Let me be with you... von Vienne (Liebe geht seltsame Wege) ================================================================================ Kapitel 4: More than a feeling ------------------------------ Das Ticken der Wanduhr erfüllte den Raum. Ein einsamer Tropfen verließ den Wasserhahn und tropfte geräuschvoll in das Spülbecken. Man konnte Autos hören, die durch die kleine Seitenstraße fuhren und einen Parkplatz suchten. Irgendwo quietschte ein Gartentor. Der Wind ließ die Blätter des Rhododendron im Vorgarten rascheln. Die Gardinen des geöffneten Küchenfensters wehten leicht. Ikuko saß am Tisch und ihrem Mann gegenüber. Sie beobachtete ihn beim Essen. Es schmeckte ihm. So wie immer. Seit sie geheiratet hatten, kochte sie jeden Abend eine leckere Mahlzeit. Erst nur für ihn. Zwei Jahre nach ihrer Hochzeit auch für Usagi und nochmal drei Jahre später ebenso für Shingo. Doch heute Abend fehlten ihre beiden Kinder. Um Shingo musste sie sich keine Sorgen machen. Der schlief bei seinem besten Freund Masao. Bei Usagi sah die Sache jedoch anders aus: Normalerweise schrieb sie ihrer Mutter eine Nachricht oder rief an, wenn sie bei einer ihrer Freundinnen schlief. Meistens wusste sie das ohnehin schon einen Tag vorher.Spätestens jedoch am Morgen des jeweiligen Tages. Aber weder gestern noch heute Morgen hatte sie einen Ton darüber verloren. Ikuko hatte nur am frühen Nachmittag erfahren, als Usagi aus der Schule zurück und noch nicht im Crown war, dass sie gegen vier noch einmal zu Mamoru wollte. Auch wenn dieser heute keine Mitschriften bekam, wollte sie ihm zumindest ein wenig Gesellschaft leisten. Die nachdenkliche Frau blickte verstohlen zur Wanduhr. Es war gleich acht. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wo ihr Kind war. Ihr Bauchgefühl verriet ihr, dass es ihr gut ging. Und trotzdem hätte sie zumindest gern gewusst, warum Usagi nicht zum Essen zuhause war. Wo sie war, wusste Ikuko ohnehin. “Wo sind die Kinder?” Erschrocken blickte Ikuko zu ihrem Mann, der sie kauend ansah. Schnell sammelte sie sich und zeigte ihm ihr strahlendes Lächeln: ”Shingo schläft bei Masao und Usagi bei Naru.” “Bei Naru?”, Kenji sah sie skeptisch an. “Ja.”, sie klang vorsichtig. “Komisch. Die habe ich eben am Heimweg getroffen. Sie war mit diesem seltsamen Streber Umino unterwegs. Du weißt schon, der kleine Kerl mit braunem Stuwelhaar und dieser großen Brille mit den dicken Gläsern. Und es sah nicht so aus, als wäre unsere Tochter bei ihnen.” ”Sagte ich Naru? Ich meinte Minako.” ”Minako?” ”Ja, ich verwechsel die beiden immer.” ”Wie denn das? Naru hat doch eine ganz andere Haarfarbe als Minako. Verschweigst du mir etwas, Ikuko?” Sie fühlte sich ertappt. In Sekundenbruchteilen wechselte ihre Gesichtsfarbe von purpur zu kalkweiß und wieder zurück. Ihr war klar, dass sie aus der Situation nicht mehr heraus kommen würde. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihrem Mann beibringen sollte, dass Usagi womöglich noch bei Mamoru war. Schon gestern hatte sie Kenji angelogen. Ihm gesagt, dass ihre Tochter bei Ami war, um zu lernen. So wie immer. Es war für ihn schon ohnehin schlimm genug, dass seine Tochter nachmittags bei einem Oberstufenschüler war. Auch wenn sie ihm nur Notizen aus der Schule brachte. Und es war auch vollkommen egal, ob dieser junge Mann auf eine elitäre Schule ging oder nicht. Gerade als Ikuko etwas sagen wollte, klingelte das Telefon. Sie wollte aufspringen, doch ihr Mann war schneller. Blitzschnell war