Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 029 – Hinter der Maske ---------------------- Seine Zustimmung war befreiend. „Schön, dass ihr euch endlich einig seid.“ Sofia war die steinernen Stufen lautlos herabgeschwebt und blickte uns vom Flur aus finster an. „Wo ist Magdalena?“ Sie gab sich keine Mühe, ihre Laune hinter der sonst so freundlichen Fassade zu verbergen. „Gegangen“, antwortete Ezra nüchtern. „Wann?“ „Vor Kurzem. Es war ihre Entscheidung.“ Sofia lachte kalt und kehrte uns den Rücken zu. „Und du ließt sie. Wie einfältig.“ Sie ging zur Tür. Ezra folgte zügig. „Gib sie frei.“ Klang, als wollte er sie beschwören, doch Sofia zeigte sich wenig beeindruckt. Sie verließ das Haus, Ezra dicht auf ihren Fersen. „Halte dich raus“, knurrte sie kaum verständlich. „Sofia!“ Ezra griff nach ihrem Arm. „Es wäre ihr Tod, brächtest du sie hierher zurück.“ „Das weißt du, weil?“, fragte sie schnippisch und drehte ihren Arm, um freizukommen. „Lass los!“ Er gab nicht nach. „Sei nicht so stur. Du weißt, dass ich recht habe.“ „Selbst wenn. Dann soll es so sein.“ Sofias Gleichgültigkeit überraschte mich in gleichem Maße wie Ezras Einsatz für eine Sache, die ihn nicht im Geringsten betraf. „Wenn du sie unbedingt loswerden willst, töte sie selbst, aber lass es nicht Megan tun.“ „Ich will sie nicht loswerden“, antwortete Sofia trocken und zog Ezra mit einem kurzen Ruck zu sich. Ein sonderbares Geräusch – wie Schmatzen. „Sie haben Ihre Befugnisse bei Weitem überschritten, Mister Harris. Es reicht.“ Ich konnte nicht sehen, was passiert war. Ezra stand mit dem Rücken zu mir. Er schwieg und mit dem nächsten Luftzug erreichte mich der Geruch frischen Blutes. Ezra fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, ein tiefes Loch in der Brust. Mir wurde anders. Sofias würdigte mich keines Blickes, wand sich der Straße zu, und ging. Diese Seite an ihr war mir neu. Sie ließ mir keine Wahl, ich ging ihr nach – für Magdalena. „Bleib, wo du bist!“, warnte sie mich, als ich näher kam. „Das werde ich nicht.“ Sie atmete schwer aus und blieb stehen. „Denkst du nicht, ich könnte dich nicht ebenso leicht aus dem Weg räumen, wie ihn?“ Ich musterte ihre schlanke Statur, die locker zusammengesteckten Haare. „Nein.“  Ein genüssliches Schnauben, ein Kichern, dann ließ mich die stählerne Kälte ihres Blickes frösteln, als sie sich umdrehte. „Du irrst dich. Und du wirst es bereuen, solltest du weiter versuchen, mich aufzuhalten.“ „Warum kannst du sie nicht gehen lassen?“, fragte ich und war fest überzeugt, ihr nicht kampflos das Feld zu überlassen. Sie lächelte und winkte mich zu sich. Ich blieb mit zwei Armlängen Abstand stehen. „Manchmal ist Mut nur das Kostüm der Torheit, die einen antreibt.“ Ein prüfender Blick, dann fuhr sie fort: „Aber wie soll ich es dir verdenken? Du kannst es nicht wissen, deshalb sage ich es dir ein letztes Mal: Niemand stellt sich mir in den Weg.“ „Ich stelle nur eine Frage und warte auf deine Antwort.“ Sie hob überrascht die Brauen und ihre Miene wurde weicher. „Eine Vereinbarung“, sagte sie. „Magdalena und ich trafen eine Vereinbarung, nachdem sie beschlossen hatte, ein Mensch zu bleiben. Sie darf nicht gehen, sonst muss sie sterben.“ Ich blinzelte ungläubig. „Das ist ein Witz.