Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 019 – Unverhofft ---------------- Richtig, mein Geburtstag. Er war mir entfallen. "Kommst du endlich?", fragte Fay ungeduldig wie ein Hund vor dem Spazierengehen. "Sofort." Ich dankte Magdalena für die Glückwünsche und erlöste Fay aus ihrer schieren Verzweiflung. Draußen stand ein fremder Mann im Vorgarten, er war vermutlich so alt wie Magdalena und wirkte ein wenig schmutzig. Hatte die Überraschung etwas mit diesem Herrn zu tun? Ich zweifelte, ob mir gefallen würde, was auf mich zukam. Zumindest nickte er freundlich, als er mich entdeckte. "Das ist Mr. Philip", stellte Fay mir den Mann vor, "er borgt uns heute seine Pferde." "Pferde?" Ich sah den Fremden verblüfft an. "Sie stehen hinten im Garten", erklärte er und begleitete uns ums Haus. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich vergaß beinah zu atmen, so sehr hatte mich die Aufregung gepackt. Meine Stimmung war schlagartig umgesprungen. Jetzt konnte auch ich es kaum mehr erwarten, endlich die Überraschung sehen zu dürfen. Dort standen sie und sie waren wunderschön. Zwei rotbraune Füchse, mit glänzendem Fell und ordentlich gekämmten Mähnen. Sie trugen bereits Sattel und Zaumzeug und warteten auf uns. "Sie können sicher reiten, oder?", fragte mich Mr. Philip. Ich nickte. "Ja, es ist nur schon eine Weile her." "Gut, geben Sie fein auf meine Pferde Acht." "Natürlich!" Reiten verlernte man nicht. Mr. Philip verabschiedete sich und ging mit Magdalena ins Haus. Ich wagte es noch nicht, mich den Tieren zu nähern. Sie standen ruhig im Schatten unter dem Apfelbaum und ich fürchtete aufzuwachen, wenn ich mich noch einmal rührte. "Megan?" Fay band das Pferd mit der schmalen Blesse zuerst vom Zaun. "Kommst du?" Es war kein Traum. Die Pferde standen wahrhaftig in Sofias Garten. Ohne mein Zutun waren meine Mundwinkel bis zu den Ohren gewandert. Schon vor einigen Jahren hatte ich den Wunsch begraben, noch einmal auf dem Rücken eines Pferdes durch die Wiesen zu pflügen, und jetzt war ich unverhofft im Himmel gelandet. Ich ging Fay ein Stück entgegen und sie überreichte mir die Zügel. "Das ist Rosi." "Danke." Ich nahm die Zügel und betrachtete mein Pferd, während Fay das zweite vom Zaun löste. "Hast du das eingefädelt?", fragte ich. "Ich hatte meine Finger mit im Spiel. Das meiste hat Sofia organisiert." Das hatte ich mir denken können. Niemandem sonst wusste, dass ich früher gerne geritten war, nur Fay. Jedenfalls bis jetzt. Ich machte mich in Ruhe mit Rosi vertraut, streichelte ihren Hals und sog ihren Duft in mir auf. Es roch wunderbar vertraut, nach Pferd und Heu. Stundenlang hätte ich dort stehen können, hätte das Schnauben ihrer Nüstern genossen und mich in ihrer Wärme verloren, hätte Fay mich nicht daran erinnert, dass wir ausreiten wollten. "Worauf wartest du noch?" Sie grinste mich zufrieden an und trieb ihr Pferd langsam vorwärts. Es war das schönste Geschenk, das ich je bekommen hatte. Ich schwang mich hinauf in den Sattel und steuerte mein Pferd aus dem Garten. Ein paar langsame Schritte, nicht viele, bis nur noch freies Feld vor uns lag, dann drückte ich dem Tier meine Fersen in die Seiten und trieb es zum Galopp. Die Stute gehorchte auf der Stelle und preschte mit mir davon. Wie hatte ich es vermisst. Die Geschwindigkeit und das Gefühl unaufhaltbar und frei zu sein. Der Wind