Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 024 – Frühjahrsputz ------------------- 024 Frühjahrsputz   Es kitzelte. Irgendetwas kitzelte meine Nase. Ich schlug die Augen auf und erkannte dunkles Haar. Eine lange Strähne lockte sich über das weiße Kissen und hatte mich geweckt. Meine Mundwinkel wanderten in tiefer Zufriedenheit ein Stück nach oben. Amandas schlafendes Gesicht war der bestmögliche Anblick, einen Tag zu beginnen. Der zweitbeste, wenn man ehrlich war. Wir hatten uns gestern nicht wieder angezogen. Unsere Beziehung basierte auf einem einfachen Prinzip. Sie war rein körperlich und wir sprachen nie darüber. Es funktionierte. Ich rutschte leise aus ihrem Bett und begann meine Kleidung vom Boden zu sammeln. Ich musste verschwinden, bevor die ganze Stadt auf den Beinen war. „Du gehst schon?“, fragte Amanda und blinzelte mich verschlafen an. „Ich bin spät dran. Wir sehen uns in zwei Wochen.“ Eilig band ich meine Haare in einen ordentlichen Zopf, kam nochmals zurück ans Bett und gab ihr einen Abschiedskuss. „Bis dann.“ Sie lächelte verhalten und ich verschwand. Draußen war es still. Die Sonne war vor wenigen Minuten aufgegangen und ich saß in einer Kutsche, ehe der erste Hahn krähte und fuhr aus der Stadt. Die nächsten vierzehn Tage musste ich mich gedulden. Das war in Ordnung. Es wäre nicht gut gewesen, hätten wir uns öfter gesehen. Eine Nacht, alle zwei Wochen, seit einem halben Jahr. Dazwischen ging ich meinen gewohnten Aktivitäten nach. Half Magdalena in der Küche, ließ mich von Ezra im Keller bis zum Äußersten treiben und verwandte die Zeit, die übrig war, mir darüber klar zu werden, wie dumm es gewesen war, Christina mit Haut und Haar verfallen gewesen zu sein. Alles konnte leicht und unkompliziert sein, wenn man die richtige Frau kennenlernte und alles nüchterner betrachtete. Inzwischen wusste ich das und dieses Wissen gestattete mir, noch einmal zuzulassen, dass sie mich verletzte. Dass ich die Wunden erneut aufreißen konnte, weil ich erkannt hatte, dass Christina nicht alles war. „Da bist du ja“, begrüßte mich Magdalena, die im Garten emsig säte. „Hast du dich gut amüsiert?“ „Bestens.“ Sie lächelte zufrieden. „Du kannst sie gerne hierher einladen. Sofia hätte sicher nichts dagegen.“ „Eh … ich weiß nicht.“ Amandas Familie hatte nicht die geringste Ahnung. Bei mir sah das anders aus. Sie hatten es mir sofort angesehen und leugnen war zwecklos. Ich war froh darum, zumindest hier kein Geheimnis daraus machen zu müssen, dass ich andere Vorlieben hatte. Weder Magdalena noch Sofia verurteilten mich dafür und Ezra interessierte es am allerwenigsten, welche Art Vergnügung ich bevorzugte. Ich hatte geweint, als Sofia mir damals ganz selbstverständlich ihre Freude über meinen Erfolg verkündet hatte. „Das ist doch ganz wunderbar!“, hatte sie gesagt und ich hatte meinen Ohren kaum getraut. „Warum nicht?“, fragte Magdalena und goss Wasser über die frisch ausgebrachten Körner. „Eine solche Beziehung ist das nicht. Wir haben nur Spaß und ich will, dass es so bleibt.“ Magdalena zog eine enttäuschte Grimasse. „Und dabei hätte ich sie zu gerne kennengelernt.“ „Daraus wird leider nichts. Tut mir leid, ich muss jetzt rein.“ Dann wackelte ich kurz mit allen zehn Fingern und Magdalena verstand sofort. „Viel Erfolg. Ich bin nachher in meinem Zimmer, falls du mich brauchst.“ „Danke.