Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 006 – Wolfsjagd --------------- "Wo bleibt mein Bier?"Ungeduldiges Knurren drang durch die volle Gaststube. "Ist unterwegs", antwortete ich und hastete zurück an den Tresen, um die Getränke auf mein Tablett zu laden. Es war brechend voll, ich rotierte von einem Tisch zum anderen. Pausenlos arbeitete ich mich durch den letzten Abend des Jahres. Die Hektik strapazierte meine Nerven. Doch ab morgen würde es bergauf gehen, das spürte ich. Noch wenige Stunden bis Mitternacht, und während viele der Gäste sich aus Angst bis zur Besinnungslosigkeit betranken, freute ich mich auf den Glockenschlag, der meinen Neuanfang bedeutete. Alles sollte hinter mir bleiben, festgehalten im 19. Jahrhundert. Ich stellte es mir vor, wie einen schweren, samtenen Vorhang, der sich pünktlich um Mitternacht hinter mir schließen würde und allem Schlechten den Weg in meine Zukunft versperrte. "Bitte sehr." Ich stellte das volle Glas flink auf das klebrige Holz, das unter der Last dieses voluminösen Gastes ächzte. Er bedankte sich nicht. Ich hatte es auch nicht erwartet. Es war mir gleich geworden, dass die Menschen in dieser Gegend keinerlei Manieren besaßen. Sollte sich jemand anderes damit den Tag verderben, mich würde es nicht mehr lange betreffen. Sobald ich das nötige Kleingeld für ein Zugticket beisammen haben würde, gab es nichts mehr, was mich länger in dieser verdreckten Schankstube halten konnte, mit all den nach Bier und Schweiß stinkenden Männern. Allesamt waren sie unfreundlich und ein gutes Drittel der Gäste war zudem aufdringlich. Regelmäßig geriet ich unter hungrige Wolfsaugen, die mich erschauern ließen. Heute waren sie im Rudel angereist. Ein besoffenes Pack, das lauthals nach mir grölte, als sich deren Gläser zum wiederholten Male geleert hatten. "Noch eine Runde, die Herrschaften?" Ich musterte die leeren Gläser auf dem runden Tisch. Die Männer hatten bereits eine beträchtliche Menge konsumiert. "Aber sicher doch, Liebes!" Bemerkenswert, wie gut ich die gelallten Silben der Gäste nach ein paar Tagen verstand. Ich betrachtete sie ruhig, nickte und bemühte mich, das Bier so schnell wie möglich an den Herrentisch zu bringen. Ein erfreutes Raunen ging durch die kleine Gruppe, als ich die Gläser abstellte. Sie stürzten sich eilig auf den Gerstensaft, während ich meine Notizen ergänzte und mich der Tür zuwandte, durch die weitere Gäste hereinkamen. Die übliche Klientel. Ich verstaute meinen Block in der Schürze und schickte mich an, sie in Empfang zu nehmen, bis eine feuchte kalte Hand nach mir griff und mich zurückzog. "Loslassen!", fuhr ich den betrunkenen Narren an. Er hatte meinen Arm gepackt und schenkte mir ein fauliges Lächeln. "Setz dich doch noch etwas zu uns, Mädchen. Wir könnten weibliche Gesellschaft gebrauchen." Seine Freunde bestätigten mir diese Aussage mit wildem Kopfnicken. "Ich denke nicht", entgegnete ich mit fester Stimme. "Ich muss arbeiten." "Arbeiten, arbeiten ..." Er schnaubte verächtlich. "Du kannst auch für uns arbeiten." "Ich bin keine Hure." Es war das dritte Mal, dass man mir eine derartige Offerte machte. Offenbar war das hier eine gängige Methode, um eine Dame zu erobern. Ich hielt den bohrenden Blicken dieses Ekels eisern Stand und wiederholte meine Aufforderung, dass er mich loslassen solle. "Sir, bitte nehmen Sie Ihre Hand von meinem Arm!" Er rührte sich nicht und ich verharrte ebenso regungslos, bis seine Finger sich lockerten und ich erleichtert durchatmete. Es verstrich ein Wimpernschlag und er  hatte mich fest an sich herangezogen. Sein Gestank brannte scharf in meiner Nase. "Nein! Lass mich gefälligst!" Ich schrie und stemmte mich mit aller Kraft von ihm fort. Keiner der anderen Gäste bemühte sich, mir beizustehen. Ich konnte sie lachen hören. Sie machten