riss an meiner Kleidung und die ganze Welt wurde greifbar. Ich spürte die Kraft in meinen Händen und die Stärke des Pferdes, die mich beflügelte. Trotz all des Gewichts waren wir federleicht. Es fehlte nicht viel und ich glaubte zu fliegen. Keine Droge der Welt hätte mich mehr berauschen können. Wir jagten zwischen aufgeschreckten Vögeln hindurch. Ein Schwarm Sperrlinge und ein Fasan flatterten eilig davon, als wir durch die Wiesen donnerten. Rosis Hufe trommelten dumpf auf dem weichen Boden, sie schnaufte angestrengt und ich zog die Zügel sachte zurück, damit sie langsamer wurde. "Braves Mädchen." Sie hatte sich eine kurze Pause verdient. Ich ließ sie gemütlich weitergehen und wandte mich zurück, um zu sehen, wo Fay blieb. Sie war ein ganzes Stück entfernt, schloss jedoch zügig auf, nachdem ich langsamer geworden war. "Sieht aus, als hättest du Spaß." Fay wirbelte mit ihrem Zeigefinger in Richtung meines Gesichts. "Der Gesichtsausdruck gefällt mir." Ich musterte ihren Finger und versuchte mein Gesicht zu entspannen. Es ging nicht. "Was meinst du?" "Du strahlst. Das bin ich nicht gewohnt." Lag es an mir, oder war es wärmer geworden? Ich konnte es nicht abstellen. Mein breites Grinsen war festgenäht. "Was machst du da?", fragte Fay und sah mich verwundert an. "Ich versuche, nicht wie eine Verrückte auszusehen." Ihr plötzliches Lachen erfüllte die warme Sommerluft und ihr Pferd zuckte kurz zusammen. Es war laut und herzlich. "Du bist so blöd manchmal!", prustete sie hervor und versuchte sich wieder einzukriegen. "Es sieht schön aus, wenn du lächelst. Nur deine Grimassen, die sind verrückt." "Oh, verstehe." Ich beendete die erfolglosen Versuche, meine Gesichtszüge in einen normalen Zustand zu versetzen – wahrscheinlich sah es tatsächlich um einiges seltsamer aus – und schenkte Fay mein glückseliges Lächeln. Sie war nicht die Einzige, die es nicht gewohnt war. Dieses belebende, aufgeregte Schlagen in meiner Brust, das Kribbeln in meinem Bauch und das Glühen meiner Wangen hatte ich lange nicht mehr gespürt. Ich war erfüllt von diesem Gefühl. Bis in die letzte Faser meines Körpers war ich glücklich. Ich lebte.   Wir ritten weiter querfeldein, bis ich nicht mehr wusste, wo wir waren. Es spielte keine Rolle. Der Himmel über uns war wolkenfrei, strahlend blau und endlos weit. Ein wunderschöner Anblick. Auf dem Kamm eines Hügels blieben wir stehen. Um uns herum war nichts, außer Wiesen mit wilden Blumen, ein paar Bäumen und Sträuchern und zirpenden Grillen. "Wollen wir dort unten eine Pause machen?", frage Fay. "Ich habe Proviant dabei." "Gerne." Ich hatte heute noch nichts gegessen. Es wurde Zeit. Wir ließen die Pferde langsam den Hügel hinunterlaufen und banden sie an einen ausreichend stabilen Strauch. Fay breitete eine Decke für uns aus und holte belegte Brote und zwei Flaschen Wasser aus ihrer Ledertasche. "Danke." "Keine Ursache, heute ist dein Geburtstag! Das ist ein guter Tag für einen Neustart." Ich unterbrach das Auspacken meines Brotes. "Neustart?" Fay schmunzelte mich wissend an. "Genau, Neustart. Ich weiß Bescheid. Du hast dich entschieden zu bleiben. Das heißt, du bist jetzt offiziell ein Teil dieser eigenwilligen Gemeinschaft." "Hat Magdalena dir das erzählt?" Ich biss in mein Brot. Es war frisch und lecker. "Nein, Ezra." "Was-" Krümel kitzelten meine Speiseröhre. Ich hustete. Dass er mit Fay über mich reden würde, hatte ich nicht erwartet. "Was hat er denn gesagt?" "Naja ... dass du jetzt hier bleiben wirst." Sie reichte mir eine Flasche. "Trink was." Ich nahm einen Schluck und mein Hals beruhigte sich. "Hat er noch etwas gesagt?" Fay sah mich nachdenklich an. "Nur, dass es knapp war. Du hättest fast die Stadt verlassen." "Stimmt ..." Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Sie erwiderte ihn mit strenger Miene und tippte fest gegen meine Stirn. "Komm mir jetzt nicht so!" "Wie?" Ihr entschiedener Ton überraschte mich. "Na, du sollst jetzt nicht wieder so grüblerisch dreinschauen. Dafür sind wir nicht hierher gekommen." Sie biss ein Stück Brot ab und begann zu grinsen. Fays fröhliches Wesen hatte ein unheimlich hohes Ansteckungspotenzial. Und gerade heute, wo mein Laune ohnehin weit über dem Standard schwebte, konnte ich mich dem nicht erwehren. Mit einem lauten, zufriedenen Seufzen legte sie sich längs auf die Decke und schloss die Augen. "Das ist herrlich", verkündete sie vergnügt und aß weiter ihr Brot. Sie hatte recht. Ich ließ meinen Blick über die blauen und gelben Blumen im hohen Gras streifen, beobachtete die Pferde, wie sie gemütlich grasten, und blieb an Fay hängen, die friedlich in der Sonne lag. Sie leuchtete, weil ihre Haut so hell war. Genau so stellte ich mir Schneewittchen aus den grimmschen Märchen vor, nur dass Fays Haare nicht schwarz waren, eher ein sehr dunkles Braun. Ich legte mich neben sie und verfolgte die Vögel, die zwitschernd vorbeizogen. Zu gerne hätte ich die Zeit angehalten, um diesen Moment ewig genießen zu können. Es war traumhaft friedlich und wir lagen lange schweigend inmitten der Natur. Worte waren überflüssig.   Eine halbe Ewigkeit später beschloss ich die Stille zu stören. "Kann es sein, dass er mich nicht mag?" Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie sie ihren Kopf zu mir drehte. "Wer?" "Ezra." "Ach." Sie schnaubte abfällig. "Der alte Skeptiker. Er hat so seine Probleme mit Menschen." "Du bist auch ein Mensch." "Ja, aber das ist ein Sonderfall." "Und Magdalena?" Fay überlegte. "Die sieht er kaum." "Mag er sie auch nicht?" "Das habe ich nicht gesagt. Ich sage auch nicht, dass er dich nicht mag. Er ist nur manchmal ein wenig eigen." Ich ging fest davon aus, dass Fay es mir nicht verraten würde, hätte er ihr gesagt, dass er mich nicht mochte. "Mag er dich?", fragte ich leise. Fay antwortete nicht. Ich drehte mich auf die Seite und musterte ihr errötetes Gesicht. "Nun also ... ich ... ", stammelte sie, "Ich denke schon." "Entschuldige." Ich hatte sie nicht in Verlegenheit bringen wollen, legte ich mich wieder auf den Rücken und wandte meinen Blick in die Luft. "Ich dachte, weil er mit dir auch recht kühl ist." "Ist er nicht", widersprach sie mir. "Das kommt dir nur so vor." "Hm ... na gut." Es war nicht nötig eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Fay mochte ihn, und wenn er für sie nett genug war, wollte ich das nicht in Frage stellen. Es war ihre Sache. "Ich komme ihn übrigens freiwillig besuchen ... Er hat mich noch nie zu irgendetwas gezwungen." Fay hatte sich aufgesetzt und sah mich abwartend an. "Aber ich weiß, was du denkst." Von irgendetwas wollte sie mich überzeugen. "Ich denke doch gar nichts." "Doch, ich kann es an deinem Tonfall hören. Du denkst, dass er mich nur benutzt." Ich hatte