." Sie lächelte zufrieden. "Allerdings hatte ich darauf gebaut, dich verletzen zu können." "Wie bitte?", entfuhr es mir. Sofia winkte beschwichtigend ab. "Nur um zu sehen, wie schnell du heilst." "Verstehe ... also ist das– ah! Fuck!" Ich fluchte, als Sofia ihre langen Fingernägel ohne Vorwarnung über die Haut meines Unterarms zog und tiefe blutige Spuren hinterließ. "... bei jedem ein bisschen anders", vollendete sie meine unausgesprochene Frage und musterte gespannt meinen Arm. "Deiner Ausdrucksweise hat die Wandlung offenbar nicht allzu gut getan." Der Schmerz auf meiner Haut ließ schnell nach und es begann zu kribbeln. "Meine ... oh ... ja, wird nicht wieder vorkommen." "Warum?" Sie betrachtete noch immer ununterbrochen meinen Arm. "Nur weil es nicht gut ist, heißt das nicht, dass du es nicht darfst. Manchmal ist schlecht ohnehin die bessere Wahl." "Mh-hm." Viel mehr wusste ich darauf nicht zu sagen. Ich war fasziniert vom Gefühl, das sich über meinen Unterarm ausgebreitet hatte, ich konnte spüren, wie meine Haut sich regenerierte, und wartete gebannt auf den Moment, in dem ich es sehen konnte. "Wie fühlt es sich an?", fragte Sofia. "Es kribbelt und ziept und juckt ein bisschen." "Es tut nicht mehr weh?" "Nein." "Gut, dann wird es in ein paar Minuten verheilt sein." "Also geht es nicht immer so schnell?" "Nein, es ist unterschiedlich, wie schnell man heilt." Ich antwortete nicht, also sprach sie unaufgefordert weiter und ergänzte ihre Aussage: "Zum einen, von den individuellen Eigenschaften deines Körpers – darauf hat man keinen Einfluss – zum anderen, von der Reinheit der Verletzung. Auch darauf hat man höchst selten Einfluss. Allerdings heilst du auch schneller, je gesättigter du bist." "Verstehe", gab ich knapp zurück und fokussierte weiter aufmerksam die Entwicklung auf meinem Arm. "Was meinst du mit Reinheit? Sauberkeit?" "Ja. Sind deine Wunden sauber, ersparst du dir einige Unannehmlichkeiten." "Klingt logisch ..." Ich brachte ihr zur Abwechslung meine ungeteilte Aufmerksamkeit entgegen. "Wie wahrscheinlich ist es überhaupt, dass mich jemand verletzt? Abgesehen von dir." Sofia musterte meinen übertrieben vorwurfsvollen Blick. Ich ließ sie schmoren, bevor ich ihn, zu ihrer Erleichterung, in ein amüsiertes Grinsen verwandelte. "Unwahrscheinlich", gab sie zur Antwort. "Außer du legst dich mit den falschen Leuten an." "Von denen du mich sicher fernhalten wirst." "Natürlich." Sofia bedachte mich mit dem glückseligsten Lächeln, das ich je bei ihr gesehen hatte. Wohl ähnlich dem Blick einer Mutter, die ihr Neugeborenes betrachtete. Befremdlich, auf diese Weise angesehen zu werden. "Sehr schön, dann habe ich ja nichts zu befürchten", unterbrach ich die unangenehme Stille und stahl mich mit ein paar schnellen Schritten davon. Der Anblick der gefrorenen Landschaft war mir deutlich lieber. Trockene Halme glitzerten unter einer dicken Reifschicht. Es war eisig und bis eben war mir das nicht einmal aufgefallen. Sofia legte ihre Hand auf meine Schulter. "Lass uns nach Hause gehen", sagte sie mit samtweicher Stimme. "Bevor es zu kalt wird." "Ich friere nicht." "Nein, aber ich." Sie ging an mir vorbei und ich folgte widerstandslos. Es knackte und knirschte unter unseren Schuhsolen. Es raschelte im Gesträuch und ich hörte jemanden auf leisen Pfoten eilig davonschleichen. Sein Geruch lag unverkennbar in der Luft. Ein Fuchs. Ich war versucht, erneut stehen zu bleiben, um die Nacht mit all ihren Geräuschen und Gerüchen und deren erstaunlicher Klarheit auf mich wirken zu lassen, doch Sofia ging zügig voran und ich wollte sie nicht aus den Augen verlieren. Ich schätze die Strecke auf etwa fünf Meilen. Bei moderater Geschwindigkeit hatten wir gute eineinhalb Stunden benötigt, bis wir die Haustür erreichten. Drinnen war es wunderbar warm. Tatsächlich um einiges angenehmer als die klirrende Kälte vor der Tür, die ich erfolgreich ignoriert hatte. Mir stieg eine wilde Mischung der verschiedensten Gerüche in die Nase. Zweifellos am meisten rochen die Hunde, deren Schnarchen man noch immer aus dem Salon hören konnte. Verbranntes Holz und Rauch. Das Feuer war längst erloschen, dennoch lag eine leichte Schärfe in der Luft. Es roch nach Wachs, nach Harz und tausend anderen Dingen, die ich nicht definieren konnte. Ich hatte den Geruch des Hauses nicht in solchem Maße stark wahrgenommen, bevor wir es verlassen hatten. Wohl eine Frage der Gewöhnung, jedenfalls hoffte ich das. Sofia ging an mir vorbei zur Treppe. Ich tat zwei Schritte in ihre Richtung und verharrte. Ein eigenartig heißer Schauer lief mir vom Nacken über die Schultern zum Bauch und machte mein Herz nervös. Von jetzt auf gleich erfasste mich eine ungeheure Aufregung, die Sofia nicht entging. "Megan, sieh mich an." Ich kam ihrer Aufforderung nach. "Atme durch den Mund", fuhr sie fort. Auch das tat ich und wurde allmählich ruhiger. Ich konzentrierte mich auf Sofias Gesicht, dessen Züge mir deutliche Anspannung signalisierten. Sie hob die Brauen. "Geht es wieder?" Ich nickte und erkannte im Augenwinkel eine Gestalt aus dem Salon treten. "Ihr ward lange unterwegs." Ezra gesellte sich zu uns in den Flur. Ich atmete weiter durch den Mund. "Wir waren fast in Highmore", erklärte Sofia. "Sie hat sich gut geschlagen." Highmore. Ein winziges Dorf weiter östlich von Pierre. Fast fünfzig Meilen entfernt. An meinem Distanzempfinden musste ich arbeiten. "Gehör?", fragte Ezra. Sofia antwortete: "Angemessen." "Geruchssinn?" "Durchschnittlich." "Geschwindigkeit?" Es klang wie ein Verkaufsgespräch. Eine abartig unangenehme Situation. "Gut", sagte Sofia. "Sicht?" Mir war es genug. "Hört auf damit! Ich bin doch keine Ware." Sofia lachte leise. "Natürlich nicht." Dann beantwortete sie Ezras Frage: "Kann ich noch nicht beurteilen. Ich denke normal bis gut." Ezra ließ sich nicht im Geringsten durch meinen Protest beeinflussen. "Heilung?" Sofias Blick fiel auf meinen Arm. "Ausgezeichnet." Ihre Kratzspuren waren nur noch zartrosafarbene Linien. "Blutdurst?" Unverschämtheit. Wie lange wollte er noch so weitermachen. "Es reicht!" "Überraschend gut kontrollierbar. Außerdem weder Ekel noch Panik", berichtete Sofia. "Euer Ernst?", versuchte ich noch einmal, dieses Verhandlungsgeschwafel zu unterbinden. "Jagdinstinkt?" Ezra fragte unbeeindruckt weiter. Ich wollte ihm den Kopf abreißen – warum eigentlich nicht? Ich dachte zwei Sekunden darüber nach, wie ich es anstellen sollte, fokussierte seinen Kopf und stürzte auf ihn zu. Er sollte den Mund halten, dafür wollte ich sorgen. Meine Finger hatten ihn beinahe erreicht, dann flog mir seine Faust entgegen und bremste mich unsanft aus. Ein weiterer Nasenbruch. Ich fluchte laut und Ezra verschränkte meine Arme mit schnellen Handgriffen fest hinter meinem Rücken. Ich war besiegt. "Krieg dich ein", sagte er mit stoischer Gelassenheit, griff nach meiner Nase und rückte sie kurzerhand wieder zurecht. "Aua!", schimpfte ich lautstark. Er ließ mich los und ich brachte mich Richtung Treppe in Sicherheit. "Wartet, bis ich weg bin, dann könnt ihr weiterreden!" Ich stapfte entnervt nach oben und verschwand im Badezimmer. Sollten sie reden. Ich schloss die Tür hinter mir und ... hörte Sofia, wie sie sich weiter mit Ezra unterhielt. "Das wird sich zeigen." "Auf mich wirkt sie überaus beherrscht", gab Ezra zur Antwort. Eine interessante Auslegung. "Hattest du etwas anderes erwartet?" Keine Reaktion, offenbar war die Unterhaltung beendet. Ich atmete tief durch und trat ans Waschbecken. Aus dem Spiegel blickte mich ein Paar großer, neugieriger Augen an. Die Nase sah gut aus. Ich war erleichtert, dass Ezra sie gleich selbst zurück in Position gebracht hatte. Unter ihr hatten sich zwei dunkle Tropfen den Weg zu meiner Oberlippe gebahnt. Ich zögerte, dann fuhr ich mit der Zunge darüber. Es schmeckte nicht schlecht und ließ mich kurz erschauern. Seltsam war es dennoch. Ich öffnete den Wasserhahn und wusch mir gründlich das Gesicht. Das war es also. Mein neues Ich. Auf den ersten Blick war kein Unterschied auszumachen. Ich betrachtete mich ausgiebig von allen Seiten. Nichts Ungewöhnliches. Ich sah aus wie zuvor und fand es fast ein wenig schade. Den wohl einzig sichtbaren Beweis meiner Verwandlung verbarg ich hinter meinen Lippen. Zwei scharfe, spitz zulaufende Eckzähne, kaum um die Hälfte länger als zuvor. Nicht wirklich auffällig, wenn man nicht gezielt darauf achtete, und dennoch gefährlich genug, mir die eigene Zunge daran aufzureißen, wenn ich versuchte, sie damit zu untersuchen. Ich ließ es schnell bleiben. Mit meinen noch nassen Händen fuhr ich über meinen Kopf, um die abstehenden Haare zu bändigen, als es mich unerwartet heftig schüttelte. "Was zur-?" Ich riss sofort die Hände herunter und spürte noch das ungeheure Kitzeln in den Fingerspitzen. "Wow ..." Vorsichtig tastete ich mit dem Zeigefinger noch einmal über mein Haar. Ich spürte jedes Einzelne von ihnen. Manche waren dünner, manche dicker, sie lagen längs und über Kreuz. Faszinierend, wenn man darauf vorbereitet war. Ich fuhr hinab zu meiner Wange, strich mit vier Fingern darüber und schloss die Augen, bevor meine Fingerspitzen über meinen Hals wanderten. Noch nie hatte ich meine eigene Haut in diesem Maße deutlich wahrgenommen, nie eine Berührung klarer und purer gespürt. Mein Herz tanzte, als meine Finger den Weg in meinen Nacken fanden. Ein wohliges Seufzen stahl sich über meine Lippen. Der Luftzug kitzelte sanft und mir wurde warm. Ich klammerte mich mit meiner freien Hand ans kühle Waschbecken, als mir die Knie weich wurden. Ein tiefer Atemzug füllte meine Lungen, ich grub die Finger fest in meine Haut und sank auf den Boden. Das laute metallische Klirren der kleinen Schüssel, die unter dem Waschbecken stand, ließ mich hochschrecken. Ich hob sie schnell vom Boden, um den Krach zu beenden. Erst danach fiel mir auf, dass meine Aufregung nicht allein vom Schreck herrührte. Ich war es selbst gewesen. Obgleich die Berührung ohne Frage unschuldig gewesen war, so ließ mich ihre Wirkung beschmutzt zurück. Eine faszinierende Erkenntnis. Ich zog mich auf die Beine und warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Mein eigener Anblick ließ mich schmunzeln. "So schmutzig siehst du gar nicht aus", stellte ich vergnügt fest und hatte längst Frieden damit geschlossen. Ich verließ das Badezimmer und stand plötzlich vor einer unerwartet schweren Entscheidung. Die Tür meines Zimmers stand einen Spalt offen, Sofia wartete dort auf mich, das konnte ich hören, doch viel verlockender erschien mir der Weg zur Treppe, zurück ins Erdgeschoss. Zurück in den Flur. Ich musste wissen, was es war, das meine Aufmerksamkeit dort unten erregt hatte.  