“ Es tat gut, zu wissen, dass ich jederzeit zu ihr kommen konnte, wenn die Dämonen meiner Vergangenheit mich heimgesucht hatten. Ich sprach viel öfter mit ihr über meine Erlebnisse, als ich es mit Sofia tat. Magdalena verstand es ausgezeichnet, sich in meine Lage hineinzuversetzen. Sie half mir weiter, wenn ich in einem Strudel aus Gefühlen feststeckte und nicht mehr wusste, wohin die Reise gehen sollte. Es ging voran. Stück für Stück und mir fehlte nur noch eine letzte Szene in diesem Kapitel. Der Moment, in dem ich von Christinas Verrat erfahren hatte.   Bis zum Abend war ich fertig. Mit dem Kapitel und meinen Nerven. Erschöpft ruhte mein Kopf auf meinen Händen. Ich verabscheute diese Frau, noch mehr als zuvor. Sie hatte meine Vergebung nicht verdient und ich war froh, als ich Sofia den zweiten Teil meiner Tragödie vorlegen konnte und diese Hürde endlich genommen war. Danach ging es mir besser. Es lag noch viel vor mir, doch ich war zuversichtlich und musste mir eingestehen, dass die Entscheidung richtig gewesen war, sich noch einmal durch alles hindurchzuquälen. Meine Sicht auf die Dinge war klarer. Ich konnte es fein sortiert ablegen, auch wenn ich noch immer nicht verstand, warum alles so gekommen war. Die Beantwortung dieser Frage überstieg meinen Horizont. Vielleicht gab es keine logische Antwort, nur die Gewissheit, dass einige Menschen nicht im Stande waren, gerechte Entscheidungen zu treffen. Es sollten nicht die letzten gewesen sein. Breits als ich zwei Wochen später erneut in die Stadt aufbrach, hatte ich ein komisches Gefühl. Die Tage zuvor, war es mir blendend gegangen. Ich hatte meine neu gefundene innere Ruhe genossen, die ich heute vermisste. Die ganze Fahrt über ließ es mich nicht los und als ich mich am Treffpunkt einfand und Amanda nicht dort war, bestätigte sich mein Bauchgefühl. Hier stimmte etwas nicht. Ich wartete zehn Minuten, um sicher zu sein, dann begann ich, sie zu suchen. Amanda würde mich nicht versetzen, es musste einen Grund geben und ich hoffte, dass ich ihn im Wirtshaus fand. Bis dorthin waren es nur drei Straßen. Ich beeilte mich und konnte nach zwei Ecken hören, dass dort einiges los war. Drinnen herrschte Betrieb, wie immer und ich trat ein. Ihr Cousin empfing mich: „Wir sind voll.“ „Wie?“ Ich konnte problemlos drei leere Tische erkennen und wollte widersprechen. „Reserviert. Verschwinde!“ Erneut suchte ich den Raum nach Amanda ab, bis ihr Cousin mich grob zur Tür hinaus schob. „Hast du nicht gehört? Ich will dich hier nicht sehen!“, knurrte er mich an. Ich musste nicht fragen, was sein Problem war. Ich wusste es. Es gab nur eine Möglichkeit. „Wo ist Amanda?“ Er drängte mich weiter zurück, schloss die Tür hinter sich und stieß mich kraftvoll auf die Straße. „Das geht dich nichts an. Du hast ihr genug angetan!“ Ich richtete mich auf und blieb ruhig. Für ihn war ich ein Teufel, der seine Familie beschmutzt hatte und darüber gab es nichts zu diskutieren. Die Nachbarschaft brauchte es nicht wissen. „Ich will keinen Ärger machen. Es tut mir leid.“ „Ja, scher dich davon!“, schimpfte er lautstark. Ich wäre gegangen. Ich hätte mich umgedreht, hätte die Stadt verlassen und wäre nie wieder in dieses Haus gekommen. Schon deswegen, weil ich Amanda noch mehr Probleme ersparen wollte, doch sie trat aus der Tür, mit sorgenvollem Gesicht und ich konnte sie kaum erkennen. Die Partie um ihre Augen war dunkel und geschwollen. „Tu ihr bitte nichts“, flehte sie und griff nach seinem Arm. „Fass mich nicht an, du Hure!