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Oma You

Lady Ruanas Geschichte
von

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Lady Ruanas Geschichte

Es gibt Menschen, die sind einfach da.

Waren wahrscheinlich schon immer da und werden auch für immer da sein.

Nicht das diese Menschen sonderlich auffallen, Oh nein!

Eher sind sie unsichtbar. Einfach, weil sie immer am selben Ort sind. Wie die neue Bank, vorne ab der Kirche.

Die ersten paarmal, wenn man vor rüber geht, sieht man sie noch. Nimmt sie wahr und denkt sich 'Ui! Was für eine hübsche neue Bank!' Aber irgendwann... Sieht man sie nichtmehr. Sie gehört dann einfach vor die Kirche, genau so, wie dort der Brunnen mit den drei hässlichen Wasserspeiern hingehört der seit fünfhundert Jahren dort steht.

Und ebenso ist es mit den Menschen.

Begegnet man jemandem das erste mal um Punkt neun am Samstag auf dem Weg zum Bäcker, so mustert man ihn unauffällig und überlegt wo der wohl herkommt. Doch begegnet man dieser Person jede Woche auf dem Weg zum Bäcker, so wird dieser jemand unsichtbar. Ist dann nicht mehr als eine Bewegung im Augenwinkel. Und nur an manchmal, an einem besonders fröhlichen oder besonders traurigen Tag oder einfach aus Zufall nimmt man ihn wieder wahr.

Und genau so, genau so, war es mit Oma You.

Oma You wohnt in dem alten, stillgelegten Bahnhof hinter meinem Haus.

Zwischen meinem Haus und dem Bahnhof ist allerdings auch noch eine große Wiese, deren Bäume im Frühling bis Herbst den kleinen Bahnhof verstecken.

Oma You ist eine kleine, zierliche Frau mit langen, glatten, weißen Haaren, die sie im Nacken zu einem Knoten gebunden trägt. Ihre grünen Augen funkeln wie die eines Kindes, obwohl ihr Gesicht längst in tiefen, freundlichen Falten liegt. Oft verdeckt sie ihr ebenso junges Lachen hinter dezent vorgehaltener Hand. Wie alt Oma You ist, weiß keiner.

Sie trägt immer einen Kimono. Schwarz ist er, mit rosa Kirschblüten darauf. Nur sagt Oma You nicht 'Kirschblüten' sondern 'Sakura'.

Und wären wir in Japan, so wäre das alles auch nicht sonderlich verwunderlich. Da wäre sie vielleicht 'Die alte Dame von Gegenüber, die die alten Traditionen liebt'.

Man würde vielleicht den Kopf schütteln oder sie leicht belächeln. Mehr aber auch nicht.

Aber wir sind nicht in Japan. Und Oma You ist keine Japanerin.

Sie weiß kaum etwas über das Land und kann eigentlich auch kein Japanisch. Ich glaube, neben Kimono kennt sie nur wenige Japanische Worte.

Hime, yume, kami, sakura und eben Kimono.

Prinzessin, Traum, Gott, Kirschblüte und Kimono, also Gewand. Das sind eigentlich alle.

Außer diesen Worten kennt sie nur noch einige Ortsbezeichnungen. Koyoto, Osaka, Negoya und Tokyo. Aber nur die Namen und ganz entfernt was sich dahinter verbirgt.

Die einzige, echte Verbindung zu Japan hat sie nur durch ihren Kimono.

Und sie besitzt das Lächeln, das sich viele bei Japanern vorstellen. Nett, höfflich und einfach entwaffnend. Mit diesem Lächeln empfängt sie jeden, der zu ihr kommt.

Von Frühling bis Herbst sitzt sie draußen auf ihrer Bahnsteig-Terrasse, beobachtet die Eidechsen, die auf dem zu gewucherten Gleisen herum klettern, wippt in ihrem Schaukelstuhl, trinkt vornehm Tee aus einer der hübschen Tassen, von denen immer wenigstens vier auf dem stählernem, weiß lacierten Beistelltischchen stehen; und ab und zu sieht man sie ein Stückchen Torte essen. Auf dem Bahnsteig stehen außerdem auch immer noch einige leere Stühle bereit und eine Bank, auf der sich die Kissen türmen.