“ „Nicht im Ansatz.“ Ich bemühte mich um Ruhe, ehe ich widersprach: „Das ist die dümmste Vereinbarung, von der ich je gehört habe. Du darfst sie nicht töten.“ „Du misst mit menschlichem Maß. Natürlich darf ich. Ich hätte es bereits vor Jahren tun müssen, doch das tat ich nicht. Stattdessen gestattete ich ihr zu bleiben. Das war meine Bedingung.“ Die Bedeutung ihrer Worte drang siedend heiß zu mir durch: Magdalena war nicht die Einzige, die zu diesen Bedingungen hier gelebt hatte. „Du hättest mich niemals in den Zug steigen lassen.“ Sie schüttelte knapp den Kopf. „Unter keinen Umständen.“ Ihre Worte brannten unangenehm unter meiner Schädeldecke, während ich versuchte, diese Information zu verdauen. So oft hatte sich mein Weg gegabelt und es war purer Zufall, dass ich noch lebte. „Dann war es wohl Schicksal, meinen Abschied nicht eine Stunde früher beschlossen zu haben“, stellte ich fest. In meinem Kopf schwirrte es. „Das könnte man sagen.“ Ich atmete tief durch. „Wow.“  „So sind die Regeln. Es ist nichts Persönliches.“ „Verstehe.“ Ich nickte knapp. „Trotzdem hättest du mich entsorgt wie ein krankes Kalb.“ Kein Widerspruch. Natürlich nicht, schließlich hatte ich recht. Ich blies die Luft geräuschvoll aus meinen Lungen. „Das ist Vergangenheit.“ Sie kam einen Schritt auf mich zu, löste ihre Arme und fuhr fort: „Die Umstände haben sich geändert.“ „Soll ich es einfach hinnehmen?“ Mein Tonfall nahm hysterische Züge an. „Du hast keine andere Wahl“, erklärte sie ruhig. „Ja? Dann lass mich dir eine letzte Frage stellen: Wusste Magdalena, dass du sie töten würdest, sobald sie dich verlässt?“ Sofia schwieg. Sie hatte ihre Geschichte nicht bis zum Ende durchdacht und nichts, was sie in diesem Moment sagen konnte, würde die Tatsache verschleiern können, dass ich ihre zweite Wahl war. So entschied sie sich für die Wahrheit. „Sie wusste es.“ Ich biss die Zähne zusammen und trat einen Schritt zurück. „Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgemacht.“ „Nein. Megan, bitte.“ Sie streckte die Hand nach mir aus. Ich wich zurück. „Fass mich nicht an!“, fauchte ich. „Geh doch in die Stadt, hol sie zurück und dann sperr mich in den Keller! Dann kannst du dich weiter an ihr erfreuen und ich habe endlich meine Ruhe!“ „Du verstehst das falsch.“ „Blödsinn! Ich verstehe mehr als du denkst.“ Mit diesen Worten wandte ich mich ab und beeilte mich, davon zu kommen. Zurück zum Haus, allein sein, doch es war mir nicht gegönnt. Sofia wollte mich so nicht gehen lassen. Ich konnte hören, wie sie näher kam. Es knackte unter Ihren Solen. „Bleib bitte stehen“, bat sie mich und ich spürte die sanfte Berührung ihrer Hand auf meiner Schulter. Ich griff danach, kaum hatte sie mich erreicht, drehte mich ein und hebelte Sofia über meinen Rücken mit Schwung zu Boden ins gefrorene Gras. Sie fluchte leise und blickte angespannt zu mir empor. Ein seltenes Bild, das mich amüsierte. Und das umso entzückender wurde, je klarer Sofia erkannte, dass ich mehr gelernt hatte, als effektive Nahkampftechniken. „Ich habe dich unterschätzt“, gestand sie.  „Nicht zum ersten Mal.“ Nachdem ich sie lange genug mit strengen Blicken bedacht hatte, streckte ich ihr meine Hand entgegen und zog sie zurück auf die Beine. Eigentlich absolut unnötig. „Ich danke dir“, sagte sie, als sie wieder stand. „Keine Ursache.