sich lustig, während ich um Befreiung kämpfte. Wie hatte ich etwas anderes erwarten können? Mit einer schallenden Ohrfeige löste ich die Hände, die mich hielten und stolperte rücklings auf den Nachbartisch, dessen üppiges Gedeck klirrend und scheppernd auf mich niederregnete. Ich keuchte unter der heißen Soße, die sich über mich ergossen hatte, während die Stimmen um mich herum verstummten. "Miss ...", tönte es hinter mir. Ich erhob mich aus dem Scherbenhaufen, schüttelte meinen Rock und wandte mich um. Ein grimmiges Gesicht starrte mich an und ich erkannte den Grund für die Verärgerung dieses Herren sofort. Seine Mahlzeit lag nicht mehr auf seinem Teller, sie tränkte seinen Schoß in brauner Soße. Noch bevor ich Worte finden konnte, zog der Wirt meine Aufmerksamkeit auf sich, als er durch die Menge walzte und seine stattliche Masse donnernd vor mir aufbaute. "Was geht hier vor, Megan?" Ich sammelte mich kurz, bevor ich antwortete. "Sir, das tut mir schrecklich leid. Ich wurde festgehalten und bin gestürzt, nachdem ich mich befreien konnte. Ich werde das sofort aufräumen." "Das will ich dir geraten haben", knurrte er abfällig. Ich nickte und sputete mich, das Malheur zu beseitigen. "Ich denke hier liegt ein Missverständnis vor, Jacob." Ein Missverständnis? Ich wandte mich zurück an den Wirt, der soeben eine neue Fassung der Geschichte aufgetischt bekam, noch ehe ich Lumpen und Eimer geholte hatte. "Ihr müssen meine Komplimente zu Kopf gestiegen sein", erklärte der Gast, "Wenn du mich fragst, ist sie über ihre eigenen Füße gestolpert." "Das ist nicht wahr!" Ich wurde lauter. "Er hielt mich fest!" "Du träumst doch, Mädchen", entgegnete er mir. "Ruhe jetzt!", Jacob, der Wirt, beendete den Streit bevor er begonnen hatte. "Mir ist es gleich, wer die Schuld trägt. Hauptsache jemand bezahlt das!" Es war aussichtlos. Der Trunkenbold, bei dem es sich um einen Stammgast handelte, hatte Zeugen, die seine Aussagen bestätigten und ich hatte nichts dagegen vorzubringen. Mein Lohn für den heutigen Abend war gestrichen und ich war wütend, als Jacob mich nach Hause schickte. Was hatte ich an mir, dass die Menschen mich immer wieder zu Unrecht bestraften? Woran lag es, dass alles in die Brüche ging? Ich konnte keine Erklärung finden. In mir schwelte der Zorn. Zorn auf die Menschen, auf diese Stadt, die mir nichts als Unglück brachte und auf mich selbst, weil ich nicht fähig war, aus diesem Sumpf zu verschwinden. Ich hielt inne und drehte mich um. "Ist dort jemand?" Es blieb still. Ich meinte Schritte gehört zu haben, doch die Straßen hinter mir waren leer. Ein unwohles Gefühl stieg in mir auf und ich beeilte mich, zurück in die Herberge zu kommen. Wenn man den Männern in der Schankstube glauben durfte – und das war nur schwer möglich – waren in den letzten vier Wochen zwei Mädchen aus diesem Viertel verschwunden. "Aller guten Dinge sind drei, weißt du?" Das waren ihre Worte, bevor ich die Stube verlassen hatte. Ich war mir sicher, dass sie mir nur Angst machen wollten, weil ich nicht nach ihrer Pfeife getanzt hatte, doch jetzt, da ich allein durch die Nacht lief, klangen ihre Worte immer glaubwürdiger in meinen Ohren. Ich zog den Mantel fester um mich und beschleunigte meine Schritte, bis ich rannte. Etwas verfolgte mich. Ich wusste bloß nicht, ob es meine Fantasie, oder etwas Reales war. Die Kirchenglocken schlugen. Erster Januar Neunzehnhundert. Ich blieb stehen und blickte mich um. Es war weit und breit niemand zu sehen. Keine Stimmen hallten durch die Straßen, nur der laute Klang der Glocken. Eilig ging ich weiter, als ich sicher war, dass mir niemand folgte. Ein neues Jahr brach an und ich wollte diese Gelegenheit nutzen, mein Leben neu zu ordnen. Als erstes würde ich die Stadt verlassen. "Ein frohes neues Jahr, Ma'am", grüßte ich die alte