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Kiss me hard before you go

von

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He kisses me hard before he goes

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Der Mann hinter dem Rednerpult

Kapitel 1 Der Mann hinter dem Rednerpult
 

Ich nehme dankend meinen Becher Kaffee entgegen, angele mir noch eine der umweltbelastenden Abdeckungen bevor mich Anni ungeduldig zu einem Tisch zieht. Ohne wurde ich mich augenblicklich mit Kaffee bekleckern. Es ist laut im Coffeeshop und trotzdem ungewöhnlich leer. Vermutlich sitzen die meisten Studenten noch brav in den Hörsälen und scharren mit den Füßen, weil ihr Koffeinpegel mit jeder vergehenden Minute abfällt und ihre Aufmerksamkeitsspanne verringert.

„Erzähl mir endlich, wie es war!", fordert Anni mich auf und ich seufze, während ich mich auf einen der Stühle niederlasse. Es ist unser erster Tag an der Uni. Die Einführungswoche. Viel Geplänkel, rundum Theatralik und hauptsächlich Grundinformationen über die Inhalte der Vorlesungen und die Themenplanung. Zu meiner Überraschung stehen in einigen Modulen sogar Exkursionen an, was mich sehr freut. Wir haben bereits zwei Vorlesungen hinter uns gebracht und es dürstete uns nach einem Energieschub. Ich habe kaum geschlafen.

„Es gibt nichts zu erzählen", gebe ich umgehend von mir und streife meine Jacke ab. Ordentlich hänge ich sie auf den Stuhl und greife dann nach meinen Kaffee. Das frische Aroma gemahlener Bohnen strömt mir entgegen und genüsslich nehme ich den ersten Schluck.

„Kann ich mir nicht vorstellen, also sei kein Frosch." Sie will unbedingt wissen, wie mein gestriges Date verlaufen ist.

„Ich bin kein Frosch. Und es gibt einfach nichts zu sagen."

„Du wirst doch irgendwas erzählen können. Ist er nett? Was macht er? Wirst du ihn wiedersehen?" Anni ist unbarmherzig.

„Ja. Jura und nein.", antworte ich knapp, nehme einen weiteren Schluck und denke an den langweiligen Abend zurück. Ich wusste schon im Vorfeld, dass es keine gute Idee war vor dem ersten Vorlesungstag mit jemand auszugehen, doch Anni und auch Lina hatten mich dazu gedrängt. Es war vergeudete Zeit. Ich hätte lieber drei Stunden mehr Schlaf gehabt.

„Wieso? Er wirkte voll nett."

„Ja, genau. Nett! Nett ist so schrecklich...lahm." Das beschreibende Adjektiv gebe ich voller Abscheu wieder. Sie schaut mir tief in die Augen und weiß sofort, was ich eigentlich denke.

„Verdammt Ben, du denkst doch nicht schon wieder an den Bartypen?" Doch das mache ich. Ununterbrochen. Auch, wenn ich mir jeden Abend fest vornehme, es nicht mehr zu tun. Mein Inneres seufzt theatralisch und wünscht sich den festen runden Hintern zurück, in den ich mich hinein krallen kann.

„Ach, verdammt, das war ein One-Night-Stand und du bist selbst schuld, wenn du nicht nach seiner Nummer gefragt hast. Ich kann immer noch nicht fassen, dass du das wirklich gemacht hast." Danach war sie Tage lang auf mich sauer, weil ich mich nicht sofort gemeldet und sie an dem Abend 'allein' zurückgelassen hatte. Eine maßlose Übertreibung denn Lina und Tom waren bei ihr gewesen. Gemeldet hatte ich mich wirklich nicht, aber das lag daran, dass ich damit beschäftigt war den heißen Körper des anderen Mannes zu verschlingen. Und, wie wir uns gegenseitig verschlungen haben.

„Und du machst es schon wieder." Ich bin ein offenes Buch. Anni stupst mir heftig gegen den Oberarm.

„Ja, ja, ich weiß und es tut mir immer noch gaaanz schrecklich leid. Abgesehen davon wäre es nicht Sinn der Sache gewesen, wenn ich nach seinem Namen und seiner Nummer gefragt hätte." Es war ein spontanes Abenteuer und ein sonderbarer, für mich völlig untypischer Abend. Eine lockere Bekanntschaft in der Bar, in die wir nach unserem Abschluss gegangen sind um ausgiebig zu feiern. Es war ein stilles Abkommen, eine extrem befriedigen Nacht und vor allem war es einmalig. Keine Namen und keine Telefonnummern. Nun bin ich meinen ersten Tag an der Uni, bin in einer anderen Stadt, in einer völlig anderen Umgebung und muss ständig an ihn denken. An diese ungewöhnlichen kühlen blau-grünen Augen und an seine feingeschwungene Lippen. Ich denke an nichts anderes, aber es ist zwecklos, denn die Wahrscheinlichkeit ihn wieder zu sehen, ist so minimal, dass sie kaum einer Erwähnung wert ist.

„Eigentlich bist du schuld!", knalle ich ihr an den Kopf und sie sieht mich beleidigt an.

„Ich? Ich kann doch nichts dafür, dass du deine Libido nicht im Zaum halten kannst."

„Du hast mich dazu animiert. Lass die Sau raus, weißt du noch? Lass es krachen", zähle ich auf.

„Lass es krachen, habe ich nie gesagt"; verteidigt sie sich. Ich lasse mich in die Stuhllehne sinken. Sie steckt mir ihre Zunge raus und nimmt einen großen Schluck ihres Kaffees. Ich blicke auf die Uhr. Meine nächste Vorlesung geht gleich los.

„Musst du schon los?", fragt Anni und sieht ebenfalls aufs Handy. „Kann ich mitkommen? Meine nächsten Vorlesungen sind erst später."

„Ich habe gleich die Einführung in das Wirtschaftsingenieurswesen. Du wirst dich zu Tode langweilen."

„Och bitte, ich bin auch ganz brav.", bettelt sie, „Ich kenne doch keine Menschenseele hier, außer dir."

„Na, dann lerne jemanden kennen!" schlage ich ihr ernst gemeint vor, doch sie schüttelt energisch den Kopf.

„Sowie du, oder was?", kontert sie. Ich schaue sie getroffen an.

„Feiger Schlumpf, du!"

„Schlumpfine, wenn ich bitte darf." Sie nimmt den letzten Schluck ihres Kaffees und ich schüttele zweifelnd den Kopf.

„Aber wehe, du jammerst mir die Ohren voll."

„Das werde ich nicht, versprochen." Sie lächelt und ein paar ihrer rötlich-blonden Haare fallen ihr ins Gesicht.
 

Die Vorlesung hat bereits begonnen als wir leise durch die Sitzreihen schleichen. Ich schiebe Anni vor mich her und sehe mich nach einen geeigneten und gut erreichbaren Platz um. Der Dozent steht mit dem Rücken zum Saal und hat angefangen ein paar Fakten an die Tafel zu schreiben. Er ist ein schlanker, dunkelhaariger Mann. So viel erkenne ich. Der Rest ist nur zu erahnen. Ich lasse mich auf einen der Holzsitze nieder und erwische ausgerechnet den, der am Meisten quietscht. Das Geräusch erfüllt den gesamten Saal und etliche Studenten drehen sich zu mir und Anni um. Ich murmele eine Entschuldigung und blicke erst auf, nachdem ich eine vernünftige Position gefunden habe. Ich erstarre augenblicklich als mir zwei kühle, klare Augen entgegen blicken und vergesse für einen kurzen Moment zu atmen. Sein Bart ist weniger auffällig, aber genauso fein gestutzt, wie ich ihn in Erinnerung habe. Ein paar seiner Haare streichen über seine Stirn. Als ich seine Lippen sehe, wird mir heiß und kalt zugleich. Ich weiß nicht, ob er mich erkennt. Aber es ist auch egal, denn dafür erkenne ich ihn nur zu gut. Der Mann hinter dem Rednerpult ist der Mann meiner schlaflosen Nächte. Mein Puls geht nach oben und mein Körper wird geflutet mit Überraschung, Verwunderung, Erstaunen und Erregung. Alles auf einmal. Ich spüre, wie mir Anni in die Seite sticht.

„Ben?" Erst jetzt beginne ich, wieder zu atmen.

„Entschuldigung", nuschele ich leise und senke meinen Blick.

„Nun gut, wenn dann alle soweit sind, möchte ich sie willkommen heißen in der Vorlesung 'Einführung in das Wirtschaftsingenieurswesen' und auf ein paar organisatorische Dinge aufmerksam machen", beginnt er mir klarer, deutlicher Stimme in den Saal hinein zu sprechen. Er deutet zu Tafel.

„Mein Name ist Antony Rochas. Ich bin ihr vorlesungs- und seminarbegleitender Dozent. Für alle die sich jetzt wundern, da eigentlich Professor Manuel Stroud im Vorlesungsverzeichnis angegeben ist. Er ist normalerweise Redensführer und befindet sich in diesem Semester auf Forschungsreise. Er wird daher nur zu drei Terminen eine Vorlesung abhalten können." Es sind ein paar enttäuschte Ohs zu hören. Prof. Stroud ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und auch ich habe viele seiner Bücher verschlungen. Doch im Moment ist es mir vollkommen egal, denn nur eine Sache schwirrt in meinem Kopf umher. Antony Rochas. Nun weiß ich, wie er heißt, wie ich den Mann meiner schlaflosen Nächte nennen kann. Ich schlucke. Der Name brennt sich in meine Gehirnwindungen. Glühend heiß. Wieder spüre ich Annis Finger in meiner Seite. Schmerzhaft bohrt er sich zwischen zwei Rippen.

„Autsch Anni, das tut weh, verdammt", zische ich leise.

„Entschuldige, aber ich hab nicht geahnt, dass da gleich deine Rippen sind."

„Was soll denn da sonst sein, du hast mir schließlich nicht gegen den Oberschenkel gedrückt." Ich sehe sie verärgert an. Der Grund meiner angeregten Träume blickt erneut zu uns und ich lasse mich tiefer unter den ausklappbaren Tisch gleiten. Ich bin völlig überfordert. Ich schließe die Augen und verkneife mir das dringende Bedürfnis mein Gesicht abzuschirmen. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Seine sachliche Stimme mischt sich mit meinen Erinnerungen. Das wohltuende Geräusch seines Stöhnen und Keuchens. Ich starre stur auf die Tafel und die notierten Fakten. Termine und Zeiten. Wir machen sogar kleinere Exkursionen. Wohin vergesse ich augenblicklich wieder. Ich versuche mich auf das Gesagte zu konzentrieren und ignoriere eisern Annis fragenden Blick, der sich eine gefühlte Ewigkeit in meine Seite bohrt. Erst als Antony die ersten themenbezogenen Folien an die Wand wirft und sich der Raum verdunkelt, setze ich mich aufrecht hin.

„Ben, was ist denn los?", fragt sie leise. Anni hängt sich an meine Schulter. Ich bin komplett durch den Wind. Seit Wochen denke ich an nichts anderes mehr als ihn noch mal wiederzusehen. Und ich war mir bis jetzt sehr sicher, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gering war. Und jetzt das! Ich treffe ihn hier an meiner Uni wieder. An sich kein Problem. Doch er muss ausgerechnet mein Dozent sein.

„Er ist es", flüstere ich ihr zu.

„Er ist wer?", hakt sie verwundert und nichtverstehend nach. Sie setzt sich auf und sieht mich verdutzt an. Ich nicke in Antonys Richtung und sie braucht eine Weile bis sie versteht, was ich meine.

„Willst du mich verarschen?", piepst sie mir schrill entgegen und ich weise sie an still zu sein.

„Psch!!"