mich ebenfalls aufgesetzt. "Nein, warum? Das geht mich ja nichts an." "Weil ich immer wieder vorbeikomme und ihm mein Blut gebe und-" "Warte!" Ich musste sie unterbrechen. "Du kommst wirklich hierher, weil ..." Fay hob die Brauen. "Haben sie dir das noch nicht gesagt?" "Nein." "Oh. Naja, jetzt weißt du es. Aber das ist alles halb so wild." Mir fehlten die Worte. Warum tat sie das überhaupt? Bekam sie Geld dafür? "Kommst du wirklich jedes Mal nur, um ..." Es fiel mir schwer, das auszusprechen. "Hast du keine Angst?" Sie kicherte. "Nein, gar nicht. Er passt gut auf mich auf. Das hat er schon immer getan." "Und wie lange willst du das noch machen?" Sie warf mir einen strengen Blick zu. "So lange, bis ich keine Lust mehr habe." "Verstehe." Ich verstand es nicht. Seit ich bei Sofia eingezogen war, kam Fay regelmäßig vorbei, um Ezra zu besuchen. Ich wusste nicht, wie lange das vorher schon gegangen war, und ich begriff nicht, was sie sich davon versprach. Sie konnte wohl kaum ernsthaft daran interessiert sein, bis an ihr Lebensende Blut für ihn zu lassen. Kein klar denkender Mensch würde etwas Derartiges tun. Es entbehrte jeglicher Logik. Es sei denn ... "Fay, bist du verliebt?" "Wie bitte?" Ihre Stimme war nach oben geschrillt und diesmal leuchtete ihr Gesicht noch viel roter als zuvor. "Ich frage ja nur." Sie räusperte sich und gewann ihre Fassung zurück. "Nun ... ein bisschen vielleicht." "Du weißt aber, dass er-" "Dass er was?" Diesmal unterbrach sie mich. "Ein zuverlässiger, fürsorglicher Mann ist, der – und das kannst selbst du nicht verleugnen – wirklich überwältigend gut aussieht?" Mein Mund stand noch offen. Ich hatte widersprechen wollen, als Fay mich mit ihren dunklen Rehaugen gnadenlos niederstarrte. Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar und legte mich zurück auf die Decke. Auf eine irrwitzige Art und Weise war es bezaubernd, wie sie ihn verteidigte, auch wenn ich nicht der Meinung war, dass man ihn verteidigen sollte. Ich wollte mich nicht weiter einmischen, es waren genug zweifelnde Worte gefallen und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, die Stimmung in den Keller zu diskutieren. "Ich bin schon still", versprach ich und verschränkte meine Arme hinter dem Kopf. "Gut, danke." Wir schwiegen beide. Ich konnte sehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf sich drehten, und zog kurz am Zipfel ihrer Bluse, damit sie mich ansah. "Was ist?" Sie klang überrascht. "Tut mir leid, ich bin manchmal auch ein Skeptiker." Keine Sekunde war verstrichen, da strahlte sie mich wieder herzlich an. Ich war erleichtert. "Ist gut, du hast nicht ganz unrecht." Sie nahm es mir nicht übel und sprang auf die Beine. "Trotzdem bist du mir etwas schuldig." "Was denn?" "Ein Wettrennen." Sie zeigte auf einen Hügel, ein gutes Stück höher als der, über den wir gekommen waren. "Wer zuerst oben ist, bekommt das letzte Brot!" "Im Ernst? Fay, wir sind ..." Sie rannte los. "... viel zu alt dafür. Hey!" Bis ich auf den Beinen war, hatte sie einen beträchtlichen Vorsprung. Eine zugegebenermaßen kindische Art und Weise, ein Thema zu wechseln, aber es funktionierte. Ezra war von jetzt auf gleich uninteressant. Ich sprintete Fay hinterher. Aber wollte ich überhaupt gewinnen? Sie hatte geschummelt und trotzdem hätte ich sie mit Leichtigkeit überholen können. Stattdessen ließ ich sie