Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 009 – Eineinhalbtausend Meilen ------------------------------   "Miss Paine?" Leise drangen die Worte an mein Ohr. Dumpf, wie durch eine Decke. "Miss Paine, Sie sollten allmählich aufwachen." Aufwachen? Ich wusste nicht, wo ich war. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und fand mich in einem fremden Bett wieder. Die Laken waren durchwühlt. Ich zog den weichen Stoff von meinem Gesicht, um sehen zu können, wer mich geweckt hatte. Eine Frau von schmaler Gestalt stand an der Türe. Sie trug ihre dunklen Haare in einem Dutt, lächelte, als sich unsere Blicke trafen und verschwand, um kurz darauf  mit einem gut gefüllten Tablett wieder aufzutauchen. Ich beobachtete, wie sie es neben meinem Bett abstellte. "Guten Morgen." Ich riss meine Stimmbänder aus ihrem Schlaf. "Es ist bereits Nachmittag", korrigierte sie mich. "Das ist aber nicht weiter schlimm, wir haben noch genügend Zeit." "Zeit?" Ich richtete mich auf. "Wofür?" "Wissen Sie es nicht mehr? Wir reisen ab." Ich überlegte. South Dakota! "Ich bin übrigens Magdalena. Freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen." "Megan." Sie nickte wissend und lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Speisen. "Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit zu Essen mitgebracht. Hier..." Sie hob es herüber auf meinen Schoß. "Bedienen Sie sich." Vor mir tat sich ein Wunderland auf. Milch, Saft, Brot, Butter und drei verschiedene Marmeladen neben einigen Früchten, deren Namen ich  nicht einmal alle kannte. "Ich wusste nicht was Sie mögen, daher habe ich von allem etwas mitgebracht." Es war überwältigend. Am liebsten hätte ich alles zugleich verschlungen, dennoch ermahnte ich mich, die Leckereien sittlich zu verspeisen. Magdalena sollte kein falsches Bild von mir erhalten. Sie zog die Vorhänge zurück und ließ frische Luft in mein Zimmer, während ich aß. "Wie bin ich hierher gekommen?" "Sie meinen, in dieses Zimmer?" Ich nickte. Meine Erinnerungen endeten in Sofias Zimmer. Ich konnte mich nicht entsinnen, ihr Zimmer verlassen zu haben und dieser Raum war gewiss ein anderer. "Ich gehe davon aus, dass Ezra Sie herbrachte. Sie sind letzte Nacht zusammengebrochen. Es war wohl alles etwas viel." "Oh... das tut mir leid." "Das muss es nicht." Sie strahlte mich selig an. "Ezra ist stark genug und Sie sind nicht sehr schwer. Er wird sich schon nicht verhoben haben." Es war mir unangenehm, doch konnte ich es jetzt nicht mehr ändern. Magdalena nahm an der Kante meines Bettes Platz. Sie trug einige dünne Falten im Gesicht. Vom vielen Lachen, wie mir schien. "Wie geht es Ihnen?" Sie sah mich prüfend an. "Ganz... in Ordnung, denke ich." "Das ist gut." Magdalena betrachtete das Tablett, auf dem noch reichlich zu Essen übrig war. "Sind Sie satt?" Ich war satt, obwohl ich nicht viel gegessen hatte, doch mein Magen wollte nicht mehr aufnehmen. "Ja, danke." "Sehr gerne." Sie nahm mir das Tablett vom Schoß und erhob sich. "Wir brechen in etwa drei Stunden auf, bis dahin können Sie sich etwas ausruhen. Ich komme später noch einmal vorbei, um Sie abzuholen." Magdalena verabschiedete sich und ging hinaus. Es war kein Traum gewesen. Ich würde mit Sofia, Ezra und Magdalena nach Pierre gehen. Es mussten mindestens tausend Meilen sein, wenn nicht mehr. Endlich konnte ich fort. Weit weg nach Nordosten, in einen anderen Staat und in ein anderes Leben. Ich würde es wohl erst gänzlich glauben können, wenn ich dort war. Auch die Beklemmung würde sich hoffentlich gelegt haben, bis wir ankamen. Es war merkwürdig, diese Fremden zu begleiten, trotzdem wollte ich vergessen was hinter mir lag und das