Empfangsdame, die den Eingangsbereich der Herberge seit meinem Einzug offenbar nie verlassen hatte. Sie nickte knapp und ich verschwand zügig nach oben. Ich hatte einen Plan und dessen Umsetzung konnte nicht warten. Wenn ich etwas ändern wollte, dann musste ich das jetzt tun. Es war mein Vorsatz für dieses Jahr. Handeln, statt zu warten. Ein Zögern hätte mein Vorhaben ohnehin stark gefährdet. Ich ging auf mein Zimmer, packte meine Schreibmaschine und ging zurück nach unten. "Ma'am, ich möchte sie Ihnen gerne verkaufen", verkündete ich mit fester Überzeugung. Ich gab mir Mühe, so sicher wie möglich aufzutreten, doch ihre Antwort ließ auf sich warten. Ich begann zu zweifeln. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr zweifelte ich, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. "Ich brauche keine Schreibmaschine, die nicht funktioniert", krächzte sie. "Sie funktioniert", korrigierte ich sie. "Sie war nie kaputt." Für einen Moment herrschte Stille, dann erhob sich die magere Frau von ihrem Stuhl und begann meine Schreibmaschine zu begutachten. "Brauchst du sie nicht mehr?" "Nein." Die vielen Falten um ihre Augen wurden tiefer, als sie zu Lächeln begann. "So so ..." "Ich möchte die Stadt verlassen und nichts mitnehmen, was mich an diesen Ort erinnert", erklärte ich mich, "Außerdem brauche ich Geld, um von hier verschwinden zu können." Wieder nickte sie und schwieg einige Sekunden, in denen sie die Maschine gründlich untersuchte. "Samuel!", schrillte ihre Stimme plötzlich in die Höhe, "Komm her und sieh dir das an!" Ich wandte meinen Blick auf den schmalen Türbogen, in dem ein großer stämmiger Mann erschien. Der schiefen Nase nach zu urteilen, war es der Sohn der Empfangsdame. "Was gibt es?", fragte er und trat an seine Mutter heran. Ich beobachtete die beiden, wie sie sich eine Weile über die Maschine unterhielten, alle Tasten ausprobierten und mich gänzlich ignorierten. "In Ordnung." Die Alte hatte sich mir zugewandt. "Die Schreibmaschine scheint in gutem Zustand zu sein." "Das ist sie", bestätigte ich, "Daher dachte ich an eine angemessene-" "Wirf sie raus!" Sie zischte ihren Sohn herrisch an und er gehorchte sofort. Ich trat zurück, als er auf mich zukam. "Was soll das? Ich dachte Sie würden mir-", der große Kerl hob mich vom Boden, "Das können Sie nicht machen! Ich brauche das Geld!" Ich schlug um mich, trat und kratzte ihn, doch Samuel war wie aus Stein gemeißelt. Als wäre ich eine Puppe, warf er mich mit Leichtigkeit zur Tür hinaus und schlug die dicken Holzbretter schwungvoll zu. Völlig perplex saß ich auf den feuchten Pflastersteinen. Es war absolut unwirklich und ich verstand nur langsam, was eben geschehen war. Das neue Jahr war keine halbe Stunde alt und schon hatten die Dämonen der Vergangenheit mich eingeholt. Nein! Ich durfte nicht zulassen, dass meine Pläne von diesen beiden Gestalten so leicht zerschlagen werden konnten. Fest entschlossen rappelte ich mich auf, ging zurück an die Türe und hämmerte kräftig dagegen. "Öffnen Sie sofort die Türe! Ich habe ein Recht auf Einlass!" "Du hast hier überhaupt keine Rechte. Verschwinde!" "Ich verschwinde, sobald Sie mir meine Besitztümer ausgehändigt haben!" Es kam keine Antwort. "Mein Zimmer ist bezahlt! Lassen Sie mich herein!" Ich klopfte fester gegen die Bretter. "Aufmachen!" Nichts geschah. Verdammte Bastarde! Alle Versuche, die Türe einzutreten, scheiterten. Die Menschen in den Nachbarhäusern warfen mir Flüche an den Kopf, dass ich endlich still sein solle, doch ich wollte nicht nachgeben. Zu oft hatte ich mich gefügt und jedes Mal war ich als Verlierer hervorgegangen. Nicht dieses Mal. Wenn sie mich loswerden wollten, so würden sie mich erschlagen müssen. "Sie werden es bitter bezahlen, wenn Sie mich nicht hineinlassen!" Ich stieß Drohungen aus, verfluchte