gewinnen und beschloss mich lieber an ihrem Siegeslächeln zu erfreuen. Uns trennten sicher fünfzig Fuß, als Fay hektisch bremste. Sie fuchtelte wild mit den Armen und verschwand urplötzlich aus meinem Sichtfeld. Ihr spitzer Schrei ließ mich die Luft anhalten. "Fay!" Sie war abgestürzt. Von jetzt auf gleich war sie verschwunden. Feuer schoss durch meinen Kopf und brannte sich durch meinen Körper, um mich zu Höchstleistungen anzutreiben. Meine Schritte wurden schneller, bis ich endlich oben ankam und sah, was geschehen war. An den Hügel schloss sich ein steiler Hang an. Es ging senkrecht hinunter. Ich sank auf die Knie, als ich Fay unten erkannte. Sie schwamm vergnügt im Wasser und winkte mir zu. "Alles gut, ich habe mich bloß erschreckt!", rief sie. Keine Worte konnten beschreiben, wie erleichtert ich war. Ich hatte mit dem Schlimmsten gerechnet. Zerklüftete Felsen, ein tödlicher Abgrund. Fays blutüberströmter Körper mittendrin, zertrümmert. Ich brauchte ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Es waren keine dreißig Fuß bis nach unten und dort lag ein kleiner See. Ruhig und friedlich glitzerte er im Sonnenlicht. "Verdammt Fay! Hast du keine Augen im Kopf? Man sieht doch, dass es hier hinuntergeht!" Ich war wütend. Erleichtert, aber dennoch wütend, dass sie mir einen solchen Schrecken eingejagt hatte. "Entschuldige! Ich hatte sie geschlossen, damit ich schneller bin." "Das ist lebensmüde! Tu das bloß nie wieder!" "Ist gut! Und jetzt komm runter, das Wasser ist angenehm kühl." Diese Frau ... nein, dieses Mädchen musste man vor sich selbst schützen, so unvernünftig und leichtsinnig wie sie sich verhielt. Sie war vier Jahre älter als ich und dennoch beschlich mich das Gefühl, auf sie aufpassen zu müssen. Ich ging zurück zu unserem Picknickplatz und verstaute alles in Fays Tasche, holte die Pferde und ritt hinunter zum See. Als ich ankam, stand Fay am Ufer und zog ihre nasse Bluse aus, um sie über einen Ast zu hängen. Ich befestigte die Pferde daneben und bedachte Fay mit vorwurfsvollen Blicken. "Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt." "Tut mir leid, das wollte ich nicht." Ich atmete tief durch, um runter zu kommen. "Lass nächstes Mal einfach die Augen offen, ja?" "Ich werd's versuchen!" Sie schmunzelte munter, dann schlüpfte sie aus ihrer Hose und begann mich nachdenklich von oben bis unten zu betrachten. "Idealerweise solltest du das ausziehen, bevor wir schwimmen gehen." "Wer hat gesagt, dass ich schwimmen gehe?" "Ich."  Sie lachte. "Stell dich nicht so an, es ist heiß. Die Abkühlung wird dir gut tun." "Aber ... ich kann nicht schwimmen." Fays Gesicht war kurzzeitig erstarrt, bis sie ihren Frohsinn wieder fand. "Ich bringe es dir bei. So schwer ist das nicht", verkündete sie so zuversichtlich, dass ich es beinahe geglaubt hätte.   Dass ich dabei den halben See leer trinken würde, hatte sie mir verschwiegen. Ich war froh, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit ein Einsehen mit mir hatte. Wir waren so weit gekommen, dass ich mich mehr schlecht als recht über Wasser halten konnte. Zumindest würde ich nicht sofort ertrinken, falls ich noch einmal in die Verlegenheit kommen sollte, in einen See gezerrt zu werden. Diese Schwimmerei war unwahrscheinlich kräftezehrend. Nicht mein Element. Ich hatte mich auf einen flachen Stein gesetzt und den Kopf auf die Knie