war hier gewiss nicht möglich. Also musste ich die Chance ergreifen, die Sofia mir geben wollte. Ich stieg aus dem Bett und durchquerte mein Zimmer, um das Fenster zu schließen. Die Straßen dort draußen waren mir wohl bekannt. Schon oft war ich hier gewesen, um Spenden zu sammeln. Mit Christina, der Frau, die mich hintergangen hatte und inzwischen nicht einmal mehr zu erkennen schien. Ich schloss die Augen vor der Stadt, die so voller Erinnerungen steckte und dennoch spukten die Bilder weiter in mir umher. Unfähig, sie aus meinen Gedanken zu verbannen, nahm ich das frische Bündel Kleidung und ging ins Badezimmer. Ich musste mich ablenken und außer der Morgentoilette fiel mir nichts ein. Ein schweres Seufzen befreite sich aus meinen Lungen, als die Türe hinter mir ins Schloss fiel. Es war Zeit, den Schweiß der vergangenen Nacht abzuwaschen. Vielleicht ließen sich mit ihm auch ein paar der dunklen Tage hinfortspülen. Ich bezweifelte es. Und noch mehr zweifelte ich daran, es jemals vergessen zu können, als ich in den Spiegel blickte. Was mich ansah, war erschreckend. Mein linkes Auge war blutunterlaufen, darunter ein violett-blauer Schatten. Die Lippe zierte ein dickes Grind und selbst mein Hals trug dunkle Flecken. Es war mir schon während des Essens aufgefallen. Das Schlucken schmerzte, dennoch hatte ich nicht erwartet, in ein derart misshandeltes Gesicht zu blicken. Ich kehrte dem Spiegel meinen Rücken zu. Mein eigener Anblick wollte mir Tränen in die Augen treiben. Ich weigerte mich und begann meine Visage zu waschen. Allen Schmerzen zum Trotz rieb ich fest über meine Haut. Es fühlte sich gut an, denn es lenkte mich ab. Für den Moment war es alles, was ich fühlte. Ich verbrachte eine ganze Weile im Badezimmer, bevor ich mit wundgescheuertem Gesicht, aber frisch angezogen, zurück in mein Zimmer ging. Bis zum Abend rührte ich mich nicht mehr aus meinem Bett und versuchte mich mit den Mustern auf meiner Bettdecke abzulenken. Sehnsüchtig erwartete ich Magdalenas Rückkehr, dass sie mich abholte. Immer wieder blickte ich auf die Zeiger der Uhr, die auf meinem Nachttisch stand. Sie schienen sich keinen Millimeter bewegen zu wollen. Es dauerte ewig, bis sich draußen auf dem Flur etwas rührte. Ich sprang vom Bett, als Magdalena die Türe um kurz nach achtzehn Uhr öffnete. "Sind Sie fertig?" "Ja. Mehr als das." "Gut, dann folgen Sie mir. Die anderen sind schon unten." Wir gingen hinunter auf die Straße. Sofia war eben in eine kleine Kutsche gestiegen und winkte mich herein. Mein Herz trommelte wie verrückt, als ich auf die schmale Trittstufe stieg. Es war ein wenig wie damals, als mein Vater mich zum ersten Mal hatte reiten lassen, nur war ich an diesem Tag fröhlicher gewesen. Ich klammerte mich fest an das Holz der Kutsche, als der Kutscher die Pferde antrieb und die Räder unseres Gefährts geräuschvoll über das Pflaster holperten. Mir wurde schlecht, aber es lag nicht an der unruhigen Fahrt. Bitte, entspann dich. Alles wird gut. Sofia unterhielt sich mit Magdalena über Belanglosigkeiten und Ezra saß mir schweigend gegenüber. Er wirkte, als würde er mir fest in die Augen sehen. Wahrscheinlich tat er das nicht. Ich war noch immer nicht sicher, ob er blind war. "Du starrst mich an, oder?" Ich schreckte hoch, als er mich ansprach. "N-nein, ich wunderte mich nur." Sofia mischte sich mit einem fröhlichen Lachen ein. "Das tun sie alle. Selbst ich. Und das obwohl ich genau weiß, dass er blind ist." "Ich spüre es", erklärte er trocken. Den Rest des Weges heftete ich meine Blicke nicht mehr auf ihn. Einfach war es nicht, denn er hatte seine Augen nach wie vor auf mich gerichtet  und ich fühlte mich beobachtet, selbst