Und, egal wann man zu ihr kommt, Lady Ruana ist immer bei ihr.

Lady Ruana sieht aus wie eine Mischung aus Hase und Eisbär. Ihr Fell ist kurz und flauschig weiß, ihre Pfoten rund und pummelig, aber ihre Ohren lang wie die eines Hasen. Auf der linken Brust hat Lady Ruana einen Flicken aufgenäht, rot wie geronnenes Blut ist er. Ein Auge von Lady Ruana ist lediglich ein großer, schwarzer Knopf, währen das andre fast schon lebendig glänzt. Insgesamt bringt es Lady Ruana sicherlich auf stattliche 30cm Körpergröße.

Manchmal ist sie größer, wenn Oma You ihr einen kleine. Hut aufsetzt oder ihr eine riesige Schleife umbindet.

Lady Ruana sitzt entweder auf Oma Yous Schoss, lümmelt auf ihrem eigenen Stuhl oder sitzt elegant auf dem Tischchen.

Oma You gibt Lady Ruana nie anderen Leuten auf den Arm. Wahrscheinlich, weil Lady Ruana mitunter der Grund ist warum die Leute Oma You für verrückt halten. Manche munkeln sogar, sie sei aus der Klappse ausgebrochen. Um so erstaunter war ich, als Oma You mir eines Tages, als ich sie wie so oft besuchen kam, Lady Ruana entgegenstreckte, und mir mit ihrer leicht rauen, eingerosteten Stimme erklärtet "Lady Ruana möchte heute bei dir sitzen!"
 

In dem Moment bemerkte ich, das ich gar nicht genau wusste, wie unsere Freundschaft, so konnte man das wohl bezeichnen, begann.

Oma You war einer von diesen unsichtbaren Menschen.

Sie war da, ohne da zu sein.

Und ich glaube, ich habe sie erst damals richtig wahrgenommen, als ich, übermüdet und vollkommen fertig den Schulbus verließ und in den Nieselregen trat.

Eigentlich soweit ganz normal.

Bloß diesmal mischte sich ein Geräusch unter das sanfte, leise prasseln des Regens, das selbst so prasseln war das ich es fast überhört hatte. Und als ich suchend aufsah, sah ich in Oma Yous glitzernde Augen.

Oma You saß auf ihrem Bahnsteig und wippte fröhlich in ihrem Schaukelstuhl hin und her, ungeachtet des schlechten Wetters.

Ihre grünen Augen leuchteten mich so ermunternd an und ihr Lächeln war so entwaffnend und einladend, das ich nicht anders konnte, als zu ihr hinüber zugehen. Sie nickte mir freundlich zu und zog Lady Ruana, die auf einem Stuhl neben dem ihren gesessen hatte, an der Pfote hoch. „Das hier ist Lady Ruana.“ Sagte sie mit leicht seltsam klingender Stimme zu mir.

„Und ich bin Youanka von Habenstein, aus Japan. Genaugenommen stamme ich aus Osaka, dem Palast Bezirk im Mittelpunkt Kyotos. Sie nickte mir noch einmal freundlich zu. „Willst du dich nicht setzen?“

Natürlich bemerkte ich, nachdem ich nach Hause gegangen war schnell, das die Angaben ihres Heimatortes nicht stimmten.

Zwar gab es die drei ‚Orte‘… aber es waren Städte, du keine in einander geschachtelten Stadtteile, wie sie behauptet hatte. Nur das es in Kyoto einen Palast gab, stimmte.

In dem Moment, damals auf dem Bahnsteig, war es mir allerdings vollkommen egal gewesen. Ich war schlichtweg von ihr fasziniert. Als sie mich nach meinem Namen fragte, rasselte ich ihn inklusiv Zweitname und Nachname herunter. Sie musterte mich amüsiert und meinte, dass mein Name sehr schön sei.

Allerdings sprach sie mich nie mit ihm an.

Sondern, wenn sie mich schon einmal richtig ansprach, dann nur mit ‚Fee‘.