„Verdammt Ben!", entflieht ihr wiederholt. Sie kneift ihre Lippen zusammen und ihr Blick ist vielschichtig. Überraschung, Unglaube und Heiterkeit. Sie begreift den Ernst der Lage nicht. Sie haftet ihren Blick auf den jungen Mann am Pult, schaut hin und wieder zu mir. Doch sie schafft es den Rest der Stunde zu schweigen. Mein One-Night-Stand beendet die Vorlesung mit einer Hausaufgabe und die Studenten erheben sich schnell von ihren Plätzen. Ich fühle mich apathisch, sehe dabei zu, wie er seine Aufzeichnungen zusammen sammelt. Er wendet uns den Rücken zu. Anni greift meinen Arm. Ich klaube meine Mitschriften zusammen und schiebe mich durch den schmalen Gang der Sitze. Mein Blick ist zum Ausgang gerichtet und ich versuche nicht mehr auf meinen neuen Dozenten zu schauen. Anni schiebt mich zur Tür, doch ich kann mir einen letzten Blick nach unten nicht verkneifen. Er steht am Pult, in seinen Händen hält er ein Buch und er blickt mich direkt an. Seine klaren blaugrünen Augen erfassen mich. Nun bin ich mir sicher, dass er mich erkannt hat. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln und mein Herzschlag wird mit jedem Atemzug lauter.
 

Im Flur zieht mich Anni energisch zur Seite. Ich entreiße ihr meinen Arm und ärgere mich darüber, dass sie mich so hin und herzerrt.

„Hör auf damit. Ich bin nicht dein kleiner Bruder, den du überall hinführen musst", motze ich. Ihr jüngerer Bruder Nico ist seit seiner Geburt blind. Er kommt gut damit zu Recht und hat zurzeit die typischen Neigungen einen Teenagers. Von Zeit zu Zeit ist er nämlich manchmal taub und Anni ist wenig zimperlich. Ich reibe mir über den Arm und sie sieht mich mit zusammengepressten Lippen und großen Augen an. Mein Ausbruch stört sie nicht. Ich sehe es klar und deutlich.

„Scheiße Ben, willst du mich verarschen? Er?", quietscht sie mir entgegen und ich komme nicht umher mit den Augen zu rollen. Mein Blick wandert zur Tür des Hörsaals. Mir wird heiß und kalt.

„Er sieht verdammt gut aus", quiekt sie mädchenhaftweiter und ich habe das Gefühl mit einem Teenager zu sprechen. „Hast du diesen tollen Arsch gesehen."

Ich habe ihn nicht nur gesehen, sondern angefasst. Anni macht mit ihren Händen eine grabschende Bewegung und grinst breit. Sie setzt erneut an, doch ich unterbreche sie.

„Verdammt Anni, halt den Mund!", fahre ich sie leise an und sie presst die Lippen zusammen, verkneift sich ein Kichern.

„Das ist nicht witzig. Es ist ernst. Was mache ich denn jetzt?"

„Nichts."

„Der Mann wird mich benoten und er hat mich..." Ich verkneife mir den Kommentar und verdränge die Bilder unserer nackten Körper aus meinem Kopf.

„Wenn er es nur halb so gut fand, wie du, wird er dich sehr gut benoten", kichert sie. Ich verdrehe nur entsetzt die Augen.

„Beruhige dich, Ben. Bist du dir sicher, dass er es ist?", fragt sie. Diese Augen und die Lippen würde ich überall wiedererkennen. Auch die Stimme. Diese angenehme, ruhige Klarheit, wenn er spricht.

„Ja", flüstere ich und denke an das markante Gesicht mit dem fein gestutzten Bart. Nichts davon würde ich je vergessen. Sein Gesicht hatte sich in mein Gehirn gebrannt.

„Er weiß doch deinen Namen nicht, oder? Ich meine, vielleicht hat er dich gar nicht erkannt."

„Vielleicht." Ich kläre sie nicht darüber auf, dass ich das Gefühl habe, dass er mich sehr sowohl erkannt hat.

„Gut, du musst dir also nur verkneifen in seine Sprechstunde zu müssen", stellt sie fest. Sie nickt zur Bestätigung und scheint wirklich zu glauben, dass das eine Lösung ist. Ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus.

„Und du darfst dich, während der Seminare nicht melden oder zu viel Aufmerksamkeit auf dich ziehen", setzt sie fort und lacht. Ich verziehe mein Gesicht und finde das Alles wenig erheiternd. Es ist einfach unmöglich, das zu schaffen.

„Ach komm, mach nicht so ein Gesicht. Ich finde das irgendwie aufregend." Sie lächelt und hakt sich bei mir ein. Natürlich findet sie es aufregend. Sie hat auch nicht die Probleme, die damit einhergehen.

„Du wolltest ihn doch unbedingt wiedersehen." Ich sehe noch einmal zur Tür, doch als sie auf geht, wende ich mich ab und ziehe Anni schnell weg. Ich flüchte fast, während Anni laut kichert. Wir genehmigen uns ein Essen in der Mensa, doch mein Appetit ist nur mäßig. Danach trennen sich unsere Wege. Anni hat noch zwei Vorlesungen und ich habe meinen überraschenden Tag überstanden. Ich habe nicht die geringste Lust ihren Kursen beizuwohnen, egal wie sehr sie mich darum bittet. Meine Gedanken sind ganz woanders und ich habe nicht das Gefühl, dass ich heute noch abschalten kann.
 

Ich öffne die Tür zu meiner WG-Wohnung. Es ist niemand zu Hause. Meine beiden Mitbewohner sind unterwegs. Das sind sie oft. Rick ist Student für Jura und Politikwissenschaften. Er ist fast fertig mit seinem Studium und verbringt viel Zeit bei seiner Freundin. Die zweite ist Marie. Biologiestudentin im 3. Semester. Eigentlich wohnt sie in der Bibliothek. Ich bin als letzter hinzugekommen und im Prinzip lernen wir uns erst noch richtig kennen. Aber ich habe ein gutes Gefühl.

Aus der Küche hole ich mir eine Flasche Wasser und lasse mich auf mein Bett fallen. Antony. Dieser Name. Ich wiederhole ihn seit ich ihn kenne, schon zum zigten Mal. Nun hat der Kerl meiner schlaflosen Nächte einen Namen. Ich schließe die Augen und sofort kommen mir Bruchstücke der Nacht in den Sinn. Die Bilder, ich lasse sie auf mich wirken, genieße jede noch so kleine Erinnerung. Doch dann wechselt das Szenario und ich ihn sehe ihn plötzlich vor dem Pult im Hörsaal stehen. Sein strenger Blick. Seine sachliche Stimme. Ich schlucke die Bilder runter und setze mich auf.

Ich spüre Ernüchterung über die Situation. Selbst, wenn er mich nicht erkannt hat, wurde ich bei jeder Vorlesung diese Bilder vor mir haben. Sie sind zu intensiv um sie zu verdrängen. An die Seminare will ich gar nicht denken. Ich seufze schwer und greife nach dem Rucksack, der vor meinem Bett steht. Ich krame meine Unterlagen hervor und greife mir den zusammengestellten Semesterplan. Der Kurs war obligatorisch und nach langem Überlegen, muss ich mir eingestehen, dass es zwecklos ist. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich muss diesen Kurs machen. In diesem Semester und mit Antony Rochas.

Ich habe mir gewünscht ihn wiederzusehen, noch einmal so eine atemberaubende Nacht zu erleben. Doch nun gestaltete sich, dass oft erdachte und ausgemalte Zusammentreffen, als völlig anders. Ich höre, wie das Handy in meiner Tasche vibriert. Ich ignoriere es, denn es kann nur Anni sein.

Am Abend dasselbe Spiel. Mein Handy klingelt so lange bis ich genervt rangehe. Als Begrüßung erhält sie von mir nur ein theatralisches Seufzen.

„Ja, ja. Ich wollte nur fragen, ob du den Schock überwunden hast?", flötet es mir von der anderen Seite des Telefons entgegen. Ich höre Anni rauchen, denn ihre Stimme klingt zwischendurch seltsam dumpf.

„Nicht wirklich", gebe ich eintönig von mir und stütze mich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab.

„Ich komme damit nicht klar. Ich denke an nichts anderes mehr und bin total durcheinander." Es auszusprechen ist noch schlimmer als es nur zu denken. Ich bin im Arsch.

„Und ich war nicht gerade hilfreich vorhin. Tut mir Leid", gesteht sie.

„Nein, warst du wirklich nicht." Ich fahre mir durch die Haare.

„Na ja, du hast nur zwei Möglichkeiten. Entweder sprichst du ihn an und ihr klärt es oder du schweigst und wartest was passiert." Sie hat Recht, aber hilft nicht.

„Ich wäre für Aussitzen", sagt sie weiter.

„Wie erkläre ich das meinem Kopf? Ich kann ihn schließlich nicht einfach abschalten!" Ich kann nicht aufhören an ihn zu denken. Das kann ich schon den gesamten Sommer nicht. Wie soll es jetzt klappen, wenn er jede Woche direkt vor meiner Nase sitzt?

„Übe dich in Selbstdisziplin." Toller Kommentar. Ich seufze nur laut und teile ihr so meine Missbilligung mit.

„Ich dachte, du wolltest mir eine Hilfe sein?"

„Ich habe es versucht! Darling, mach dir nicht so einen Kopf. Wir reden morgen über die Strategie. Geh schlafen, damit du nicht mehr drüber nachdenkst." Ich mache nur ein murrendes Geräusch und wünsche ihr eine gute Nacht. Ich lege das Handy zur Seite und lasse meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Schlafen kann ich sicher nicht.

Beißende Ignoranz

Kapitel 2 Beißende Ignoranz
 

Wie erwartet war meine Nacht ausgesprochen unruhig und relativ schlaflos. Jedes Mal wenn ich meine Augen schloss, sah ich ihn. Sein verklärter, erregter Blick, während er vor mir stand und dann seine Lippen auf meine legte. Und jedes Mal folgte der undurchsichtige, abweisende Blick vom Rednerpult. Eine grausame Mischung aus heiß und kalt. Im stetigen Hin und Her. Ich fühle mich beim Aufstehen, wie nach einem Wechselbad. Mit gemischten Gefühle denke ich ununterbrochen darüber nach ihn direkt darauf anzusprechen oder alles brav herunterzuschlucken. Doch ich weiß, dass ich mit jedem Aufeinandertreffen auch wieder an diese Nacht denken würde. Bereits jetzt jagen unaufhörlich Schauer von Wonne und Erregung durch meinen Leib. Allein der Gedanke an ihn, sorgt dafür. Antony. Seit mein Abenteuer einen Namen hat, ist es sogar noch schlimmer geworden.

Ich lasse meinen Kopf auf den Küchentisch fallen, seufze laut und dramatisch und bin froh, dass niemand da ist, der mich darauf ansprechen kann. Nachdem sich meine Stimmung nicht bessert, wende ich meinen Kopf zur Seite und starre auf den Kalender an der Wand. Für einen kurzen Moment habe ich gehofft, dass ich den Tag einfach überspringen könnte oder das ich mich zu mindestens irre, doch nun ist es die zweite Bestätigung, die ich bekomme. Mein Handydisplay zeigt mir das gleiche Datum. Ich habe es lange angestarrt, mich in eine andere Dimension gewünscht oder einen Zeitsprung herbeigesehnt. Doch es änderte alles nichts daran, dass heute der Geburtstag meines Vaters ist und ich nicht weiß, was ich tun soll.

Seit meinem Outing ist er nicht mehr gut auf mich zu sprechen. Seine Enttäuschung überspielt er mit Wut, die dazu führt, dass er mich ignoriert. Es ist das perfekte Familienklischee. Meine Mutter akzeptiert es, manchmal widerwillig, aber mein Vater hatte sofort diesen Ausdruck im Gesicht, der mir innerlich das Genick brach. Doch ich hatte mit keinen weiteren Lügen leben können. Ich wollte es nicht. Ich bin, wie ich bin. Ich bin gut so, wie ich bin. Abneigung, Ekel und Abscheu. All das habe ich bereits kennengelernt und doch immer wieder eine helfende Hand gefunden, die mich auffängt. Der Gedanke bestärkt mich. Ich hole das Telefon aus meiner Hosentasche und tippe die Nummer meines Elternhauses ein. Sie ist die einzige Nummer, die ich auswendig kann und das wird sich auch niemals ändern. Es klingelt.

„Kaufmann" Die Stimme meines Vaters.