wenn er mich nicht sehen konnte. Als wir den Bahnhof von Sacramento erreichten, war ich erleichtert, aus seinem Blickfeld verschwinden zu können. Um uns herum standen kleine Menschengruppen, die sich untereinander verabschiedeten. Ich vermutete, dass es Kinder waren, die erwachsen geworden waren und auf der Suche nach ihrem Glück ihre Familien verlassen mussten. Mir fiel der Abschied deutlich leichter. Ich würde diese Stadt nicht vermissen. Nichts und niemanden und ich würde nie wieder hierher zurückkommen, das schwor ich mir. "Hier, können Sie ihn tragen?" Magdalena reichte mir einen Koffer weiter. "Sicher doch." Trotz der enormen Mengen an Gepäck, war die Kutsche schnell entladen. Sofia hatte es eilig und ich war nicht sicher, woran es lag. Auch Ezra wirkte unruhig. "Wir müssen gehen." Sofia drängte mich zum Zug und ich riss meine Blicke von den Pferden los, die geduldig vor der Kutsche warteten, dass es weiterging. Schöne Tiere waren es. Auch der Zug machte einen geduldigen Eindruck. Er sah nicht aus, als wollte er in den nächsten Minuten den Bahnhof verlassen, trotzdem trieb Sofia mich zur Eile an. Ich fragte nicht weiter und sputete mich, in den Wagon zu steigen, Magdalena dicht hinter mir. "Geh schon!" "Was ist denn?" Ich sah mich fragend nach ihr um und erkannte hinter ihrem Rücken den Grund für unsere Hast. Sofia stand draußen, sie sprach mit zwei uniformierten Männern. Polizisten. Mir wurde heiß, als ich rasch weiter den schmalen Gang entlangstolperte. "Wir müssen weiter nach vorne. Nummer neun." Magdalena wusste offenbar, was die Männer wollten und ich wusste es auch. Sie wollten mich. "Hier ist es!" Sie riss die Türe auf und schob mich hinein. Noch ehe ich saß, hatte sie die Vorhänge zugezogen. Als sie auf dem Sitz mir gegenüber Platz nahm, lächelte sie zufrieden. Sie sah nicht mehr nervös aus und dafür war ich es umso mehr. Die Polizisten würden mich holen kommen. Ich war sicher, dass sie jeden Moment durch die Türe des Abteils platzen würden, um mich abzuführen. Nach allem, was ich erlebt hatte, wusste ich, wie schnell ein Traum zerplatzen konnte. Es war leicht, von den Füßen geholt zu werden und jetzt, da ich versuchte aufzustehen, wollten sie mich erneut zu Fall bringen. Ich wusste um meine Anfälligkeit für derartige Rückschläge. Warum sollte es diesmal anders sein? "Miss Paine?" Magdalenas Gesicht trug tiefe Sorgenfalten, als sie mich aus meinen Gedanken holte. "Sie müssen keine Angst haben." Gerne wollte ich ihr Glauben schenken, doch bevor wir die Stadt nicht verlassen hatten, würde ich mich nicht entspannen können. Ich verknotete meine Finger fest ineinander, während ich darauf wartete, dass etwas geschah. Es blieb still. Magdalena hatte eine Zeitung aus ihrer Tasche gezogen und las gemütlich darin, als gäbe es nicht das kleinste Problem. Wie konnte sie so ruhig sein? Ich sinnierte darüber, wieso ihr keinerlei Aufregung anzumerken war, als die Türe des Abteils sich öffnete und mir ein spitzer Schrei entfuhr. Sofia sah mich verblüfft an, als ich mir die Hände vor den Mund schlug, um den kurzen Aufschrei irgendwie zurückzunehmen. "Du wirkst etwas fahrig." "Entschuldigung." Sie schmunzelte. "Nicht doch. Es war nur eine Feststellung." Ich scheute mich, nach den Polizisten zu fragen. Eine Antwort hätte mich in gleichem Maße beruhigen, wie auch zerstören können und dazu konnte ich mich nicht überwinden. Ich räusperte mich. "Kommt Ezra nicht?" Sofia steckte ihre Streichhölzer weg und zog an ihrer Zigarre. "Oh doch. Er räumt nur eben die letzten Koffer weg." Sie überlegte einen Augenblick. "Vielleicht wird er sich dann auch zu Bett begeben. Wir werden sehen." Da war es