er aufgesprungen und ins Wohnzimmer gerannt, wo das Telefon auf dem Sofatisch lag. Er nahm sofort ab: “Usagi, wo steckst du junges Fräulein?” Seine Frau hörte das sekundenlange Schweigen. Vorsichtig erhob sie sich und ging zu ihm. Blieb jedoch im Türrahmen stehen und sah ihn nur schweigend an. Hoffte, dass ihre Tochter die passenden Worte hatte. Aus dem entstandenen Schweigen heraus, schlussfolgerte sie, dass Usagi nicht mit ihrem Vater gerechnet hatte. Und sie schwieg scheinbar genauso wie ihre Mutter. Dafür ergriff Kenji wieder das Wort: ”Deine Mutter sagte, du schläfst bei Naru. Aber die hab ich getroffen. Zusammen mit Umino. Auf dem Weg ins Kino. Ich gehe davon aus, dass du nicht bei Minako bist, die von deiner Mutter als zweite Übernachtungsmöglichkeit in den Raum geworfen wurde. Also Fräulein, ich höre! Und erzähl mir nicht, dass du bei diesem Mamoru bist.” Wieder folgte ein Schweigen. Ikuko kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum und war kurz davor, wieder das Nägelkauen anzufangen, als Usagi scheinbar doch antwortete. “Makoto? Und das soll ich dir glauben? Gib sie mir mal. – Warum geht das nicht? Ha, du bist doch bei dem Jungen. – Weil sie lacht?”, Kenji blickte zweifelnd drein und dann erstaunt, “Die hat aber eine dreckige Lache. – Wieviel später? – Halb elf Usagi und keine Minute später. – Und das nächste Mal rufst du eher an. – Gut, dann habt noch Spaß und grüß Makoto von uns. – Bis dann.” Ikuko war erleichtert. Auch wenn sie wusste, dass ihre Tochter gelogen hatte, aber so hatte Mamoru noch eine Chance, um weiter zu leben. Zumindest noch ein Weilchen. Sie versuchte so normal wie möglich zu klingen: ”Ach bei Makoto. Na so viele Freunde wie unsere Usagi hat, da kann man mal den Überblick verlieren.” ”Wusstest du, wie dreckig Makotos Lachen klingt?” “Nein.” Er ging an ihr vorbei und zurück an seinen Platz am Küchentisch: ”Ich war richtig erstaunt. Ich glaube, live klingt das noch heftiger.” “Wahrscheinlich.”, Ikuko kannte das Lachen der braunhaarigen Freundin ihrer Tochter. Usagi hatte ihr es einmal vorgespielt, nach dem sie einen Lachanfall mit dem Handy aufgenommen hatte. Und die Frau ging stark davon aus, dass es genau diese Aufnahme war, die ihr Kind eben ihrem Mann vorgespielt hat. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Usagi war wirklich clever. Und trotzdem musste Ikuko morgen dringend mit ihr reden. Sie sah zu ihrem Mann, der wieder mit dem Essen begonnen hatte. Für den Augenblick war er beruhigt. Vorerst. Der Tokyo Tower strahlte in seinem allabendlichen Licht. Ein leichter Wind wehte und die Temperatur war herbstlich. Unten auf der Straße stritten sich zwei Autofahrer um einen Parkplatz. Das Gezeter war bis in den sechsten Stock hinauf zu hören. Ein Lichtschein aus dem Wohnzimmer fiel auf den gekachelten Boden des Balkons. Mamoru stand da und starrte geradeaus. Er hatte sich einen Kapuzenpulli über sein T-Shirt gezogen, weil die Temperaturen gerade so noch zweistellig waren. Beim Ausatmen konnte er schon die Luft sehen, die seine Lungen verließ. Usagis Stimme drang an seine Ohren und das Lachen von Makoto. Er hatte keine Ahnung, was das sollte. Vielleicht würde sie es ihm ja erzählen. So wie sie ihm von ihren Hobbies erzählt hatte und von den Dingen die sie mochte. Immer mehr wurde ihm bewusst, dass er und das Mädchen viel mehr gemein hatten, als er bisher angenommen hatte. Bis heute dachte er immer, dass er und sie so verschieden waren wie Tag und Nacht. Doch es war