„Papa! Leg bitte nicht auf!!", setze ich aufgeregt an und merke, wie sich meine Stimme ein wenig überschlägt. Er tut es nicht, aber nach ein paar Sekunden höre ich die Stimme meiner Mutter. Ich murmele ein 'Happy Birthday' und schließe die Augen.

„Hey, Mama."

„Ben, Liebling. Es ist schön von dir zu hören. Du, es tut mir leid, aber wir haben deine Schwester und die Kinder hier und dein Vater ist sehr aufgeregt." Sie nimmt meinen Vater, wie immer in Schutz. Aber nicht nur das. Auch sie versucht so wenig, wie möglich mit mir im Kontakt zu sein um keine Diskussionen zu beschwören.

„Schon okay. Ich verstehe es."

„Wie geht es dir?", fragt sie dennoch.

„Gut. Viel zu tun! Die Uni hat angefangen." Wir schweigen einen Moment. Als ich den Entschluss gefasst habe wieder aufzulegen, beginnt sie zu sprechen.

„Und gefällt es dir?"

„Bisher schon..." Ich führe nicht aus, dass es erst ein Tag gewesen ist und ich noch nicht mal alle Kurse kennengelernt habe.

„Das ist sehr schön...", sagt sie und ich höre, wie sie von meinem Vater unterbrochen wird. Ich höre nicht, was er sagt.

„Mama, ihr habt zu tun. Ich wünsche euch viel Spaß. Richtest du Natalia schöne Grüße aus?", komme ich meiner Mutter zuvor. Natalia ist meine ältere Schwester. Sie ist Mutter von zwei wunderschönen kleinen Zwillingsmädchen und verheiratet. Ihr Mann hat die gleichen Probleme mit mir, wie mein Vater. Meine Nichten sehe ich selten.

„Das mache ich. Natürlich." Wir schweigen und ich weiß, dass sie mit dem Telefonhörer im Flur steht und sanft nickt. Das macht sie immer.

„Komm doch mal wieder vorbei, Benedikt. Bitte!" Ein erneuter und erfolgloser Versuch. So wie jedes Mal. Ich schweige und denke an meine beiden kleinen Nichten. Sie wissen wahrscheinlich nicht einmal mehr, wer ich bin.

„Mach es gut, Mum." Damit lege ich auf, koche mir einen Kaffee und nehme mir ein Knäckebrot.
 

Ich verschwinde in mein Zimmer und schalte meinen Laptop ein. Meine Vorlesungen beginnen erst am Nachmittag und bis dahin habe ich mir vorgenommen für die ominöse Hausaufgabe zu recherchieren, die wir bekommen haben. Ich öffne die Seite der Universitätsbibliothek und suche nach passenden Büchern. Ich werde fündig, doch jedes Einzelne ist bereits entliehen. Ich lasse mich verwundert zurückfallen und tippe jeden Titel noch einmal an. Entliehen. Ohne Ausnahme. Das Letzte befindet sich im Handapparat, doch die Bücher darin müssen im Haus verbleiben. Bei den anderen Bücher dasselbe Spiel. Meine Kommilitonen waren alles schneller. Ich fahre mir genervt durch die Haare und gebe ein knurrendes Geräusch von mir. Erschrocken falle ich fast vom Stuhl als Marie ihren Kopf durch meine Tür steckt.

„Hey du. Alles okay bei dir?" Ihre kurzen Haare sind vollkommen verwuschelt und scheint gerade erst aus dem Bett gefallen zu sein. Ein verwundertes Lächeln auf ihren Lippen und ich nicke.

„Ja, ich stelle nur gerade fest, dass Student sein, sehr anstrengend ist. Die erste Woche und schon scheitere ich an der Bibliothek."

„Wieso das?" Sie kommt in mein Zimmer. Marie trägt noch immer ihre Schlafshorts und ein violettes Tanktop, was perfekt das Grün ihrer unbebrillten Augen unterstreicht. Ohne Brille beugt sie sich dicht an meinen Bildschirm.

„Oh, der Handapparat. Schau doch, ob du noch ein Exemplar ausleihen kannst."

„Habe ich schon. Alle weg. Anscheinend sind in meinem Studiengang viele fleißige Studenten. Erschreckend, oder?" Sie lacht.

„Jetzt am Anfang seid ihr einfach noch zu viele. Das wird sich noch lichten. Spätestens nach den ersten Klausuren, damit sieben sie für gewöhnlich aus.", plaudert sie. Aussieben? Lichten? Ich ziehe meine Braue nach oben. Bei dem Gedanken wird mir angst und bange.

„Keine Panik, dass schaffst du schon." Leicht klopft sie mir auf die Schulter und wendet sich dann zum Gehen.

„Ach so, weißt du wo du die Handapparate findest?", fragt sie mich und bleibt im Türrahmen stehen.

„Ich weiß noch nicht mal, wo ich die Bibliothek finde", gestehe ich ihr ehrlich und sie lacht erneut.

„Okay. Hast du Zeit? Ich will sowieso hin, weil ich meine Hausarbeit aus dem letzten Semester fertig schreiben muss. Dann zeige ich dir alles."

„Ja, sehr gern." Ich danke ihr für das Angebot und sie geht sich etwas anziehen. Bevor wir die Wohnung verlassen, drücke ich ihr einen Kaffee in die Hand und sie bedankt sich ein weiteres Mal. Diesmal überschwänglich.
 

Als wir durch den Eingang der Bibliothek treten, bleibe ich erstaunt stehen. Vor uns erstreckt sich eine gigantische Halle, gekrönt mit einem Kuppeldach, welche von vier Marmorsaulen getragen wird. Mein Blick wandert über die Säulen hinauf zum Runddach. Warme cremefarbene Töne schmeicheln der Weite und harmonieren mit den farbigen Malereien, die sich über die gesamte Kuppel erstrecken. Anmutig und Ausdrucksstark. Ich bin fasziniert. Fein ausgearbeitete Stuckverzierungen rahmen die gesamten Wände. Wunderschön. Marie deutet zu einer Vitrine in der eine exakte Nachbildung des Gebäudes eingeschlossen ist. Ein Prachtbau erster Güte. Erst vor ein paar Jahren haben sie die alte Fassade und die letzten vorhanden Bestandteile im Inneren restauriert. Edle Historie gepaart mit modernen Spielereien. Die Bibliothek ist ein Meisterwerk der Kombination. Hell und einladend.

Marie schreitet durch den Flur und wir schließen unsere Sache weg. Der Lesesaal befindet sich in den modernen Anbau. Ein rechteckiges gläsernes Gebilde, was rundum mit Bücherregalen gerahmt ist. Dicke alte Wälzer strömen diesen typischen Geruch aus. Ich mag es. Wir schlängeln uns durch die halbe Bibliothek. Zeigt mir die Abholungsbereiche für bestellte Bücher und dann die Handapparate. Regale über Regale. Ich brauche eine Weile bis ich meinen Studiengang gefunden habe und genauso lange um das Buch zu finden, welches ich brauche. Natürlich habe ich mir keine Signatur aufgeschrieben. Wieder etwas gelernt.

„Hast du es gefunden?" Marie steht hinter mir und flüstert. In ihren Händen befindet sich ein Stapel Bücher, den sie sich ausgeliehen hat. Ich wackele mit dem Buch und lächele.
 

„Sehr gut. Ihr habt einen gut bestückten Handapparat. Du kannst dich glücklich schätzen. Einige andere Studiengänge sind oft verzweifelt am Rumsuchen, bis sie etwas finden, womit sie arbeiten können." Ich sehe in das Regal. Sofort fallen mir Professor Strouds Bücher auf. Vorsichtig lasse ich einen Finger über die Buchrücken gleiten und denke an Antony.

„Hey, wenn du bestimmte Bücher brauchst und diese hier nicht mehr findest, musst du den Professor oder die Dozenten ansprechen. Meistens haben sie ein paar Exemplare in ihren Büros, die sie den Studenten geben können", rät sie mir. Damit verabschiedet sie sich und verschwindet hinter drei Ecken zu einem der Sitzplätze. Ich schaue auf das Buch in meiner Hand und schlucke. Das würde bedeuten, dass ich die Taktik Aussitzen definitiv vergessen kann. Ich lasse mich auf einen der nahegelegenen Plätze nieder und seufze leise. Welche Wahl habe ich? Ich kann schlecht schon die erste Hausaufgabe versauen, nur weil ich keinen Mumm in den Knochen habe. Außerdem ist es utopisch zu glauben, dass ich ihm das gesamte Semester aus dem Weg gehen kann. Zu dem bin ich mir sicher, dass er mich erkannt hat und mich interessiert sehr, was er sagen und wie er reagieren wird.

Ein unbestimmtes Kribbeln durchzuckt meinen Körper. Okay, vielleicht macht mir seine mögliche Reaktion schon mehr Angst, als ich zugeben möchte. Es ist immerhin nur ein gigantischer Zufall, dass ich genau an der Uni studiere, an der er Dozent ist. Ein mächtiger, gigantischer Zufall, dass ich auch noch den Studiengang belege, den er lehrt. Schicksal. Ich schreibe das Wort auf meinen Block. Glaube ich an Schicksal? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau das so passiert, wie es passiert? Es ist schon ein verdammt großer Zufall. Ich schlage das Buch auf und lasse meinen Finger über die Gliederung gleiten. An der für mich wichtigen Stelle tippe ich zweimal auf die Seitenzahl und beuge mich nach vorn. Vielleicht reicht mir dieses Buch und ich würde kein weiteres brauchen.
 

Fast zwei Stunde verbringe ich in der Bibliothek. Lese das vorige und das folgende Kapitel. Doch egal, wie ich es drehe und wende es fehlt etwas. Zu viel als, dass mein Text jemals eine homogene Einheit bilden konnte. Er ist zu löchrig und verdient den Beinahmen Schweizer Käse.

Müde lasse ich meinen Kopf nach hinten fallen und schließe die Augen. Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach die Aufgabe einfach unvollständig abzuschließen und eine schlechtere Note zu riskieren. Doch mein innerer Widerstand ist zu groß. Die Blöße kann ich mir nicht geben. Nicht in der ersten Woche. Nicht vor ihm. Ich brauche die anderen Bücher. Es führte kein Weg daran vorbei.

Ich hole meine Sachen aus dem Schrank und schaue auf die Uhr. Ich habe noch ein Stunde, dann beginnt meine erste Vorlesung. Ich habe zwei Möglichkeiten. Nach Hause gehen oder meinem Fachbereich einen Besuch abstatten. Unschlüssig stehe ich einen Augenblick in der Vorhalle der Bibliothek, lasse meinen Blick erneut über die Säulen wandern, folge den fein marmorierten Strukturen zur Kuppel. Eine Schlachtszene. Verstörende Gesichter. Eine solche Abbildung in einer Bibliothek. Verwunderlich. Ich seufze leicht und laufe einfach los.

Die Studenten, die an mir vorbei gehen, nehme ich kaum wahr. Ich bin zu sehr in Gedankenversunken und stehe plötzlich vor Professor Strouds Büro. Das Schild zeigt deutlich seinen Namen. Darunter befindet sich ein weiteres Schild mit einem anderen, doch bekannten Namen. Antony Rochas. Ich spüre, wie mein Puls nach oben schnellt.

Mein Blick fällt auf die Zeiten seiner Sprechstunde. Mittwoch und Freitag. Nicht heute. Er wird gar nicht da sein. Mit jedem heftigen Schlag meines Herzens verschwindet mein Mut immer weiter. Hinter der Tür höre ich eine Bewegung und ich mache einen Schritt zurück. Gerade rechtzeitig, als die Tür aufgeht und er direkt vor mir steht. Seine kühlen Augen sehen mich überrascht an. Ich vergesse zu atmen und vor allem zu reagieren. Ein Blitzen erhellt seinen Blick. Einen Moment lang. Doch dann drücken sie nichts anderes mehr als Neutralität aus.

„Wollen Sie zu mir?", fragt er mich und ich nicke.

„Ja, bitte entschuldigen Sie." Warum entschuldige ich mich?

„Was kann ich für Sie tun?" Sein sachlicher Tonfall, ohne jegliches Erkennen bohrt sich eiskalt in meinen Leib.