wieder, Sofias unbekümmertes Lächeln. Es war so unschuldig und schwerelos, wie ich selten ein Lächeln gesehen hatte. Selbst das Lächeln eines Kindes erschien gekünstelt dagegen. Gerne wäre ich ebenso entspannt gewesen, doch das war absolut unmöglich, egal wie lange ich versuchte, mich von Sofias Lächeln inspirieren zu lassen. Erst als die Türe sich erneut öffnete, wich ihr das Lächeln für den Bruchteil einer Sekunde von den Lippen. Ehe ich sehen konnte, wer dort stand, war Sofia auf den Beinen und versperrte mir die Sicht. Meine Blicke schnellten über ihren Rücken nach oben und ich erkannte, dass es Ezra war. Sofia stand nah bei ihm, einen Arm um seinen Hals gelegt. Sie küsste ihn. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit sofort auf Magdalena, die unbeeindruckt weiter in ihrer Zeitung las. Ich hatte nicht erwartet, dass Sofia das tun würde. In der Öffentlichkeit. Das gehörte sich nicht. Besonders nicht für eine Dame. Es war befremdlich. "Jetzt kann es losgehen!", verkündete Sofia, als sie wieder auf ihrem Platz saß. Ich riskierte einen Blick. Ezra hatte sich neben mich gesetzt. Er hielt Sofias Zigarre in der Hand und war verschwiegen wie zuvor. Sofia war voll freudiger Erwartung. Sie war vergnügt. Wahrscheinlich freute sie sich auf ihr Zuhause. Ich überwand mich, eine kurze Frage zu stellen, da keiner der Dreien in geringster Weise besorgt aussah. "Die Polizisten?" Sofia hob ihre Brauen. "Die Polizisten? Gute Frage... Ezra?" "Erledigt." "So habe ich mir das vorgestellt!" Sie war offensichtlich entzückt. "Aber wie?" Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sie einfach so hatte abwimmeln können. Sofia winkte ab. "Lass das mal Ezras Sorge sein. Er weiß schon was er tut, nicht?" "Sicher." Er zog noch einmal an der Zigarre und hielt sie schließlich in die Mitte des Abteils, wo Sofia sie ihm abnahm. "Besten Dank." Ich hatte keine Zeit, noch ein weiteres Mal nachzufragen. Der Zug setzte sich in Bewegung und Sofia wechselte das Thema so schnell, dass ich beschloss, besser still zu sein. "Magdalena, gibt es Neuigkeiten?" Magdalena nahm die Lesebrille von ihrer Nase. "Nein, nichts Interessantes. Eine abgebrannte Scheune, zwei Tote und noch immer die verschwundenen Mädchen." Sofia seufzte. "Tragisch." "Ja, sehr." Magdalena schob die Brille zurück auf ihre Nase und widmete sich wieder der Zeitung, während Sofia ebenfalls etwas zu Lesen aus ihrer Handtasche kramte. Ich kannte diese Werke. Es waren meine.  Fasziniert beobachtete ich, wie sie einen ganzen Stapel davon auf ihrem Schoß drapierte. Ich war sicher, dass ich ihr nur eines verkauft hatte. Sie schmunzelte, als sie meine entgeisterten Blicke bemerkte. "Dachtest du, ich begnüge mich mit einem einzigen?" "Woher kommen die?" "Ich habe sie ein paar Leuten abgekauft." Es verschlug mir die Sprache. "Wir sind knappe dreieinhalb Tage unterwegs, da benötige ich doch etwas zu Lesen." "Ich bin nur ein wenig überrascht." Sie lachte und schlug die erste Heftung auf.   Stundenlang rührte ich mich nicht mehr. Magdalena hing schlafend auf ihrem Sitzplatz. Auch Ezra hatte sich zurückgezogen, nur Sofia saß noch immer hellwach über den Geschichten. Meine Lider waren schwer geworden und immer häufiger sackte mir der Kopf nach unten. "Du solltest schlafen gehen, Megan." Sofia verstaute ihre Taschenuhr in der Manteltasche. "Es ist bald vier Uhr." Sie weckte Magdalena und trug ihr auf, mich zu begleiten. "Gute Nacht", verabschiedete sich Sofia, als Magdalena und ich das Abteil verließen, um uns hinzulegen. Unser Quartier war nicht groß, aber es bot genügend Platz für uns beide. Ich war froh, dass ich nicht bei Sofia nächtigen musste. Auf eine mir