Ich weiß nicht, warum.

Aber Fragen stellen hat bei ihr kaum Sinn. Denn sie übergeht sie meistens. Oder manchmal kommt auch erst Stunden später eine Antwort, oder auch nie. Und oft antwortet sie auf dieselbe Frage jedes Mal etwas anderes.

Häufig wirkt es auch so, als würde man sie nach der Begrüßung mit einem banalen ‚Wie geht es dir? ‘ so aus der Fassung bringen und sie aus tiefschürfenden Gedanken reißen, das man versucht solche nichtigen Fragen garnichtmehr zu stellen.

Aber wenn sie etwas erzählt, dann kann man ihr Fragen stellen so viel man will. Je tiefgründiger sie sind, desto besser. Denn desto mehr scheint sie darauf vorbereitet zu sein. Und man kann auch eher eine sinnvolle und logische Antwort erwarten.

Bekommt man auf die Frage ‚wie gefällt dir das Wetter heute? ‘ Beispielsweise nach fünf Minuten ein, leicht verwirrtes ‚Der Wind pfeift auf der Teekanne, ich glaube, er will heute nicht mit den Wolken spielen…‘ als Antwort; und das, obwohl der Himmel strahl blau ist und sich kein Lüftchen regt. Im Gegensatz dazu bekommt man auf die Frage ‚Was ist der Sinn des Lebens? ‘ Nach kaum einer Minute eine Ausführliche Argumentation mit These und allem Drum und Dran.

Ich weiß nicht, woran das liegt. Und bis heute habe ich auf meine Frage ‚warum hast du damals gelacht, als ich aus dem Bus gestiegen bin? ‘ keine echte Antwort bekommen. Sie beantwortet nur Fragen, die ihr wichtig genug zu sein scheinen.

Ich sitze oft bei ihr auf dem Bahnsteig. Es ist schön, dort im Schatten.

Manchmal mache ich meine Hausaufgaben dort. Auch wenn Oma You dann darauf besteht, das ich ‚Bahnsteigaufgaben‘ darüberschreibe. Meistens tue ich ihr den Gefallen, was mir schon einige irritierte Blicke der Lehrer eingefangen hat. Aber ich halte es nicht für nötig, sie aufzuklären. Schließlich habe ich meine Arbeit gemacht, und das is doch das einzige, was zählt.

Manchmal bringe ich auch ein Buch mit, und verbringe den Nachmittag einfach damit, neben ihr zu sitzen und zu lesen. Manchmal leiht sie sich die Bücher von mir aus

Und ein, zweimal, hatte ich auch schon einen Manga dabei. Ich glaube, die haben Oma You gefallen. Oder ich habe mein Zeichenzeug dabei und zeichne friedlich vor mich hin. Das geht auch nirgends besser, als in ihrer Nähe.

Nicht selten gehe ich allerdings einfach nur zum Bahnsteig und sitze schweigend neben ihr. Lausche auf die Geräusche die um uns herum erklingen.

Am Anfang habe ich einige male versucht Oma You etwas zu erzählen. Aber Oma You ist keine gute Zuhörerin. Am Anfang hat es mich frustriert, das wenn ich etwas erzählt habe und mittendrin hat sie mich plötzlich etwas gefragt, dass komplett Zusammenhang los war. Aber inzwischen habe ich begriffen, das ich er entweder gleich für mich behalte, oder in Gedanken alles Lady Ruana erzähle. Das hat mehr Sinn.

Oma You kann zwar nicht gut zuhöre, aber dafür umso besser erzählen.

Beziehungsweise, ich glaube schon das sie gut zuhören kann… bloß auf andere Art und Wiese. Sie mag dabei nicht angesprochen werde. Denn wenn ich traurig bin und zu ihr komm schweigt sie manchmal, auf irgendeine unerklärliche Weiße aufmerksam, und nach einiger Zeit nickt sie dann Lady Ruana wissend zu. Daraufhin beginnt sie dann eine Anekdote aus ihrem Leben zu erzählen, die jeden in meiner Stimmung aufheitern würde.