genau das Gegenteil davon. Er hatte immer gedacht, sie schaut nur Animes und irgendwelche sinnfreien Sitcoms. Laut seufzte er. Erinnerte sich an die Szene, die sich vor kurzem abgespielt hatte: Sie war gestolpert und er hatte sie aufgefangen. Sie an sich gezogen. Ein dünnes Schreibheft hätte noch zwischen sie gepasst. Mamoru hatte schon ihren schnellen Atem auf seinem Gesicht gespürt. Ihre Hände die auf seinen Schultern lagen. Hatte ihre endlos blauen Augen gesehen, die sich nicht von ihm abwandten. Es war schon fast so gewesen wie zwei Tage zuvor im Bus. Und doch ganz anders. Es waren keine dreißig Menschen um sie herum, die sie aufmerksam beobachteten. Niemand der etwas sagte. Nicht mal er selbst und genauso wenig sie. Die Minuten vergingen und doch schien die Zeit still zu stehen. Es war eine merkwürdige Situation. Sie waren sich noch nie so nah gewesen. So nah war ihm nicht einmal Rei gekommen. Mit der hielt er nicht mal Händchen. Das war ihm zu albern. Er erinnerte sich daran, dass sie ihn ein paar Mal umarmt hatte. Doch das Gefühl was er bei Usagis Nähe hatte, war gänzlich anders als bei den Umarmungen. Bei Rei war es ihm unangenehm. Er ertrug ihre Gesellschaft. Nicht aber ihre Nähe. Und bei Usagi? Mamoru fasste sich an seine Brust. Da wo sein Herz schlug. Selbst jetzt, als er nur an die Szene zurück dachte, schlug sein Herz schnell. Viel schneller als normal. Zu schnell. Er schüttelte unmerklich den Kopf. “Ich mach uns noch einen Tee. Okay?”, ihre Worte drangen zu ihm durch. Er drehte sich kurz um, sah sie lächelnd im Rahmen der Balkontüre stehen: ”Okay.” Usagi wandte sich ab und tapste in die Küche. Sie war froh, dass ihr Vater ihre Notlüge geglaubt hatte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass ihre Mutter ans Telefon gehen würde. Ihr hätte sie sagen können, wo sie war. Das sie mit Mamoru noch diese Reisedoku über Italien sehen wollte. Doch wenn das ihr Vater erfahren hätte, wäre er mit Sicherheit höchstpersönlich durch die Telefonleitung gekrochen. Innerlich freute sie sich immer noch über ihre brilliante Idee mit der Tonbandaufnahme. Und sie war froh, dass sich ihr Vater nie Telefonnummern merken konnte. Ihre Mutter hätte sofort gesehen, dass sie nicht von Makotos Telefon aus anrief. Aber ihrem Vater entging so etwas. Sie hatte sich zusammenreißen müssen, als ihr Vater auf das aufgenommene Lachen Makotos angesprungen war. Schlussendlich ging alles gut. Die Frage war nur noch für wie lange. Sie setzte Wasser zum Kochen auf und nahm sich zwei Tassen aus dem Schrank. Legte Teebeutel hinein und lehnte sich dann an die Küchenzeile. Ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell und sie hoffte, dass Mamoru es nicht hören konnte. Sie war ihm viel zu nahe gekommen. Viel zu nah. Ja, es war ihr Fehler gewesen. Sie hätte auch die Augen aufmachen und auf die Teppichkante achten können. Es war ihre eigene Tollpatschigkeit, die sie da hinein manövriert hatte. Und nun bekam sie die Szene nicht mehr aus ihrem Kopf. Das Mädchen hatte keine Ahnung, wie lange sie sich so nah gewesen waren. Wahrscheinlich war es nur eine, höchstens zwei Minuten gewesen. Doch es hatte sich angefühlt wie eine kleine Ewigkeit. Kurz hatte sie sogar den Drang gehabt, ihm über die Wange zu streichen mit den Fingern. Seine Lippen zu berühren. Aber das ging nicht. Auch wenn er nicht fest mit Rei zusammen war, so gingen sie doch hin und wieder aus. Außerdem war es egal, ob er ihre Freundin liebte oder nicht. Denn Rei tat