„Ich habe Probleme die Literatur für die Hausaufgabe zu finden. Die Exemplare der Bibliothek sind bereits alle entliehen", erkläre ich zurückhaltend. Ich versuche meinen Ton ebenso sachlich zu halten, wie er. Seine kühlen Augen sehen mich kurz an.

„Wirklich?", entgegnet er fast ungläubig. Ich nicke. Antony schaut auf die Uhr und hält die Tür zu seinem Büro auf. Ich trete ein und nehme beim Vorbeigehen seinen Duft wahr. Mir wird heiß.

Er legt die Unterlagen in seinen Händen auf dem Tisch ab und greift ohne nachzuschauen ins Bücherregal. Zwei Bücher reicht er mir. Es sind genau die beiden, die mir fehlen.

„Hier, diese beiden sollten reichen. Notieren Sie mir ihren Namen und dann bringen Sie sie mir, wenn Sie fertig sind zurück." Er schiebt mir einen Zettel zu und durchblättert mit gesenktem Kopf die Unterlagen, die er eben noch in den Händen hielt. Kein weiterer Blick. Völlige Ignoranz. Sie ist wohl mein Schicksal. Nachdem morgigen Telefonat mit meinem Vater trifft sie mich besonders schwer. Ein Knoten bildet sich in meiner Brust. Es schmerzt, auch wenn ich damit rechnen musste. Ich schreibe meinen Namen und das Datum auf den blanken Zettel und lasse ihn am Rand des Tisches liegen. Kurz bleibe ich stehen, doch er sieht nicht noch mal auf oder bewegt sich erneut zur Tür. Er bleibt, geschäftig blätternd stehen.

„Vielen Dank", flüstere ich, schließe hinter mir die Tür und sehe auf die Bücher in meiner Hand. Ich schlage sie mir beim Laufen gegen den Kopf. Überwältigende Dummheit erfasst mich. In zweierlei Hinsicht. Überwältigt von dem plötzlichen, direkten Aufeinandertreffen und das Eingestehen der Dummheit, weil ich doch tatsächlich von seiner Ignoranz überrascht bin. Was habe ich mir vorgestellt? Dass er sich freut? Das er dieselben Fantasien hat, wie ich? Lächerlich. Er ist mein Dozent. Der Schmerz in meiner Brust brodelt weiter. Ich blicke kurz zurück, bevor ich um die Ecke biege. Antony steht an der Tür und sieht mir nach. Hinter der Ecke bleibe ich stehen. Die Finger meiner linken Hand ballen sich zur Faust. Ich mache drei Schritte zurück und sehe in den Gang. Er ist fort.

Die Vielfalt seiner Blicke

Kapitel 3 Die Vielfalt seiner Blicke
 

Am Abend sitze ich erneut vor meinen Rechner. Bisher habe ich noch kein einziges Wort aufs digitale Papier gebracht, sondern starre einfach auf die beiden Bücher, die neben mir liegen. Ich bilde mir ein seinen Geruch daran wahrzunehmen, obwohl das totaler Blödsinn ist.

Das Telefon neben mir beginnt zu vibrieren. Annis Name leuchtet mir auf dem Display entgegen. Ich zögere einen Moment, doch sie gibt nicht auf und ich gehe ran.

„Hey Darling, wie geht es dir?“, flötet sie mir von der anderen Seite des Telefons entgegen und ich komme nicht umher laut zu seufzen. Anni hat ein Faible für englische Anreden und Kosenamen. Ich muss darunter leiden. Ich habe noch kein Wort gesagt, da höre ich am anderen Ende schon die verwunderte Frage.

„Oh nein, was hast du gemacht, Ben?“ Ich seufze erneut. Wie macht sie das nur?

„Gar nichts“, versuche ich mich herauszureden.

„Und wieso seufzt du dann so theatralisch?“ Ich verfluche sie.

„Ich war bei ihm“, gestehe ich lapidar.

„Oh nein, wieso? Ich dachte, wir besprechen erst einmal den Schlachtplan bevor du blindlings ins Verderben rennst.“

„Schlachtplan? Es gibt hier nichts zu erobern, Anni. Ich brauchte Bücher für die dämliche Hausaufgabe und in der Bibliothek gab es keine mehr, da bin ich zu seinem Büro gegangen. Ich wollte gar nicht klopfen, doch dann hat er die Tür aufgemacht. Ich konnte ja, schlecht weglaufen. Als entschied ich mit erst für Schockstarre und dann dummes rum Gestammel“

„Oh, Ben. Und dann?“

„Nichts, er hat mich ignoriert.“ Nun klinge ich bemitleidenswert.

„Bist du dir sicher, dass er dich erkannt hat?“

„Ja... Nein... Keine Ahnung.“

„Ach Ben!“

„Spar dir, das ´Ach Ben´. Das macht das Chaos leider nicht besser.“

„Und was wirst du jetzt tun?“, fragt sie mich und ich zucke, obwohl sie es nicht kann mit den Schultern. Ich weiß nicht, was ich überhaupt tun kann. Anscheinend will er mich nicht erkennen und das hatte sicher seine Gründe. Gründe, die ich auch nachvollziehen kann. Bisher habe ich über keine Konsequenzen nachgedacht, doch sicher gibt es welche. Entweder private oder akademische. Dessen bin ich mir sicher. Ein Freund, eine Freundin oder Familie. Ich spüre, wie sich mir der Magen umdreht. Nach dem One-Night-Stand war mir das alles egal gewesen, doch jetzt. Ich weiß nichts über ihn. Allerdings weiß ich nun seinen Namen. Mein Blick wandert automatisch zu meinem Laptop und meinem funktionierenden Internetanschluss.

„Ben?“ Annis Stimme ist ganz weich. Ich versuche meine Gedanken von dem Thema zu lösen, doch ganz gelingt es mir nicht.

„Vielleicht sollte ich mich einfach Kunstgeschichte einschreiben...“

„Du hasst Kunst.“

„Nein, die Kunst hasst mich.“ Genaugenommen habe ich einfach nur zwei linke Hände. Anni lässt es unkommentiert so stehen. „Ich habe Hunger und will einfach nur noch ins Bett. Lass uns ein anderes Mal darüber reden.“

„Okay. Hey, du kannst mich zu jeder Tag- und Nachtzeit erreichen, ja?“

„Ich weiß, danke!“ Sie haucht mir einen Kuss durch das Telefon und ich lege auf.
 

Ich lasse das Handy auf meine Brust sinken, lehne mich zurück und schließe die Augen. Meine kühlen Hände betten sich flach an meine Wangen. Ich reibe mir darüber und verdecke danach meine Augen. Ich atme tief ein und fahre mir dann wieder über die leicht stoppeligen Wangen.

„Oh man“, flüstere ich in den stillen Raum hinein.

„Oh man, was?“ Erschrocken richte ich mich auf und schaue zur Marie. Das Handy fällt in meinen Schoss. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich hab sogar geklopft.“ Sie steht im Türrahmen und sieht mich fragend an. Sie hat ihre Haare gekämmt und trägt ihre schwarzumrahmte Brille.

„Hey, hab nichts gehört. Bist du fertig geworden mit deiner Hausarbeit?“

„Ja, nur noch Korrekturlesen und ins Datennirvana schieben.“ Sie lächelt freudig.

„Na, ich hoffe doch nicht, dass sie im Nirvana verschwindet...“, kommentiere ich lachend.

„Auch wieder wahr. Kommst du essen?“, fragt sie und ich sehe verwundert auf.

„Essen?“

„Ja, ich habe für uns alle gekocht. Wir sind heute mal zu dritt und ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit um uns ein bisschen kennenzulernen.“ Ich habe nicht mitbekommen, wie die beiden nach Hause gekommen sind.

„Ja, gern. Prima“, sage ich ehrlich erfreut und rutsche vom Bett. Marie lächelt entzückt.

Ich folge ihr in die Küche und mir weht direkt der Duft von Tomatensoße entgegen. Auf dem Herd köchelt ein Topf voll mit Nudeln und die Soße blubbert werbewirksame in einer Pfanne.

„Wow, sieht toll aus“, lobe ich wirklich beeindruckt.

„Vielen Dank, ich dachte Nudeln mit Tomatensoße essen alle, deswegen...tadaaa.“ Sie wird ein wenig rot.

„Alles richtig gemacht! Kann ich dir noch bei irgendwas helfen?“

„Oh, nein, eigentlich nicht. Möchtest du Käse? Ich habe auch noch Käse im Kühlschrank.“

„Zu Käse sage ich niemals nein. Mit Käse wird einfach alles besser...“

„Selbst Kaffee“, ertönt es plötzlich hinter uns und wir sehen Rick im Türrahmen stehen. Er grinst.

„Käse im Kaffee?“, frage ich und verziehe angewidert den Mund.

„Ja, ein Gruyère passt perfekt zu einem kenianischen Perlbohnenkaffee...Fantastisch.“ Das Grinsen in seinem Gesicht verrät nichts. Weder das Ausmaß der Wahrheit hinter der Aussage, noch wie spaßig er es wirklich meint. Auch Marie sieht ihm zweifelnd an. So lange bis Rick herzhaft zu lachen beginnt.

„Ihr solltet eure Gesichter sehen! Zum Schießen! Ich bevorzuge Butterkäse und der passt am besten zu Schwarzbrot. Ich geh nur noch schnell ums Eck, dann wird geschlemmt“, erlöst er uns aus der ulkigen Situation, grinst noch etwas breiter und verschwindet im Flur. Auch und Marie und ich beginne zu kichern. Ich hole den viel beschworenen Käse aus dem Kühlschrank und meine Mitbewohnerin gießt die Nudeln ab.

Wir verbringen einen netten gemeinsamen Abend zusammen, reden über unsere Familien und Freunde. Marie ist ein Einzelkind. Ihre Eltern beide Akademiker. Rick hingegen hat noch einen älteren Bruder. Ich erzähle von meiner Schwester und meinen beiden kleinen Nichten und verspreche Marie einmal Bilder zu zeigen. Ich besitze nur keine. Nur ein paar obligatorische Schöner Scheinbilder von den ersten Tagen nach ihrer Geburt. Gestellt und geschönt. Perfekte kleine Wunder. Das ist zwei Jahre her. Von meiner Homosexualität erzähle ich nichts. Noch nicht.
 

Am Mittwoch verbringe ich die meiste Zeit in der Bibliothek und arbeite brav an der Hausaufgabe, jedoch ohne nennenswerte Erfolge. Die Atmosphäre und die Stille gefallen mir gut, dennoch fällt mein Blick ständig auf die Uhr. In einer Stunde beginnt das Seminar mit Antony. Mein Brustkorb zieht sich zusammen und ein unbestimmtes Gefühl macht sich in mir breit. Der Gedanke ihn wieder zu sehen entzückt und verstört mich zugleich. Ein zwiespältiges Gefühl, denn nach der eiskalten Abfuhr von gestern und den ständig auftauchenden Bildern unserer gemeinsamen Nacht verspüre ich das ständige Bedürfnis mich irgendwo tief einzugraben und zu überwintern.

Ich atme tief ein, straffe meine Schultern und ziehe mir das Buch heran. Ich muss fertig werden.

Nach einer weiteren quälenden Ewigkeit kann ich die Hausaufgabe abschließen. Die geborgten Büche klappe ich sorgsam zusammen und entferne vor die kleinen Post-ist, mit denen ich die wichtigen Stellen markiert habe. Das zusammen geknüddelte Klebestreifenbällchen stecke ich in meiner Tasche und spiele nervös damit rum, während ich ins Hauptgebäude wechsele.
 

Im Hörsaal setze ich mich diesmal direkt in die erste Reihe. Wo mein plötzlicher Mut oder eher Trotz herkommt, ist mir selbst ein Rätsel. Als ich sitze, spüre ich sofort, wie sich die Unsicherheit zurückschleicht. Ich sehe mich um, spiele kurz mit dem Gedanken doch ein paar Reihen nach oben zur Rutschen. Doch stattdessen rücke ich nur zwei Positionen zur Seite, so dass ich noch mehr in seinem Blick sitze.

Nach und nach füllen sich die Ränge mit Studenten. Laut redend und diskutierend. Ich schlage meine Beine übereinander und blättere die Aufzeichnungen der ersten Vorlesung durch. Es ist nicht sehr viel.