Leise setze ich meine Füße voreinander. Nur ein Schritt, dann stand ich vor dem Treppenabgang. Meine Zehenspitzen berührten die erste Stufe, als jemand seine Hand fest um meinen Arm legte. "Wo willst du hin?", fragte Sofia. "Es ist spät." "Nach unten", antwortete ich wahrheitsgemäß und blickte sie abwartend an. "Wozu?" Ich zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht, ich wollte nur sehen, was im Flur ist." Sofia lächelte sanft, dann zog sie mich zurück. "Danach kannst du morgen sehen." Und wir verschwanden in meinem Zimmer. "Was war das vorhin?", fragte ich, nachdem ich auf meinem Bett Platz genommen hatte. Sofia verschloss die Tür und zog den Schlüssel ab, bevor sie antwortete: "Ich vermute, du hast Magdalenas Jacke bemerkt." "Wie?" "Sie hängt im Flur." "Das weiß ich, aber wieso ... warte." Der Geruch eines Menschen. Vielleicht ... "Wollte ich sie ... jagen?" "Einen Moment länger und du hättest es versucht." Sie sagte es mit erstaunlicher Gelassenheit. Mir fehlten die Worte. Sofia gesellte sich zu mir aufs Bett und fuhr fort: "Sei unbesorgt. Ich bleibe bei dir und habe ein Auge auf dich." "Du bleibst die ganze Nacht ... den ganzen Tag hier?" "So ist es." Mir fiel auf, dass sie sich in ein Nachthemd gehüllt. Sie meinte das ernst und allzu sehr gefiel es mir nicht. Eigentlich hatte ich nichts dagegen, mein Bett zu teilen, doch bei Sofia war es komisch. Diese enorme Nähe fühlte sich falsch an, aber vielleicht gab es in der Welt der Vampire keine Distanz zwischen Schüler und Lehrer und ich war schlicht verbohrt. Möglich war es, doch Verbohrtheit hin oder her, meine Pläne hatten keine Gesellschaft vorgesehen und es stieß mir sauer auf, dass Sofia sich unerlaubt bei mir einquartiert hatte. "Es ist besser so", sagte sie. "Wenn du meinst." Wahrscheinlich hatte sie damit sogar recht. Mir blieb nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren. Ich schlüpfte eilig unter meine Bettdecke und beförderte mein Kopfkissen kurzerhand auf den Boden. Es knisterte zu laut, als dass ich darauf schlafen konnte. "Wirst du jetzt immer hier schlafen?", fragte ich, nachdem ich eine akzeptable Schlafposition gefunden hatte. "Natürlich nicht. Ich bleibe nur so lange, bis wir sicher sein können, dass du keine Dummheiten begehst." "Dummheiten? Du meinst, wie ... Magda überfallen?" "Zum Beispiel." Welch absurde Vorstellung. "Das würde ich nicht. Ich liebe sie wie eine Mutter, wieso sollte ich ihr etwas antun wollen?" "Du hast nicht unbedingt eine Wahl, wenn dein Instinkt dir etwas anderes sagt." "Soll das heißen, ich würde sie verletzen, obwohl ich es nicht will?" "Nein", gab Sofia zur Antwort, "du würdest es wollen. Aber mit der Zeit wirst du die Kontrolle darüber bekommen, was du willst und was du tust. Ich denke, es wird ein Leichtes für dich sein, wenn wir es erst ein paar Mal geübt haben. Deine Selbstbeherrschung ist schon jetzt beachtlich." Ich atmete tief ein und ließ die Luft seufzend ausströmen. "Also solle ich mich von ihr fernhalten." "Ja." "Das gefällt mir nicht." "Hab etwas Geduld. In ein paar Jahren besteht keine Gefahr mehr." Es dauerte einen Moment, bis ich sicher war, dass ich sie richtig verstanden hatte. "Bitte was?" Eine entsetzliche Vorstellung. "In ein paar Jahren?" "Es geht nicht von heute auf morgen." "Und wie viele Jahre sollen das sein?" Mein Tonfall war alles andere als beherrscht. Sofia dagegen blieb unverändert ruhig. "Schwer zu sagen. Du hast Talent, trotzdem wird es wohl zwei, drei Jahre dauern, bis du aus eigener Kraft widerstehen kannst. Um die zwanzig, bis du es ignorieren kannst und vermutlich noch etwas länger, bis es keine Unfälle mehr geben wird."  "Wow ... in zwanzig Jahren. Da ist sie schon über sechzig." Sofia antwortete nicht. Die Aussicht auf ein friedliches Zusammenleben mit Magdalena in zwanzig Jahren drückte meine Laune weit in den Keller. "Aber ich darf sie sehen, oder?" "Unter Aufsicht." Eine ernüchternde Vorstellung. Unter Aufsicht. Wie sollte man sich unter Aufsicht entspannt unterhalten? Ich konnte Magdalena kaum mein Herz ausschütten, wenn Sofia daneben stand. Oder noch schlimmer: Ezra. Das war keine akzeptable Lösung. Ich brauchte Magdalena und zwanzig Jahre waren viel zu lang. Wer konnte schon sagen, ob sie bis dahin noch lebte? Unwahrscheinlich war es nicht, trotzdem konnte man nie wissen, was die Zukunft brachte. Meine Beziehung zu Magdalena war wichtig und ich war nicht bereit, sie abzuschreiben, weil es vielleicht gefährlich sein konnte. Ich bezweifelte stark, dass Sofias Vermutung überhaupt zutraf. Je länger ich darüber sinnierte, desto klarer wurde mir, dass ich es nicht hinnehmen konnte. Unter keinen Umständen. An den Rändern der dicken Vorhänge wurde es bereits hell, als ich einen Entschluss fasste. Sofia schlief seelenruhig. Ich würde ihr beweisen, dass ihre Sorge unbegründet war, und schob langsam die Bettdecke zurück. Der Stoff war laut. Ich behielt Sofias Gesicht die ganze Zeit über im Blick. Ihre Atmung blieb ruhig und gleichmäßig, also setzte ich mich auf und glitt vorsichtig aus dem Bett. Es knarzte, Sofias Lider zuckten, sie blinzelte mich verschlafen an und ich brach ihr mit einem kurzen Ruck das Genick. Ein Reflex. Ich löste die Hände von ihrem Kopf und atmete erleichtert aus. Sie würde mir nicht mehr in die Quere kommen und ich konnte mühelos den Schlüssel aus ihrer Brusttasche stehlen. Mein Weg führte mich ohne Umwege hinunter in die Küche. Ich genoss den warmen Schauer, der mich überrannte, als Magdalenas Duft mich empfing. Er war um so vieles komplexer als die leicht süßliche Note, dich ich in Sofias Gegenwart wahrnehmen konnte. Salzig, süß, scharf und herb. Magdalena war auf den Beinen. Sie stand am Spülbecken. "Guten Morgen", begrüßte ich sie. Sie zuckte unwillkürlich zusammen und drehte sich hastig zu mir um. "Oh, Megan. Ich habe dich nicht kommen gehört." Ihr Herz schlug rasend schnell. "Wo ist Sofia?" Ich hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme und nahm am Küchentisch Platz. "Oben." Magdalena beobachtete mich prüfend. Sie war angespannt. "Solltest du nicht schlafen?", fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. "Ich bin nicht müde." Sie stand mir schweigend gegenüber. Nervös und ratlos. Sie gab sich größte Mühe, eine entspannte Haltung zu bewahren und dabei roch sie überaus verlockend. Ihr Blick flog kurz zur Tür. "Willst du nicht lieber wieder gehen?", fragte sie. Ich stand langsam auf – ihr Puls schoss in die Höhe. "Du hast Angst." Auch mein Puls war weit über ein angemessenes Niveau gestiegen. Ich wollte kosten, nur ein bisschen. Nur kurz. Mein Blick blieb an ihrer bebenden Halsschlagader haften. Alles andere rückte in den Hintergrund. Es war nicht von Belang, was sie sagte. Sie zog mich an, wie das Licht eine Motte. Kopflos. Das Verlangen brach aus mir heraus und ich stürzte mich auf sie, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken. Ein tiefer Stich durchbohrte meine Brust, als ich meine Hände an ihre Schultern gelegt hatte. Mein Atem stockte. Magdalena sah mich entsetzt an. "Es tut mir leid", sagte sie, löste die Hand vom Heft ihres Küchenmessers und schob mich zur Seite. Mir wurde schwindelig. Ich stützte mich rücklings an die Arbeitsplatte und betrachtete den hölzernen Griff, der aus meiner Brust ragte. Jeder weitere Atemzug verursachte höllische Schmerzen. Ein leichter Anflug von Panik erfasste mich. Ich würde ersticken, wenn es dort blieb. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, packte ich den Griff und zog die acht Zoll Metall aus meinen Körper. Mir wurde totschlecht. Die Küche kippte nach rechts, dann wurde sie schwarz. 028 – Versuchung ---------------- Mein Körper war bleiern. Ich trieb in düsterer Tiefe vor mich hin. Kein Licht, kein Geräusch. Friedlich und beängstigend. Dieser Ort war leer und ich wollte fort. Eine mächtige Strömung riss an meinen Gliedern. Aufwärts, immer schneller, lauter. Ein Blatt im Wind, bis ich zu mir kam und auf dem Stuhl neben meinem Bett eine verschwommene Silhouette erkannte. „Was war los?“, murmelte ich unverständlich, während mein Blick sich schärfte. „Du.“ Ezra saß mir mit verschränkten Armen gegenüber. Er war gefasst – wie immer. Ich spürte noch Druck in meiner Brust, als ich mich aufsetzte. Einen Moment, zwei, und ich bemerkte, dass etwas fehlte: Sofia. Ich hatte sie hier zurückgelassen. „Wo ist Sofia?“ Ezra wies mit dem Zeigefinger nach oben. „Wie geht es ihr?“ Sein Schweigen machte mich nervös. Das tat er mit Absicht. „Sag schon!“, forderte ich erneut. „Was glaubst du denn?“ „... nicht gut“, vermutete ich. „Beschissen. Du hast ganze Arbeit geleistet. Kompliment.“ Kein sarkastischer Unterton und ebenso wenig klang es nach Anerkennung. Unmöglich diese Aussage richtig einzuordnen. „Was soll das heißen?“ Diesmal kam seine Antwort umgehend: „Dass du beinahe alles richtig gemacht hast. Dein einziger Fehler war, Magdalena unterschätzt zu haben.“ Die Kälte seiner Miene stand seiner Aussage in nichts nach. „Du bist krank. Wie kannst du das sagen?“ „Aus Fehlern lernt man. Ich will nur sichergehen, dass die deinen dir bewusst sind.“ „Du musst sie ja wahnsinnig hassen ...“ „Magdalena? Nein, überhaupt nicht. Aber ich werte nicht, ich bewerte.“ Ganz neutral, ohne die kleinste Emotion, als wäre es ihm egal, wie so vieles andere auch. Er behängte sich nicht mit anderer Leute Probleme. Meine Augen wanderten von Ezras ausdruckslosem Gesicht, quer durch mein Zimmer, zum Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, dahinter spitzte kein Licht. Die Uhr an meiner Wand stand auf acht. Abends? „Hast du mit ihr gesprochen?“, wollte ich wissen, nachdem ich die Wut über seine Worte hinuntergeschluckt hatte. „Ja.“ „Und was hat sie gesagt?“ „Nicht viel. Sie bat mich, nach dir zu sehen, dann wurde sie ohnmächtig.“ Es tat mir unendlich leid, Magdalena in eine solche Situation gebracht zu haben. „Ist sie in Ordnung?“ „So in Ordnung man sein kann, nachdem man knapp dem Tod entronnen ist.“ Das konnte ich nicht stehen lassen. „Ich wollte sie nicht umbringen!“ „Nicht?“ Zum ersten Mal seit Beginn dieses Gesprächs lag Ausdruck in seiner Stimme: Sarkasmus. „Nein!“ „Sondern?“ „Ich musste wissen, wie sie schmeckt. Das war alles. Ich hatte nicht vor, sie zu töten!“ Je mehr ich mich darüber aufregte, desto stärker wurde das flaue Gefühl in meinem Magen. Mir war schwindelig. Ezra dagegen hatte mit Leichtigkeit zurück zu seinem emotionslosen Tonfall gefunden. „Bedenkt man dein Alter, besteht darin kein Unterschied.“ „Ich. Hätte. Sie. Nicht. Getötet.“ Noch einmal, langsam, damit er mich verstand. „Und zwar nur deshalb, weil sie dich zuerst erledigt hat. Glaub mir, du hättest sie getötet.“ Zwecklos mit ihm darüber zu streiten. Ich verkniff mir jede weitere Gegenrede und wechselte das Thema: „Hast du ihr das beigebracht? Wie sie sich gegen mich verteidigen kann.“ „Ich brachte ihr bei, Vampire zu töten. Das war vor deiner Zeit. Aber du lenkst ab.“ Etwas schräg, immerhin war er selbst einer. „Stimmt. Ich will nicht mit dir darüber diskutieren, ob oder ob nicht.“ Das amüsierte Schnauben seinerseits ließ mich hoffen, also fuhr ich fort: „Warum war es wichtig, ihr das beizubringen?“ Immerhin ging ich nicht davon aus, dass Sofia oder Ezra ihr etwas antun würden. „Weil es notwendig war.