es. Und da hatte sie, Usagi, nichts in dieser seltsamen Beziehungskonstellation zu suchen. Ohnehin fragte sie sich, warum sie sich überhaupt darüber Gedanken machte. Sie wollte ja nichts von Mamoru. Zwar musste sie zugeben, dass sie ihn nicht mehr ganz so doof und blöd fand. Aber verliebt war sie ganz sicher nicht in ihn. Vielleicht bauten sie sich gerade eine Freundschaft auf. Was ja nicht schlecht wäre, dass musste Usagi selbst zugeben. Doch zusammen sein. So richtig als Beziehung. Mit Händchenhalten und Küssen und noch mehr. Nein. Nicht Mamoru. “Nicht Mamoru.” “Was ist mit mir?” Erschrocken schaute sie auf. Der junge Mann stand in der Tür und sah sie fragend an. “Ach nichts.” ”Du hast doch gerade gesagt ‘Nicht Mamoru’.” “Das war wegen meinem Vater. Er war eben am Telefon. Ich hab ihm gesagt, ich wäre bei Makoto.” ”Deswegen die Aufnahme von Minakos Geburtstag.” “Ja genau. Wenn er wüsste, dass ich noch mit dir zusammen fernsehen will, hätte er dich wahrscheinlich umgebracht.” ”Oh.”, er schreckte ein wenig zurück. “Genau. Und darüber hab ich gerade nachgedacht. Anscheinend laut, wenn du es gehört hast.” “Ja hab ich.” “Macht nichts.”, sie lächelte ihn an, “Warum bist du hier? Willst du mir helfen?” “Es wurde langsam kalt draußen.” “Achso.” Usagi versuchte ruhig zu bleiben, als er sie direkt anschaute. Wieso kamen ihr seine Augen plötzlich so blau vor? So endlos wie das weite Meer. Ihre Finger krallten sich ein wenig im Holz der Arbeitsplatte hinter ihr fest. Sie war kurz davor, sich in ihnen zu verlieren. Und die Tatsache, dass er auch noch näher kam und seine Hand auf ihre vor Verlegenheit glühende Stirn legte, machte es nicht besser. Sie betete, dass er ihr Herz nicht hörte. Ihre Stirn fühlte sich warm unter seiner Hand an. Langsam, fast schon in Zeitlupe, ließ er seine Hand wieder sinken, als sie mit ihren großen blauen Kulleraugen zum ihm auf sah. Ihr Atem war flach. Das konnte er ganz genau hören. Und auch ihm ging es nicht besser. Mamorus Verstand streikte und reagierte auch nicht auf Zurufe seines noch halbwegs vorhandenen Bewusstseins. Sein Unterbewusstsein war ohnehin noch nie zu gebrauchen gewesen und lief mit seinem Herzen Händchen haltend über eine bunte Blumenwiese und sang schnulzige Liebeslieder. Seine Atmung meinte, sich auf ein Minimum reduzieren zu müssen. Nur seine Gliedmaßen arbeiteten dummerweise weiter. Ohne das irgendwer es hätte unterbinden können, wanderten seine Arme links und rechts an ihr vorbei und seine Hände berührten ihre. Auch seine Beine taten, was sie wollten und überbrückten die kleine Lücke zwischen ihm und Usagi. Er war ihr wieder nah. Eigentlich zu nah. Und doch genoss er es. Genoss es viel zu sehr. Sie konnte nicht erneut widerstehen. Vorsichtig entzog sie ihm eine ihrer Hände und hob sie.Vorsichtig glitten ihre Fingerspitzen über seine Wange. Fuhren den Wangenknochen nach und hinab zu seinen Lippen. Usagi wusste, dass es falsch war, was sie hier tat. Es war Reis Platz. Sie war nur die Vertretung. Und doch konnte sie nichts dagegen tun. Mit dem Zeigefinger fuhr sie seine Unterlippe nach. Leckte sich unbewusst mit der Zunge über ihre eigene. Schluckte schwer. Ihre Augen wanderten wieder zu seinen. Sie wirkten jetzt viel dunkler. Während auch ihr Verstand sich verabschiedete bei diesem Anblick, schrie ihr Herz in den höchsten Tönen und das erste Mal in ihrem Leben hatte sie ein angenehm flaues Gefühl in der Magengegend. So sehr sie es auch genießen wollte, so wenig ging es. Sie