Ich höre die Schritte auf der Treppe, doch wende mich nicht um. Erst als er seinen Platz hinter dem Pult eingenommen hat, blicke ich auf. Er sieht mich direkt an. Der Ausdruck in seinen Augen ist undefinierbar für mich. Doch da ist dieses kurze, feine Blitzen. Eine Reaktion. Er weiß, wer ich bin.

Während des Seminars versucht er den Augenkontakt mit mir zu vermeiden, doch das Mädchen hinter mir ist die Aktivste im ganzen Saal. Ihre stetigen Kommentare und Fragen zwingen ihn regelmäßig zu mir zu schauen. Das nutze ich unbewusst aus. Ich schaue fordernd, fast provozierend. Die Wut über seine gestrige Ignoranz entfaltet sich in meinen Blicken. Ich wusste nicht, warum ich es tue, doch ich merke dass es funktioniert. Mit der Zeit bleiben seine Augen zu erst bei mir hängen, bevor er zu der Kommilitonin über mir wandert und er ihre Frage beantwortet.

„Das ist so nicht vollkommen richtig“, stellt er die Aussage der jungen Frau richtig. Er fährt sich sachte durch die Haare und deutet dann auf ein paar Notizen an der Tafel. Er macht ein paar Schritte zurück und lehnt er sich gegen das Rednerpult, stützt seine Arme darauf ab und ich sehe das Spiel seines Bizepses unter seinem Hemdärmel. Kurz lecke ich mir über die Lippen, spüre seinen Blick auf mir, während er spricht. Ich streiche mir dem Daumen über die feuchten Lippen, beiße mir sachte daraus und sehe ihn dabei direkt an. Er streicht sich eine Strähnen seines dunklen Haares davon und ich sehe, wie sie an den leicht feuchten Schläfen kleben bleib. Er schwitzt. Zu gern würde ich wissen, was er denkt.

„Gibt es dazu noch Fragen?“, fragt er und sieht sich um, „Nun gut, dann fahren wir fort.“ Er dreht sich zu den projizierten Folien um. Seine Finger greifen in das harte Holz des Pults. Ich sehe, wie seine Knöchel weiß hervortreten. Die letzten paar Minuten des Seminars sieht er mich nicht noch mal an.
 

Als ich meine Unterlagen zusammen sammele, komme ich nicht umher ihn nochmal zu beobachten. Er steht mit dem Rücken zu den Rängen und säubert mit einem Schwamm die Tafel. Die Muskeln seines Rückens sind angespannt und ich sehe dabei zu, wie sich sein knackiger, kleiner Hintern hebt und senkt. Mir wird heiß und schnellen Schrittes bin ich aus dem Hörsaal verschwunden.

Was mache ich hier eigentlich? Warum provoziere ich ihn? Ich mache ihn damit nur wütend und was habe ich davon? Nichts! Ich sehe die Vielfalt seine Blick, die mir bis her zu teil wurden.. Die Erregung und der Glanz. Der Kälte und die Ignoranz. Das Erkennen und die Unsicherheit. Habe ich seine Reaktion, während der Vorlesung falsch interpretiert? Wahrscheinlich.

Ich lasse mich draußen auf eine der Parkbänke vor dem Parkplatz nieder und mein Kopf fällt nach hinten. Meine Augen sind geschlossen und ich spüre warme Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Sie blenden mich. Für einen späten Herbsttag ist es noch immer sehr warm und erstaunlich schön. Wieder denke ich an den gutaussehenden Dozenten. Es muss ein kosmischer Scherz sein, dessen bin ich mit mittlerweile sicher. In meinem Bauch beginnt es sanft zu kribbeln. Ich denke an seine Hände, wie sie jede Stelle meines Körpers berührten. Der Geschmack seiner warmen, feuchten Lippen legt sich als lebendige Erinnerung auf meine Geschmacksknospen. Ich setze mich auf und beiße mir auf die Unterlippe. Ich muss aufhören an ihn zu denken. Vor allem ständig an Sex mit ihm zu denken. In einiger Entfernung höre ich, wie sich eine Autotür schließt und sehe auf. Vor einem roten Kleinwagen steht er. Antony. Er schaut mich an. Seine wunderschönen kühlen Augen sind direkt auf mich gerichtet. Meine Hand bleibt auf meinem Hals liegen und bevor ich verstehe, wieso hebe sie kurz zum Gruß. Nur ganz leicht, doch in diesem Moment wendet er sich um und steigt schnell in seinem Wagen. Die getönten Scheiben verhindern, dass ich ihn durch das Glas sehen kann. Ich sehe zu, wie er zurücksetzt und davonfährt. Erneut lasse ich mich nach hinten fallen und seufze resignierend.
 

Die folgenden Vorlesungen verlaufen erwartungsvoll ereignislos und diesmal schaffte ich tatsächlich ein paar Notizen zu machen. Ich treffe Anni zum späten Nachmittag in der Mensa. Sie blickt von ihrem Salat auf und sofort sind ihre Augen erfüllt von Mitleid und hintergründigem Spott. Meinen Rucksack stelle ich neben ihr auf den Stuhl und setze mich vor sie.

„Würdest du bitte diesen Blick abstellen?“

„Welchen denn genau?“

„Na den, der mir deutlich sagt, dass du mich für dämlichste und ärmste Sau aller Zeiten hältst.“ Sie beginnt zu lachen, doch ich meines vollkommen ernst. Ich hasse es. Ich brauche kein Mitleid. Ich will nur Verständnis. Na gut, hin und wieder auch ein bisschen Ei Ei. Si wie jeder Kerl auch.

„Okay, okay. Tut mir Leid.“ Sie greift nach meinen Händen und ich blicke auf ihre perfekt manikürten Fingernägel. Sie sind lang und bunt. Ich bin kein Fan davon, aber dennoch jedes Mal beeindruckt von ihrer Fingerfertigkeit. Ich nehme ihre Hand und hebe meine Augenbraue nach oben.

„Du weißt, aber das Türkis out ist, meine Liebe“, Sie entreißt mir ihre Hand, schaut übertrieben arrogant und streckt mir die Zunge heraus. Wie kindisch.

„Na, du musst es ja wissen. Was hat dir denn heute die Laune verhagelt?“

„Pah, ich bin die gute Laune in Reinform.“ Ich grinse breit, doch ich bin wenig überzeugend. Nun wandert auch Annis helle Augenbraue nach oben und leicht schüttelt sie den Kopf. Keine Erklärung, keine Erläuterung. Sie weiß, was mich bedrückt und stellt keine weiteren Fragen.

„Okay, wir müssen dich irgendwie ablenken. Dich auf andere Gedanken bringen.“ Ich ahne Schlimmes und habe schon jetzt keine Lust darauf. Egal, was es ist.

„Nein, Anni, bitte nicht“, nörgele ich.

„Du weißt doch noch gar nicht, was ich vorhabe“, stößt sie beleidigt aus und ich schnaufe leicht.

„Ja, und genau deshalb verspüre ich Panik!“ Ihr Blick wird noch eine Schippe beleidigter und mit verschränkten Armen lehnt sie sich zurück.

„Okay, das reicht! Nun bestehe ich darauf, dass du mich begleitest und gefälligst Freude hast“, kommentiert sie übertrieben und ich lasse meinen Kopf theatralisch auf die Tischplatte fallen. Ihre Drohung macht sie wahr. Nachdem wir kurz bei ihr vorbei gefahren sind um ein paar Klamotten zu holen, schiebt mich in den universitären Fitnessbereich. Eine Stunde strampele ich mir die trüben Gedanken auf dem Fahrrad davon. Doch als ich absteige, sind sie sofort wieder da. Der Gedanke an den anderen Mann scheint jede noch so winzige Faser meines Körpers zu durchdringen und setzt sich darin fest. Frustriert suche ich mir etwas Aggressiveres und schlage auf den Boxsack, den auch Anni gerade bearbeitet. Kleine Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn und heftig atmend sieht sie mich an. Ihre langen roten Haare hat sie nach hinten gebunden und so kommt ihr herzförmiges Gesicht zu Geltung. Auch ihre schönen blauen Augen, die einen ganz anderen Ton haben als Antonys betrachte ich ausgiebig. Bei dem Gedanken an den schönen Mann schlage ich erneut gegen das feste Leder des Sackes.

„Nicht geholfen?“, fragt Anni. Ich lächele sie schief an und sehe auf die Wanduhr.

„Ich weiß, dass du es gut gemeint hast, aber ich werde jetzt gehen.“ Ich fahre mir durch die leicht feuchten Haare und sehe mich in dem leeren Sportraum um.

„Ach komm schon, es gibt hier auch noch einen tollen Spa-Bereich mit Sauna.“ Sie deutet in den hinteren Bereich und ich folge ihrem Blick. Sauna ist gut, aber ich bin definitiv nicht in Stimmung.

„Ein anderes Mal, okay?“, lehne ich ab. Anni kommt auf mich zu und streckt ihre Arme aus. Sie möchte mich umarmen, doch ich weiche zurück. Ich habe das Gefühl durch so eine Zuwendung gleich in Tränen auszubrechen und das möchte ich vermeiden. Außerdem sieht sie viel zu feucht aus.

„Nee, du stinkst“, kommentiere ich frech und sie wirft mir das Handtuch entgegen das auf ihrer Schulter liegt.

„Gut, keine Zuwendung für Benedikt. Dann eben nicht“, gibt sie beleidigt von sich und ich setze ein spitzbübisches Grinsen auf. Ich hauche ihr einen Kuss auf die Wange, nachdem sie sich auf den Stepper gestellt hat und laufe Richtung Umkleideräume. Da ich kein großes Handtuch dabei habe, erfrische ich mich nur kurz am Waschbecken, packe meinen Rucksack zusammen und gehe zurück in die WG. Ich laufe und genieße die frische Luft auf meiner feuchten, verschwitzten Haut. Auch, wenn es nicht gesund ist. Doch das ist mir gerade herzlich egal.

Zu Hause angekommen, stelle ich fest, dass ich komplett allein in der WG. Ich gehe duschen und beginne am Abend die Hausaufgabe zu überarbeiten. Wahrscheinlich ist Marie noch immer in der Bibliothek und Rick bei seiner Freundin. Die Stille lässt meine unwirschen Gedanken nur noch lauter durch meinen Kopf hallen. Ich schalte den Fernseher ein und lasse mich eine Weile berieseln. So hatte ich mir das Unileben nicht vorgestellt. Noch während ich lustlos irgendeinem Spielfilm folge, nehme ich mir vor morgen die Bücher zurückzugeben. Obwohl er keine Sprechstunde hatte. Er wird es mir verzeihen. Hoffe ich. Bei seichter Unterhaltung schlafe ich ein.

Sein ekstatischer Blick auf meinem Leib

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Zigarette danach

Kapitel 5 Die Zigarette danach
 

Ich sehe Antony in den nächsten Tag nur in der Vorlesung und im Seminar. Alles nur kurz und sachlich. Jeden weiteren Kontakt meidet er. Ich werde langsam, aber sicher wahnsinnig und es beginnt richtiggehend in mir zu brodeln. Selbst Anni bescheinigt mir eine andauernde schlechte Laune, obwohl ich mich ihr gegenüber zusammenreiße. Ich habe ihr nichts von unserem letzten heißen, aber ebenso ernüchternden Zusammentreffen erzählt. Nichts von dem unglaublichen Sex, den wir in seinem Büro hatten. Nichts von der Abfuhr und auch nichts von dem Gefühlschaos, welches seither in mir wütet, wie ein Tornado samt Taifun. Ihr das alles zu verheimlichen, hat die Schwierigkeitsstufe unendlich und sorgt beim Herauskommen für mein direktes Ableben. Ein schlagartiges Game over. Sie wird ausflippen. Zu meinem Leidwesen hat die Zusammenkunft mit Antony deutliche Spuren hinterlassen. Zwei Bisse am Hals und an meinem Schlüsselbein, ich kann sie nur schwer verdecken. Und ich habe eine Prellung an der Hüfte, die mir der Türknauf eingebrockt hat. Das schmerzt jetzt noch.