Ihre echte Stärke ist aber eben nun mal das erzählen.

Dabei ist ihre Stimme nicht sonderlich angenehm, ja, man würde sogar so weit gehen und behaupten sie wäre unangenehm. Immer leicht knarzig und eingerostet, als hätte sie ewig nicht gesprochen. Dazu kommt noch das ihre Stimmer leicht rauchig ist und bei weitem tiefer als man erwarten würde, bei ihrer Erscheinung. Aber irgendwie, ist es genau diese Stimme, die einen gefangen nimmt. Und dann hörte man ihr zu. Dann sitzt sie immer weit zurückgelehnt in ihrem Stuhl, wippte hin und her, mit halbgeschlossenen Augen, die Hände in ihrem Schoß und über Lady Ruanas Bauch verschränkt und erzählte. Meist aus ihrem Leben. Und je länger und öfter man ihr zuhört, desto tiefer versinkt man in ihrer Welt.

Am Anfang versuchte ich mir noch jedes ihrer Worte zu merken und es genau zu verstehen; und bemerkte, wie oft sie schlicht weg Blödsinn erzählte. Aber ich hätte es nie gewagt ihr ins Wort zu fallen oder sie zu verbessern; ihre Worte in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Musste ich auch nicht, denn was sie mir erzählte musste ja nicht wahr sein.

Mir kam es auch nie in den Sinn auch nur eine von Oma Yous Geschichten weiter zu erzählen. Ich lauschte einfach nur auf ihre leisen Worte, sog sie in mir auf und wünschte mir manchmal, dass sie wahr währen.

Ich genieße jede Minute bei Oma You, mit ihrem Jasmine, Kirschen und sonst was Tee; ihren Torten, Keksen und Cupcakes. Bis ich eben eines Tages wieder zu ihr kam.
 

Und eigentlich war alles so wie immer. Oma You saß in ihrem Kimono im Schaukelstuhl, lächelte mir entgegen und wirkte wie immer vollkommen ausgeglichen und glücklich.

Nur streckte sie mir anstelle einer Begrüßung Lady Ruana entgegen und erklärte: „Lady Ruana möchte heute bei dir sitzen!“

Sie sah mich mit großen, leuchtenden Augen an. Vorsichtig und leicht verwundert nahm ich Lady Ruana an und setzte sie mir, nachdem ich mich selbst niedergelassen hatte, auf den Schoß.

Lady Ruana war unerwartet schwer, fast wie ein echter Hase und massiv, fast so, als würde sie aus Fleisch und Blut bestehen. Allerdings auch wieder so weich und plüschig, das das unmöglich war. Lady Ruana war warm, als hätte sie Stunden in der Sonne gesessen, dabei lag der ganze Bahnsteig im Schatten. Oma You schon mir eine Tasse hin. „Trink den, den mag sie an liebsten!“

Sie lächelte Lady Ruana und mich fröhlich an.

Manchmal kahm ich mir vor wie Alice im Wunderland.

Ich war Alice, Oma You der verrückte Hutmacher und Lady Ruana das Murmeltier. Fehlte nur noch der Märzhase…

Bei Oma You war es auf jeden Fall eine ähnlich verrückte, liebenswürdige Teegesellschaft.

Während ich so schweigend neben Oma You saß und Lady Ruana hinter den Ohren kraulte, was diese angeblich besonders gerne mochte, fiel mir auf einmal auf, wie wenig ich über Lady Ruana wusste. Da ich Lady Ruana inzwischen fast selbst für ein eigenständiges Wesen hielt, fragte ich, seit langem das erste mal wieder ohne lange über meine Worte nach zu denken „Wie ist Lady Ruana eigentlich zu die gekommen?“
 

Das ist etwas, neben zuhören, das ich von Oma You gelernt habe.

Gründlich über Fragen nach zu denken, bevor ich sie stelle. Seit ich Oma You besuche bin ich ruhiger und überlegter geworden.

Und fast hätte ich erwartet, das Oma You meine Frage übergehen. Denn eigentlich ist diese Frage sehr banal.