sie und schimpfte wie nie zuvor. Minutenlang stand ich dort, unnachgiebig keifend und kochend vor Wut. Erst als die Luft mir knapp wurde, mäßigte ich mich, um zu verschnaufen. Mein Hals kratze und mein Mund war trocken. Ich ließ mich vor dem Eingang nieder und beschloss zu warten. Irgendwann mussten sie die Türe wieder öffnen und ich war Willens auf diesen Moment zu warten. Ich hatte auch keine andere Wahl, schließlich war alles was ich besaß, hinter dieser Türe. Mit jeder Minute, in der ich ruhiger wurde, kroch mir die nasse Kälte tiefer unter die Haut. Immer wieder klopfte ich gegen die Bretter. Die Abstände wurden größer und die Schläge schwächer, bis ich irgendwann aufhörte und die Arme fest um meine Knie schlang. Ich wollte mich nicht meiner Traurigkeit hingeben, wollte diesmal stark und zuversichtlich bleiben, doch mein Kummer zerrte an mir, wie Wölfe an ihrer Beute. Ein spitzer Schrei durchdrang die Stille. Ich schreckte hoch und sah die Straße hinauf, aus der der Schrei gekommen war. Aller guten Dinge sind drei, weißt du? Die Worte der Männer bahnten sich ihren Weg zurück in meinen Kopf. Vielleicht waren aller guten Dinge nicht drei. Vielleicht würde eine Nummer vier ebenso gut sein. Mein Herz begann zu rasen. Der Ursprung des Schreis war nicht weit entfernt und wenn es tatsächlich einen kranken Mädchenjäger gab, so musste ich ein außerordentlich einladendes Ziel abgeben. Langsam richtete ich mich auf und suchte mit den Augen nach einem Versteck. Außer ein paar niedrigen Backsteinmauern und Mülltonnen gab es jedoch nichts. Ich versuchte ruhig zu bleiben und besann mich auf meinen gesunden Menschenverstand. Die Frau konnte aus allen möglichen Gründen geschrien haben. Vielleicht war sie gestürzt, oder hatte sich erschreckt. Dann hörte ich wieder Schritte und mein Puls schnellte in die Höhe. Sie kamen in meine Richtung, das bildete ich mir nicht ein. Ich sprang auf und lief so schnell mich meine Beine tragen konnten davon. Angst hatte mich unwiderruflich gepackt und trieb mich mit Peitschen vor sich her. Jemand war mir auf den Fersen, dessen war ich sicher. Hinter mir schlug glattes Leder aufeinander. Ein Mantel, der vom Wind zurückgeschlagen wurde. Es kam näher, das Geräusch der Schuhsohlen, die auf die Straße trafen. Es war wie in einem meiner Träume, in denen ich rannte, ohne vorwärts zu kommen. Mein Verfolger, der mir immer näher kam. In meinem Nacken spürte ich den kalten Hauch der Furcht. In mir brach Panik aus. Ein wildes Durcheinander aus Gebeten und Beschwörungsformeln, die meine Beine schneller werden lassen sollten. Ich wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Vor allem aber nicht so. Mein Atem überschlug sich. Wohin sollte ich rennen? Schneller! Lauf schneller! Welches Monster verfolgte mich? Vor mir tat sich der Marktplatz auf. Er war menschenleer. Vater! Vergib mir! Beschütze mich! Ich rannte auf ein Licht zu. Im Fenster des Schusters brannte eine schwache Kerze. "Michael!" Ich schrie aus Leibeskräften und warf mich gegen die Tür. "Bitte mach auf! Michael!" Die Sekunden verstrichen. Mein Flehen wurde nicht erhört. Noch einmal warf ich mich gegen das Holz und fiel ungebremst in seine Arme. Verblüfft über die Weichheit des Holzes, blickte ich nach oben. Michael sah mich entsetzt an. "Was um Himmels Willen tust du hier? Weißt du, wie spät es ist?" Ich konnte keine Worte fassen. Stattdessen klammerte ich mich an sein Hemd und brach in Tränen aus. Meine Beine wurden weich und ich war froh, dass Michael mich festhielt. Er fragte, was los sei, doch es war mir nicht möglich zu antworten. Ich zitterte am ganzen Körper. "Megan ... Komm, setz dich hin." Er wollte mich loslassen. Ich schüttelte den Kopf. "Nein", flüsterte ich, "Halt mich bitte fest." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)