Blöd, dass ich an nichts anderes mehr denke als an seine köstlichen Lippen. An dieses feste, harte Fleisch, welches tief in mich eindringt. Ich habe wirklich versucht mich mit dem Gedanken anzufreunden. Dozent und Student. Mehr nicht. Doch ich schaffe es einfach nicht. Wenn ich meine Augen schließe, dann sehe ich die klaren ausdrucksstarken Augen, die mich in den Momenten der Lust gefangen nehmen. Der Gedanke ist jedes Mal gefolgt von einem intensiven Erzittern, welches durch meinen gesamten Körper jagt. Unkontrolliert und verlangend. Seine Stimme, die sich Millimeter für Millimeter in meine Haut brennt. Doch es ist kein unangenehmer Schmerz, sondern pure Wohltat. Ich will ihn. Ich will ihn nur noch mehr. Mit jedem Blick mehr, den er mir ungewollt und unbewusst schenkt. Im Flur, im Hörsaal oder auf dem Parkplatz. Ich weiß, dass es besser ist mich von ihm fern zu halten, doch ich suche seine Nähe. Das kurze Stelldichein in seinem Büro hat meine Gedanken und Gelüste nur noch verstärkt. Und Antony hat mich ebenso gewollt, wie ich ihn. So sehr, dass er seine neutrale Fassade nicht aufrechterhalten konnte. Ob ich der erste Student bin mit dem ihm das passiert ist? Vermutlich nicht. Doch ich hoffe, dass es so ist und ich der Einzige bin. Meine Gedanken hüpfen hin und her und das ernüchtert mich enorm.

Ich schiebe mein Tablett samt Essensreste zur Seite und lasse meinen Blick über die Studenten in der Mensa wandern. Die Meisten sind geschäftig in Gespräche, Hausaufgaben oder mit Essen vertieft. Ich schaue in die unterschiedlichsten Männergesichter. Adrette, markante, weiche. Alles ist vorhanden, doch keines, was mich sofort fesselt, so wie es Antonys in der Bar getan hat. Wieder spüre ich das Kitzeln, welches ich schon damals empfunden habe. Ein kurzer Blick auf die Uhr und ich mache mich auf den Weg zum Seminar. Antonys Seminar.
 

Bewusst setze ich mich eher abseits. Diesmal trägt er einen marinenblauen Pullover, der sich perfekt an die Konturen seines Körpers schmiegt. Die Farbe betont seine Augen. Seine Schenkel sind in eine lockere schwarze Stoffhose gehüllt und die dennoch seinen Hintern hervorhebt. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn anstarre. Seine perfekten Lippen. Sofort spüre ich das Bedürfnis sie zu berühren. Nur mit Mühe und Not schaffe ich es seinen Worten zu folgen und ertappe mich immer wieder dabei, wie ich ihn beobachte und dabei vergesse mitzuschreiben. Meine Aufzeichnungen sind dementsprechend löchrig. So geht es nicht weiter. Ich bleibe bis zum Schluss sitzen und erhebe mich erst, als der letzte Kommilitone durch die Tür verschwunden ist. Antony sammelt seine Unterlagen ein, schiebt die losen Blätter zusammen. Das leise Klopfen hallt durch den Hörsaal, als er sie begradigend auf das Pult schlägt. Er weiß ganz genau, dass ich noch da bin, aber er dreht sich nicht um. Ich habe seinen Blick gesehen, als sich der Raum leerte.

„Können wir reden?"

„Haben Sie eine Frage zum laufenden Stoff der Vorlesung?" Wieder das Sie. Er hält in seiner Bewegung innen. Ich seufze innerlich.

„Nein"

„Dann nutzen Sie meine Sprechstunden." Nicht sein ernst. Ich kann mir ein ungläubiges Raunen nicht verkneifen. Was er deutlich hört. Antony neigt seinen Kopf zur Seite. Ein kurzer Blick. Das kühle Blau seiner Augen schimmert. Damit lässt er mich stehen. Sprechstunde, das kann er haben. Ärger und Wut durch fahren mich. Dennoch brennt mein Herz.
 

Ich brauche einen Moment um mich von der Abfuhr zu erholen und trotte über den Parkplatz Richtung WG. Ich höre das Zuschlagen einer Tür und blicke auf. Anthony steht vor seinem Kleinwagen. Nur wenige Meter von mir entfernt. Ein Déjà-vu. Ich bleibe stehen und er sieht mich an. Ich verberge meine Enttäuschung nicht und für einen kurzen Moment ändert sich etwas in seinem Blick. Nur minimal, nur kurz. Doch er steigt in seinen Wangen ein und fährt davon.

„Blödmann!", rufe ich dem wegfahrenden Wagen hinterher und verstehe selbst nicht mehr, warum ich wegen dem bisschen guten Sex so an diesem Mann klebe. Er behandelt mich schlecht und allein das sollte mir Grund genug sein ihn zu vergessen. Doch ich kann es einfach nicht. Was ist es nur, weswegen ich ihn einfach nicht aus meinen Kopf bekomme? Es zermürbt mich langsam und es ist definitiv nicht gesund.

„Gib's ihm!", sagt jemand laut neben mir. Ich drehe mich erschrocken um. Hinter mir steht ein großer, blonder Kerl. In seinen Händen hält er ein paar Autoschlüssel und lehnt sich lässig auf die geöffnete Autotür.

„Hat er dir die Vorfahrt genommen?" Seine raue Stimme vibriert in meinem Ohr.

„So in der Art! Ich betitele nur gern Leute als Blödmann", sage ich noch immer angesäuert und lächele schief. „Entschuldige, stehe ich dir im Weg?" Er winkt ab und ich höre, wie er mit dem Schlüssel in seiner Hand klimpert.

„Ich sage lieber nicht, sonst bin ich der Nächste, den du Blödmann schimpfst.", kommentiert er.

„Ach, nicht jeder kriegt von mir ein Blödmann." Er kommt auf mich zu und grinst schelmisch.

„Und was muss man dafür tun?"

„Frag lieber nicht...", sage ausweichend und leicht lachend. Ich mache ihm Platz und blicke noch einmal zu der Stelle, wo eben noch Antonys Wagen zu sehen war. Ich ärgere mich darüber, dass ich über Antonys Reaktion enttäuscht bin. Aber was habe ich erwartet? Er hat mir eindeutig gesagt, dass für ihn das Ganze beendet ist. Nur ein kurzer Spaß und es würde nie wieder passieren. Ich betrete den Gehsteig. Antony tut das, was für ihn am besten ist und ich sollte das auch. Doch was ist für mich das Beste? Ich habe keine Ahnung.

„Hey, alles okay bei dir?" Erst jetzt merke ich, dass der große Kerl noch nicht in sein Auto gestiegen ist und drehe mich wieder zu ihm um. Ich lasse meinen Blick unbewusst über seinen Körper wandern. Seine blonden Haare sind locker gestylt und an seinem rechten Ohr befindet sich eine Unmenge an Piercings. Er trägt eine Lederjacke und eine enganliegende Jeans. Er hat einen guten Körperbau. Sein Gesicht ist scharf geschnitten, sehr maskulin. Irgendwie Attraktiv. Eigentlich genau das Gegenteil von Antony. Er wartet auf eine Antwort und ich bin mir sicher, dass er meine Blicke bemerkt hat.

„Ging schon mal besser, aber alles halb so wild", gestehe ich, „Du studierst auch hier, oder?" Er lehnt sich gegen den Türrahmen des Autos und nickt.

„Und du bist ein Erstsemester, oder?"

„Oh, wow. Hat mir jemand ein fieses Schild an den Rücken geklebt, oder was?", frage ich beeindruckt, drehe mich einmal um meine eigene Achse umso zu tun, als würde ich danach suchen und habe eigentlich nie den Eindruck gehabt, dass ich so jung aussehe. Mein Gegenüber beginnt herzhaft zu lachen. Es ähnelt einem kehligen Brummen.

„Lust auf ein Bier und ein bisschen quatschen? Um die Ecke gibt es einen netten Studentenschuppen.", erkundigt er sich lächelnd. Ich sehe ihn an und denke an das Klischee der höheren Semester, die sich an Erstsemester ranmachen um sie aufreißen. „Ich bin Luka", hängt er mit ran und ich sehe dabei zu, wie er die Autotür schließt. Seine Einladung überrascht mich und irgendwas tief in mir drin ist sogar geschmeichelt. Mein Zögern ist im Grunde nur Makulatur. Ich bin ein großer Junge und kann auf mich aufpassen.

„Ben. Und klingt gut. Ich kann ein Bier vertragen", antworte ich. In mir brodelt noch immer die Wut über Antony. Ein wenig Spaß tut mir gut, rede ich mir ein und verdränge, dass es zu früh ist für Alkohol. Egal. Luka deutet in Richtung der Bibliothek und wir gehen ein paar Minuten.
 

Luka ist bereits im fünften Semester und studiert Literatur und Journalistik. Sein Äußeres kann ich nicht mit der Tatsache in Verbindung bringen, doch die Art und Weise wie er spricht, zeigt deutlich den Umfang seines Vokabulars. Natürlich schreibt er für die Campuszeitung und das schon seit dem zweiten Semester. Er ist wirklich interessant. Ich berichte ihm von meinem Studiengang und erhalte die normale, hochgradig verwunderte Äußerung, ob das nicht schrecklich langweilig sei. Als wir an der Kneipe ankommen, geht er vor, hält mir die Tür auf und zieht mich dann direkt an die Bar. Wir bestellen zwei Bier und setzen uns an den hinteren Bereich des Tresens.
 

„Okay, lass mich raten, du hast noch nichts von unserer Campuszeitung gehört oder auch nur ein Exemplar in der Hand gehabt?" Eine seiner Augenbrauen wandert nach oben und ich setze sofort einen entschuldigenden Blick auf, hebe abwehrend die Hände nach oben.

"Hey, zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass ich erst seit ein paar Wochen hier bin und mich daran erfreue jede Woche meine Vorlesungen wieder zu finden. Ich finde, dafür habe ich ein Lob verdient." Erneut perlt ein Lachen über seine Lippen und er nimmt einen Schluck aus seiner Flasche.

„Akzeptiert, der Campus ist wirklich undurchsichtig, aber daran gewöhnst du dich schnell. Irgendwann kannst du, wie die anderen Studenten im Schlaf von A nach B gehen, glaub mir."

„Na, ob das so erstrebenswert ist?", gebe ich zu bedenken und sehe Luka grinsen.

„Schon Bekanntschaft mit Professor Stroud gemacht?", erkundigt er sich hinterher mit einem seltsamen Unterton. Ich runzele die Stirn und sehe ihn erstaunt an. Anscheinend weiß er einiges mehr über meinen Studiengang als vermutet. Er bemerkt meinen fragenden Blick.

„Ich habe vor einen Jahr ein Interview für die Zeitung mit ihm geführt, daher weiß ich, dass er Professor für deinen Studiengang ist. Ein angesehener Mann, aber ein ziemlich arroganter Typ."

„Ach ja?", entflieht es mir überrascht, „Ich komme dieses Semester wahrscheinlich nicht zu der Ehre ihn kennenzulernen. Er ist auf Studienreisen oder so ähnlich."

„Ja, nach Thailand wahrscheinlich. Dort reist er gern hin für Studienzwecke!" Er betont das Wort Studienzwecke besonders und für einen kurzen Moment zucken sogar seine Hände nach oben um kleine Gänsefüße zu formen. Ich stocke, nicht sicher, ob ich das richtig verstehe.

„Wie meinst du das?", frage ich vorsichtig und sehe, wie sich seine Mundwinkel nach oben ziehen. Ein ebenso seltsamer Gesichtsausdruck.

„Mein Guter, er geht dort auf den Vergnügungsmeilen flanieren und das nennt er dann Studienreise", erklärt er amüsiert. Es dauert einen Moment, bis mir die volle Bandbreite der Aussage klar wird und werde prompt etwas rot. Ich muss ihm vorkommen, wie der naiveste Kerl überhaupt. Ich greife Gedankenversunken nach meinem Bier und nehme einen Schluck der herben Flüssigkeit.