musste sich ihm entziehen. Sollte es zumindest versuchen. Doch genau das Gegenteil war der Fall: Ihr Körper folgte dem Aufschrei ihres Herzen und näherte sich ihm. Ihre Arme drückten sich ein wenig durch, bis kein Blatt mehr zwischen ihre Körper passte. Sein Gesicht näherte sich ihrem. Sie spürte seinen Atem auf ihren Lippen. Ihre eigenen schienen zu beben. Pulsierten regelrecht. Der Wasserkocher klackte laut. Riss beide aus der Nähe des jeweils anderen. Sie fuhren auseinander. Mamoru sprang hinkend ein paar Schritte zurück zum Türrahmen. Sah sich hastig und wahllos in seiner eigenen Küche um. Usagi drehte sich um und versuchte verzweifelt ihren Herzschlag zu beruhigen. Mit zitternden Händen goss sie den Tee auf. “Ich bin im Wohnzimmer.”, seine Stimme war rau und er sah sie nur nicken. Humpelte ins Wohnzimmer und ließ sich in die Kissen des Sofas fallen. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und anschließend durch die Haare. Ließ sich nach vorne fallen, stützte sich dabei mit den Armen auf den Oberschenkeln ab und blickte in Richtung Fensterfront. Mamoru war froh um den kühlen Abendwind, der zur offenen Balkontüre hinein wehte. Ihm war warm. Eigentlich schon heiß. Bis eben in der Küche glaubte er noch zu verbrennen. Was war das bloß gerade eben? Nein, nicht nur eben. Schon vorher. Als sie über die Kante des Teppichs geflogen war. Als sie auf seinem Schoß gesessen ist. Seit fünf Tagen besuchte sie ihn täglich und ihm kam es vor, als kämen sie sich scheinbar immer näher. Er wollte nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn der Wasserkocher sich nicht gemeldet hätte. Aber er musste auch nicht darüber nachdenken. Ihm war klar, was geschehen wäre. So nah wie sie sich waren. Was tat sie nur mit ihm? Was tat er hier eigentlich mit ihr? Waren sie sich denn so ähnlich, dass sie sich anzogen wie zwei fremdgesteuerte Magnete? “Tee ist fertig.” Erschrocken sah Mamoru zu ihr. Beobachtete sie dabei, wie sie vorsichtig zum Tisch ging. Dieses Mal besonders auf die Teppichkante achtete und ihm dann eine Tasse reichte. “Danke!” “Kein Ding.”, sie lächelte ihn scheu an und hockte sich dann in ihre neue Stammecke des Sofas. “Ich mach mal den Fernseher an. Müsste ja gleich los gehen. Welcher Sender?” ”NHK 3.” Usagi beobachtete ihn dabei, wie er die Fernbedienung nahm und das Programm suchte. Noch liefen Nachrichten. Sie versuchte, ihn nicht zu sehr anzustarren. Musste sich regelrecht von ihm losreisen. Noch immer musste sie an die Situation in der Küche denken. Würde es Rei jemals heraus finden, würde sie ihr den Hals höchstpersönlich umdrehen. Es konnte ja sein, dass ein Teil ihrer Freunde dachte, Rei würde nicht zu Mamoru passen. Kiriko meinte sogar, sie, Usagi, wäre der bessere Typ Frau für ihn. Und doch lag es nicht an Usagi selbst, dass zu entscheiden. Es war eine Sache, die nur ihre Freundin und Mamoru selbst etwas angingen. Er musste ihr das Herz brechen. Nicht sie. Aber selbst dann hätte die Blondine keine Wahl und es gebe keine Weg für sie und ihn. Rei war ihre beste Freundin. Sie konnte sie in solch einem Ausmaß nicht hintergehen. Ganz egal wie ihre eigenen Gefühle für ihn waren. “Dein Tee.” Das Mädchen schreckte aus ihren Gedanken auf und sah sowohl die Tasse als auch Mamorus Gesicht vor sich. Mit zitternden Händen nahm sie den Tee entgegen und gleich einen großen Schluck davon. Er war noch viel zu heiß. “Autsch.” ”Verbrannt?” ”Ja. Aber geht schon.”, winkte sie ab, “Schau, es geht los.” Mamoru wandte sich von ihr ab. Ganz genau darauf bedacht, einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen sich und Usagi zu bringen. Noch einmal würde er diese intime Nähe nicht aushalten können. Nicht widerstehen können. Hartnäckig versuchte er sich auf die Doku zu konzentrieren. “Ich möchte auch mal nach Europa. Und dann auch eine Italienrundreise machen.” Er sah zu ihr. Aber sein Blick wurde nicht erwidert. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er sie betrachtete. In die Kissen gekuschelt und mit der Tasse zwischen den kleinen zierlichen Händen lag sie in der Ecke und genoss das Programm. Er zwang sich dazu, wieder weg und zum Fernseher zu sehen. Er musste sich ablenken. Irgendwie. Es war kurz vor zehn, als Usagi bei Mamoru im Flur stand und sich die Jacke anzog. Die Dokumentation war vor einer Viertelstunde zu Ende gewesen und sie hatte Mamoru noch ein wenig beim Aufräumen geholfen. Jetzt kramte sie in ihrer Tasche und suchte ihr Handy. “Wo hab ich es denn?” “Suchst du zufällig das hier?”, Mamoru hielt es ihr entgegen und sie nahm es ihm ab. Ein Kribbeln durchfuhr ihren ganzen Körper, als sich ihre Fingerspitzen berührten. Vorsichtig schaute sie zu ihm auf. Scheinbar war es ihm genauso ergangen. Sie wurden beide ein wenig rot um die Nasenspitze, bevor sie verlegen zur Seite blickten. “Ich muss dann los.” “Okay. Schaffst du deinen Bus noch?” ”Ich denke schon. Muss ein wenig rennen.” ”Tu dir bitte nicht weh dabei.”, er grinste schief. “Ich versuch’s. Sonst musst du mich dann eben pflegen.” “Hm, mal sehen.” ”Baka!”, sie boxte ihm liebevoll in den Oberarm, “Danke für den schönen Nachmittag und Abend.” ”Ich hab zu danken. Ohne dich wäre ich vor Langeweile wahrscheinlich schon gestorben.” “Bloß nicht.” “Komm gut heim. Und schlaf gut.” ”Du auch.” Er beugte sich kurz zu ihr runter und umarmte sie. Auf die gleiche kurze Art und Weise wie sie ihn. Nur einen Augenblick lang bevor sie sich wieder von einander lösten. “Bis dann, Usa!” ”Bis dann, Mamoru!”, sie drehte sich um und öffnete die Tür. Etwas in ihr verlangte nach einer anderen Verabschiedung. Einer liebevolleren. Doch das Recht, so etwas einzufordern, hatte sie nicht. Mit laut schlagendem Herzen trat sie hinaus in den Flur. Sie ging ein paar Schritte und drehte sich noch einmal zu ihm um. Winkte ihm noch einmal zu, bevor sie in hastigen Schritte zur Treppe lief und die Stufen hinunter rannte. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Was war bloß los mit ihr? Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Plötzlich kam ihm die Wohnung kalt und leer vor. Usagi schien alle Wärme und Freundlichkeit mitgenommen zu haben. Eine Erkenntnis traf ihn wie ein kalter Eimer voll Eiswasser: Sie war wahrscheinlich das letzte Mal hier gewesen. Morgen war Samstag. Keine Schule und folglich keine Hausaufgaben. Sie hatte ihm erzählt, dass sie sich schon mehr oder weniger von Kobajashi verabschiedet hatte. Usagi würde morgen nicht mehr herkommen. Er war wieder alleine. Zumindest vorerst. Wenn man von der Tatsache mit Reis Wiederkehr einmal absah. Und er wusste, dass sie all seinen Bitten zum Trotz am Sonntagnachmittag doch noch vor seiner Türe stehen würde. Sie und nicht Usagi. Er würde das ehrliche gegen das falsche Lachen eintauschen. Charmante Direktheit gegen gekünsteltes Ja-Sagen. Wütend schlug er von innen gegen die Wohnungstür. Was lief hier bloß verkehrt? Sie hatte bis nach Hause geweint. Die Erkenntnis hatte sie hart getroffen, dass sie ihn jetzt