“, brüllte er und hob drohend seine Hand. Sie duckte sich weg und ich konnte mir genau vorstellen, wie es abgelaufen war. Ich kannte die Verletzungen in ihrem Gesicht, ich wusste was er getan hatte und es war genug. „Wag es nicht!“, ermahnte ich ihn und brach meinen Vorsatz, mich nicht weiter einzumischen. Er betrachtete mich abfällig. „Lass es gut sein, man kann nicht mit ihm reden“, versuchte Amanda mich zu warnen. Er holte aus, um sie für ihren unverschämten Kommentar zu bestrafen, doch sein Arm traf den meinen und ich schlug zurück. Ein fester Schlag mit der flachen Hand auf sein Ohr und er verzerrte das Gesicht. „Schämst du dich überhaupt nicht?“, fragte ich ihn. „Ich glaube du spinnst!“ Es war nicht die Antwort auf meine Frage, jedoch ausreichend informativ. Er holte zum Gegenschlag aus, und ich brauchte nicht lange, um zu bemerken, dass er nur ein einfacher Gastwirt war. Seine kämpferischen Fähigkeiten waren begrenzt. So hatte ich ihn, nach nur wenigen Handgriffen und einigen gezielten Schlägen keuchend in die Knie gezwungen. Er schnappte nach Luft, als ich ihm mein Knie in die Rippen drückte. Seine Stirn berührte bereits den Boden und ich beugte mich zu ihm hinunter, damit er mich nicht falsch verstand. „Du hast Glück, dass deine Cousine mich eben so entsetzt angesehen hat, sonst hätte das hier anders geendet. Ich werde jetzt loslassen und gehen.“ Ich packte mit einer Hand fest in seinen Nacken. „Aber ich schwöre dir, ich werde dich im Auge behalten und wenn du ihr noch ein einziges Haar krümmst, wirst du es bitter bereuen.“ Dann gab ich ihn frei und er rappelte sich mühsam auf. Er sagte nichts, machte keine Anstalten mehr, sich aufzuplustern und dabei hatte ich ihn nicht halb so deutlich zurechtgewiesen, wie ich es gewollt hatte. Amanda sah mich entgeistert an. „Ich habe nicht gewollt, dass es so kommt“, sagte ich, obwohl es auf der Hand lag. Irgendetwas musste ich sagen. Sie tat mir schrecklich leid. „Das weiß ich. Schon gut.“ Amanda brachte den Ansatz eines Lächelns zustande. „Ich werde nach dir sehen. Wenn er dir etwas antut …“ „Wird er nicht. Er ist eigentlich nicht so.“ Ich hoffte, dass sie recht hatte. „Ich verschwinde besser.“ Sie nickte. „Danke.“ Nichts, wofür sie mir danken sollte. Ich ging und drehte mich nicht mehr um. Trotz all meiner Vorsicht und aller Distanz, ging mir die Art und Weise nahe, wie wir es beendeten. Wie es beendet wurde. Wir hatten keine andere Wahl. Obwohl wir alles getan hatten, diese Verbindung geheim zu halten, war es herausgekommen. Amanda stand als Hure da, als Sünderin. Im besten Fall war sie ein Opfer, das der Verführung erlegen war. Auch wenn ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich hing meinen Gedanken nach, während ich mich auf den Weg zum Postgebäude machte, wo die Kutschen standen. Ein unerwartet kurzer Aufenthalt, doch hier gab es für mich nichts mehr, weshalb ich bleiben sollte. Meine Laune war in den Keller gestürzt. Verdammte Idioten! Alles wäre halb so schlimm, wäre sie ein Mann. Dann wäre ich die Hure, aber das würde niemanden kümmern und alles wäre in bester Ordnung. Was interessierten mich auch die Frauen? Ich hatte es ja so gewollt. Ich hatte gewusst, wie es enden konnte