“ „Für dein Verständnis, meine ich.“ „Ja, ich weiß. Aber es ist in Ordnung. Ich weiß, dass ich nicht das Zentrum der Welt bin. Nicht deiner, nicht sonst jemandes. Dass es Regeln gibt, die Menschen nicht nachvollziehen können und dass sogar du dich an diese Regeln halten musst. Auch wenn du sie dir zurechtlegst, wie es dir gefällt.“ „Du überraschst mich.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht nur dich. Ich kann selbst nicht mehr einschätzen, wozu ich imstande bin. Du kannst es auch nicht ... Es wäre riskant, Magdalena hierher zurückzubringen.“ Sofia schloss seufzend die Augen. „Muss ich mich also geschlagen geben?“ Mir war nicht klar, welche Art Antwort ich ihr darauf geben sollte, ob diese Frage überhaupt ernst gemeint war. Ich versuchte etwas aus ihrem Gesicht zu lesen. Sie wirkte nicht, als wolle sie einen Kompromiss eingehen. „Gut. Ich werde sie nicht zurückbringen“, sagte sie und fügte – bevor ich dieses wichtige Detail ansprechen konnte – hinzu, „und ich werde sie nicht töten.“ „Aber?“ Ich war sicher, es gäbe einen Haken. „Nichts. Das ist alles. Ich möchte nur, dass du mir morgen noch in die Augen sehen kannst, ohne mich zu hassen. Es wäre tragisch, stünde das zwischen uns. Außerdem, nicht dass du mich falsch verstehst, mir liegt persönlich rein gar nichts daran, ihr Leben zu beenden. Ebenso wie das deine.“ „Das macht es nicht unbedingt besser.“ Sie hob die Brauen. „Findest du?“ Ich zog die Schultern ein Stück nach oben. „Kommt auf den Blickwinkel an. Tot ist tot. Zumindest für einen Menschen.“ Sie schmunzelte, als hätte ich einen Scherz gemacht. „Sei nicht albern. Ich wäre die Letzte, die dich auslöschen wollte. Meine Aufgabe ist es, dich vor einem solchen Ende zu bewahren.“ „Mh-hm.“ Ihre Mimik verriet mir, dass sie mit dieser Reaktion nicht zufrieden war, es sich aber verkniff, weiter darauf herumzureiten. „Wie dem auch sei. Ich werde noch einen kurzen Ausflug in die Stadt unternehmen.“ Mein Puls schnellte spürbar nach oben. „Wozu?“ Sofia lächelte vergnügt. „Jemand brachte mich um. Ich bin hungrig.“ Das war alles? „Kann ich dich begleiten?“ „Nein, du musst dich um Ezra kümmern, bevor die Hunde ihn fressen.“  „Hm?“ Ich drehte mich um und mir wurde totschlecht. Yasha und Isaak standen halb auf seinem leblosen Körper. Sofia erschien mir plötzlich völlig unwichtig. Ich stürzte hinüber, um die beiden Tiere zu verscheuchen. „Verschwindet!“ Sie wichen zurück, kaum hatte ich das Blutbad erreicht, und freuten sich, als ich mich hinunter kniete. Ich schob sie angewidert zurück, ihre Nasen waren blutig und die Galle stieg mir bis zum Hals. „Ins Haus! Ab!“, wies ich sie an und die beiden gehorchten. Ich atmete erleichtert aus. Sie hatten ihn nicht angefressen. Geschnuppert, geschleckt – schlimm genug. Eine abstoßende Vorstellung. Die nassen Hundeschnauzen tief in seinem Fleisch, das Blut, das seine Kleidung getränkt hatte und langsam gefror,  wie gut es roch ... wie verlockend. Ich könnte mir einen Schluck genehmigen. Ezra würde es überhaupt nicht bemerken. Wen interessierte schon, ob er ein paar Stunden früher oder später erwachte, ob ich die Gelegenheit nutzte oder nicht? Nein! Du bist kein