Was antwortet man den schon darauf?

Geschenkt bekommen.

Gekauft.

Gefunden.

An der Schießbude auf dem Jahrmarkt ergattert.

Gelost.

Eine widerlich banale Frage.

Aber Oma You hob nur langsam den Blick und sah mich nachdenklich an.

Aber es war nicht der nachdenklich-verwirrte Blick, den ich immer erntete, wenn ich sie nach ihrer Meinung zu Wetter fragte. Sondern… anders eben. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem wehmütigen Lächeln.

„Lady Ruana ist ein Geschenk…“ murmelte sie leise. Sie setzte sich aufrecht hin, versteckte die faltigen Hände in ihrem Schoss und schloss die Augen halb.

Einsam und verloren sah sie aus; ohne Lady Ruana. Kleiner als sie so wie so schon war. Ich überlegte gerade, ob ich ihr Lady Ruana zurückgebe sollte, da begann Oma You zu erzählen.
 

„Vor vielen, vielen Jahren war ich einmal in einem fahrenden Theater zu Gast. Ich hatte einen weiten Weg zurück zu legen und das Glück, das ich dem Theater begegnete und die Leute des Theaters mich ein Stück des Weges mitnahmen. Ich durfte hinten auf einem der Wägen sitzen und musste aufpassen, dass keiner der Gegenstände, die auf diesem Wagen lagen, hinab fiel, denn die Straße war schlecht, steinig und uneben. Nachts schlief ich unter eben jenem Wagen. Das war vielleicht nicht das beste Nachtlager, aber es war durchaus besser als alleine durch die Gegend zu ziehen. Und bei weitem weniger gefährlich.

Wenn wir irgendwo anhielten um aufzutreten, musste ich helfen das Zelt und die Bühne aufzubauen, mich während der ganzen Vorstellung aber von den Theaterleuten fernhalten. Und trotzdem genoss ich es mit der Gruppe zu reisen.

Sie waren vielleicht etwas seltsam, aber freundlich und um so viel spannender als die Leute ich von früher gekannt hatte. Einige von ihnen brachten mir auch etwas bei.

Eine Junge Akrobatin lehrte mich das jonglieren und ein alter, bereits grau gewordener Mann zeigte mir, was wirklich hinter den Zaubertricks steckte, die er auf der Bühne vorführte. Nur in den Nächten war es manchmal einsam und alleine…“
 

Oma You lächelte, als würde sie sich an den klaren Sternenhimmel erinnern.
 

„und ich beneidete die Schauspieler um ihre Betten in den Wägen. Aber, wenn der Himmel Sternenklar war, wollte ich nicht mit ihnen tauschen.

Eines Nachts war es besonders schön. Ich hatte mich auf den Boden neben den Wagen gelegt und sah in die Sterne, als sich plötzlich etwas hinter mir regte. Die Tür von einem der Wägen schwang leise auf und ich hörte Schritte die drei Stufen hinunter kommen. Ich setzte mich auf und sah mich um.

Ein Junge, etwa in meinem Alter, ging langsam über den Weg. Seine Schritte waren unbeholfen, ab und zu taumelte er leicht, als wüsste er nicht wie man gehet. Seine Augen waren in den Himmel gerichtet.

Doch plötzlich lösten sie sich vom Himmel, streiften mich und schließlich sahen sie mich an. Er zuckte kurz zusammen. Ich nickte ihm freundlich zu. Ich wunderte mich, das ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte… schließlich war ich schon gute zwei Wochen mit dem Theater unterwegs…

Er blieb noch eine Weile in einiger Entfernung stehen, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann setzte er sich auf den Boden. Nach einiger zeit wurden mir seine neugierigen Blicke unangenehm. Ich wank ihn zu mir her. „Komm doch her…“ Wenn er mich etwas fragen wolle, sollte er doch. Und nicht ewig aus der ferne her schauen.