wieder mit Rei teilen musste. Das sie schweigen musste, was zwischen ihnen war oder auch fast war. Schniefend schloss sie die Haustüre auf. ”Ich bin wieder da.” Sofort, und für Usagis Geschmack viel zu schnell, standen ihre Eltern vor ihr. Unauffällig versuchte sie ihre Tränen wegzuwischen und schob sich dabei die Schuhe von den Füßen. Hängte ihre Jacke auf. “Wie war’s?”, sie hörte das Mitgefühl in der Stimme ihrer Mutter. Aber sie konnte nicht antworten. Es schossen ihr schon wieder die Tränen in die Augen. Stattdessen hob sie nur kurz die Schultern. “Makoto hat ein echt dreckiges Lachen.” “Ich weiß, Papa.”, sie schob sich an Ikuko und Kenji vorbei. “Es ist noch was vom Abendessen da.” “Ich bin satt. Zuviel Schokolade.” Da war sie. Die nächste und hier im Haus erste Träne, die ihre Wange hinunter floss. “Usagi.” “Alles okay, Mama. Ich bin nur müde. Gute Nacht.”, Usagi eilte die restlichen Stufen hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Sie wollte nur noch alleine sein. Ikuko stand an der Schwelle der Treppe und sah hinauf. Seufzte dabei: ”Ich hab es kommen sehen.” ”Was kommen sehen?”, verwirrt schaute ihr Mann abwechselnd sie an und dann die Stufen hinauf. “Sie hätte Reis Bitte ausschlagen sollen.” “Was? Erklärst du mir jetzt bitte mal, was du da redest! Was hat denn der Besuch bei Makoto jetzt mit Reis Bitte zu tun, diesen Oberstufenschüler zu pflegen.” Kenji hatte seinen Satz gerade beendet, als er sich seiner eigenen Worte in Kombination mit denen seiner Frau bewusst wurde. Entsetzen und Überraschung machten sich in ihm breit. Wie konnte es ihm nur entgehen. Er wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als Ikuko ihn mit sich ins Wohnzimmer zog und ihn in seinem Sessel platzierte. Wie ein Fisch an Land schnappte er nach Luft. “Beruhig dich, Liebling.”, sie lächelte ihren Mann mitfühlend an, “Ich weiß, was in dir vorgeht. Aber du kannst sie nicht ewig vor der Welt da draußen und den Männern verstecken. Usagi ist ein bildhübsches Mädchen und ich muss zugeben, dass ich mich schon seit einer ganzen Weile gefragt habe, wann sie sich endlich mal verliebt.” “Unsere Usagi ist verliebt.” Sie nickte nur. “Sie war gar nicht bei Makoto, oder?”, harkte Kenji vorsichtig nach. “Nein.” “Sie war bei Mamoru, richtig?!” “Ja.” “Dieser Baka! Dem werde ich was erzählen. Meinem kleinen Häschen so das Herz zu brechen.” “Halt! Ich denke nicht, dass es so ist.” “Wie denn dann?” ”Ich hab keine Ahnung. Aber ich glaube, dass Mamoru ein anständiger junger Mann ist. Er wird ihr nichts getan haben.” ”Aber Ikuko, sie weint. Da muss doch was passiert sein.”, er war aufgesprungen, “Ich geh jetzt hoch und rede mit ihr. Und dann knöpf ich mir diesen Mistkerl vor.” Seine Frau war ebenfalls wieder auf den Beinen und hielt ihn fest: ”Nein!” ”Aber warum denn nicht? Mein armes Häschen sitzt oben und weint sich gerade die Augen aus.” “Sie wird es uns schon erzählen. So wie sie es immer getan hat.” ”Warum nicht jetzt?” “Usagi ist das erste mal traurig wegen der Liebe. Bis letzte Woche dachte sie, sie könne Mamoru nicht ausstehen. Dann entwickelt sich binnen Tage eine Freundschaft und ein zartes Liebesband. Unsere Tochter ist wahrscheinlich gerade selbst damit überfordert. Ihre Gefühle überrennen sie wahrscheinlich im Sekundentakt.” ”Du hast ja Recht, Schatz. Nur ich frag mich eines.” ”Hm?” “Usagi ist mit Rei befreundet. Rei ist in diesen Mamoru verliebt. Wenn unsere Tochter sich jetzt auch in ihn verliebt hat, was ist dann mit Rei. Ich