“ Kein Thema, über das er sprechen mochte. „Ja ... weshalb? Mir hast du es nicht beigebracht.“ Er seufzte resigniert, bevor er mir meine Antwort gab: „Menschen werden in der Gesellschaft nicht geduldet. Wir wollten auf Gefahren von außerhalb vorbereitet sein, aber es ist nie dazu gekommen, dass sie dieses Wissen anwenden musste. Bis heute.“ „Du kannst es nicht lassen, oder?“, brummte ich missmutig. „Was? Dir vorzuhalten, dass du sie ernsthaft in Gefahr gebracht hast? Nein, kann ich nicht. Nicht, bis du es nicht eingesehen hast.“ „Ich dachte, es sei dir egal!“ „Es geht nicht um das, was du getan hast. Du flüchtest vor der Wahrheit, anstatt sie zu akzeptieren und dich damit auseinanderzusetzen. Du machst es dir zu leicht.“ „Woher willst du überhaupt wissen, was passiert wäre? Sofia habe ich auch nicht gefressen!“ „Beweise es.“ Ezra klang nicht, als würde er scherzen. Es war auch nicht seine Art. Ich war ratlos. „Was meinst du damit?“, fragte ich mit einer ordentlichen Portion Skepsis. „Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff“, stichelte er und stand auf. „Los, mitkommen!“ „Wa-warte! Was hast du vor? Willst du mich noch mal auf Magda loslassen?“ Die Vorstellung war mir nicht geheuer. Magdalena war ohne Frage bedient, ich wollte sie nicht erneut überfallen. Außerdem ... fühlte ich mich nicht gut. „Magdalena hat damit nichts zu tun. Ich habe einen Gast für dich eingeladen.“ Einen Gast? Das kam überraschend. „Wen?“ „Das wirst du gleich sehen. Er wartet im Keller.“ Ein merkwürdiger Ort, einen Gast unterzubringen. Mir schwante Übles. 'Gast' war in diesem Fall offenbar eine freundliche Umschreibung für ... Nahrung. „Mir ist jetzt nicht nach einem Gast. Ich fühle mich nicht gut. Flau, irgendwie.“  „Und ich kann dir ganz genau sagen, warum das so ist.“ Ezra beugte sich zu mir hinunter und tippte mit dem Zeigefinger auf meine Brust. Es schmerzte unerwartet heftig. „Du warst tot. Es hat deinen Körper viel Energie gekostet, dich wieder zurückzuholen und jetzt hast du Hunger. Du brauchst Blut.“ Es war mir nicht entgangen, wie das Blut in seinen Adern rauschte, wie sein Herz schlug, und dass es mich lockte. Trotzdem hatte ich den Gedanken verworfen, ihn anzuspringen. Auch wenn Ezra starke Zweifel hegte, war ich nicht die unkontrollierte Bestie, für die er mich hielt. „Schön“, ergab ich mich und stieg aus dem Bett. „Ich werde es dir beweisen.“ Bevor er noch einen weiteren unangebrachten Kommentar abgeben konnte, schob ich ihn zurück und verließ mein Zimmer. Seine Überheblichkeit nervte. Er mochte vieles wissen, vieles können und wahrscheinlich überstieg sein Erfahrungsschatz all meine Vorstellungen, doch im Bezug auf mich gab es einen entscheidenden Unterschied zu allen jungen Vampiren, die er kennen mochte: Ich hatte es gewollt. Ezra war mir wortlos nach unten gefolgt. Als wir vor der schweren metallenen Kellertür standen, eröffnete er mir ein nicht unwesentliches Detail: „Ich dachte, ich bringe dir jemanden, den du magst, dadurch ist der Ansporn größer.“ Die Auswahl derer, die ich mochte, war nicht groß. Verschwindend gering, wenn man ehrlich war. Ich konnte nicht verhindern, dass Nervosität meinen Verstand in Beschlag nahm. Anspannung zerrte an mir, als ich die Tür öffnete. Ich hielt die Luft an. Unser Trainingsraum lag düster und still vor mir. Ein schwacher Herzschlag drang durch die Leere. Ich erkannte dunkle Umrisse, hörte flachen Atem, dicht am Boden. Eine schmale Gestalt lag reglos vor mir.  Ich zögerte, atmete ein und mein Herz machte einen schmerzvollen Satz. Ich fuhr herum und schlug Ezra meine Hand ins Gesicht. „Du verdammter Scheißkerl!“, brüllte ich ihn an und krallte mich in sein Hemd – ich musste mich festhalten. „Nicht der Gast, den du dir erhofft hattest?“, fragte er und löste sorgsam meine Finger aus seiner Kleidung. „Ich habe mir niemanden erhofft! Und am allerwenigsten sie! Was hast du ihr angetan?“ Ezras Hand war angenehm kühl. Ich umklammerte sie eisern. Ein Anker. „Du stellst die falschen Fragen, Megan. Sieh lieber zu, dass du sie am Leben lässt.“ Der Boden unter meinen Füßen geriet ins Wanken. Die Luft schmeckte süßer als Honig und roch nach Sommer, nach Leben und nach Lust. Jede Nuance dieses Dufts war mir vertraut. Er zog mich in seinen Bann, wie schon zuvor, und ich musste sie zurückhaben, die Leichtigkeit, die ich zwischen Amandas Laken gefunden hatte. Meine Hand glitt von Ezras Fingern, ich folgte dem steten Drang hinunter in den Staub, hinab zu Amanda, die friedlich dort lag und meinen Kampf nicht bemerkte. Sie war nicht bei sich. Ihr Gesicht war wunderschön in meinen Händen. Ich konnte nicht leugnen, sie vermisst zu haben, ihre zarte Haut, das weiche Haar, den makellosen Körper. Mir schwirrte der Kopf. Ich zog sie zu mir heran, auf meinen Schoß, und schloss die Augen, inhalierte ihren betörenden Duft. Mein Puls überschlug sich. Ich öffnete den Mund, um zu atmen, und Speichel rann über meine Lippen. Die mahnende Stimme in meinem Kopf war unter dem Rauschen ihres Blutes verstummt. Ich begehrte sie, mehr als irgendetwas sonst. Leben pochte in ihrer Halsschlagader. Es zog mich an – ganz natürlich – wie Blüten eine Biene. Ich war betrunken, kaum hatte der erste Tropfen ihres Blutes meine Zunge berührt. Ein voller, bittersüßer Geschmack, der mich schweben ließ. Mein Körper hatte kein Gewicht, ich spürte mich nicht mehr, war federleicht und jeden ihrer Atemzüge war wie der meine. Wir verschmolzen auf ungekannte Weise und ich brauchte mehr, wollte alles. Kein anderer sollte sich an dieser Kostbarkeit bedienen. Sie gehörte mir. Je mehr ich trank, desto unbesiegbarer fühlte ich mich. Mein Geist war klar, zu einhundert Prozent, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo ich war. Ich hatte es vergessen, hatte verdrängt, was um mich war. Es gab nur noch mich und meine Beute, bis uns jemand gewaltsam auseinander riss. Vergeblich versuchte ich, meine Finger wieder an Amandas Kleidung zu bekommen. Ezra wusste es zu verhindern. Er stieß mich zurück, ehe ich reagieren konnte. Amanda lag hinter ihm und ich musste zu ihr zurück, was immer es kostete. Eine Minute, länger würde es nicht dauern. Seine Haltung war alles andere als kampfbereit. Ein Kinderspiel. Ich behielt seine Hände im Blick und stürzte mich auf ihn. Ein schneller Schritt, ein fester Schlag, ich duckte mich, blockierte seinen Tritt, hielt ihn fest und flog mit Schwung in den Dreck. Mein Fehler. Ich rollte zurück auf die Beine, ehe Ezra bei mir war. Er war überraschend schnell, ließ mir keine Zeit, noch einmal Luft zu holen, und zwang mich mit einem harten Schlag seines Ellenbogens in die Knie. Ein Gefühl, als hätte er mir ein Loch in den Schädel gehämmert. Alles drehte sich. Meine Sicht war getrübt, dennoch erkannte ich, wie er vor mir in die Hocke ging. „Es reicht“, sagte er mit trockener Bestimmtheit. Ich war unschlüssig. Sollte ich aufgeben? Es erneut versuchen? „Ja, ich weiß ...“, nuschelte ich und wartete, bis er sich erhob. Er ließ sich Zeit und zum ersten Mal wünschte ich, er würde den Mund halten. „Du hast lange durchgehalten.“ Es klang, als wollte er mich loben. „Eine beachtliche Leistung.“ „Danke.“ Er reichte mir die Hand. Ich musterte sie prüfend, dann fiel mein Blick auf Amanda. Ich schmeckte ihr Blut auf meinen Lippen und die Entscheidung fiel. Ezra war im Weg. Ich stützte mich mit einer Hand auf den Boden, spannte meine Beine und rammte ihm meine Schulter in den Unterleib. Er keuchte, ich riss ihm die Füße weg und er packte mich am Kopf, ehe er fiel. Ezra zog mich mit sich. Ich krallte meine Fingernägel in seine Haut, wollte ihn zum Loslassen bringen. Es half nicht. „Hat Sofia dir das beigebracht?“, fragte er, während er sich meinen Arm griff, dessen Hand ihn massakrierte. „Nein, wieso?“, fauchte ich. „Weil es listig ist.“ Frechheit. „Und stell dir vor“, setzte ich an, schlug ihm meine Faust ins Gesicht, und fuhr fort, „Ich bin ganz alleine darauf gekommen!“ Er musste meine Haare loslassen, wenn er nicht weiter Schläge einstecken wollte. Ich teilte munter aus, bis er auch meine zweite Hand zu fassen bekam und beide zu meinen Seiten fest in den Sand drückte. „Schluss jetzt!“, knurrte er finster. Ich hatte keine Angst. „Was? Willst du mir sonst den Hals umdrehen?“ „Halt den Mund.“ „Was hält dich ab?“ Er seufzte entnervt. Ich versuchte, durch seine trüben Augen einen Blick auf seine Gedanken zu erhaschen. Würde er für Ruhe sorgen, oder mir noch eine weitere Gelegenheit geben? Schwer zu sagen. „Lass mich los!“, wies ich ihn auf seinen nächsten Schritt hin. „Nein.“ „Das ist mein Ernst“, versuchte ich meiner Aufforderung mehr Gewicht zu verleihen. „Meiner auch.“ An seiner Stelle hätte ich mich ebenso wenig freigegeben. Ich ließ meine Blicke über sein Gesicht wandern, während er sich darüber klar wurde, was er zu tun gedachte. Er war über mich gebeugt, Haare fielen ihm in die Stirn, Kinn und Wangen zierten kurze Bartstoppeln. Sein Hals pulsierte. „Ezra ...“ Er sagte nichts, als wartete er, dass ich weitersprach. Ich wollte nicht. „Was?“, fragte er schließlich. Es war das Eigenartigste, was ich mir hätte ausdenken können. Nein, es lag fernab meiner Vorstellungskraft. „Du musst mich jetzt wirklich loslassen.“ „Ich lasse dich los, sobald du zur Ruhe gekommen bist.“ „Wird nicht passieren ... fürchte ich. Du machst mich nervös.“ Keine Reaktion. Er lockerte den Griff um meine Handgelenke und ich war frei – zumindest meine Arme und die waren alles, was ich benötigte. Ich riss sie nach oben und schlang sie Ezra um den Hals, bevor er aufstehen konnte. Zog mich hinauf und zerrte ihn herunter, dass sich unsere Wege in der Mitte trafen. Ich war nicht sicher, wonach er schmeckte – zu viel von Amandas Blut klebte noch an mir – doch allein das Gefühl seiner Lippen auf meinen, jagte mir Schauer über die Haut. Ezra blieb verblüffend ruhig. Schockstarre? Ich verspürte das dringende Bedürfnis, ihm die Kleider vom Leib zu reißen, als er mir mit gleichmäßigem Druck auf die Brust zu verstehen gab, dass ich loslassen sollte. Ich ergab mich kampflos und ließ ihn mich zu Boden drücken. „Schlag dir das aus dem Kopf“, sagte er und stand auf. Bedauerlich. „Was ist dein Problem?“, fragte ich und blieb liegen. „Ich habe kein Problem. Du bist durcheinander.“ „Durcheinander?“ Ich konnte nicht anders, als darüber zu lachen. „Ich bin nicht durcheinander.“ „Das kommt von ihr.“ Er wies in Amandas Richtung. „Nicht ungewöhnlich.“  „Aha.“ Ich setzte mich auf und warf einen Blick hinüber. Ezras Erklärung war dürftig, doch musste ich mir eingestehen, dass er jetzt – da er vor mir stand – nicht einmal halb so attraktiv erschien, wie ich es eben noch gedacht hatte. Ich rieb mit den Händen fest über mein Gesicht, um das Durcheinander zu ordnen, von dem er gesprochen hatte. „Das ergibt keinen Sinn“, nuschelte ich in meine Handflächen. So schnell mich die Lust überkommen hatte, so schnell war sie vergangen und ließ mich verwirrt zurück. Ich hörte, wie Ezra durch den Raum lief, hinüber zu Amanda. Er hob sie vom Boden und trug sie Richtung Ausgang. „Wirst du sie zurück in die Stadt bringen?