und dennoch war ich immer wieder zu ihr gekommen. Wir waren selbst schuld an diesem Ende. Schwachsinn. Es war einfach ungerecht. Ich beobachtete eine Gruppe junger Männer, die gemeinsam vor dem Bahnhof rauchten. Einen nach dem anderen, sah ich sie mir an. Sie wirkten gepflegt, amüsierten sich gut und ich fragte mich, wie es wäre. Noch bevor ich den Gedanken zu Ende bringen konnte, schüttelte es mich. Nein. Das war keine Option. Meine Kutsche fuhr vor und ich verschwand aus der Stadt. Frustriert und verärgert. Den ganzen Weg über, gelang es nicht, mich zu beruhigen. So stapfte ich hastig ins Haus und wollte meiner Wut über diesen Zustand schnellstmöglich Luft machen. „Du bist schon zurück?“ Sofia trat aus dem Salon und sah die Treppe hinauf, die ich zur Hälfte hinter mir gelassen hatte. „Es ist etwas dazwischengekommen.“ „Gab es Ärger?“ „Ja.“ Ich ging noch ein paar Stufen, machte Kehrt und kam zurück. „Er hat sie verprügelt! Ihr dämlicher Cousin hat es herausgefunden und hat sie verprügelt!“ „Mit dir ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. „Wie? Natürlich, seine Technik ist ein Witz, aber darum geht es nicht! Es ärgert mich, dass es schlimm ist, dass wir uns getroffen haben!“ „Es ist nur schlimm, weil er es nicht begreift. Du kannst nichts dafür, dass die Menschen engstirnig sind.“ „Wohl wahr, aber es macht mich wütend, dass Amanda deswegen leiden muss. Ich kann es nicht ungeschehen machen.“ Sofia hatte diesen mitleidsvollen Blick, den ich im Augenblick nicht recht leiden mochte. Als wollte sie sagen, sie wolle mir gern helfen, wusste aber nicht wie. Ich brauchte keine Hilfe. „Du musst mich nicht trösten“, stellte ich klar, bevor sie sich etwas einfallen lassen konnte. „Ich bin okay. Ich bin nur unzufrieden und aufgebracht. Ist Ezra oben?“ Sie schmunzelte. „Er ist draußen im Garten. Holz hacken.“ „Gut. Danke.“ Ich verlor keine weitere Sekunde und steuerte zielstrebig in den hintern Garten. „Ezra!“, rief ich auf halber Strecke. „Können wir das morgige Training auf heute verschieben?“ Die Axt schlug krachend durch das Holzscheit. „Warum?“, fragte er. „Ich muss Dampf ablassen.“ „So läuft das nicht.“ Er nahm ein weiteres Holzscheit, legte es auf den Baumstumpf und teilte es. Frechheit. Ich klaubte ein Stück Holz vom Boden. „Wie läuft es denn?“ Warf es und Ezra fing. Dann streckte er mir den Stiel seiner Axt entgegen. „Nimm.“ Ich griff zu und war bewaffnet. Von mir aus konnte es losgehen, nur Ezra machte keine Anstalten, gegen mich antreten zu wollen. Er ging ein paar Schritte und nahm auf der Bank Platz. „Du kannst Holz hacken“, sagte er und lehnte sich gemütlich zurück. „Aber ich wollte …“ „Dampf ablassen, also mach schon. Du bist unkonzentriert.“ Schön. Dann eben das. So war es zumindest produktiv. Ich nahm mir ein Scheit vom Stapel, platzierte es und schlug zu, mit voller Kraft. Es tat gut, als die beiden Stücke auseinander flogen. Ich machte weiter, bis der komplette Stapel in halbierten Stücken über den Garten verteilt war. Meine Handflächen waren aufgeplatzt, als ich die Axt beiseite stellte. „Ich fürchte, das genügt nicht. Es ärgert mich noch immer, dass … eh … Ezra?“ Er war verschwunden. „Dein Ernst?“, schrie ich wütend in die Nacht. Es kam keine Antwort. Was hatte ich auch erwartet? Dass er sich mit meinen Problemen beschäftigte? Natürlich nicht. Ich wusste genau, was er gesagt hätte: „Das geht mich nichts an.