gelegt, während ich wartete, dass meine Unterwäsche trocknete, die momentan noch hartnäckig an mir klebte. "Das war nicht schlecht, fürs erste Mal!" Fay ließ sich beschwingt neben mir nieder. "Fürs letzte Mal", korrigierte ich sie. "Ach komm schon, du musst doch schwimmen können." "Findest du?" Ich hob meinen Kopf und musterte sie skeptisch. Fay streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus und löste eine Haarsträhne, die an meiner Wange geklebt hatte. "Ja, finde ich. Das ist genauso wichtig, wie beim Rennen die Augen offen zu lassen." Verblüffend, wie leicht sie mich mit ihrem Lächeln entwaffnen konnte. "Vielleicht können wir das irgendwann noch einmal versuchen", gab ich schließlich nach. Sie nickte zufrieden und lehnte sich zurück.   Wir mussten nicht allzu lange warten, bis wir trocken waren. Selbst für einen Tag im August war es heute außergewöhnlich warm. Es wurde Zeit, dass wir uns auf den Rückweg machten, bevor uns die Sonne vollends die Haut verbrannte. Bis wir zu Hause waren, hatte es zu dämmern begonnen. Wehmütig stieg ich vom Pferd und verabschiedete mich schweren Herzens von diesem wundervollen Tier. Mr. Philip wartete gewiss schon auf uns. Als wir das Haus betraten, war alles still. Sofia und Ezra waren noch in ihren Zimmern und warteten darauf, dass die Sonne unterging, aber wo waren Magdalena und Mr. Philip? Salon und Küche waren verlassen und draußen hatten wir sie nicht gesehen. "Jemand da?", rief ich ins Treppenhaus. Keine Antwort. "Denkst du, sie sind spazieren?" "Nein, eher nicht." Fay wusste offenbar mehr als ich. "Wo sind sie dann?" Sie zuckte mit den Schultern. "Lass uns draußen warten. Sie werden schon auftauchen." Es war mir nur recht. So konnte ich mich noch eine Weile mit Rosi beschäftigen. Je länger es dauern würde, desto besser für mich. Fay hatte sich auf den Stufen vor dem Haus niedergelassen. Sie beobachtete mich, während ich die Pferde streichelte und kleine Zöpfe in die Mähnen flocht. "Sieht so aus, als wäre das genau das richtige Geschenk für dich gewesen." "Ach? Findest du?", scherzte ich. Fay schmunzelte vergnügt. "Ich bin froh, dass du hier bleibst. Du hättest mir gefehlt." "Sei nicht albern." "Das meine ich ganz ernst. Ich mag dich." Ich unterbrach das Flechten und war überaus froh, dass Fay nur meinen Rücken sehen konnte. Eisern starrte ich auf die rötlichen Haare zwischen meinen Fingern. Sollte ich das erwidern? Erwartete sie das? Ich mochte sie schon, aber es ging nicht. Ich flocht weiter und ließ Fays Worte unkommentiert. So war es am Besten. Bevor sie noch ein weiteres Wort sagen konnte, trat Mr. Philip aus der Tür und erlöste mich. "Sie sind schon zurück?" "Nach sechs Stunden ... ja", antwortete Fay trocken, "das war länger als vorgesehen." "Richtig", erwiderte Mr. Philip und kam herüber, um die Pferde zu begutachten. "Hübsche Zöpfe." "Eh ... danke." Ich nahm meine Finger aus Rosis Mähne und trat einen Schritt zurück. Mr. Philip hatte nichts zu beanstanden. Er verstellte die Steigbügel ein Stück und stieg auf, nachdem ich mich zum wiederholten Male bedankt und er sich verabschiedet hatte. Dann richtete er seinen Blick zum Haus, hob die Hand und gab Rosi den Befehl, sich in Gang zu setzen. Meine Augen hatten sich an den Tieren festgesogen, als sie das Grundstück verließen und Richtung Stadt trabten. Ich vermisste sie schon jetzt. Erst