“ „Nein.“ „... sondern?“ „Beerdigen.“ Ich gefror auf der Stelle. Das hatte er nicht gesagt. Es konnte nicht sein. „Sie lebt!“, fuhr ich ihn an und sprang auf die Beine, um ihn aufzuhalten.  Ich hörte, dass sie atmete, dass ihr Herz schlug. Sie war nicht tot. „Willst du sie umbringen?“ Ezra blieb vor der Tür stehen. „Nein“, sagte er ruhig. „Sie hat viel Blut verloren, das überlebt sie nicht.“ Seine Worte verwandelten meine Kniegelenke in Butter. Mir war schlecht und ich war wütend. „Warum hast du mich nicht aufgehalten?“ Es klang verzweifelt, keine Spur der Wut, die ich hatte ausdrücken wollen. „Gib nicht mir die Schuld.“ Eine erschlagende Lektion. Ezra ließ es vollkommen kalt. Es war nichts Besonderes für ihn. Alltag. Wahrscheinlich. Während ich auf dem kalten Boden Platz nahm, schritt er unbeirrt hinauf ins Erdgeschoss. Ich fror. Meine dunkel verschmierten Hände zitterten in meinem Schoß. Hatte ich sie umgebracht? Einfach so? Das Pochen in meinem Kopf war unerträglich. Ich zwang mich weiterzuatmen, das Stechen in meiner Brust zu ignorieren. Jeden Moment würde ich verglühen, es war unerträglich heiß. Ich schwitzte. Ich war schuld. Ohne es zu wollen, war ich gegen eine Wand gerannt. Nein – mit voller Absicht, mit Genuss. Es war eine grauenvolle Erkenntnis. Sie würde sterben, wegen mir. Ich wusste nichts mit mir anzufangen, war wie gelähmt. Vielleicht blieb ich hier. Verbarrikadierte mich hinter dieser dicken Tür und wartete, bis es besser wurde. Wenn es besser wurde. Ich glaubte nicht daran. Oben war Unruhe ausgebrochen. Ein zweites Paar Füße lief über den Boden. Eilig und schnell. Es war Magdalena, sie kam in meine Richtung. „Megan?“, rief sie. „Ist alles in Ordnung?“ Wie sollte es in Ordnung sein? Ich antwortete nicht und Magdalena kam herunter. „Bleib weg!“, fuhr ich sie an. Sie blieb ein paar Fuß entfernt stehen. „Was ist mit dir? Willst du nicht nach oben kommen?“ Magdalena wusste es nicht, dessen war ich sicher. „Verschwinde, bevor ich dich auch umbringe!“, fluchte ich. „Umbringen? ... Sie braucht Bettruhe und viel Wasser. Das wird wieder, hat Ezra dir das nicht gesagt?“, fragte sie ehrlich überrascht. Dreckiger Mistkerl! Mir blieb keine Zeit mehr, Magdalena eine Antwort zu geben, ich musste nach oben in den Salon. Ezra saß auf dem Tisch und wischte Blut von Amandas Hals. Sie lag auf dem Sofa. „Sie hat es dir gesagt“, stellte er trocken fest. „Stimmt es? Sie wird nicht sterben?“ „Irgendwann. Aber nicht deswegen.“ „Du bist nicht mehr bei Trost!“, schimpfte ich, während der Zorn von mir Besitz ergriff. „Ich sollte dich auf der Stelle in Stücke reißen!“ „Tu dir keinen Zwang an.“ Eine sanfte Hand auf meinem Arm hielt mich zurück. Ich war froh darum. „Lass gut sein.“ Magdalena bemühte sich, ihre Unsicherheit zu verbergen. Meine Nähe behagte ihr nicht. Es war nur allzu verständlich. „Du wärst deinen Kopf zuerst los. Das ist es nicht wert.“ Ich wusste, dass der kurze Moment der Genugtuung schnell durch Ezras Hand beendet werden konnte, dennoch juckte es in meinen Fingern, ihm eine Abreibung zu verpassen. „Größenwahn ist ein schnell tödliches Gift. Es ist notwendig, frühzeitig das richtige Gegengift zu verabreichen“, begründete er sein Vorgehen. „Und anders funktioniert es bei dir nicht.“ „Du hast mich glauben lassen, sie umgebracht zu haben!“ „Das hättest du, wäre ich nicht dort gewesen.“ So sehr ich es bedauerte, er hatte Recht. Zwecklos, das Offensichtliche abzustreiten. Ich löste meinen Arm aus Magdalenas sanftem Griff. Besser, ich kam ihr nicht zu nah. „Magda ...“ Sie sah mich mit ihren gütigen Augen an und ich wusste, dass sie verstanden hatte, was ich sagen wollte. Sie legte die Hände an mein Gesicht und die Wärme ihrer Worte berührte mein Herz, wie es sonst nichts vermochte: „Es gibt nichts zu verzeihen. Alles ist gut. Ich weiß, wie sehr es deiner Natur widerspricht, was in dir vorgeht. Du musst dich nicht entschuldigen.“ Sie konnte in Worte fassen, was mich quälte und nahm mir im selben Atemzug die Last. Für sie war ich kein Monster, obwohl ich ihre Angst riechen konnte. Sie gab sich solche Mühe, für mich stark zu sein. Ich war froh, dass sie zu mir stand, obgleich der Kraft und Überwindung, die es sie kostete. „Ich weiß, dass du dich wunderbar entwickeln wirst“, fuhr sie fort, „aber ich fürchte, dich dabei nicht weiter begleiten zu können. Ich werde in die Stadt ziehen. Das ist für uns beide am besten.“ Ich nickte. Mit Sicherheit war Magdalena in der Stadt besser aufgehoben, als in diesem Haus. Daran gab es keinen Zweifel und dennoch stimmte es mich traurig. Ich wollte nicht, dass sie ging. „Wann?“, fragte ich. Ihre Augen glänzten feucht, als ich hineinblickte. „Sobald die Kutsche da ist“, sagte sie. Mir fiel der große Koffer auf, der im Flur stand. Sie hatte bereits gepackt. Ezra trug Amanda hinaus. „Sie ist da“, sagte er. „Ich werde Amanda mitnehmen und sicherstellen, dass es ihr gut geht.“ Sie seufzte schwer. „Ihr werdet mir fehlen.“ Wie egoistisch von mir. Magdalena verlor viel mehr. Keine Entschuldigung der Welt konnte das wiedergutmachen. „... ich habe das nicht gewollt.“ Eine Träne lief über ihr Gesicht. Ich musste schlucken. Magdalena lächelte gequält. „Du warst die Einzige, die nicht wusste, dass es so kommen würde. Mach dir keine Vorwürfe, es ist in Ordnung.“ „Wo wirst du wohnen?“ Ein Kopfschütteln. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß es noch nicht, aber das ist nicht schlimm.“ Es war schlimm. Ich wusste, wie schlimm es war, nicht zu wissen, wohin man gehen sollte und ich wünschte, etwas an dieser Situation ändern zu können. Eine Unterkunft für sie suchen, ein Haus kaufen, irgendetwas. Ich musste mit Sofia sprechen. Sie würde für sie sorgen können, das musste sie. Magdalena strich über meine Wange, ihre Berührung stellte mir die Nackenhaare auf und von jetzt auf gleich weckte ihre unmittelbare Nähe meine Gier. Ich musste nur zugreifen, es war leicht. Ich zerrte sie an mich und schlug ohne zu zögern meine Zähne in ihre Haut. Es war warm und schmeckte ... fad. „Keine zwei Minuten kann man dich alleine lassen“, brummte Ezra hinter meinem Rücken. Wie? Ich riss die Augen auf und fand mich fernab dessen, was ich erwartet hatte. Magdalena stand mit bleichem Gesicht vor mir. Ein Arm umfasste meinen Brustkorb, ein zweiter drückte seine Hand vor meinen Mund. Ich versuchte, mich herauszuwinden. Zwecklos. Ezra hatte mich fest im Griff. Ich fluchte unter seinen Fingern, zappelte und trat um mich, bis Magdalena mich in den Arm nahm und meinen Widerstand versiegen ließ. Sie vergab mir – noch einmal. Mein Magen zog sich zusammen, als sie mich losließ. Ein Lebewohl und ich hatte die Nerven verloren. Das erdrückende Gefühl von Bedauern und Schuld wälzte sich über meine Schultern. Ich wollte etwas sagen, wollte um Verzeihung bitten, doch Ezra hielt mich weiter fest. Auf diese Weise war es sicherer, das hatte ich verstanden. Magdalena betrachtete mich. Sie war traurig, kämpfte um Fassung. „Pass gut auf sie auf“, sagte sie. Ezra nickte – ich spürte die Bewegung – und Magdalena wandte sich ab, nahm ihren Koffer und verließ eilig das Haus. Ihre Schritte waren schwer, wurden leiser, verstummten, dann holperte die Kutsche mit ihr davon und es brach mir das Herz. Sie war fort. Ezra ließ mich los. „Magdalena kommt zurecht.“ Das hoffte ich sehr. Ich konnte sie mir nur schwer als Einzelgängerin vorstellen. Sie war zu herzlich und zu warm, als dass sie die Einsamkeit lange ertragen konnte. „Bist du in Ordnung?“, fragte er. Er klang überraschend interessiert. „Kein bisschen“, antwortete ich trocken. Ich musste mich zusammenreißen, durfte Ezra keine Angriffsfläche bieten. Es war mühsam und wahrscheinlich hatte er meine Unruhe längst bemerkt. Es war zu viel. Die vergangenen Stunden schienen der Feder des Teufels entsprungen zu sein, der mich lenkte, mir die Kontrolle versagte. Eine beruhigende Vorstellung, doch ich wusste, dass nicht der Teufel dahinter steckte. Ich hatte Zufriedenheit empfunden, Stärke und Freude, hatte jeden Augenblick genossen und hasste mich in diesem Moment dafür. Ezra stand noch immer hinter mir. Er legte seine Hände auf meine Schultern und riss mit seinen Worten heftig an meiner gefassten Fassade. „Es wird leichter, hab Geduld.“ Ich streifte seine Hände ab und wandte mich zu ihm um. „Ich will nicht, dass es leichter wird.“ Er wirkte überrascht. „Ich will, dass etwas wie das nicht mehr passiert“, fuhr ich fort. „Es bedarf langem Training, den eigenen Instinkt zu unterdrücken.“ „Wir haben Zeit, nicht wahr?“ Ezra schnaubte zufrieden. „Ja, haben wir.“ 029 – Hinter der Maske ---------------------- Seine Zustimmung war befreiend. „Schön, dass ihr euch endlich einig seid.“ Sofia war die steinernen Stufen lautlos herabgeschwebt und blickte uns vom Flur aus finster an. „Wo ist Magdalena?“ Sie gab sich keine Mühe, ihre Laune hinter der sonst so freundlichen Fassade zu verbergen. „Gegangen“, antwortete Ezra nüchtern. „Wann?“ „Vor Kurzem. Es war ihre Entscheidung.“ Sofia lachte kalt und kehrte uns den Rücken zu. „Und du ließt sie. Wie einfältig.“ Sie ging zur Tür. Ezra folgte zügig. „Gib sie frei.“ Klang, als wollte er sie beschwören, doch Sofia zeigte sich wenig beeindruckt. Sie verließ das Haus, Ezra dicht auf ihren Fersen. „Halte dich raus“, knurrte sie kaum verständlich. „Sofia!“ Ezra griff nach ihrem Arm. „Es wäre ihr Tod, brächtest du sie hierher zurück.“ „Das weißt du, weil?“, fragte sie schnippisch und drehte ihren Arm, um freizukommen. „Lass los!“ Er gab nicht nach. „Sei nicht so stur. Du weißt, dass ich recht habe.“ „Selbst wenn. Dann soll es so sein.“ Sofias Gleichgültigkeit überraschte mich in gleichem Maße wie Ezras Einsatz für eine Sache, die ihn nicht im Geringsten betraf. „Wenn du sie unbedingt loswerden willst, töte sie selbst, aber lass es nicht Megan tun.“ „Ich will sie nicht loswerden“, antwortete Sofia trocken und zog Ezra mit einem kurzen Ruck zu sich. Ein sonderbares Geräusch – wie Schmatzen. „Sie haben Ihre Befugnisse bei Weitem überschritten, Mister Harris. Es reicht.“ Ich konnte nicht sehen, was passiert war. Ezra stand mit dem Rücken zu mir. Er schwieg und mit dem nächsten Luftzug erreichte mich der Geruch frischen Blutes. Ezra fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, ein tiefes Loch in der Brust. Mir wurde anders. Sofias würdigte mich keines Blickes, wand sich der Straße zu, und ging. Diese Seite an ihr war mir neu. Sie ließ mir keine Wahl, ich ging ihr nach – für Magdalena. „Bleib, wo du bist!“, warnte sie mich, als ich näher kam. „Das werde ich nicht.“ Sie atmete schwer aus und blieb stehen. „Denkst du nicht, ich könnte dich nicht ebenso leicht aus dem Weg räumen, wie ihn?“ Ich musterte ihre schlanke Statur, die locker zusammengesteckten Haare. „Nein.