“ Es wäre ebenso hilfreich gewesen, wie nicht mit ihm zu sprechen. Ich musste alleine damit klarkommen, vielleicht war das seine Botschaft. Die Verfahrenheit meines Dilemmas verfolgte mich noch wochenlang. Wie freche Gespenster, schwirrte sie durchs Haus, tauchte immer wieder auf, verschwand und ärgerte mich ohne Rücksicht. Ich kam auf keinen grünen Zweig und weder Sofia noch Magdalena konnten mir hilfreiche Ratschläge erteilen. Mir blieb nichts anderes, als es hinzunehmen – obwohl es mir bis ins Mark widerstrebte. Zu lange hatte ich mich damit aufgehalten. Kapitel drei bis acht waren fertig, als allmählich die Blätter von den Bäumen fielen. Den Sommer über war ich wenig produktiv gewesen. Zu dieser Jahreszeit gab es andere Dinge, die mich beschäftigten. Besonders das Fahrrad, das ich zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag bekommen hatte. Es war nicht in gleicherweise erfüllend, wie der Rücken eines Pferdes, doch zumindest im Ansatz ging es in die richtige Richtung. Ein tolles Gefährt. Mitten im neunten Kapitel – Christina hatte zu diesem Zeitpunkt meine letzten Hoffnungen zerschlagen und ich dachte über Michaels Heiratsantrag nach – drängte sich ein Bedürfnis in den Vordergrund, dessen Befriedigung mir weit dringender erschien, als die Beendigung des Kapitels. Ich nahm das begonnene Papier aus der Maschine, spannte neues ein und verharrte. Meine Fensterläden knatterten laut. Seit heute Morgen tobte ein Blizzard von historischem Ausmaß vor unserer Tür und bald würden wir sie nicht mehr öffnen können. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Nachdem ich das kahle Papier ausreichend lange mit Blicken durchbohrt hatte, nahm ich es heraus, um es flach auf die Tischplatte zu legen. Ich hatte noch einen Füllfederhalter vom letzten Weihnachtsfest – ein Geschenk von Magdalena – der mir hierfür das richtige Instrument zu sein schien.   Lieber Vater, es ist lange her, seit ich den letzten Brief schrieb. Bitte verzeih‘. Die letzten Jahre hielten viele Veränderungen für mich bereit, ich habe Sacramento den Rücken gekehrt und bin weiter nach Norden gezogen. Es geht mir gut, nur sind die Winter hier sehr streng und ich vermisse die Hitze Kaliforniens.   Umso mehr, je lauter der Wind ums Haus pfiff. Doch war die Hitze nur ein Bruchteil dessen, was ich tatsächlich vermisste. Seit fast siebzehn Jahren hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Eine unfassbar lange Zeit. Er musste um die vierzig sein, in etwa … genau konnte ich es nicht sagen.   Ich hoffe, es ist dir gut ergangen und ich habe dir keine allzu großen Sorgen bereitet. Auf dem Hof hat sich sicher vieles verändert.   Ob meine Großeltern noch lebten? Meine liebe Nina galoppierte sicher längst nicht mehr auf dieser Welt. Ein tiefes Seufzen, dann fuhr ich fort. Es gab viel zu schreiben, viel zu erklären und viel zu begraben. Mein Vater sollte wissen, dass ich ihm verziehen hatte.   Als ich meinen Brief ein paar Tage später zur Post brachte, war mir unendlich leicht. Nur ein paar Unzen Papier und ich verlor mehrere hundert Pfund. Noch ein bisschen mehr und der kalte Wind hätte mich davongeweht. Es wurde Zeit, eine zweite Fessel zu lösen.   