„Hier auf dem Campus, erzählt man sich so Einiges über den werten Herrn Professor und natürlich auch über andere."

„Nicht dein Ernst?" Klatsch und Tratsch auf dem Campus. Nichts Neues. Mein schockierter Gesichtsausdruck ist gespielt. Meines Wissens nach ist der Professor seit Jahrzehnten verheiratet. Solche Gerüchte sind oft der Tod eines angesehen Akademikers. Ich kann es fast nicht glauben. Ein seltsamer Gedanken, zumal das Wirtschaftsingenieurswesen und jeder, der damit zu tun hat als besonders dröge und langweilig angesehen wird. Im Prinzip ist es mir egal, was der Professor in seinem Privatleben macht, doch derartige Dinge zu hören, ist immer wieder eigenartig. Luka mustert mein Gesicht.

„Hey, das sind ja nur Gerüchte. Wer weiß, was da dran ist." Er scheint seine Äußerungen beschwichtigen zu wollen, doch bei mir hatte sich die Vorstellung festgesetzt. Ich nehme einen weiteren Schluck aus der Flasche und sehe ihn kurz an.

„Er ist ein Koryphäe auf seinem Gebiet und das ist das Wichtigste, oder?" Er versucht es weiter und nun kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Luka gibt sich echt mühe. Als er bemerkt, dass ich nur halb so schockiert darüber bin, wie er denkt, wird auch sein Gesichtsausdruck wieder entspannter. Er nimmt einen langen, tiefen Zug aus seiner Flasche und sucht in seiner Jackentasche nach einer Zigarette.

„Das war echt gut, du hättest Schauspiel studieren sollen. Klasse Blick. Ich dachte schon, ich hätte deine kleine Wirtschaftswelt zerstört."

„Mit Klatsch? Nein, so schnell geht das bei mir nicht. Ich bin nicht so provinzmässig, wie du denkst." Ich schlage die Beine übereinander, drehe mich etwas weg und fahre mir kurz durch die Haare.

„Mit dir möchte ich in keinen Konflikt geraten, das weiß man ja nicht, voran man ist."

„So viel zu dem langweiligen Wirtschaftsingenieuren", geben ich nach einen weiteren Schluck Bier von mir und kann nicht verhindern auf seine Zigarette zu starren.

„Touché", murmelt er anerkennend, „Stört es dich?" Er deutet auf seine Zigarette und steckt sie sich bereits zwischen die Lippen. Ich schüttele mit dem Kopf. Mit einem leisen Klacken zündet er sie an, zieht etwas Rauch in seine Lunge und pustet ihn von mir weg. Ich studiere das Glimmen. Das sanfte Orange, welches mit jedem Zug stärker wird. Ich bemerke nicht, das Luka mich beobachtet. Erst, als er sich zu mir beugt. Ich rieche die Zigarettenqualm und sein kräftiges, maskulines Parfüm.

„Möchtest du auch eine?", raunt er mir zu und ich schlucke mein schreiendes Bedürfnis weg. Vor ein paar Jahren habe ich aufgehört, nach dem meine Mutter mir von dem frühen Krebstod meiner Tante berichtet hat. Ich musste ihr Versprechen aufzuhören und das habe ich getan.

Luka beugt sich etwas zurück und sieht mich an. Noch immer ist er mir nahe. Ich erkenne eine lange Narbe an der linken Seite seines Kiefers. Ich fahre sie mit meinen Augen ab und frage mich so gleich, woher sie stammt. Ich überbrücke die Distanz zu seinem Ohr.

„Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich genau diese Sache nicht mehr mache.", flüstere ich ihm zu. Der Ausdruck in meiner Stimme ist heiß und unmissverständlich deute ich damit an, dass ich dafür alles anderen tun würde. Ich weiß nicht, warum ich mit ihm flirte, doch ich tue es. Als ich mich zurücklehne, sehe ich ein eindeutiges Lächeln auf seinen Lippen. Er hat mich genau verstanden. Ich spüre, wie mein Puls nach oben geht und wie ich von meinem eigenen Handeln erschrocken bin. Den Rauch in seinem Mund bläst er lasziv zur Seite und löst dabei seinen Blick nicht. Anscheinend kann ich meine Unsicherheit gut verbergen. Die Intensität in seinen Augen ist die eines Jägers.
 

Erleichterung macht sich in mir breit als sich Luka umwendet, weil eine kleine brünette Frau hinter ihm auftaucht. Er begrüßt sie. Ihre zierlichen Hände wirken in seiner Hand zerbrechlich und zart. Sie haucht ihm ein paar Küsschen auf die Wangen, sieht erst mich und dann ihn fragend an. Luka stellt mich vor und sie lächelt. Ihr Name ist Lili. Ihr Gesicht sieht aus, wie das einer Puppe. Sie arbeitet ebenfalls in der Redaktion. Selbst meine relativ kleine Männerhand wirkt ihrer gegenüber noch gigantisch. Während die beiden sich unterhalten, schweifen meine Gedanken ab.

Was mache ich hier eigentlich? Warum mache ich ihm eindeutige Avancen? Was will ich mir damit beweisen? Dass ich attraktiv bin und Antony den Fehler seines Lebens begeht mich einfach so zu ignorieren. Der Gedanke lässt mich seufzen.

Zwei Wochen Studium. Zwei Wochen Antony und schon handele ich gegen meine Gewohnheiten. Ich bin sonst nicht der Typ der wild rumflirtet. Das mit Antony ist schon kompliziert genau, da kann ich nicht noch mit einem höheren Semester ins Bett gehen. Mein Puls nimmt an Fahrt auf und ich merke, wie sich die Vene meines Halses rhythmisch hervor drückt. Ich trinke den Rest meines Bieres aus und verschwinde kurz auf die Toilette. Dort lasse ich mir etwas kaltes Wasser in die Hände laufen, benetze meine Wangen und Lippen.

„Was um Himmelswillen mache ich hier nur?", flüstere ich meinem Spiegelbild zu. Ich blicke in meine warmen braunen Augen, wandere weiter zu meinen gut proportionierten Lippen und denke sofort an Antony perfekte. Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, wird mir ganz heiß. Ich schließe meine Augen und sehe seine wunderschönen blaugrünen Iriden. Ich bin echt am Arsch. Er hat mich eiskalt abblitzen lassen. Nie wieder! Das hat er gesagt. Der Gedanke daran schmerzt mehr als ich es für möglich gehalten habe. Es war doch schließlich nur eine Fantasie.

Erneut lasse ich mir etwas Wasser in die Hände laufen und gehe zurück zur Bar. Noch immer steht Lili bei ihm, doch als ich komme wandern beide Blicke zu mir. Sie sieht eine Augenbraue nach oben, scheint mich zu mustern und flüstert ihm dann etwas ins Ohr. Luka grinst eindeutig. Bevor ich bei ihnen bin, hebt sie eine Hand zum Gruß und geht zum Ausgang. Ich sehe ihr nach und dann zu meinem Gesprächspartner.

„Sie geht schon?", frage ich und bleibe neben ihm stehen.

„Sie muss noch mal in die Redaktion. Ich leider auch." Ich spüre, wie sich Erleichterung in mir ausbreitet. Ich verkneife mir ein tiefes, befreites Einatmen.

„Wie schade", flüstere ich unerwarteter Weise stattdessen und setze einen enttäuschten Blick auf. Ich bin wirklich ein guter Schauspieler. Erschreckend. Er beugt sich zu mir.

„Ja, wirklich schade, denn ich hätte gern gewusst, was dir deine Mutter nicht verboten hat.", raunt er deutlich. Sein heißer Atem trifft mein Ohr, verursacht das aufgeregte Aufbäumen meiner feinen Härchen. Im Nacken. An meinem Hals. Ich spüre es bis zu meinen Zehen. Es ist Aufregung und auch Erregung. Ich spüre, wie mein Herzschlag sich erneut beschleunigt. Er greift in seine Jackentasche, zieht seine Zigarettenschachtel heraus und reicht sie mir. Sie fühlt sich leer an.

„Vielleicht rufst du mich mal an." Noch immer beugt er sich zu mir. Ich sehe auf und bevor er endgültig aufsteht, drückt er mir einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Ich schmecke die herbe Süße des Bieres und das Aroma der Zigaretten. Es stört mich nicht. Es hat etwas Anregendes. Er löst sich von mir und schaut mit zuckender Augenbraue auf die Zigarettenschachtel. Erst jetzt sehe ich, dass an der Seite eine Nummer geschrieben steht.

„Für einen guten Fick bin ich immer zu haben." Ein kurzes, freches Grinsen und ein weiterer Kuss. Damit rauscht er an mir vorbei zur Tür. Ich sehe ihm nach, wiege die Schachtel in meinen Händen und spüre darin eine Bewegung. Ich öffne sie, finde eine einzelne Zigarette und einen Zettel.

~ Die Zigarette danach. Luka~ Mein Gesichtsausdruck muss im ersten Moment ziemlich blöd aussehen, doch dann komme ich nicht umher darüber zu lachen.

Die verbotene Süße

Kapitel 6 Die verbotene Süße
 

Als ich die Bar verlasse, klingelt mein Telefon. Es ist bereits dunkel. Ich schiebe die Zigarettenschachtel in die Innentasche meiner Jacke und fummele mein Handy aus der Hose. Es ist Anni. Wer auch sonst.

„Hey, my Dear, wo bist du? Ich war bei dir in der WG, aber dort hat dich seit heute Morgen niemand mehr gesehen." Ich nehme mit Verwunderung zur Kenntnis, dass mich überhaupt jemand gesehen haben will, denn ich habe keinen der beiden bemerkt.

„Bin noch unterwegs. Ich hab eine nette Studentenkneipe gefunden", plaudere ich belustigt um zu verhindern, dass ich mich in irgendeiner Form verplappere. Das geschieht bei Anni recht häufig.

Ich bleibe kurz stehen und sehe zu der Bar zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es durchgezogen hätte. Antony hat mich abserviert, doch in meinem Inneren habe ich noch nicht aufgeben. Ich will es nicht. Er hat ein genauso großes Verlangen nach mir, wie ich nach ihm. Dessen bin ich mir sicher. Ich höre nur halb zu, während mich Anni am Telefon mit ihren Mädchenproblemen volllabbert und gehe langsam nach Hause. Meine Gedanken drehen sich um Antony, aber auch um Luka. Dessen freche, direkte Art hat etwas Erfrischendes und auch Aufregendes.

„Ben!!!" Ich drehe gerade den Schlüssel im Schloss um und erschrecke, als ich Anni aufgebrachte Stimme höre.

„Ja?", frage ich unschuldig.

„Du hörst mir gar nicht zu! Ich dachte, ihr schwulen Kerle seid anders." Ich schüttele den Kopf über diese Aussagen. So etwas sagt sie öfter.

„Du weißt, es gibt immer Ausnahmen. Tada."

„Ja und du bist einer von diesen Blasen", sagt sie bissig und ich seufze. Ich habe keine Lust auf einen Streit und seufze fahrig.

„Ja, tut mir Leid, Liebes. Wo drückt denn der Schuh?", frage ich sie gespielt mitfühlend und ziehe mir meine Schuhe aus. In der WG ist es überall dunkel. Wahrscheinlich sind Rick und Marie schon wieder außer Haus.

„Ja, nee. Sag mir lieber, was mit dir los ist und wo du warst." Das fragt sie jetzt, wo sie mich gerade eine Viertelstunde lang vollgetextet hat. Ich ziehe mir umständlich die Jacke über den Kopf und werfe mich auf mein Bett.

„Habe ich doch gesagt, ich war was trinken", wiederhole ich.

„Allein?" Sie zweifelt berechtigter Weise, denn das ist ganz und gar nicht meine gewohnte Art.

„Nein", antworte ich wahrheitsgemäß und rechne mit einem sofortigen Fragenmarathon.

„Oh hooo! Der nette Jurastudent? Wie hieß er doch gleich? Max?" Gut möglich, aber nein. Außerdem habe ich seinen Namen längst wieder vergessen.

„Kann sein und nein." Ich höre Anni am anderen Ende tief einatmen.