“  Ein genüssliches Schnauben, ein Kichern, dann ließ mich die stählerne Kälte ihres Blickes frösteln, als sie sich umdrehte. „Du irrst dich. Und du wirst es bereuen, solltest du weiter versuchen, mich aufzuhalten.“ „Warum kannst du sie nicht gehen lassen?“, fragte ich und war fest überzeugt, ihr nicht kampflos das Feld zu überlassen. Sie lächelte und winkte mich zu sich. Ich blieb mit zwei Armlängen Abstand stehen. „Manchmal ist Mut nur das Kostüm der Torheit, die einen antreibt.“ Ein prüfender Blick, dann fuhr sie fort: „Aber wie soll ich es dir verdenken? Du kannst es nicht wissen, deshalb sage ich es dir ein letztes Mal: Niemand stellt sich mir in den Weg.“ „Ich stelle nur eine Frage und warte auf deine Antwort.“ Sie hob überrascht die Brauen und ihre Miene wurde weicher. „Eine Vereinbarung“, sagte sie. „Magdalena und ich trafen eine Vereinbarung, nachdem sie beschlossen hatte, ein Mensch zu bleiben. Sie darf nicht gehen, sonst muss sie sterben.“ Ich blinzelte ungläubig. „Das ist ein Witz.“ „Nicht im Ansatz.“ Ich bemühte mich um Ruhe, ehe ich widersprach: „Das ist die dümmste Vereinbarung, von der ich je gehört habe. Du darfst sie nicht töten.“ „Du misst mit menschlichem Maß. Natürlich darf ich. Ich hätte es bereits vor Jahren tun müssen, doch das tat ich nicht. Stattdessen gestattete ich ihr zu bleiben. Das war meine Bedingung.“ Die Bedeutung ihrer Worte drang siedend heiß zu mir durch: Magdalena war nicht die Einzige, die zu diesen Bedingungen hier gelebt hatte. „Du hättest mich niemals in den Zug steigen lassen.“ Sie schüttelte knapp den Kopf. „Unter keinen Umständen.“ Ihre Worte brannten unangenehm unter meiner Schädeldecke, während ich versuchte, diese Information zu verdauen. So oft hatte sich mein Weg gegabelt und es war purer Zufall, dass ich noch lebte. „Dann war es wohl Schicksal, meinen Abschied nicht eine Stunde früher beschlossen zu haben“, stellte ich fest. In meinem Kopf schwirrte es. „Das könnte man sagen.“ Ich atmete tief durch. „Wow.“  „So sind die Regeln. Es ist nichts Persönliches.“ „Verstehe.“ Ich nickte knapp. „Trotzdem hättest du mich entsorgt wie ein krankes Kalb.“ Kein Widerspruch. Natürlich nicht, schließlich hatte ich recht. Ich blies die Luft geräuschvoll aus meinen Lungen. „Das ist Vergangenheit.“ Sie kam einen Schritt auf mich zu, löste ihre Arme und fuhr fort: „Die Umstände haben sich geändert.“ „Soll ich es einfach hinnehmen?“ Mein Tonfall nahm hysterische Züge an. „Du hast keine andere Wahl“, erklärte sie ruhig. „Ja? Dann lass mich dir eine letzte Frage stellen: Wusste Magdalena, dass du sie töten würdest, sobald sie dich verlässt?“ Sofia schwieg. Sie hatte ihre Geschichte nicht bis zum Ende durchdacht und nichts, was sie in diesem Moment sagen konnte, würde die Tatsache verschleiern können, dass ich ihre zweite Wahl war. So entschied sie sich für die Wahrheit. „Sie wusste es.“ Ich biss die Zähne zusammen und trat einen Schritt zurück. „Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgemacht.“ „Nein. Megan, bitte.“ Sie streckte die Hand nach mir aus. Ich wich zurück. „Fass mich nicht an!“, fauchte ich. „Geh doch in die Stadt, hol sie zurück und dann sperr mich in den Keller! Dann kannst du dich weiter an ihr erfreuen und ich habe endlich meine Ruhe!“ „Du verstehst das falsch.“ „Blödsinn! Ich verstehe mehr als du denkst.“ Mit diesen Worten wandte ich mich ab und beeilte mich, davon zu kommen. Zurück zum Haus, allein sein, doch es war mir nicht gegönnt. Sofia wollte mich so nicht gehen lassen. Ich konnte hören, wie sie näher kam. Es knackte unter Ihren Solen. „Bleib bitte stehen“, bat sie mich und ich spürte die sanfte Berührung ihrer Hand auf meiner Schulter. Ich griff danach, kaum hatte sie mich erreicht, drehte mich ein und hebelte Sofia über meinen Rücken mit Schwung zu Boden ins gefrorene Gras. Sie fluchte leise und blickte angespannt zu mir empor. Ein seltenes Bild, das mich amüsierte. Und das umso entzückender wurde, je klarer Sofia erkannte, dass ich mehr gelernt hatte, als effektive Nahkampftechniken. „Ich habe dich unterschätzt“, gestand sie.  „Nicht zum ersten Mal.“ Nachdem ich sie lange genug mit strengen Blicken bedacht hatte, streckte ich ihr meine Hand entgegen und zog sie zurück auf die Beine. Eigentlich absolut unnötig. „Ich danke dir“, sagte sie, als sie wieder stand. „Keine Ursache.“ „Für dein Verständnis, meine ich.“ „Ja, ich weiß. Aber es ist in Ordnung. Ich weiß, dass ich nicht das Zentrum der Welt bin. Nicht deiner, nicht sonst jemandes. Dass es Regeln gibt, die Menschen nicht nachvollziehen können und dass sogar du dich an diese Regeln halten musst. Auch wenn du sie dir zurechtlegst, wie es dir gefällt.“ „Du überraschst mich.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht nur dich. Ich kann selbst nicht mehr einschätzen, wozu ich imstande bin. Du kannst es auch nicht ... Es wäre riskant, Magdalena hierher zurückzubringen.“ Sofia schloss seufzend die Augen. „Muss ich mich also geschlagen geben?“ Mir war nicht klar, welche Art Antwort ich ihr darauf geben sollte, ob diese Frage überhaupt ernst gemeint war. Ich versuchte etwas aus ihrem Gesicht zu lesen. Sie wirkte nicht, als wolle sie einen Kompromiss eingehen. „Gut. Ich werde sie nicht zurückbringen“, sagte sie und fügte – bevor ich dieses wichtige Detail ansprechen konnte – hinzu, „und ich werde sie nicht töten.“ „Aber?“ Ich war sicher, es gäbe einen Haken. „Nichts. Das ist alles. Ich möchte nur, dass du mir morgen noch in die Augen sehen kannst, ohne mich zu hassen. Es wäre tragisch, stünde das zwischen uns. Außerdem, nicht dass du mich falsch verstehst, mir liegt persönlich rein gar nichts daran, ihr Leben zu beenden. Ebenso wie das deine.“ „Das macht es nicht unbedingt besser.“ Sie hob die Brauen. „Findest du?“ Ich zog die Schultern ein Stück nach oben. „Kommt auf den Blickwinkel an. Tot ist tot. Zumindest für einen Menschen.“ Sie schmunzelte, als hätte ich einen Scherz gemacht. „Sei nicht albern. Ich wäre die Letzte, die dich auslöschen wollte. Meine Aufgabe ist es, dich vor einem solchen Ende zu bewahren.“ „Mh-hm.“ Ihre Mimik verriet mir, dass sie mit dieser Reaktion nicht zufrieden war, es sich aber verkniff, weiter darauf herumzureiten. „Wie dem auch sei. Ich werde noch einen kurzen Ausflug in die Stadt unternehmen.“ Mein Puls schnellte spürbar nach oben. „Wozu?“ Sofia lächelte vergnügt. „Jemand brachte mich um. Ich bin hungrig.“ Das war alles? „Kann ich dich begleiten?“ „Nein, du musst dich um Ezra kümmern, bevor die Hunde ihn fressen.“  „Hm?“ Ich drehte mich um und mir wurde totschlecht. Yasha und Isaak standen halb auf seinem leblosen Körper. Sofia erschien mir plötzlich völlig unwichtig. Ich stürzte hinüber, um die beiden Tiere zu verscheuchen. „Verschwindet!“ Sie wichen zurück, kaum hatte ich das Blutbad erreicht, und freuten sich, als ich mich hinunter kniete. Ich schob sie angewidert zurück, ihre Nasen waren blutig und die Galle stieg mir bis zum Hals. „Ins Haus! Ab!“, wies ich sie an und die beiden gehorchten. Ich atmete erleichtert aus. Sie hatten ihn nicht angefressen. Geschnuppert, geschleckt – schlimm genug. Eine abstoßende Vorstellung. Die nassen Hundeschnauzen tief in seinem Fleisch, das Blut, das seine Kleidung getränkt hatte und langsam gefror,  wie gut es roch ... wie verlockend. Ich könnte mir einen Schluck genehmigen. Ezra würde es überhaupt nicht bemerken. Wen interessierte schon, ob er ein paar Stunden früher oder später erwachte, ob ich die Gelegenheit nutzte oder nicht? Nein! Du bist kein Hund, verdammt! Ich drehte mich zu Sofia um, doch sie war verschwunden. Stur richtete ich meinen Blick in den erleuchteten Flur und begann durch den Mund zu atmen. Nicht hinsehen. Konzentriere dich! Ich griff seine Arme und zog ihn die Stufen hinauf. Er war leichter als gedacht und die Erkenntnis traf mich, als ich die Türschwelle erreichte. „Entschuldige“, murmelte ich und hob ihn hoch. Es war ein Kinderspiel. Noch vor zwei Tagen wäre mir, beim Versuch ihn anzuheben, das Rückgrat gebrochen. Ich musste mich an diese Stärke gewöhnen, doch war sie zweifellos eine der angenehmsten Veränderungen. Einer der Gründe, weswegen ich mich hierfür entschieden hatte. Trotz aller Zweifel, trotz der Nachteile, die dieses Leben mit sich brachte. Ich öffnete die Tür zu Ezras Zimmer mit dem Knie und ging hinein. Helle Bettwäsche – und die Fasern seines Hemds waren rot. Ich legte ihn auf dem Fußboden ab, holte Tücher, einen Eimer Wasser, Wodka und eine Lampe, und begann das Massaker zu beseitigen, das Sofia verursacht hatte. Beim besten Willen konnte ich nicht begreifen, weshalb sie auf solch brutale Weise mit ihm umging. Ob es die normale Umgangsform war? Löste man auf diese Weise Konflikte? Der Tod schien in jeder Hinsicht ein probates Mittel der Problembeseitigung für Sofia zu sein. Ob für immer oder nur vorübergehend, ich hoffte, dass es nicht zur Gewohnheit wurde und dass, zumindest in Ezras Fall, mehr dahinter steckte, als pure Sturheit garniert mit einer Prise Wahnsinn. In meinem Kopf klimperte eine ruhige, eintönige Melodie, während ich mit meinen Tüchern wiederholt Blut von Ezras Brust wischte. Ein altes Kinderlied. One for sorrow, two for joy ... Three for a girl, four for a boy ... Diese Arbeit machte mich nervös. Five for silver, six for gold ... Seven for a secret, never to be told. Eight for a letter over the sea ... Nine for a lover as true as can be. Bye, baby bunting ... Ich summte mit. Daddy’s gone a hunting To get a little rabbit skin To wrap his baby bunting in ... Einige Minuten und etliche Kinderlieder später ließ ich den Lappen zurück in den Eimer fallen und betrachtete mein Werk. Sah man vom Loch in seiner Brust ab, war er vorzeigbar. Ob ich es verbinden sollte? Verband man jemanden, der in einer solchen Geschwindigkeit heilte? Ich entschied mich dagegen, desinfizierte seine Verletzung – trotz Zweifel an der Notwendigkeit – und verfrachtete ihn ins Bett. Mehr konnte ich nicht tun. Und nun? Ich hatte keine große Lust, mich mit meiner neu gewonnenen Erkenntnis über Sofia auseinanderzusetzen. Mir war stets bewusst gewesen, dass sie nicht ausschließlich die selbstlose Retterin war, für die sie sich ausgab. Dass sie andere Seiten hatte. Egoistisch, berechnend. Zuweilen gewalttätig, das hatte ich das eine oder andere Mal miterlebt. Dass sie nicht gewillt war, sich etwas vorschreiben zu lassen, und doch ... sie hatte sich meiner Vorschrift gebeugt. Ich konnte Einfluss auf sie nehmen, das war beruhigend und tröstete ein wenig darüber hinweg, dass sie mich vor nicht allzu langer Zeit, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Jenseits geschickt hätte. Es war sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Warum? Weshalb? Wieso? Es war, wie es war. Mein Kopf wusste das, trotzdem wollte der bittere Beigeschmack sich nicht so leicht in Luft auflösen. Mit fest verschränkten Armen blickte ich mich im Zimmer um. Ein bisschen Ablenkung täte mir gut. Die Einrichtung war minimalistisch. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Keine Bilder, keine Dekoration – wozu auch? Auf seinem Schreibtisch standen Bücher – ich fragte mich wofür. Titel wie Two on a Tower – Thomas Hardy, A Child’s History of England – Charles Dickens und noch zwei duzend mehr. Romane. Einige von ihnen sahen neu aus. Ich nahm eines der Bücher heraus und fuhr langsam mit dem Finger über die Zeilen. Ich spürte die Struktur des Papiers, Unebenheiten auf der Oberfläche, Vertiefungen, Buchstaben konnte ich nicht erkennen. Vielleicht war sein Tastsinn feiner. Ich stellte das Buch zurück und ließ mich in den Stuhl fallen, dribbelte mit den Fingern auf der Armlehne. Zu meiner Linken befanden sich Schubfächer, drei an der Zahl. Es ging mich überhaupt nichts an. Ezra erzählte nie von sich. Sicher hatte er seine Gründe und ich sollte es akzeptieren. Ich atmete durch, wollte aufstehen, um zu verschwinden, und blieb sitzen. Tu’s nicht. Es gehört sich nicht. Die Neugier hatte mich gepackt. Ich rang den Moralapostel in mir zu Boden und zog das oberste Fach auf. Darin lagen Stifte, ein Lineal, Tintenfässchen, Federn, Münzen und eine Geldkassette. Der kleine Schlüssel steckte – geheim war es scheinbar nicht. Ich riskierte einen Blick und fand ... Geld. Ein Bündel Dollarscheine und reichlich Banknoten und Münzen, die ich nicht kannte. Bank of England. Britische Pfund. Nicht besonders spannend. Ich schob die Kassette zurück an ihren Platz und schloss das Fach. Ein kurzes Zögern – zu reizvoll war die Möglichkeit – und ich öffnete das zweite Fach. Ein dicker Ordner, darin unbeschriebenes Papier voller punktförmiger Erhebungen. Sie waren gerade angeordnet, in verschiedenen Konstellationen – das hatte System, nur verstand ich es nicht. Mehr war darin nicht zu finden. Ich legte ihn beiseite und fischte eine in dunkles Leder gebundene Mappe aus dem Schreibtisch. Sie war staubig, schlank und barg einige Schätze. Vergilbtes Papier, ein uralter Geruch und eine alte, verschlungene Schrift. Handgeschriebene Worte in verblasster Tinte, die ich unmöglich entziffern konnte.  Ich legte das Papier vorsichtig auf den Schreibtisch. Es folgten weitere Blätter – alle handbeschrieben – denen ich nichts entnehmen konnte. Enttäuschend. Tief in die Fasern des Papiers gepresst, fand ich schließlich ein Wappen. Ein offenes Buch, darin Buchstaben – wahrscheinlich Latein – darüber zwei, darunter eine Krone. In feinen Lettern waren die Worte University of Oxford daneben abgedruckt. Eine Zeile tiefer wurde es schwieriger, die Worte zu entziffern. Ein Dokument aus gedruckter und geschriebener Schrift. Ich kämpfte mich durch den Wald altertümlicher Sprache und Buchstaben. Die Universität gratulierte ... Mr. Ezra Abraham Harris zum absolvierten Studium der Humanmedizin. Datiert war das Schreiben auf das Jahr 1725. Daneben eine ausladende Unterschrift. Ich hielt einen Augenblick inne. Welch eigenwillige Vorstellung. Mein Blick wanderte prüfenden hinüber zum Bett. Schwer vorstellbar: Ezra als Arzt. Ein unterkühlter Mediziner, nicht besonders einfühlsam, dafür äußerst kompetent. Wahrscheinlich hatte er vielen Menschen geholfen ... und jetzt waren sie sein Abendessen. Ein grotesker Umstand. Die Blätter in meinen Händen forderten unweigerlich meine Aufmerksamkeit zurück, ich konnte es nicht verhindern – ich hatte es nicht einmal versucht. Vielleicht fand ich mehr über ihn heraus. Diese Gelegenheit konnte ich nicht vertun. Hinter dem Oxforddokument lagen weitere wichtig anmutende Unterlagen mit eingeprägten Siegeln und viel unlesbarem Text. Manche mit Skizzen und Zahlen darauf. Flächen, Grundbesitz. Etwas in dieser Art, vermutete ich. Ordentlich verpackt in einen großen Umschlag, fand ich einen Stapel Zeichnungen. Die Erste: ein großes, herrschaftliches Haus mit vielen Fenstern aus feinen schwarzen Linien und Schraffuren, Bäume und Büsche. Es war ein hübsches Gebäude, anders als die Häuser die ich kannte. Auf seinem Dach trug es viele kleine Verzierungen. Bögen und Spitzen, zwei Kuppeln. Am unteren Bildrand standen die Initialen des Künstlers in geschwungener Schrift: V. A.H. Im Umschlag steckten noch mehr seiner Werke, Landschaften, Schlösser, Menschen, dazwischen wenige farbige. Eines davon zeigte einen jungen Mann mit ernster Miene. Ich kannte ihn. Es war Ezra, der mich aus graublauen Augen kühl anstarrte. Sie waren wach und stechend. Minutenlang blickte ich hinein, es war eigenartig, ihn so zu sehen. Für mich hatte dort schon immer ein undurchdringbarer grauer Schleier gelegen. Ich blätterte andächtig weiter die Seiten um. Die meisten Bilder waren mit Tusche gezeichnet, schwarz-weiß und mit solchem Detailreichtum, dass man Stunden damit hätte verbringen können, sie sich anzusehen. Auf dem letzten Blatt stand ein Pferd auf grüner Wiese und sah in die Ferne. Die Strichführung war anders, weniger sicher und die Proportionen des Tieres stimmten nicht ganz. Es war nicht von V. A. H. Unten stand: Zum Geburtstag. Mit besten Wünschen, Adrian. Vielleicht ein Freund? Ein Patient, dem er geholfen hatte? Ich legte alle Bilder ordentlich aufeinander und schob sie zurück in ihren Umschlag. Traurig, dass die Menschen nicht mehr lebten, die er einmal kannte. Wahrscheinlich waren sie vor langer Zeit gestorben und plötzlich machte es Sinn. Es machte Sinn, dass Menschen und Vampire nicht zusammenlebten – selbst wenn manche das nicht ganz so genau nahmen – sie starben einem einfach davon. Man konnte nichts dagegen tun und ich fragte mich, ob sie ihm fehlten. Nach all der Zeit? Vielleicht vergaß man, oder man arrangierte sich damit, dass die Lieben einen verließen, dass man sie verlassen musste. Ich las die erste Zeile auf dem nächsten Papier in meiner Hand und schluckte hart. Diese wenigen Buchstaben drückten sich mit all ihrem Gewicht in mein Herz. Trauschein. Ich konnte nicht viel darauf erkennen, wohl aber seinen Namen und den seiner Frau: Victoria Anne Stuart. V. A. H. Victoria Anne Harris. Ezra war verheiratet ... gewesen. Ich mochte mir nicht ausmalen, wie zerschmetternd es gewesen sein musste, die Endgültigkeit zu begreifen. Nie wieder zurück zu können, alles zurückzulassen, ein neues Leben zu beginnen, und diejenigen im Stich zu lassen, nach denen man sich sehnte. Mir fiel kein Szenario ein, das diesem Verlust das Gewicht nahm. Ich klappte die Mappe zu und ließ meinen Blick auf dem dunklen Einband ruhen. Die letzten Blätter, es waren noch fünf oder sechs, hatte ich nicht angerührt. Ein kleiner Rest Privatsphäre erschien mir an dieser Stelle angebracht, also legte ich die Mappe zurück. Sie blieb stecken, als wäre das Fach geschrumpft. Merkwürdig. Ich warf einen Blick hinein. Ganz hinten in der Ecke lag eine kleine Kiste – eher eine kleine Truhe – die gerade so viel Platz ließ, dass die Mappe rechts daneben passte. Ich legte sie ab und barg die winzige Truhe. Ein wirklich wunderschönes Stück aus dunklem Holz mit Goldbeschlag. Schwer, dem zu widerstehen. Vorsichtig schob ich die Verriegelung auf. Ich erwartete etwas Wertvolles, etwas, das in einer Geldkassette nichts verloren hatte, und fand zwei Eheringe. Victorias Ring? Der kleinere der beiden Ringe glänzte, er war golden und glatt, trug nur wenige Verschleißspuren, der andere dafür umso mehr. Er hatte Kratzer und kleine Beulen, ganz rund war er auch nicht mehr, als hätte ihn jemand über Jahre hinweg während der Feldarbeit getragen. Der Schreck fuhr mir durch alle Glieder, als plötzlich jemand meinen Namen sagte. Die Ringe fielen mir aus der Hand, einer rollte zur Tür und Sofia hob ihn auf. Mein Puls war in die Höhe geschossen. Mir war heiß um die Ohren. „Was tust du hier?“, fragte sie. „Nichts!“, platzte es aus mir heraus. Ich sammelte mich kurz und wählte eine andere Antwort: „Nein: Stöbern. Ich war neugierig.“ „Verstehe.“ Sie kam herüber und reichte mir den Ring. „Ezra würde das nicht gefallen.“ „Das ... weiß ich.“ Sie lehnte sich an den Schreibtisch und warf einen Blick in sein Bett. „Ich werde es ihm nicht verraten.“ Dann wandte sie sich wieder an mich. „Doch wäre ich sehr dafür, nicht weiter in seinen Sachen zu graben.“ Da war sie wieder: diese unfassbar sanfte, schwerelose Art, von der ich nicht wusste, ob sie echt oder aufgesetzt war. Ich legte die Ringe zurück, platzierte den dicken Ordner auf der alten Mappe und schloss das Fach. Sofia war durchs Zimmer gegangen. Sie stand neben Ezra und beäugte ihn zufrieden. „Sieht gut aus“, stellte sie fest. „Morgen ist er wieder auf den Beinen.“ „Ist das normal?“, fragte ich, nachdem ich meine sieben Sachen zusammengepackt und ans Bett gekommen war. „Was meinst du?“ „Das.“ Ich wies mit einem kurzen Nicken in Ezras Richtung. „Dass man auf diese Weise miteinander umgeht.“ Sofia lächelte mich unschuldig an. „Nicht unbedingt. Doch es kommt vor.“ „Wie beruhigend ...“ „Hab keine Sorge, ich würde weder dich noch ihn jemals ernsthaft verletzen.“ Fraglich, was diese Frau für eine ernsthafte Verletzung hielt. Sie nahm mir die Flasche Wodka ab und forderte mich auf, ihr nach draußen zu folgen, dann verschwand sie und mir blieb noch ein Moment. Dass Ezra nie über seine Vergangenheit sprach, machte es leicht zu glauben, es wäre niemals anders gewesen, dass er schon immer mit Sofia hier in diesem Haus gelebt hatte. Ich betrachtete den Mann, der vor mir lag, und erkannte eine Person, die mehr war, als derjenige, der mich jahrelang widerwillig trainiert hatte und der so etwas, wie Sofias Bediensteter zu sein schien. Es war ein völlig anderer Mann. 030 – Das Grammofon ------------------- „Kommst du?“, fragte Sofia, als erwartete sie mich dringend. Ich verließ Ezras Zimmer und wurde von Sofia in mein eigenes gewinkt. Irgendetwas hatte sie. „Was ist?“ „Ich wollte dir mitteilen, dass es so nicht geplant war.“ Sie griff mit den Fingern nach dem Kragen meiner Bluse, begutachtete ihn, und sah mir streng ins Gesicht. „Wäre es nach mir gegangen. Ezra war augenscheinlich anderer Meinung.“ Ich zog den Kragen ein Stück nach vorn, um ihn sehen zu können. Er war fleckig, genau wie der Rest meiner Bluse, was mich nicht wunderte, ich hatte Ezra die Treppen hinaufgetragen. „Was meinst du?“ Mir fiel auf, dass auf meinem Schreibtisch ein großer, hölzerner Würfel stand. „Amanda. Ich weiß, dass sie hier war. Ich kann sie noch an dir riechen“, klärte sie mich auf. „Ezra brachte sie her, um dir eine Lektion zu erteilen. Er meinte, das wäre der effektivste Weg.“ „Du warst wütend, dass er gegen deinen Willen gehandelt hat. Hast du ihn deswegen einfach niedergestreckt? Ist er dein Sklave?“ „Das verstehst du nicht.“ „Stimmt, ich verstehe es nicht. Du kannst jedoch gerne versuchen, es mir zu erklären.“ Es klang wütender, als ich eigentlich war. Umso besser.  Sofia konnte ruhig merken, dass mir ihr Vorgehen missfiel. „Na schön.