Kurz nach Neujahr verabschiedete sich Sofia für die kommenden Wochen, um geschäftlich nach New York zu reisen. Es war das erste Mal, seit meinem Einzug, dass sie derart lange fort war und mich mit Magdalena und Ezra alleine ließ. Meine emotionale Labilität der ersten Jahre mochte einen Teil dazu beigetragen haben und ich war bestrebt, weiter dagegen vorzugehen. Eine Chance – und die nötige Courage – fand ich an einem eisigen Tag Ende Januar. Ich hatte keinen Plan zurechtgelegt, war nicht darauf gefasst, und es platzte aus mir heraus, kaum war die Haustür aufgeflogen. „Fay, ich muss mit dir reden!“, begrüßte ich sie. Sie sperrte die weißen Flocken aus und sah mich skeptisch an. „Auf einmal?“ Den säuerlichen Unterton konnte ich ihr nicht verdenken. „Ich weiß, ich war sehr abweisend zu dir. Das …“ Es gab keine anständige Erklärung dafür. „Ich war blöd.“ „Hört, hört“, brummte sie. „Also, was willst du?“ „Kommst du mit herein?“ Nichts, was man zwischen Tür und Angel besprechen konnte. Sie willigte ein und wir ließen uns im Salon nieder. Dem einzig warmen Raum, in dem man zu dieser Zeit des Jahres wirklich entspannen konnte. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte ich, um Zeit zu schinden. Was hatte ich bloß losgetreten? „Nein, danke. Sag mir lieber was los ist.“ Trotzdem schob ich ihr ein Glas Wein über den Tisch. Sie nahm es. „Ich war unhöflich.“ Sie sah mich abwartend an und schwenkte beiläufig den Wein in ihrem Glas. „Und das hattest du wirklich nicht verdient“, fuhr ich fort. „Danke“, sagte sie trocken und trank einen Schluck. „Ich … ich wollte dir nur sagen …“ Mein Herz hämmerte, als ginge es um mein Leben. „Was?“, fragte sie nach, als ich die Worte nicht herausbekam. Sei nicht so verdammt kindisch! Ich atmete tief durch. „Ich habe mich in dich verliebt, obwohl ich es überhaupt nicht wollte und deswegen musste ich Abstand gewinnen. Ich hätte dich nicht so lange um Unklaren lassen dürfen, das tut mir leid.“ Fay zeigte keine Reaktion. Überhaupt keine. Sie war erstarrt. „Fay?“ Sie holte scharf Luft und sog die letzten Tropfen Wein ein, die sich noch in ihrem Mund befunden hatten. Ihr Gesicht verzerrte sich und sie hustete erstickt. Einige Male, bis ihre Augen tränten. „Geht es?“, fragte ich und erhob mich, um ihr auf den Rücken zu klopfen. „Nein …“, keuchte sie und hustete weiter, „lass.“ Ich nahm wieder Platz. Es war wohl keine Minute und kam mir vor wie eine Stunde, bis sie sich beruhigt hatte. „Alles in Ordnung?“ Sie rieb ihren Hals und räusperte sich noch einige Male, bevor sie antwortete: „Wieso sagst du so etwas?“ „Was meinst du?“ „Na, dass du dich …“ Weiter kam sie nicht. Nur ein bedeutungsvoller Blick. Ich wusste, was sie meinte. „Ist es schlimm?“ Nur zwei fassungslose Augen, die mich anstarrten. „Fay, was hast du? Ich sage das nicht, um dich zu ärgern.“ „Du weißt, dass sich das nicht gehört? Es ist falsch und ich will davon auch überhaupt nichts wissen.“ Ihr Ton war vorwurfsvoll. Es war ihr Ernst und ich konnte es ebenso wenig begreifen, wie sie. Sie war genauso verbohrt, wie alle anderen. Ich musste aussehen, wie vom Donner gerührt. „Wenn du es sagst. Bitte um Entschuldigung und viel Spaß mit Ezra.“ Ich sprang von der Couch und beeilte mich, den Salon zu verlassen. Als ob sie wüsste, was sich gehörte. Gerade sie. „Megan! Warte!“, rief sie mir hinterher. „Was denn noch? Es ist alles gesagt.“ „Bitte sei mir nicht böse. Ich wollte dich nicht kränken!“ „Hast du nicht. Vergiss einfach, was ich sagte.