Er stand zögerlich auf und setzte sich neben mich. Sein Gesicht wurde vom Mond beschienen. Er war fast überirdisch schön. Seine Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz. „Du bist also die, von der sie erzählen…“ meinte er mit leisem Lächeln. „Ich hab dich an deiner Stimmer erkannt… Ich bin Keran.“ Ich nickte ihm zu. „Ich bin Youanka. Oder einfach You. Wie kommt es, das ich dich noch nie gesehen habe, also, im Theater? Du gehörst doch dazu, oder?“ Keran nickte. „Ja, der Direktor ist mein Vater. Ich kann Tagsüber nicht raus. Meine Haut verträgt nicht das geringste bisschen Sonne…“ er starrte traurig auf seine blassen Finger. „Es fühlt sich an, als würde ich verbrennen…“ Er seufzte leise. Dann schnellte sein Kopf in die Höhe. „Du verrätst mich doch nicht?!? Ich darf nicht nach draußen. NIE.“ fragte er panisch. Ich schüttelte den Kopf. Warum sollte ich auch? Wer wollte denn bitte schon ewig in diesem winzigen Wagon sein? Erleichtert lies er sich nach hinten sinken. Er sah sehr zerbrechlich und schwach aus und er tat mir furchtbar Leid.“
 

Oma Yous Augen blickten gerade Wegs durch mich hindurch. Irgendwo in eine vergangene Zeit. Ich erschauderte und drückte Lady Ruana fester an mich.
 

„Keran und ich sahen uns seitdem öfter. Immer öfter traute er sich aus dem Wagen zu schleichen und dann saßen wir im kalten Mondlicht und redeten. Eine romantische Vorstellung, nicht?“

In Oma Yous Augen schwammen Tränen und ein lächeln zierte ihre Lippen.

„Es waren seltsame Unterhaltungen. Er sprach nicht viel, dabei war seine Stimme so schön und sanft… Aber er mochte reden nicht. Und am allermeisten hasste er Fragen, die sinnlos waren. Ich vermute, es lag an den vielen besuchen der Ärzte, von denen ihm keiner hatte helfen können. Und so saßen wir häufig auch einfach nur nebeneinander oder er hörte zu, wie ich ihm erzählte. Er konnte gut zu hören… Und eines Tages erzählte ich ihm, dass ich bald alleine weiter ziehen müsse. Er reagierte kaum darauf. Nickte lediglich knapp. Aber ich glaube, es hat ihm nicht gefallen. In einer der letzten Nächte tauchte er, wie immer lautlos wie eine Katze, aus den Schatten der Wohnwägen auf und setzte sich neben mich. Irgendetwas schien ihn zu bewegen und beschäftigen. Seine sonst so ruhigen, schlanken Finger spielten mit den langen, drahtigen Grashalmen. Er wand den Kopf zu mir. „Warum träumen die Menschen?““
 

Oma You hatte die Hände auf ihrem Schoss liegen, gerade so, als würde sie etwas sehr Empfindliches, Gebrechliches darin aufbewahren und festhalten. Etwas, das kostbarer war als alles andere auf der Welt. Und für einige Minuten war es still um uns. Erst jetzt bemerkte ich dass die Sonne bereits untergegangen war und ein sanfter Wind über den Bahnsteig wehte. Ich traute mich nicht etwas zu sagen oder mich zu bewegen, bevor Oma You nicht wieder zu erzählen begonnen hatte. Und das tat sie auch.
 

„Er stellte oft Fragen Gute fragen. Und das war, wie soll ich es sagen… Wohl eine seiner besten.

Warum träumen Menschen?