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ging ein paar Schritte und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl. Sah aus, als würde es länger dauern – ich wechselte zügig meine Bluse und nahm auf meinem Bett Platz. Sofia begann in ihrer ganz eigenen, bedeutungsvoll anmutenden Art zu erzählen: „Bevor ich dir erkläre, woher es kommt, dass Ezra hier nicht tun und lassen kann, wozu er Lust hat, musst du ein paar grundlegende Dinge wissen: Ein Vampir – und bei den Menschen ist es im Übrigen genauso –ohne Rückhalt und ohne Kontakte, kann beim kleinsten Fehler sehr schnell vor die Hunde gehen. Die Rechtslage“, sie sagte das mit imaginären Anführungszeichen, „ist in unserer Gesellschaft allerdings ein wenig ... lockerer, da es nur die eine oberste Regel gibt. Alles, was diese Regel nicht berührt, wird ohne den Rat geklärt. Das bedeutet, dass jede Strafe im Ermessen desjenigen liegt, der sie erteilt.“ „Was ist der Rat?“, warf ich dazwischen. „Der Rat ist ähnlich einem Gericht, aber es gibt nur eine Instanz, dafür hat jeder Staat seinen eigenen und man kann – wenn man mit einem Urteil unzufrieden ist – einen anderen Rat befragen. Meistens sind sich die Räte allerdings einig, also hat es wenig Sinn.“ „Wenn man also zum Beispiel, jemandem verbotenerweise in die Erziehung seines Schützlings hineinpfuscht, darf man ihn umbringen“, stellte ich nüchtern fest. Sofia schmunzelte unbeeindruckt und fuhr fort: „Zum Beispiel. Ich hätte ihn auslöschen können – das entspricht dem Töten eines Menschen – doch das hätte mir mehr Ärger eingebracht, als dass es mir geholfen hätte.“ Auslöschen. So nannte man es also, wenn tot nicht tot bedeutete. „Du hättest ihn einfach ausgelöscht?“, fragte ich ungläubig. „Ezra nicht. Jemand anderen vielleicht, das hängt davon ab, wer dahintersteht. Das Auslöschen oder Vernichten eines Vampirs ist kein Verbrechen. Verstößt jemand gegen die Regel, darfst du ihn vernichten, einfach so, darüber wird sich in den meisten Fällen niemand beschweren. Aus anderen Gründen ist es riskant, weil du nie weißt, ob jemand dafür Rache nehmen wird. Durch solche Konflikte wurde bereits manche blutige Fehde verursacht, deswegen unterlässt man es besser, bis zum Äußersten zu gehen.“ Ob jemand für Ezra Rache nehmen würde? Abgesehen von mir? „Ezra habe ich nicht ausgelöscht, weil ich ihn gerne um mich habe, falls du dich das fragst.“ Ich sollte mir angewöhnen, nicht jeden Gedankengang direkt auf meine Mimik zu projizieren. „Den Eindruck habe ich nicht unbedingt.“ „Weil du noch denkst wie ein Mensch. Das wird sich geben.“ „Aha. Deswegen schreibst du ihm vor, was er darf und was nicht.“ „Nun ... ja, zum Teil.“ „Also doch ein Sklave.“ Sie lachte trocken. „Nein, überhaupt nicht. Es steht ihm frei, jederzeit zu gehen. Anders, als bei Magdalena, bindet ihn keine Vereinbarung an mich. Trotzdem – und das ist nicht der einzige Grund – habe ich etwas gut bei ihm, denn sein Leben hätte bereits vor langer Zeit zu Ende sein sollen.“ Die Geschichte nahm eine unerwartete Wendung. Ich setzte die Puzzleteile schnell zusammen. „Er ist bei dir, weil du ihm vor vielen Jahren das Leben gerettet hast?“ „Deswegen und weil wir uns gut verstehen, auch wenn dir das womöglich nicht aufgefallen ist.“ Von Zeit zu Zeit hatte ich es vermutet und den Gedanken schneller verworfen, als er mir gekommen war, daran konnte ihre Beteuerung nichts ändern. Eine Beziehung auf Augenhöhe führten die beiden nicht, und dass sie ihn vor langer Zeit gerettet hatte – warum auch immer – änderte meine Sicht auf das Ganze ebenso wenig. „Du bist wütend“, stellte Sofia fest, nachdem wir uns einige Augenblicke angeschwiegen hatten. „Nein. Eigentlich bin ich schockiert über die Selbstverständlichkeit, mit der man hier Leben beendet.“ „Reden wir noch von Ezra, oder geht es um Magdalena und dich?“ So genau wusste ich das selbst nicht. „Ganz allgemein. Denke ich.“ Ich rutschte ein Stück nach hinten, um mich an die Wand zu lehnen und musterte Sofia ausgiebig. Ich war darauf gefasst gewesen, dass Vampire Menschen töteten. Sie waren Nahrung. Doch dass selbst untereinander eine solche Mordlust herrschte, wollte ich nicht begreifen. Ob Sofia schon immer über diesen Hang zur Brutalität verfügt hatte? Ob sie erst über die Jahre so geworden war, weil man es ihr vorgelebt hatte, weil die Gesellschaft so war? „Woran denkst du?“, fragte sie. „Ich denke, man verliert irgendwann das Gefühl für die Bedeutung eines Lebens, wenn man unsterblich ist. Wie du.“ Ich konnte sehen, dass meine Worte sie unerwartet trafen. Sofia runzelte die Stirn, verzog nachdenklich die Lippen und antwortete schließlich: „Du nimmst mir übel, dass ich dich ebenfalls getötet hätte, wärst du nicht zurückgekehrt.“ „Kannst du mir das verdenken?“ „Nein.“ Immerhin. Ich hätte ihr zugetraut, mir dieses Gefühl mit faden Erklärungen austreiben zu wollen. „War Magdalena die Erste, die du am Leben gelassen hast?“ „Ja.“ Ihre Antworten waren knapp geworden. Als wollte sie vermeiden, etwas Falsches zu sagen. „Und wie viele waren es?“ „Sechs vor Magdalena.“ Tatsächlich hatte ich mit einer höheren Zahl gerechnet. „Zwölf danach“, fügte sie hinzu. „Achtzehn?“, meine Stimme war entsetzt in die Höhe geschnellt. „Du hast achtzehn Menschen umgebracht, weil sie nicht bei dir bleiben wollten?“ Sofia ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich habe nicht allen eine solch lange Bedenkzeit eingeräumt.“ „Ah. Tja naja, dann danke.“ Ich war erschüttert. Sofias Methode, zuerst zu fragen, ob jemand ihr Schüler werden wollte, erschien mir plötzlich überhaupt nicht mehr nachsichtig. „In ein paar Jahren wirst du darüber nur noch müde lächeln können. Trotzdem kann ich verstehen, dass es dich im Moment schockiert und dass du wütend darüber bist.“ Ich glaubte nicht, irgendwann nur im Ansatz darüber lächeln zu können, doch wütend war ich nicht. „Ich bin nicht wütend deswegen.“ „Enttäuscht?“, fragte sie. „Nein, auch nicht. Wahrscheinlich sollte ich wütend sein, oder enttäuscht, oder beides, bin ich aber nicht. Ich bin angefressen, das ist alles.“ Es überraschte nicht nur Sofia. „Liegt wohl daran, dass ich diese Möglichkeit nie ganz ausgeschlossen habe. Nur dass so viele vor mir waren, das schockiert mich.“ Sofia hatte ihren prüfenden Blick aufgesetzt. Sie durchbohrte mich damit. „Ha“, sagte sie schließlich, als hätte sie nach Minuten endlich den Kern meiner Aussage erfasst. Es kam nichts mehr. Wir sahen uns schweigend an, bis Sofia den Blick neben sich auf den Schreibtisch gleiten ließ. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte sie. „Du wirst es brauchen.“ Ich lehnte mich ein Stück zur Seite und inspizierte den großen Holzkasten. „Was ist das?“ Sofia lüftete die Abdeckung „Ein Grammofon.“ Ein großes trichterförmiges Objekt glänzte im Schein meiner Lampe. Es war neben einer runden Scheibe auf einen Holzsockel montiert. Etwas wie das, hatte ich nie benutzt, es war unerschwinglich. „Ein Geschenk?“, fragte ich. „Eine Leihgabe. Du wirst hiermit an deiner Wahrnehmung arbeiten.“ „Mit Musik?“ „Ja. Es wird dir aufgefallen sein, dass dein Gehör sich enorm verbessert hat. Weil es jedoch nicht überall ebenso ruhig ist wie hier, wirst du einen Weg finden müssen, mit erhöhter Lautstärke umzugehen. Das hier soll dir helfen, dich langsam daran zu gewöhnen.“ Sie winkte mich heran. „Komm, ich zeige dir, wie es funktioniert.“ Ich schob mich aus dem Bett und kam zu ihr. Sie wies mich haarklein in die Bedienung dieses Instruments ein, danach legte sie eine Schallplatte auf und die Musik begann zu spielen. Die Züge meines Gesichts verspannten sich, ich hörte das Kratzen der Nadel auf der Platte, Scheppern, undefinierbaren Krach. Dazwischen erklang ein Orchester in ungeheurer Lautstärke. „Mach das aus!“ Sofia stellte es ab. „Das ist es, was ich meinte. Du wirst lernen, damit zurechtzukommen. Das ist unerlässlich.“ Mir war schleierhaft, wie ich mich an etwas gewöhnen sollte, das so massiv auf mich einwirkte. „Du willst mich foltern.“ „Überhaupt nicht. Es geht um Kontrolle“, klärte sie mich auf. „Du kannst – mit ausreichend Übung – viele Dinge in deinem Körper bewusst steuern. Deine Wahrnehmung zum Beispiel. Du kannst deine volle Aufmerksamkeit einem einzigen Geräusch widmen, oder du kannst sie streuen. Willst du etwas nicht hören, konzentriere dich auf etwas anderes, damit kannst du es ausblenden.“ Als müsste ich lediglich die richtigen Hebel in Bewegung setzen. Es klang einfach, wenn sie es sagte, bloß wusste ich nicht, wie diese Hebel zu betätigen waren und wo ich sie finden konnte, nicht einmal wie sie aussahen. Lange Zeit zu suchen, ließ Sofia mir nicht. Sie ließ die Platte weiterlaufen und ich zuckte zusammen. „Ist es außen zu laut, höre nach innen“, sagte sie. „Wie denn?“ „Konzentration und Übung.“ Ich suchte nach einem Geräusch, das erträglicher war, auf das ich mich konzentrieren konnte, doch der Lärm des Grammofons überdeckte alles andere. „Hör bitte auf!“, flehte ich. Sie schaltete es erneut aus „Es ist nicht immer möglich, laute Geräusche abzustellen. Du musst lernen, damit umzugehen.“ Sehr erbauend. „Wie machst du es?“ „Ich denke an einen leeren Raum. Dort gibt es keine Geräusche und dann lasse ich nur das hinein, was ich hören möchte. Aber jeder muss seine eigene Methode finden. Lass dir ruhig Zeit, nur kümmere dich darum.“ Ich nickte und Sofia verabschiedete sich. Inzwischen war es halb sechs am Morgen, längst Zeit, ins Bett zu gehen. Leerer Raum. Weiße Wände. Stille. Ein letztes Mal stellte ich die Musik an. Sie dröhnte ohne Rücksicht los, ich schaltete es sofort wieder ab und huschte unter meine Bettdecke. Für heute konnte mir das Grammofon gestohlen bleiben.   —   Ich stellte schnell fest, dass die Zeit des Müßiggangs vorbei war. Kontrolle – es war Sofias neues Lieblingswort – war die oberste Priorität. Ich sollte lernen mich selbst zu kontrollieren, meine Bedürfnisse, meine Empfindung, meine Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Alle paar Tage brachte Sofia die Hunde in mein Zimmer, die ersten beiden Male hatte ich mich nach drei, dann nach fünf Minuten übergeben müssen. Es war widerlich, obwohl die beiden nicht einmal nass gewesen waren. Seitdem verließ ich stets den Raum, bevor es zu spät war – zehn Minuten waren der Rekord. Das Grammofon stellte ich von Tag zu Tag seltener an. Sofia störte sich nicht an meinem langsamen Fortschritt, sie hatte noch ausreichend andere Herausforderungen, mit denen sie mich – und ich war sicher, dass es ihr Spaß bereitete – pausenlos auf Trab hielt. Lies dieses Buch! Schreib auf, was du denkst! Bürste die Hunde! Mach Holz! Mach Feuer! Wasch die Wäsche! – Irgendjemand musste das jetzt schließlich tun. Konzentriere dich! Blende es aus! Kontrolliere es! Die schwierigste Übung war unbestritten der Kampf mit mir selbst. Jeden zweiten Abend erhielt ich eine Blutration. Im Glas, denn Sofia wollte mich langsam mit dieser neuen Lebendweise vertraut machen. Es war kein Menschenblut, sondern ihr eigenes, das mir, nachdem ich von Amandas Blut gekostet hatte, nicht mehr halb so schmackhaft erschien wie beim ersten Mal. Dennoch fiel es mir schwer, mich zu zügeln. Beim ersten Mal hatte ich es ihr direkt aus der Hand gerissen, beim zweiten Mal hatte sie es zumindest noch auf dem Küchentisch abstellen können. „Ich nehme das Tuch jetzt weg“, verkündete Sofia. Sie stand hinter dem Tisch, ich saß auf dem Stuhl und wartete darauf, dass sie meine Mahlzeit enthüllte. Auf dem Glas lag ein Untersetzer. Sofia hatte nachgebessert, sie konfrontierte mich nach und nach mit meinem Abendessen, so konnte ich länger widerstehen. Sehen, riechen, schmecken, erst dann durfte ich trinken. „Ist gut.