unerklärliche Weise vermochte sie mich einzuschüchtern, ohne dass sie etwas tat, was das begründen würde. Sie war schlicht zu perfekt. "Schlafen Sie schön, Miss Paine." "Sie auch, Misses..." Ich war nicht sicher, ob sie verheiratet war. "Miss?" "Sagen Sie einfach Magdalena." Meine Verwirrung amüsierte sie. "Ist gut." Ich beobachtete, wie sie die Lichter löschte und sich ebenfalls in ihr Bett begab. "Wäre es in Ordnung, wenn ich auch nur Megan bin?" "Mögen Sie Miss Paine nicht?" "Nein, nicht besonders." "Dann ist es in Ordnung." "Danke." Es beruhigte mich. Megan war mir bei Weitem lieber, es klang weniger nach Ärger und außerdem widerstrebte es mir, dass eine Frau, die mindestens doppelt so alt war wie ich, mich bei meinem Nachnamen nannte. Jetzt war es geklärt und ich konnte mich der Nachtruhe widmen. Das Einschlafen gestaltete sich jedoch schwieriger, als ich es vermutet hatte. Obwohl ich todmüde war, ließen mich die Vibrationen des Zuges kaum zur Ruhe kommen. Magdalena hatte damit offenbar keine Probleme, ihre Atmung ging von Zeit zu Zeit sehr tief und kratzig. Sie schnarchte etwas. Erst als der Zug für einen weiteren Zwischenstopp zum Stehen kam, gelang es mir, die ersehnte Erholung zu finden. Es war kein ruhiger Schlaf. Ich war nicht einmal sicher, ob ich überhaupt geschlafen hatte, als ich die Augen wieder aufschlug. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, musste ich geschlafen haben. Sie stand hoch am Himmel und beschien die menschenleere Wildnis draußen vor dem Fenster. "Magdalena?" Sie antwortete nicht. Ihr Bett war leer. Ich zog mich eilig an, um zurück zu Abteil Nummer neun zu gehen. Ich hoffte, dass sie dort war. Einen anderen Ort zum Suchen wusste ich nicht. Meinen Weg durch die Wagons bahnte ich mir zwischen einigen anderen Passagieren hindurch. Es war zuweilen erdrückend eng und ich war froh, als ich mein Ziel erreichte, doch das kleine Abteil war verlassen. Ich beschloss zu warten. Sie würden irgendwann auftauchen, ich musste nur geduldig sein. Während ich wartete, fiel mir auf, dass das Reisen tagsüber deutlich angenehmer war. Man sah etwas, wenn man aus dem Fenster blickte, selbst wenn es nicht viel war. Bäume und Sträucher auf kargem Boden und nach vielen trüben Tagen, endlich ein paar Sonnenstrahlen. Ich lehnte mich zurück und ließ sie mir ins Gesicht scheinen. Das hatte ich vermisst. Ich bedauerte es jedes Jahr, wenn der Sommer zu Ende ging und die Sonnenstunden weniger wurden. Im Winter waren sie kostbar, im Sommer zuweilen schädlich. "Hier bist du!" Magdalena hatte die Türe aufgeschoben. "Ich hatte mich schon gesorgt." "Verzeihung." Sie winkte ab. "Ist gut. Kommst du mit in den Speisewagon? Wir sollten eine Kleinigkeit essen." "Sehr gerne!" Schon die halbe Nacht hindurch hatte mein Magen geknurrt. Es war höchste Zeit, ihn zur Ruhe zu bringen und dem Geruch nach erwartete uns eine wunderbare Mahlzeit. "Wo sind Sofia und Ezra?", fragte ich, nachdem wir uns samt gefüllter Teller niedergelassen hatten. "In ihrem Schlafabteil. Ezra meinte, Sofia hätte bis zum Morgengrauen gelesen. Sie schläft noch und er leistet ihr Gesellschaft." "Beim Schlafen?" "Gewiss. Er liegt lieber wach neben der schlafenden Sofia, als sich womöglich mit uns unterhalten zu müssen. Er mag es gerne etwas ruhiger." "Verstehe." Ich widmete mich meinen Kartoffeln. "Er ist mir unheimlich." "Ja?" Magdalena blickte verwundert von ihrem Teller auf. "Er ist wohl ein wenig eigenwillig, aber das muss dich nicht kümmern. Ich bin nicht einmal sicher, ob ihr beiden euch noch all zu oft begegnen werdet." "Wohnt er nicht bei Sofia?" "Doch, das schon, aber tagsüber ist er meist in Pierre und ich denke