Hund, verdammt! Ich drehte mich zu Sofia um, doch sie war verschwunden. Stur richtete ich meinen Blick in den erleuchteten Flur und begann durch den Mund zu atmen. Nicht hinsehen. Konzentriere dich! Ich griff seine Arme und zog ihn die Stufen hinauf. Er war leichter als gedacht und die Erkenntnis traf mich, als ich die Türschwelle erreichte. „Entschuldige“, murmelte ich und hob ihn hoch. Es war ein Kinderspiel. Noch vor zwei Tagen wäre mir, beim Versuch ihn anzuheben, das Rückgrat gebrochen. Ich musste mich an diese Stärke gewöhnen, doch war sie zweifellos eine der angenehmsten Veränderungen. Einer der Gründe, weswegen ich mich hierfür entschieden hatte. Trotz aller Zweifel, trotz der Nachteile, die dieses Leben mit sich brachte. Ich öffnete die Tür zu Ezras Zimmer mit dem Knie und ging hinein. Helle Bettwäsche – und die Fasern seines Hemds waren rot. Ich legte ihn auf dem Fußboden ab, holte Tücher, einen Eimer Wasser, Wodka und eine Lampe, und begann das Massaker zu beseitigen, das Sofia verursacht hatte. Beim besten Willen konnte ich nicht begreifen, weshalb sie auf solch brutale Weise mit ihm umging. Ob es die normale Umgangsform war? Löste man auf diese Weise Konflikte? Der Tod schien in jeder Hinsicht ein probates Mittel der Problembeseitigung für Sofia zu sein. Ob für immer oder nur vorübergehend, ich hoffte, dass es nicht zur Gewohnheit wurde und dass, zumindest in Ezras Fall, mehr dahinter steckte, als pure Sturheit garniert mit einer Prise Wahnsinn. In meinem Kopf klimperte eine ruhige, eintönige Melodie, während ich mit meinen Tüchern wiederholt Blut von Ezras Brust wischte. Ein altes Kinderlied. One for sorrow, two for joy ... Three for a girl, four for a boy ... Diese Arbeit machte mich nervös. Five for silver, six for gold ... Seven for a secret, never to be told. Eight for a letter over the sea ... Nine for a lover as true as can be. Bye, baby bunting ... Ich summte mit. Daddy’s gone a hunting To get a little rabbit skin To wrap his baby bunting in ... Einige Minuten und etliche Kinderlieder später ließ ich den Lappen zurück in den Eimer fallen und betrachtete mein Werk. Sah man vom Loch in seiner Brust ab, war er vorzeigbar. Ob ich es verbinden sollte? Verband man jemanden, der in einer solchen Geschwindigkeit heilte? Ich entschied mich dagegen, desinfizierte seine Verletzung – trotz Zweifel an der Notwendigkeit – und verfrachtete ihn ins Bett. Mehr konnte ich nicht tun. Und nun? Ich hatte keine große Lust, mich mit meiner neu gewonnenen Erkenntnis über Sofia auseinanderzusetzen. Mir war stets bewusst gewesen, dass sie nicht ausschließlich die selbstlose Retterin war, für die sie sich ausgab. Dass sie andere Seiten hatte. Egoistisch, berechnend. Zuweilen gewalttätig, das hatte ich das eine oder andere Mal miterlebt. Dass sie nicht gewillt war, sich etwas vorschreiben zu lassen, und doch ... sie hatte sich meiner Vorschrift gebeugt. Ich konnte Einfluss auf sie nehmen, das war beruhigend und tröstete ein wenig darüber hinweg, dass sie mich vor nicht allzu langer Zeit, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Jenseits geschickt hätte. Es war sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Warum? Weshalb? Wieso? Es war, wie es war. Mein Kopf wusste das, trotzdem wollte der bittere Beigeschmack sich nicht so leicht in Luft auflösen. Mit fest verschränkten Armen blickte ich mich im Zimmer um. Ein bisschen Ablenkung täte mir gut. Die Einrichtung war minimalistisch. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Keine Bilder, keine Dekoration – wozu auch? Auf seinem Schreibtisch standen Bücher – ich fragte mich wofür. Titel wie Two on a Tower – Thomas Hardy, A Child’s History of England – Charles Dickens und noch zwei duzend mehr. Romane. Einige von ihnen sahen neu aus. Ich nahm eines der Bücher heraus und fuhr langsam mit dem Finger über die Zeilen. Ich spürte die Struktur des Papiers, Unebenheiten auf der Oberfläche, Vertiefungen, Buchstaben konnte ich nicht erkennen. Vielleicht war sein Tastsinn feiner. Ich stellte das Buch zurück und ließ mich in den Stuhl fallen, dribbelte mit den Fingern auf der Armlehne. Zu meiner Linken befanden sich Schubfächer, drei an der Zahl. Es ging mich überhaupt nichts an. Ezra erzählte nie von sich. Sicher hatte er seine Gründe und ich sollte es akzeptieren. Ich atmete durch, wollte aufstehen, um zu verschwinden, und blieb sitzen. Tu’s nicht. Es gehört sich nicht. Die Neugier hatte mich gepackt. Ich rang den Moralapostel in mir zu Boden und zog das oberste Fach auf. Darin lagen Stifte, ein Lineal, Tintenfässchen, Federn, Münzen und eine Geldkassette. Der kleine Schlüssel steckte – geheim war es scheinbar nicht. Ich riskierte einen Blick und fand ... Geld. Ein Bündel Dollarscheine und reichlich Banknoten und Münzen, die ich nicht kannte. Bank of England. Britische Pfund. Nicht besonders spannend. Ich schob die Kassette zurück an ihren Platz und schloss das Fach. Ein kurzes Zögern – zu reizvoll war die Möglichkeit – und ich öffnete das zweite Fach. Ein dicker Ordner, darin unbeschriebenes Papier voller punktförmiger Erhebungen. Sie waren gerade angeordnet, in verschiedenen Konstellationen – das hatte System, nur verstand ich es nicht. Mehr war darin nicht zu finden. Ich legte ihn beiseite und fischte eine in dunkles Leder gebundene Mappe aus dem Schreibtisch. Sie war staubig, schlank und barg einige Schätze. Vergilbtes Papier, ein uralter Geruch und eine alte, verschlungene Schrift. Handgeschriebene Worte in verblasster Tinte, die ich unmöglich entziffern konnte.  Ich legte das Papier vorsichtig auf den Schreibtisch. Es folgten weitere Blätter – alle handbeschrieben – denen ich nichts entnehmen konnte. Enttäuschend. Tief in die Fasern des Papiers gepresst, fand ich schließlich ein Wappen. Ein offenes Buch, darin Buchstaben – wahrscheinlich Latein – darüber zwei, darunter eine Krone. In feinen Lettern waren die Worte University of Oxford daneben abgedruckt. Eine Zeile tiefer wurde es schwieriger, die Worte zu entziffern. Ein Dokument aus gedruckter und geschriebener Schrift. Ich kämpfte mich durch den Wald altertümlicher Sprache und Buchstaben. Die Universität gratulierte ... Mr. Ezra Abraham Harris zum absolvierten Studium der Humanmedizin. Datiert war das Schreiben auf das Jahr 1725. Daneben eine ausladende Unterschrift. Ich hielt einen Augenblick inne. Welch eigenwillige Vorstellung. Mein Blick wanderte prüfenden hinüber zum Bett. Schwer vorstellbar: Ezra als Arzt. Ein unterkühlter