meine, Mamoru muss sich ja ohnehin entscheiden, aber wie geht es dann weiter?” ”Das wird die Zeit zeigen.” Usagi saß auf ihrem Fensterbrett. Schaute auf ihr blinkendes Handy und laß die Nachricht von Rei: ”Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn liebe.” Das Mädchen schmiss das Handy auf ihr Bett und schlug die Hände vors Gesicht. Ein Schniefen erfüllte den Raum, gefolgt von einem Schnurren. Luna war zu ihr rauf gesprungen und legte sich in ihren Schoß. ”Was soll ich ihr denn darauf antworten, Luna? Etwa ‘Schön für dich. Aber ich hätte ihn heute fast geküsst.’ So was vielleicht?” Es war das erste Mal, dass sie es laut aussprach. Das sie sich selbst eingestand, dass sie und Mamoru sich fast in der Küche geküsst hätten. Warum war dieses Gefühl nur mehr als ein Gefühl? Nur mehr als Freundschaft. Musste sie wirklich gleich den harten Kurs einschlagen. Gleich von Feindseligkeit auf Beziehung. Von Null auf Hundert in fünf Tagen. Übermorgen würde Rei zurück sein. Usagi musste dann nicht mehr zu ihm. Es war jetzt wieder der Part ihrer Freundin. Sie würde ganz normal nach der Schule ins Crown und dann nach Hause gehen. Sie würde nicht mehr zu Mamoru fahren und mit ihm Tee trinken. Nicht mehr mit ihm Hausaufgaben machen und Schokolade dabei essen. Er musste die jetzt wieder alleine essen. Denn Rei wollte Zitronenbonbons. Die Schlacht, die sie nie begonnen hatte, hatte sie schon verloren. Sie musste abziehen. Das Klingeln ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Doch sie ignorierte es. Es war mit Sicherheit wieder nur Rei, die auf ihre Antwort wartete. Sie ließ es klingeln. Dem Mädchen war nicht nach Reden zumute. Erstens war sie immer noch sauer auf Rei und zweitens war sie immer noch sauer auf Rei. Ihre Freundin bekam immer alles: Gute Noten. Genug Aufmerksamkeit. Mamoru. Usagi musste ja zugeben, dass ihre Freundin schon ewig in den Oberstufenschüler verliebt war. Aber konnte sie, Usagi selbst, denn ahnen, dass er doch nicht das Ekelpaket war, wie sie immer dachte? Das er eigentlich lieb und nett und zuvorkommend und sogar hilfsbereit war. Genervt löste sie ihre Haarknoten. In weichen goldenen Wellen fielen ihr die dicken Haare über die Schultern und den Rücken. Seufzend nahm sie Luna in die Arme und erhob sich. Kroch mit der schwarzen Katze in ihr Bett. Fischte nach dem Handy auf ihrer Decke. Sie sah noch einmal drauf. Das Blinken signalisierte einen entgangen Anruf. Und eine Nachricht. “Von Mina?”, erstaunt öffnete sie den kleinen elektronischen Briefumschlag. “Hallo Süße! Wie war’s bei Mamoru?” “Rei hat ihm gesagt, dass sie ihn liebt.” “Ich weiß. Sie hat mich angerufen. Hat er es dir gesagt?” “Ich hab es gehört, als er mit ihr telefoniert hat.” “Weiß sie, dass du bei ihm warst?” “Nein.” ”Gut, denn ich hab gesagt, du bist bei Naru.” “Okay.” ”Geht’s dir gut?” “Sie liebt ihn, Mina. Warum muss jedes Gefühl immer mehr als einfach sein?!?!” “Ach Süße. Tut mir leid. Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass sie immer noch nicht zum Baka passt?!” “Ein wenig. Egal...ich geh ins Bett. Mach das Handy aus und schlaf mindestens bis eins.” “Tu das. Träum schön.” ”Ich versuch’s. Nacht!” Usagi schaltete das Handy komplett aus, nachdem sie die Nachricht von Rei noch gelöscht hatte. Legte es auf den Nachttisch und löschte das Licht. Ihre Gedanken drifteten ab zu den vorherigen Stunden. Zu Mamoru und seiner Nähe. Es war mehr als nur ein Gefühl. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)