als sie winzig klein geworden waren, ließ ich das tiefe Seufzen meine Lippen verlassen und wandte mich zum Haus um. Auch Fay stand noch dort und sah mich mitfühlend an. Oben an der Haustür stand Magdalena, die ebenfalls sehnsüchtige Blicke in die Ferne warf. Irgendetwas sagte mir, dass es nicht die Pferde waren, denen sie nachblickte. Als sie meinen fragenden Blick bemerkte, breitete sich ein verlegenes Grinsen in ihrem Gesicht aus. "Ich ... gehe euch das Abendessen aufwärmen", verabschiedete sie sich und verschwand eilig nach drinnen.  Fays Blick sprach Bände. "Sie ist eben auch nur eine Frau", bestätigte sie mir meine Vermutung und sprang die Stufen hinauf, um Magdalena in die Küche zu folgen. Natürlich war sie nur eine Frau. Trotzdem erstaunte mich ihr Verhalten. Meine kindliche Vorstellungskraft hatte das nicht erwogen und ich musste mich noch mit dem Gedanken anfreunden, dass auch Hausmädchen ganz menschliche Bedürfnisse hatten. Dass sie sich nichts mehr anmerken ließ, als wir uns in die Küche setzten, erleichterte mir den Umgang mit dieser neu gewonnenen Erkenntnis. "Hattet ihr einen schönen Tag?", fragte Magdalena, während sie in einem Topf rührte. "Sehr sogar!", antwortete Fay. Dass ich zwischenzeitlich beinah vor Schreck gestorben wäre, unterschlug sie dabei. Ich ließ es gut sein. "Es war wirklich schön", bestätigte ich Fays Aussage, nachdem Magdalena mich fragend angesehen hatte. "Das freut mich." Magdalena wirkte zufrieden. Sie wandte sich wieder der Suppe zu und Fay und ich warteten artig. Im Ofen stand noch eine herrlich duftende Pastete, die sich aus den Überbleibseln der Hühnersuppe ergeben hatte. Eine köstliche Kombination.   Nach dem Essen diskutierte ich mit Magdalena über die Zuständigkeit für den Abwasch. Ein heikles Thema. Ich brauchte lange, um die Diskussion für mich zu entscheiden. Magdalena gab sich geschlagen und ich übernahm das Regiment über die Küche für diesen Abend. "Na schön, dann werde ich mich zurückziehen", verkündete sie. "Gute Nacht." Es machte mir nichts aus, diese Arbeiten für sie zu übernehmen. Magdalena arbeitete genug in diesem Haus. Sie war die Einzige, die alles in Schuss hielt. "Hast du ein Tuch?", fragte Fay. Sie war aufgesprungen, nachdem ich mit dem Abwasch begonnen hatte. "Hier." Wir erledigten die Arbeit gemeinsam. So ging es schneller. "Ist alles in Ordnung", fragte sie, nachdem einige Minuten lang kein Wort gefallen war. "Ja, alles gut." Ich klang so überzeugend, dass ich es selbst glaubte, obwohl mein Kopf zuhauf mit Abwägungen und wirren Überlegungen beschäftigt war. Fay fragte nicht weiter nach. "Bleibst du heute Nacht hier?" "Nein, nein, meine Kutsche kommt gleich. Ich muss nach Hause." "Morgen ist Sonntag. Hast du etwas vor?" "Ich muss Wäsche machen." "Am Sonntag?" Fay sah mich überrascht an, dann grinste sie. "Sicher. Heute war ich schließlich hier." "Oh ... ach so. Und was ist mit-" Ezra. Er stand in der Tür, als ich mich zum Schrank umdrehte, um das Geschirr aufzuräumen. War er schon länger hier? Fay legte ihr Küchentuch beiseite. "Frederic ist gleich da", sagte er und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Frederic war der Kutscher, der Fay nach Hause bringen sollte. Sie verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung von mir und folgte Ezra hinaus. Er musste sie vollkommen um den Finger gewickelt haben. Wie sie ihm hinterherdackelte ... Ich wollte die drei Gläser von der Anrichte nehmen, um sie in den Schrank zu stellen, als meine Aufmerksamkeit sich ihren Weg durch das Fenster nach draußen bahnte.  