Mediziner, nicht besonders einfühlsam, dafür äußerst kompetent. Wahrscheinlich hatte er vielen Menschen geholfen ... und jetzt waren sie sein Abendessen. Ein grotesker Umstand. Die Blätter in meinen Händen forderten unweigerlich meine Aufmerksamkeit zurück, ich konnte es nicht verhindern – ich hatte es nicht einmal versucht. Vielleicht fand ich mehr über ihn heraus. Diese Gelegenheit konnte ich nicht vertun. Hinter dem Oxforddokument lagen weitere wichtig anmutende Unterlagen mit eingeprägten Siegeln und viel unlesbarem Text. Manche mit Skizzen und Zahlen darauf. Flächen, Grundbesitz. Etwas in dieser Art, vermutete ich. Ordentlich verpackt in einen großen Umschlag, fand ich einen Stapel Zeichnungen. Die Erste: ein großes, herrschaftliches Haus mit vielen Fenstern aus feinen schwarzen Linien und Schraffuren, Bäume und Büsche. Es war ein hübsches Gebäude, anders als die Häuser die ich kannte. Auf seinem Dach trug es viele kleine Verzierungen. Bögen und Spitzen, zwei Kuppeln. Am unteren Bildrand standen die Initialen des Künstlers in geschwungener Schrift: V. A.H. Im Umschlag steckten noch mehr seiner Werke, Landschaften, Schlösser, Menschen, dazwischen wenige farbige. Eines davon zeigte einen jungen Mann mit ernster Miene. Ich kannte ihn. Es war Ezra, der mich aus graublauen Augen kühl anstarrte. Sie waren wach und stechend. Minutenlang blickte ich hinein, es war eigenartig, ihn so zu sehen. Für mich hatte dort schon immer ein undurchdringbarer grauer Schleier gelegen. Ich blätterte andächtig weiter die Seiten um. Die meisten Bilder waren mit Tusche gezeichnet, schwarz-weiß und mit solchem Detailreichtum, dass man Stunden damit hätte verbringen können, sie sich anzusehen. Auf dem letzten Blatt stand ein Pferd auf grüner Wiese und sah in die Ferne. Die Strichführung war anders, weniger sicher und die Proportionen des Tieres stimmten nicht ganz. Es war nicht von V. A. H. Unten stand: Zum Geburtstag. Mit besten Wünschen, Adrian. Vielleicht ein Freund? Ein Patient, dem er geholfen hatte? Ich legte alle Bilder ordentlich aufeinander und schob sie zurück in ihren Umschlag. Traurig, dass die Menschen nicht mehr lebten, die er einmal kannte. Wahrscheinlich waren sie vor langer Zeit gestorben und plötzlich machte es Sinn. Es machte Sinn, dass Menschen und Vampire nicht zusammenlebten – selbst wenn manche das nicht ganz so genau nahmen – sie starben einem einfach davon. Man konnte nichts dagegen tun und ich fragte mich, ob sie ihm fehlten. Nach all der Zeit? Vielleicht vergaß man, oder man arrangierte sich damit, dass die Lieben einen verließen, dass man sie verlassen musste. Ich las die erste Zeile auf dem nächsten Papier in meiner Hand und schluckte hart. Diese wenigen Buchstaben drückten sich mit all ihrem Gewicht in mein Herz. Trauschein. Ich konnte nicht viel darauf erkennen, wohl aber seinen Namen und den seiner Frau: Victoria Anne Stuart. V. A. H. Victoria Anne Harris. Ezra war verheiratet ... gewesen. Ich mochte mir nicht ausmalen, wie zerschmetternd es gewesen sein musste, die Endgültigkeit zu begreifen. Nie wieder zurück zu können, alles zurückzulassen, ein neues Leben zu beginnen, und diejenigen im Stich zu lassen, nach denen man sich sehnte. Mir fiel kein Szenario ein, das diesem