“ Sofia lüftete das Tuch. Ich fixierte das Glas und atmete tief durch. Die zwei Tage ohne Nahrung wirkten sich nicht unbedingt positiv auf mein Durchhaltevermögen aus. Es war um einiges leichter, war man satt. Unruhig wurde ich erst, als Sofia den kleinen Deckel abnahm. „Woran denkst du?“, fragte sie. „Ding Dong Bell.“ Kinderlieder hatten sich als wirksamste Ablenkung erwiesen. Meine Großmutter hatte mir viele beigebracht, mein Repertoire war umfangreich. Ich hatte mich in meinem Stuhl weit zurückgelehnt, der Geruch lockte mich und ich hielt Stand. Sofia schob mir das Glas entgegen. „Gut, versuch es.“ Bis hierhin war ich bereits vor zwei Wochen gekommen, nur das Schmecken bereitete mir Probleme. Ich sollte nippen und es zurückstellen. Ein schwieriges Unterfangen. Es frustrierte mich, dass ich nicht vorankam. Sofia meinte, ich sei ungeduldig, ich solle keine Wunder erwarten, es war erst Mitte Februar. Ich hatte mir fest vorgenommen, meine Selbstbeherrschung bis Ende des Monats perfektioniert zu haben, doch davon war ich weit entfernt und das, obwohl der Reiz bei dieser Übung nur ein Bruchteil dessen ausmachte, was mich erwartete, sollte ich einem Menschen über den Weg laufen. Sofia hatte mir die Theorie ausführlich erklärt: Mein neuerdings erwachter Instinkt ließ mich jeden Menschen als Beute betrachten. Ihr Geruch spielte dabei eine wesentliche Rolle. Das, und das Bewusstsein, einem Menschen gegenüberzustehen, oder eben nicht, erklärte, weshalb ich keinerlei Bedürfnis verspürte, Sofia an die Kehle zu wollen – vorausgesetzt, sie war unverletzt. Auf die Frage nach dem Warum, hatte Sofia mich auf die zahlreichen Bücher verwiesen, die sie auf meinen Schreibtisch gestapelt hatte. Allesamt waren sie anstrengend zu lesen. Sie beinhalteten verschiedene Theorien zur Entstehung dieser ... unserer Art und warum wir ein solch starkes Bedürfnis nach Menschenblut verspürten. Warum das Verlangen, sie töten zu wollen, ganz natürlich war. Eines der Bücher hatte mich stark an die Bibel erinnert. Von Gott geschaffen, um auf Erden seinen Willen zu vollstrecken, um Menschen zu strafen und Chaos zu vermeiden. Andere Autoren waren neutraler an dieses Thema herangegangen. Eindämmung der menschlichen Population, begründete einer. Nahrungskette, biologisches Gleichgewicht. Alles sehr theoretisch und es half mir rein gar nicht, bei meinem überaus praktischem Problem: Das Glas mit Blut, das ich an meine Lippen gesetzt hatte und dessen Inhalt mich wahnsinnig machen wollte. Der erste Tropfen berührte meine Zunge und plötzlich war ich überzeugt, zugrunde zu gehen, trank ich es nicht. Als würde mir jeden Augenblick jemand das Glas aus der Hand nehmen und ich müsste verhungern. Mit einem Zug war es leer und ich war sauer. „Verdammt!“, fluchte ich und zerschlug das Glas auf dem Tisch. „Wieso geht es nicht?“ „Das braucht Zeit.“ Sofia blieb unverändert ruhig. „Das sagst du mir seit Wochen!“ „Und sieh, wie weit du gekommen bist“, versuchte sie mich zu beruhigen. Zwecklos. Ich war dünnhäutig geworden. Meine Toleranzgrenze war weit abgesunken und ich verlor zunehmend die Kontrolle über meine Nerven, obwohl ich daran arbeitete, das Gegenteil zu erreichen. Ich erhob mich zügig aus dem Stuhl und verließ die Küche, bevor ich platzte. Ich musste an die Luft, wieder abkühlen, mich zusammenreißen. Mit dem Fuß schob ich den Schnee von der Treppe, ließ meine Jacke auf die Stufe fallen und setzte mich. Ich fühlte mich wie ein Pulverfass, kurz vor der Explosion. Wollte schreien und um mich schlagen, am liebsten jemandem den Hals umdrehen und bemühte mich dennoch um Ruhe, da keine dieser Verhaltensweisen mir in irgendeiner Art entsprach. Mein Kopf hing weit nach unten, ich mahnte mich, langsam zu atmen und konzentrierte mich auf das Tropfgeräusch, das sich direkt vor mir stetig wiederholte. Ich zählte mit, bis zehn, bevor mir auffiel, dass ich es selbst verursachte. Auf der Stufe unter mir war der Schnee dunkel verfärbt. In meiner rechten Hand steckten Glasscherben, die ich bis eben nicht gespürt hatte. Jetzt spürte ich sie mehr als deutlich. Meine Hand brannte. Sie konnte nicht heilen, solange das Glas darin steckte, also zog ich die Scherben mit fest zusammengebissenen Zähnen heraus. Ein kurzer Schwindel überkam mich, als das Glas erneut durch meine Haut schnitt. Es tat nicht einfach weh, ich spürte, wie Fasern meines Körpers voneinander getrennt wurden – ein abartiges Gefühl. Ich atmete tief durch, nachdem alles entfernt war und ließ ich mich hinreißen das Blut von meiner Hand zu lecken. Es schmeckte ähnlich fad wie Ezras Blut, langweilig, trotzdem konnte ich mich nicht beherrschen. Ich biss in meine eigene Hand und trank mein Blut, ohne dass es mir schmeckte. Es beruhigte mich auf seltsame Art und Weise. Ich verlor die Zeit aus den Augen, die Menge, und hörte erst auf, als mir jemand die Hand aus dem Mund nahm. Ich war müde und Ezras Schulter kam mir sehr gelegen. „Es haben sich schon Vampire bis zur Bewusstlosigkeit an sich selbst betrunken“, sagte er und ließ mich an ihm lehnen. „Ja ...“, gab ich träge zur Antwort. „Hat Sofia dich geschickt?“ „Nein, ich habe gehört, was passiert ist.“ „Ah. Na dann.“ Ich wusste nicht, was das bedeutete. „Was ist denn passiert?“ „Ihr versucht gegen deine Natur zu arbeiten, das kann nicht funktionieren und es ist schädlich. Ich gehe davon aus, dass du früher oder später den Verstand verlierst, wenn ihr auf diese Weise  weitermacht.“ Eine Analyse, wie sie nüchterner nicht hätte sein können. „Ezra? ... Hast du Magda gefunden?“ Er antwortete nicht sofort und ließ sich schließlich auf den Themenwechseln ein. „Es geht ihr gut.“ „Schön.“ Sofia hatte ihr Wort gehalten. Mehr wollte ich nicht wissen, auch zu Magdalenas Schutz. Stattdessen lehnte ich noch eine Weile schweigend an Ezras Schulter. Es war angenehm. Seit Magdalena gegangen war, schien Ezra verständnisvoller geworden zu sein. Gesprächiger, freundlicher und vor allem weniger abweisend. Vielleicht lag es daran, dass wir seit Wochen nicht mehr trainiert hatten, dass er mich nicht mehr regelmäßig sah. Dass ich ihm weniger auf die Nerven ging, oder einfach daran, dass ich nun endgültig und unwiderruflich ein Teil seines Lebens war. Er hatte sich bei mir bedankt, als er am Tag nach Magdalenas Abschied wieder zurückgekehrt war, danach hatte ich ihn einige Zeit nicht gesehen und dann – als er wieder aufgetaucht war – war es, als wäre nie etwas gewesen. Offenbar nahm er es Sofia kein bisschen übel, was sie getan hatte. Er war nicht nachtragend und ich wollte mir ein Beispiel daran nehmen. „Trainieren wir eigentlich irgendwann wieder?“, fragte ich leicht benebelt. „Fürs Erste nicht.“ „Wieso?“ „Ich will mir nicht ins eigene Fleisch schneiden.“ „Oh ... verstehe. Ich muss mich erst im Griff haben.“ Sein Schweigen ließ sich zweifellos als Ja werten. „Wie lange wird das dauern?“, fragte ich. „Kann ich nicht sagen.“ „Es nervt mich ... Ich komme kein Stück voran.“ „Sofia wird irgendwann einsehen müssen, dass dieser Weg nicht der Richtige ist.“ „Und welcher wäre der Richtige?“ „Dich ins kalte Wasser zu werfen und abzuwarten, ob du von alleine schwimmen kannst.“ „Ich kann schwimmen! Fay hat es mir beigebracht.“ „Das war eine Metapher.“ „Weiß ich doch.“ Es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten. Wie viel von meinem eigenen Blut hatte ich wohl getrunken? „Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Fay. Wann kommt sie wieder?“ „Überhaupt nicht.“ „Wie-?  ... wegen mir.“ Ich bedauerte diese Entwicklung. Nicht nur wegen Fay, auch für Ezra tat es mir leid. „Das ist wirklich ungerecht ...“, fügte ich hinzu. „Behänge dich nicht mit den Problemen anderer Leute. Du hast selbst genug.“ Wohl wahr. Eines davon, öffnete soeben die Tür hinter uns. „Megan, kommst du bitte wieder herein?“ Sofia wartete und ich rappelte mich auf. Meine Beine waren weich und Ezra half mir hoch. Danach verabschiedete er sich. Er wollte noch in die Stadt, vielleicht Fay besuchen. Ich wurde von Sofia empfangen, die mich zielstrebig in den Salon geleitete. „Bist du aufnahmefähig?“, fragte sie, nachdem sie in ihrem Sessel platzgenommen hatte. Ich bemühte mich um einen wachen Ausdruck und nickte. „Gut. Denn ich möchte offen mit dir sein und benötige eine ehrliche Antwort.“ Ein weiteres Nicken und Sofia begann. „Ezra hat dir erzählt, was er von meiner Erziehungsmethode hält und ich möchte nicht völlig von der Hand weisen, dass er unter Umständen recht haben könnte. Dieser Weg, den ich mit dir gehe, hatte bisher noch keinen Erfolg. Aber – und davon bin ich überzeugt – wir haben gegenüber allen anderen einen unschlagbaren Vorteil: Dein Kopf ist frei von Panik, frei von Angst. Keinem anderen Vampir war diese Klarheit zu Beginn seines neuen Lebens gegeben, nur dir, weil ich dich darauf vorbereitet habe, und ich glaube fest daran, dass es möglich ist, mithilfe dieser Klarheit einen Weg zu gehen, der sowohl für dich, als auch für mich und dein Umfeld bei Weitem ungefährlicher ist, als die Methode, die Ezra vorzieht. Es mag sein, dass dieser Pfad länger sein wird, dass wir mehr Geduld aufbringen müssen, doch ich bin sicher, dass es das wert ist.“ Sofia sprach mit solcher Überzeugung, dass ich kaum wagte, Widerworte zu geben. Möglicherweise konnte es funktionieren, ich hatte immerhin nicht die leiseste Ahnung, weder von der einen noch der anderen Methode. „Und nun möchte ich dich etwas fragen“, fuhr sie fort. „Wie genau fühlst du dich?“ War das die Frage? Sie erschien mir banal. „Müde.“ „Ich meine, wie du dich ganz allgemein fühlst.“ „... wie das Band einer Steinschleuder.“ „Kannst du es noch eine Weile festhalten?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Sofia musterte mich prüfend, als könnte sie auf diese Weise herausfinden, wie lange ich es noch aushalten würde, ehe ich wahnsinnig wurde. „In Ordnung. Eine letzte Frage: Wie steht es mit dem Grammofon?“ Das hatte ich schon beinahe verdrängt. „Nicht gut. Jedes Mal, wenn ich es anstelle, fühlt es sich an, als hämmerte man mir Nägel in die Ohren.“ „In diesem Fall, möchte ich dir ein Geschäft vorschlagen: Du konzentrierst dich in den nächsten Wochen ausschließlich auf die Kontrolle über dein Gehör, und sobald du es kannst, verreisen wir.“ „Wohin verreisen?“ „Das überlege ich mir, sobald es soweit ist. Irgendwohin, wo es viele Menschen gibt und uns keiner kennt. Wo es nicht auffällt, sollte jemand verschwinden. Wir werden jagen gehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)