nicht, dass er abends bei dir vorbeikommen wird, um eine gute Nacht zu wünschen." "Wohl nicht." Die Vorstellung erheiterte mich. Magdalena war eine wunderbare Reisebegleitung. Sie verstand es, mich mit Leichtigkeit auf andere Gedanken zu bringen. Ich war ihr sehr dankbar, dass sie sich beinahe pausenlos mit mir über Banalitäten unterhielt. Wetter, Flora und Fauna unseres Zielortes, Geschichte und aktuelle Geschehnisse. Am Abend wusste ich, dass die momentanen Temperaturen in South Dakota mich mit großer Gewissheit augenblicklich schockgefrieren würden. Magdalena versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich mich schnell daran gewöhnen würde. Ich war allerdings nicht wirklich überzeugt, also wechselte sie das Thema und fuhr unbeirrt fort, uns die Zeit zu vertreiben. Wir hielten gegen einundzwanzig Uhr für einige Minuten in Salt Lake City und sie erzählte mir, wie es 1847 gegründet worden war. Es war beeindruckend, wie viel sie wusste. Kaum ein Ort, zu dem sie nichts erzählen konnte. Wir saßen bis tief in die Nacht in unserem Abteil. Von Sofia und Ezra weit und breit keine Spur. Ich vermisste sie nicht. Es war angenehmer ohne die beiden. Auch die beiden nächsten Tage verbrachten Magdalena und ich alleine. Dank ihr verflog die Zeit schier unbemerkt. Erst am späten Nachmittag unseres letzten Reisetages, nach unserem Umstieg in Minneapolis, gesellte sich Sofia wieder zu uns. "Wie ich sehe, geht es euch beiden gut." Sie setzte sich neben mich. "Das ist fabelhaft." "Selbstverständlich", bestätigte Magdalena diese Annahme. "Ich hatte nichts anderes erwartet", gestand Sofia und blickte sinnierend aus dem Fenster. "Ich hoffe, dass es Isaak und Yasha ebenso gut ergangen ist." Noch mehr Leute. Ich fragte mich, wer die beiden waren, um die Sofia sich sorgte. Ob sie Kinder hatte? Vielleicht waren es ihre Söhne. "Wohnen sie auch bei Ihnen?" "Momentan nicht, aber ich werde sie morgen abholen. Sie sind nicht gerne lange alleine, deswegen bringe ich sie zu Freunden nach Pierre. Sie kümmern sich gerne um meine beiden Wilden." "Wilde?" Sie lachte. "Sie sind unerzogen. Ich bin zu oft fort. Aber sie werden dich mögen, da bin ich sicher." Ich war erleichtert, dass sie das sagte. Es genügte, dass Ezra mich offenbar nicht besonders gut leiden konnte. Ich musste mir Mühe geben, dass die beiden mich gern haben würden. Vielleicht konnte ich mich sogar mit ihnen anfreunden. Ich war in jedem Fall neugierig, um wen es sich handeln mochte. "Wenn du noch etwas schlafen möchtest, solltest du das jetzt tun", empfahl Sofia. "Wir werden Pierre heute Nacht zwischen vier und fünf Uhr erreichen, danach sind wir noch eine Stunde unterwegs, bis wir mein Haus erreichen. Vor sechs Uhr wirst du nicht mehr ins Bett kommen." Ich folgte ihrem Ratschlag und verabschiedete mich für die nächsten Stunden. Das Ruckeln und Pfeifen des Zuges war inzwischen weit in den Hintergrund getreten. Nur noch ein leises Randgeräusch. Ich wiederholte die Geschichten, die Magdalena mir erzählt hatte, während ich einschlief. Sie halfen mir beim Verdrängen.   Wie Sofia gesagt hatte, rollten wir um kurz vor halb fünf in den Bahnhof von Pierre. Magdalena hatte mich rechtzeitig geweckt und mir einen dicken Mantel gegeben. Noch bevor ich ausgestiegen war, merkte ich, dass er zu dünn für mich war. Eisiger Wind peitschte in den Zug. Das Atmen fiel mir schlagartig schwer. Mein ganzer Körper zitterte und ich vergrub mich so tief in meinen Mantel, wie es mir möglich war. Nicht einmal sprechen konnte ich, ohne dass meine Zähne klapperten. "Alles in Ordnung, Megan?" "K-k-kalt." "Findest du? Nun, vielleicht fünf Grad unter Null... Celsius. Das sind Dreiundzwanzig Grad Fahrenheit." "N-n-nur?" Es war das erste Mal, dass ich solch kalte Temperaturen ertragen musste. In Sacramento war das Thermometer nie unter Dreißig Grad Fahrenheit gefallen und ich hätte schwören können, dass es hier mindestens minus fünf Grad Fahrenheit sein mussten, nicht Celsius. Laut Magdalenas Berichten war diese Temperatur hier keine Seltenheit. "Es ist sogar erstaunlich warm für diese Jahreszeit. Gewöhnlich ist es nachts deutlich kälter." Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich mich hier eines Tages auch nur ansatzweise wohlfühlen konnte. Zumindest war ich sicher, dass man hier auch sehr leicht sterben konnte, ohne all zu viel dafür zu tun. Ich fühlte mich schon jetzt halb tot und das, obwohl wir nur wenige Minuten unterwegs waren. Der Weg zu Sofias Haus zog sich endlos hin und auch Magdalena fror. Sie sprach die gesamte Fahrt über kein Wort und versteckte sich hinter einem dicken Schal. Selbst Ezra wirkte ungewohnt angespannt, zumindest bildete ich es mir ein. Sofia dagegen war das blühende Leben. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen. Ich fragte mich, wie sie es machte. In jedem Fall war es schön anzusehen. Die Kutsche hielt an, als ich meine Zehen längst verloren hatte. Ich spürte sie nicht mehr. Sofia sprang eilig hinaus. "Endlich zu Hause!" Sie ging zum Kutscher und händigte ihm seine Bezahlung aus, während Ezra und Magdalena die Koffer abluden. Der Wind blies beißend durch meine Haare und wehte sie mir ins Gesicht, als die Kutsche davonfuhr. Ich drehte mich, um wieder etwas sehen zu können. Bis zum Haus waren es noch einige Meter und der Mond erhellte uns den gepflasterten Weg, unter einem metallenen Torbogen hindurch. Vor uns erhob sich ein Gebäude von verblüffender Größe. Es erinnerte mich an das Hotel, in dem wir gewesen waren. Ein halbes Dutzend Stufen führten mich hinauf zur Eingangstüre. Sofia öffnete sie und entzündete eine Öllampe, nachdem sie eingetreten war. "Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen Heim." Bescheiden war das falsche Wort. Es war prachtvoll. Schon der Eingangsbereich ließ mich die Kälte vergessen. Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Das Licht der Lampe flackerte in glänzenden Ornamenten, die sich wie Ranken über mir zu einem Bogen verbanden. Sofia schenkte mir ein zufriedenes Lächeln, bevor sie sich daran machte, weitere Lampen zu entzünden. Elektrizität gab es hier offensichtlich noch nicht. Ich mochte echtes Licht ohnehin viel lieber und ein lebendiges Feuer passte auch deutlich besser zu diesem Haus, als eine starre Glühbirne. Magdalena begleitete mich in das Gästezimmer, welches sich im oberen Stock befand. Ich stolperte, als wir die glatte Steintreppe hinaufgingen und hielt mich gerade noch am Geländer fest. "Alles in Ordnung?" "Ja, ich konnte nur meine Augen nicht von den Wänden lösen." Magdalena schmunzelte. "Es ist anders, als die Häuser, die man sonst sieht. Fjodor Schechtel hat es nach Sofias Vorstellungen entworfen." "Wer, bitte?" "Ein russischer Architekt. Ist nicht weiter wichtig. Hier ist dein Zimmer." Sie öffnete mir eine mit Schnitzereien verzierte Türe, direkt neben der gewundenen Treppe und ließ mich eintreten. Dahinter verbarg sich ein fantasievoll eingerichtetes Zimmer mit eleganten Möbeln. Allesamt fügten sie sich zu einem harmonischen Gesamtbild aus geschwungenen Formen. Ich wollte unbedingt wach bleiben, bis es hell wurde, um es mir genauer ansehen zu können, doch der Schlaf überrollte mich, kaum dass ich ins Bett gestiegen war. Ich gab die Schuld der warmen Bettflasche, die Magdalena mir gebracht hatte.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)