Vielleicht ist das die wichtigste Frage der Menschheit überhaupt. Ich wusste es nicht, damals. Und ich weiß es auch heute nicht. Also zuckte ich hilflos die Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Sagte ich ehrlich. Aber Keran schien mir nicht zu zuhören. „Warum träumen die Menschen von Dingen, die sie nie erreichen können? Warum wollen sie fliegen, aus eigener Kraft? Warum träumen sie vom ewigen Leben?“ Er verzog verbittert das Gesicht. „Warum träumte ich vom Sonnenaufgang?“ Ich erschauderte. Er hatte die Worte nur leise gewispert und mit solch einer Traurigkeit, die mich fast um den Verstand brachte. Hoffnungslos. Er saß zusammen gesunken neben mir im Schatten des Pfirsichbaumes und sah zum Mond. Schließlich fragte ich ihn. „Warum träumte?“ Sein Blick war noch eine Ewigkeit auf den Mond gerichtet, dann drehte er den Kopf zu mir. „Träume verändern sich. Sie sind wie Schnee. Verformen sich leicht, und irgendwann tauen sie. Und dann ist nichts mehr da und sie sind weg. Mein Traum ist getaut. Es wird keinen Sonnenaufgang geben. Nicht für mich.“ Ein verbitterter Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Aber… ich habe einen neuen Traum.“ Er lächelte. Die Augen halbgeschlossen und in den Himmel gerichtet. “Du bist mein neuer Traum. Ich wünschte, ich wäre wie du.“ Er drehte das Kopf wieder weg und ich wusste nicht was ich sagen sollte. Also sagte ich nichts. Und es schien richtig zu sein. Es war meine letzte Nacht bei dem Theater.

Und was er gesagt hatte... das hat mir geholfen immer. Immer ich selber zu bleiben... So wie ich damals war... mit 15. Und immer wenn ich daran zweifelte musste ich nur an Keran denken... seine schwarzen Haare, die roten Lippe und seine weiße Haut..."
 

Oma You lächelt glücklich.

15. Ja... so könnte man sie durchaus schätzen...
 

"Und als der Tag anbrach, und man die ersten strahlen der Sonne weit entfernt am Horizont sah, umarmte ich Keran und versprach im das ich wieder kommen würde. Er lächelte nur traurig, wissend. Dann drückte er mir Lady Ruana in die Hand. „Verliere sie nicht.“ Murmelte er leise. In seiner anderen Hand hielt er ein Wesen, das genau so aussah wie Lady Ruana, nur schwarz wie die Nacht. Und an Lady Ruanas Brust war ein Flecken, schwarz wie das Fell des anderen Wesens. Der Flecken auf der Brust des anderen Tieres, Keran hatte es Traum getauft, war weiß. Ich war mir sicher, dass er die beiden selbst gemacht hatte. Ich wusste, dass er gut mit Nadel und Faden umgehen konnte. Er hatte es mir eines Tages erzählt. Er lächelte mich noch einmal sanft an, drehte sich um und verschwand in seinem Wagen. Und am nächsten Morgen brach ich auf, in der nächst größeren Stadt.“
 

Ich erwartete schon fast das Oma Yous Geschichte zu Ende war. Aber das war sie nicht, denn Oma Yous Blick war immer noch weit entfernt von der Wirklichkeit.
 

„Und einige Wochen später entdeckte ich das Lady Ruana ein schlagendes Herz besaß.

Es war eine kleine Uhr, wie ich nach einiger Zeit bemerkte, die unter dem schwarzem Flicken tickte und seelenruhig die Stunden zählte ohne je zu irgendeiner anderen Uhr zu passe.

Und eines Tages verstummte die Uhr und der Flicke färbte sich blutrot. Ich glaube, das war der Tag, an dem ich verstand, warum sie ein Herz besaß. Was für eine Bedeutung die Uhr hatte. Es war seine Uhr. Seine Lebensuhr. Und nun stand sie still. Keran war Tod. Und ich… ich hatte mein Versprechen gebrochen.“
 

Damit endete die Geschichte. Wir saßen uns noch einige Minuten schweigend neben einander und starrten in die Dunkelheit, die zwischen den Bromberanken des Bahnsteigs empor zu kriechen schien. Nach einiger Zeit gab ich ihr Ruana zurück und machte mich auf den Weg nach Hause.

Jeder, vernünftige, würde sich wohl Gedanken über das machen, was Oma You erzählt hatte. Wie das funktionieren könnte. Ob es überhaupt möglich wäre. Aber ich tat es nicht.

Wieso auch? Ich glaube nicht, dass sie mich angelogen hat. Auch wenn es für den Roten Fleck auf Lady Ruanas Brust sicher einen anderen Grund gab, als ein stillstehendes Herz. Und sollte der Fleck wirklich aus Ruanas innerem kommen, dann war in ihr wahrscheinlich eine Farbpatrone ein genäht gewesen und die war geplatzt, aus welchem Grund auch immer.