Fay und Ezra gingen durch den Vorgarten und warteten schließlich am Straßenrand auf die Kutsche, die noch ein gutes Stück zurückzulegen hatte. Es hätte mich nicht weiter interessiert, hätten sie ruhig dort gestanden, doch das taten sie nicht. Fay lachte und hing am Arm dieses Kerls. Ich war sicher, er würde es jeden Moment unterbinden. Nichts. Sie sah glücklich aus, als sie sich eng an ihn schmiegte. Ich lehnte mich mit den Ellenbogen auf die hölzerne Arbeitsplatte und beobachtete die beiden. Ungewöhnlich, dass Ezra so viel Nähe gestattete. Wahrscheinlich lag es an der fragwürdigen Beziehung, die die beiden führten. Fay würde kaum zu ihm zurückkehren, wenn er sie die ganze Zeit genauso abweisend behandelte, wie er es bei mir tat. Ich wünschte, er wäre weniger freundlich. Fay musste doch klar sein, dass ihre Schwärmereien zu nichts führten. Was erwartete sie bloß davon? Als die Kutsche zum Stehen kam, verabschiedeten sich die beiden. Es war falsch, dass Ezra ihre Wange berührte und liebevoll ihr Haar zurückstrich. Dieser Narr. Merkte er nicht, was er ihr antat? Ich seufzte schwermütig, als Fay endlich in die Kutsche verschwand, dabei ging es mich überhaupt nichts an. Fay war erwachsen, es war ihre Sache. Trotzdem störte es mich und ich konnte nichts dagegen tun. "Du hast sie gerne, nicht wahr?", fragte Sofia. Ich schreckte zusammen. Sie war aus dem Nichts neben mir aufgetaucht. "Seit wann bist du hier?" "Lange genug, um das zu bemerken." Es wurde Zeit, dass ich die Gläser endlich aufräumte. Sofia wartete geduldig auf meine Antwort. "Ich verbringe gerne Zeit mit ihr. Sie ist nett." " Mehr nicht?" Sofia beäugte mich skeptisch. "Mehr nicht." Ich wischte zügig das Wasser von der Arbeitsplatte und faltete das Tuch zusammen. "Ich finde, sie hat etwas sehr Unbeholfenes an sich", fuhr Sofia fort. "Sie ist trottelig und geradezu einfältig." Jetzt übertrieb sie. Fay war gelegentlich ein wenig tollpatschig und handelte ohne nachzudenken, aber trottelig und einfältig war sie nicht. Ich musste widersprechen. "Sie ist ein herzlicher Mensch, sprich bitte nicht so schlecht von ihr", bat ich so höflich wie möglich. Ich wollte Sofia nicht vor den Kopf stoßen, nachdem sie mir ein solch wunderbares Geschenk gemacht hatte. Sie wirkte überrascht, verwandelte ihre Verwunderung jedoch schnell in ein verzücktes Lächeln. "Ich weiß was du hier spielst", verkündete sie siegesgewiss. Sofia wusste offenbar mehr als ich selbst. "Was soll das heißen?" "Du verleugnest es." "Was denn?" Sie trat einen Schritt auf mich zu und legte ihre Hand auf meine Schulter. Ihre Augen waren gütig. "Nimm dir, was dich glücklich macht. Dir wird nichts geschehen, solange du dich nicht darin verlierst." Ich blinzelte sie ratlos an. Sollte ich etwas dazu sagen? Ich war mir nicht sicher, ob ich es verstanden hatte. "Ist gut", antwortete ich und war erleichtert, dass Sofia sich damit zufriedengab. Sie nickte knapp und ließ mich los. Dann ging sie und wünschte mir eine gute Nacht. Neugierig, giftig, anmaßend und zärtlich. Sie war viel, vor allem aber schwer zu durchschauen. Eine rätselhafte Frau. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)