Verlust das Gewicht nahm. Ich klappte die Mappe zu und ließ meinen Blick auf dem dunklen Einband ruhen. Die letzten Blätter, es waren noch fünf oder sechs, hatte ich nicht angerührt. Ein kleiner Rest Privatsphäre erschien mir an dieser Stelle angebracht, also legte ich die Mappe zurück. Sie blieb stecken, als wäre das Fach geschrumpft. Merkwürdig. Ich warf einen Blick hinein. Ganz hinten in der Ecke lag eine kleine Kiste – eher eine kleine Truhe – die gerade so viel Platz ließ, dass die Mappe rechts daneben passte. Ich legte sie ab und barg die winzige Truhe. Ein wirklich wunderschönes Stück aus dunklem Holz mit Goldbeschlag. Schwer, dem zu widerstehen. Vorsichtig schob ich die Verriegelung auf. Ich erwartete etwas Wertvolles, etwas, das in einer Geldkassette nichts verloren hatte, und fand zwei Eheringe. Victorias Ring? Der kleinere der beiden Ringe glänzte, er war golden und glatt, trug nur wenige Verschleißspuren, der andere dafür umso mehr. Er hatte Kratzer und kleine Beulen, ganz rund war er auch nicht mehr, als hätte ihn jemand über Jahre hinweg während der Feldarbeit getragen. Der Schreck fuhr mir durch alle Glieder, als plötzlich jemand meinen Namen sagte. Die Ringe fielen mir aus der Hand, einer rollte zur Tür und Sofia hob ihn auf. Mein Puls war in die Höhe geschossen. Mir war heiß um die Ohren. „Was tust du hier?“, fragte sie. „Nichts!“, platzte es aus mir heraus. Ich sammelte mich kurz und wählte eine andere Antwort: „Nein: Stöbern. Ich war neugierig.“ „Verstehe.“ Sie kam herüber und reichte mir den Ring. „Ezra würde das nicht gefallen.“ „Das ... weiß ich.“ Sie lehnte sich an den Schreibtisch und warf einen Blick in sein Bett. „Ich werde es ihm nicht verraten.“ Dann wandte sie sich wieder an mich. „Doch wäre ich sehr dafür, nicht weiter in seinen Sachen zu graben.“ Da war sie wieder: diese unfassbar sanfte, schwerelose Art, von der ich nicht wusste, ob sie echt oder aufgesetzt war. Ich legte die Ringe zurück, platzierte den dicken Ordner auf der alten Mappe und schloss das Fach. Sofia war durchs Zimmer gegangen. Sie stand neben Ezra und beäugte ihn zufrieden. „Sieht gut aus“, stellte sie fest. „Morgen ist er wieder auf den Beinen.“ „Ist das normal?“, fragte ich, nachdem ich meine sieben Sachen zusammengepackt und ans Bett gekommen war. „Was meinst du?“ „Das.“ Ich wies mit einem kurzen Nicken in Ezras Richtung. „Dass man auf diese Weise miteinander umgeht.“ Sofia lächelte mich unschuldig an. „Nicht unbedingt. Doch es kommt vor.“ „Wie beruhigend ...“ „Hab keine Sorge, ich würde weder dich noch ihn jemals ernsthaft verletzen.“ Fraglich, was diese Frau für eine ernsthafte Verletzung hielt. Sie nahm mir die Flasche Wodka ab und forderte mich auf, ihr nach draußen zu folgen, dann verschwand sie und mir blieb noch ein Moment. Dass Ezra nie über seine Vergangenheit sprach, machte es leicht zu glauben, es wäre niemals anders gewesen, dass er schon immer mit Sofia hier in diesem Haus gelebt hatte. Ich betrachtete den Mann, der vor mir lag, und erkannte eine Person, die mehr war, als derjenige, der mich jahrelang widerwillig trainiert hatte und der so etwas, wie Sofias Bediensteter zu sein schien. Es war ein völlig anderer Mann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)