Aber ich wollte mir darüber keine Gedanken machen. Wollte nicht dass diese Geschichte unwahr sein könnte.

Ich forschte lediglich nach der Krankheit des Jungen, Keran, und stellte fest, dass er wohl ein Mondscheinkind gewesen war. Mondscheinkinder sind sehr empfindlich der Sonne gegenüber. Und da er aus diesem Grund nie in der Sonne war, musste Oma You seine Haut im Mondlicht so hell erschienen sein.
 

Und nach einiger Zeit hatte ich, wie es halt so ist, die Geschichte vergessen.

Und nur zufällig fiel sie mir Jahre später wieder ein.

Oma You lebte immer noch in dem Alten Bahnhof und ich besuchte sie auch noch sehr häufig, da entdeckte ich im Internet etwas, das mich zurück auf diese Geschichte brachte.

Meine Cousine, die Leidenschaftlich Plüschtiere sammelt, hatte Geburtstag. Also suchte ich auf ebay nach einem passenden Tier. Und da entdeckte ich ein Plüschtier, das so aussah, wie ich mir ‚Traum‘ vorgestellt hatte. Ohne zu überlegen bestellte ich das Tier.

Ich glaube, der Verkäufer hat sich gewundert, dass er es losgeworden ist. Das Fell ist speckig und irgendwie zerrupft und seine Augen sind matt. Nur der Flecken auf seiner Brust ist schneeweiß.
 

Nachdem ich das Tier bekommen und gewaschen hab nehme ich ihn mit zu Oma You.

Das Treffen fällt sehr kurz aus und Oma You versichert mir immer wieder dass das wirklich Traum ist.

Lady Ruanas Gegenstück.

Und als wir uns trennen sitzen die beiden eng nebeneinander in die Kissen der Bank gelehnt.

Traum und Lady Ruana.

So wie zwei alte Freunde, die sich seit langen nichtmehr gesehen haben und sich viel zu erzählen haben.

Am nächsten Tag kehre ich zurück. Von Oma You ist keine Spur zu sehen, auf dem Bahnsteig.

Nur Lady Ruana und Traum sitzen da, wie am Nachmittag zuvor.

Nur ist der Flicken auf Traums Brust nichtmehr weiß wie Lady Ruanas Fell, sondern rot.

Rot, wie Blut…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  AliceNoWonder
2015-04-18T07:54:26+00:00 18.04.2015 09:54
Hey, erst mal danke für deinen Beitrag :D
Deine Geschichte finde ich wirklich mega Interessant. Ich finde schön, dass man überhaupt nicht weiß worum es geht, bis zum Ende. Was mir auch gut gefallen hat, dass du erst später aufgeklärt hast, was der Begleiter von Oma You ist. Ich habe mir alles Mögliche überlegt, ne richtige Katze oder doch nur aus der Fantasie von ihr entsprungen, aber auf ein Kuscheltier bin ich nicht gekommen. Also super ^^
Die Zitate hast du gut reingebracht und auch die Aufgabe gut gelöst. Dein Schreibstil ist sehr flüssig und gut zu lesen. Was mir auch gut gefällt ist, dass du am Anfang die Umgebung beschreibst. Einen guten Anfang hast du auch gefunden. Der passt gut in deine Geschichte. Mir sind nur ein paar kleine Rechtschreibfehler aufgefallen und ich glaube auch, dass da noch ein paar drin sind. Ich habe nur Angst, was falsches zu sagen ^^
Wie gesagt insgesamt hat mir deine Geschichte gut gefallen :D

Lg Alice

>ihr einen kleine. Hut aufsetzt oder ihr eine riesige Schleife umbindet.< kleinen Hut
>bloß auf andere Art und Wiese. < Weise nicht Wiese :D
>ihre Stimmer leicht rauchig ist und< Stimme
>Nach einiger zeit wurden mir seine neugierigen Blicke unangenehm. < Zeit groß ^^


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