“ Weshalb ich etwas anderes erwartet hatte, war mir ein Rätsel. Wohl, weil Sofia und Magdalena mich zu sehr in Sicherheit gewogen hatten. Dabei war Fay völlig anders, weniger gereist, weniger erfahren. Vielleicht erschrocken. Ich wollte es jetzt nicht herausfinden, schloss die Tür hinter mir und ließ mich quer über mein Bett fallen. Ein unbefriedigendes Ergebnis. Frustrierend und dennoch besser, als dieses Geheimnis weiter unter Verschluss zu halten. Ein tiefes Seufzen ließ mich entspannen und kaum hatte ich ausgeatmet, klopfte es an meiner Tür. Eine Entschuldigung? „Ich bin es.“ Magdalena. Ein weiteres Seufzen. „Es ist offen.“ „Wie geht es dir?“ Sie nahm neben mir Platz und bedachte mich mit mitleidsvollen Blicken. „Es geht.“ „Bitte entschuldige, ich habe euer Gespräch gehört. Ich dachte, du bräuchtest vielleicht jemanden, mit dem du reden kannst.“ „Nein, ich bin selbst schuld. Ich hatte zu viel erhofft, das war dumm.“ Da ich es laut sagte, wurde es mir um einiges klarer. „Ich habe nicht erwartet, dass sie sich darüber freut, oder … es erwidert. Ich wollte nur, dass sie es weiß. Es … ist nur schade, dass es für sie schlimmer ist, als ich gedacht hatte.“ Erleichterung machte sich in Magdalenas Gesicht breit, mit Bedauern durchsetzt. „Sie wird sich damit arrangieren“, versicherte mir Magdalena. „Das würde mich freuen. Aber ich werde nicht darauf hoffen.“ Sie nickte und erhob sich. Ich brauchte keinen Trost. Fay bekam ich an diesem Abend nicht mehr zu sehen – ich legte es auch nicht darauf an. Stattdessen ließ ich den ersten Schreck verrauchen, gönnte uns beiden etwas Bedenkzeit und erkannte bald, dass es keines weiteren Gesprächs bedurfte. Was hätte ich sagen können, dass ihre Sicht auf die Dinge sich änderte? Eine Überzeugung ließ sich nicht über Nacht ändern, doch sie gab sich Mühe, das Unbehagen zu verbergen, das ich ihr bereitete und ich war dankbar, dass sie es zumindest versuchte. So konnte ich mich wieder auf die Aufgabe konzentrieren, die ich mir selbst gestellt hatte: Ein weiteres Kapitel beenden und die Geschichte zu Ende schreiben. Ich nahm vor meiner Schreibmaschine Platz, begab mich noch einmal ins Zimmer des Schusters und es zerbrach mich, wie damals. Ich ertrank in der Erinnerung und trieb kraftlos dahin. Erst regungslos, dann erfasst vom Sog. Er riss mich fort und ich machte keine Pause, nachdem ich es abgeschlossen hatte. Kein besonnenes Korrekturlesen, stattdessen schrieb ich weiter. Verbrachte die Stunden in Gedanken. Ich wusste wieder, warum ich damals hatte sterben wollen. Lange hatte ich mich dafür geschämt, jetzt verstand ich es. Ich wollte nicht sterben – nicht mehr, doch ich wusste, weshalb dieser Weg mich vor Jahren gelockt hatte und ich musste es zu Ende schreiben, bevor mein Geist sich verschloss. All die Kapitel. Ich hatte sie lange vor mir her geschoben, hatte gezögert, mich abgelenkt und Monate dafür verwandt. Dieses letzte überrollte mich vollkommen. In nur einer Nacht schlug ich meine Wut, meine Trauer und meine Angst in die Tastatur. In dicken schwarzen Lettern donnerten sie aufs Papier.   So ging ich fort.   Ende. Ich war fertig. Der letzte Punkt war gesetzt und ich bettete mein Gesicht in meinen Händen. Sie zitterten. Mein Herz schlug schnell – es war kaum auszuhalten. Das Gefühl, den Sturz überlebt zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)