„Mister Kaufmann, bekommt Ihr Sexleben endlich wieder Schwung?" Wenn sie nur wüsste. Ich verdränge den Gedanken an Antony und seinem wohltuenden Körper. Ich bin wirklich am Arsch.

„Keineswegs. Ich habe lediglich ein Bier getrunken und mich nett mit jemanden unterhalten. Im Gegensatz zu dir beherzige ich meinen Ratschlag neue Leute kennenzulernen."

„Ich lerne auch Leute kennen", entfährt es ihr empört.

„Deine Kommilitonen zählen nicht, denn mit denen sitzt du den ganzen Tag in einem Raum. Die sind Inventar", kommentiere ich ihre Empörung und fahre mir im Liegen über die Wangen.

„Gar nicht wahr! Egal, erzähle mir mehr! Mit wem hast du dich denn so nett unterhalten?"

„Schaff dir ein eigenes Sexleben an.", watsche ich sie lässig ab und werde nicht anfangen rumzutratschen.

„Also doch! Ich will ein paar schmutzige Details", bettelt sie.

„Anni deine Neugier ist äußerst seltsam und sicher nicht normal."

„Was denn? Ich finde es einfach gut, wenn du dich mit jemand anderen durch die Kissen wälzt, denn dann vergisst du endlichen diesen Bartypen Schrägstrich Dozenten", wettert sie deutlich und ich kann förmlich hören, wie sie die Augen verdreht. Für Anni muss es immer schön einfach laufen, sonst ist es die Mühen nicht wert. Leider ist das nur selten der Fall und ich glaube daran, dass Antony den Stress wert sein würde. Bei der Erwähnung seines Namens wird mir wieder ganz kribbelig.

„Das mit Antony ist einfach..." Ich breche ab und frage mich selbst, was das eigentlich ist.

„...ist nicht gesund für dich, also schlag ihn dir aus den Kopf. Ich habe übrigens mit einer Kommilitonin gesprochen. Sie ist von ihrer alten Universität geflogen, weil sie eine Affäre mit ihrem Professor hatte. Das weiter zu verfolgen, ist also eine ganz schlechte Idee." Ich fahre mir mit der Hand über das Gesicht und seufze schwer.

„Das hast du dir ausgedacht", kommentiere ich.

„Nein, Ben, das habe ich nicht. Er ist dein Dozent und er ist tabu." Ich seufze. Das Wort Tabu geisterte lange durch meinen Kopf. Ja, Antony ist tabu, aber wie mit allem, was tabu ist, wird es dadurch nur noch reizvoller.

„Hast du mir zu gehört?", fragt sie noch einmal mit Nachdruck hinterher. Ich knirsche mit den Zähnen, seufze laut damit Anni es auch hört und blase dann die Wangen auf.

„Jaaaaaa ~", stöhne ich energisch, „Antony ist tabu. Er hat sowieso 'Nie wieder' gesagt", murmele ich lethargisch und stocke, als ich merke, was ich gerade gesagt habe. In meinem Magen wird es einen Moment flau.

„Wie bitte?", folgt sofort von Anni. Ich schlucke leise.

„Er hat nichts...weiter gesagt...", stottere ich hervor und halte die Luft an. Mein Versuch mich herauszureden ist gar nicht so schlecht und ich kneife die Augen zusammen in der Hoffnung, dass sie es schluckt.

„Nichts weiter oder nie wieder?" Verdammt, sie hat es doch gehört.

„Nichts weiter. Er ignoriert mich knallhart... die ganze Zeit." Ich mache eine kurze Pause, doch Anni sagt ebenfalls nichts. Ich stelle mir vor, wie sie auf ihrem Bett sitzt und dieses misstrauische Gesicht macht. Sicher tippt sie sich nachdenklich mit den langen Fingernägeln gegen die angezogenen Knie. Ich höre nur hin und wieder ein kleines Hm.

„Weißt du, ich mache jetzt Schluss. Ich will noch duschen, was essen und dann einfach nur pennen. Vielleicht fange ich doch mit dem Winterschlaf an", sage ich vorsichtig.

„Na gut", brummt sie mir entgegen und ich weiß, wie sehr es in ihr arbeitet. Was keineswegs gut für mich ist. Das hat sicher noch ein Nachspiel. Nach einem übertriebenen Abschiedsgruß lege ich auf, schmeiße das Handy zur Seite und schirme mir dann mit dem Arm die Augen ab. Verdammte Heimlichtuerei. Normalerweise hätte ich mit ihr darüber geredet, aber ihre negative Einstellung zu der ganzen Sache hemmt mich. Ich will ihre Meinung nicht hören, auch wenn sie gut gemeint ist. Denn sie versteht es einfach nicht. Sie versteht nicht, was der gutaussehende Dozent in mir auslöst. Ich weiß selbst, dass es keine gute Idee ist ihm nachzulaufen, doch ich bekomme Antony einfach nicht aus meinem Kopf. Seit der Nacht in der Bar empfinde ich diese prickelnde Verknalltheit. Die Gefühle, die in mir beben, brodeln und flammen, sind kompliziert. Es ist mehr als ein einfaches Verlangen, mehr als ekstatische Begierde. Ich möchte ihn kennenlernen und die kühle seiner Augen ergründen. Ich drehe mich auf die Seite und starre einen Moment gegen die Wand. Ich bin wirklich im Arsch. Entweder ich werde langsam geisteskrank oder ich verliebe mich in den attraktiven Mann. Ich weiß nicht, was besser ist.
 

Ruckartig setze ich mich auf und verschwinde ins Badezimmer. Zum zweiten Mal an diesem Tag stelle ich mich vor dem Spiegel und betrachte mein Gesicht. Ich bin attraktiv, das weiß ich und das sagt man mir auch. Antony empfindet es so, dessen bin ich mir sehr sicher, sonst hätte er nicht diesen schwachen Moment gehabt. Diese schwachen Momente. War ich für ihn doch nur ein Abenteuer? Ein schneller Fick. Zweimal. Die Möglichkeit packt mich mit Eiseskälte. Ich hoffe es nicht, aber ich weiß es auch nicht. Ich hätte gern Klarheit. Und ein Nie wieder ist keine Klarheit.

Ich ziehe mir das T-Shirt über den Kopf und begutachte mich weiter. Schlank und sportlich. Definiert, aber nicht extrem muskulös. Die Meisten halten mich für den passiven Part, doch ich kann auch anders. Ich setze meinen maskulinen Blick auf und fange fast selbst an zu lachen. Was mache ich nur? Ich fahre mir durch die Haare, schätze ein, dass sie mittlerweile schon etwas zu lang sind und entledige mich der Hose.

Unter der Dusche lasse ich mir eine Weile das warme Wasser über den Kopf fließen. Es umfängt mich, wie eine sanfte, angenehme Umarmung. Eine gefühlte Ewigkeit spüre ich die wohltuende Hitze und beginne dann mit der Körperpflege. Rasieren, Shampoonieren und Einseifen. Bis mein gesamter Körper wieder glatt und weich ist. Für eine Weile denke ich einfach nur an mich selbst und an das, was mir gut tut. Nach einen kleinen Snack und ein wenig Fernsehen, gehe ich ins Bett und schlafe erstaunlich schnell ein.

Der folgende Tag verrinnt mir förmlich durch die Finger. Vorlesung über Vorlesung und mehrere Stunden braves Bibliotheksitzen. Zu meinem Glück findet mich Anni nicht. Während ich in der Bibliothek Bücher wälze, habe ich vier entgangene Anrufe. Als ich nach Hause komme, habe ich nicht einmal die Kraft noch etwas zu essen. Ich falle ins Bett und mein Kopf driftet in den Ruhemodus ab. Augenblicklich sehe ich ihn. Diesmal verdränge ich die Gedanken nicht, sondern lasse die Bilder auf mich einrieseln. Ich genieße sie. Seine feuchten Lippen, die fein Glänzen und so einladend wirken. So wohlschmeckend. Die Erinnerung an das Aroma seiner Haut. Der Duft seines Haares. Ich fühle die Wärme, die sich auf meiner Haut.

Annis Worte hallen mir durch den Kopf. Eine Kommilitonin, die der Uni verwiesen wurde. Ich greife mir meinen Laptop und ziehe ihn mir auf den Schoß. Ich beginne verschiedene Internetseite abzusuchen. Ich finde genau das, was ich erhofft habe und lehne mich zurück. Keine Ausreden mehr. Eine Beziehung zwischen Student und Dozent ist nicht strafbar. Bevor ich einschlafe, bin ich mir sicher, dass ich morgen seine Sprechstunde nutzen werde. Ich werde nicht aufgeben und mich nicht seiner Ignoranz hingeben.

Am Morgen schnappe ich mir meine Jacke und verlasse das Haus. Ich bringe die Vorlesungen und ein Besuch in der Bibliothek hinter mich. Am späten Nachmittag stehe ich vor seiner Tür und atme tief durch. Mehrmals Mein Blick wandert über das Namensschild. Antony Rochas.
 

Ich klopfe und verschränke danach unwillkürlich die Arme vor der Brust. Ich wappne mich dafür, dass er nicht mit mir reden will. Auf mein Klopfen erfolgt keine Antwort. Ich klopfe erneut, denn ich weiß mit Sicherheit, dass er da ist. Die Tür schwingt auf und er sieht mich an. Für einen Moment denke ich, dass er mit die Tür vor der Nase zu schlägt, doch dann zieht er mich in sein Büro. Der feine Duft seines Aftershave erfasst mich und mich durchfließen Wellen der Erregung.

„Was willst du hier?" Obwohl niemand anderes im Raum ist, flüstert er.

„Du hast gesagt, wenn ich keine Fragen zum Stoff habe, dann soll ich in die Sprechstunde kommen", knalle ich ihm entgegen und er sieht mich verdattert an.

„So, habe ich das nicht gemeint."

„Schon klar."

„Und was soll das dann?"

„Na ja, auf eine andere Art und Weise lässt du nicht zu, dass wir miteinander und ich habe ehrlich gesagt keine Lust mehr, noch öfter zuzusehen, wie du schweigend an mir vorbei rennst oder fährst. Nettes Auto übrigens." Er weiß selbst, dass das eine kindische Art und Weise ist, denn so verschwinden die Probleme nicht. Wahrscheinlich hat er gehofft, dass ich mich derartig entmutigen lasse, das sich das Problem von allein löst. Ich kann einfach nicht. Ich will es nicht. Antony streicht sich durch die dunklen Haare und schließt die Augen.

„Ben, ich habe dir gesagt, dass das Ganze ein Fehler ist und es wird so nicht wieder passieren." Ich schmunzele über die abweichende Wortwahl. Kein nie. Er scheint es selbst nicht mit zu bekommen. Meine Mundwinkel zucken nach oben.

„Gut." Ich stimme seiner vorigen Aussage zu und sehe, dass ihn mein seltsames Lächeln irritiert. Kurz entschlossen ziehe ich mir die Jacke aus und werfe sie auf den Besucherstuhl. Mir wird langsam warm. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Strickjacke runter und sehe ihn an. Er beobachtet mich dabei, sieht meinen Fingern dabei zu, wie sie an dem Verschluss spielen.

„Was willst du hier?", fragt er ruhig.

„Ich möchte wissen, warum du so tust, als wäre es illegal. Ich bin über 18 Jahre alt. Die Konsequenzen, von denen du sprichst, existieren nicht. Also, was ist das Problem? Sei ehrlich zu mir." Meine Worte sorgen dafür, dass sich seine Haltung ändert. Sauer verschränkt er seine Arme vor der Brust. Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Er weicht nicht zurück. Er ist ein halben Kopf größer als ich und so blicke ich zu ihm auf. Antony spielt den Verärgerten. Sehr gut sogar. Seine kühlen Augen schimmern, aber ich sehe darin nicht nur Ablehnung und Widerwillen, sondern viel mehr. Auch für ihn ist diese Situation nicht einfach. Anspannung erfüllt den gesamten Raum. Sie knistert leise und unnachgiebig.

„Ich weiß, dass du alt genug bist, das ist nicht das Problem."

„Was ist es dann?", bitte ich erneut darum endlich Klarheit zu bekommen.

„Ich muss deine Hausaufgaben benoten und dir deine Prüfungen abnehmen und...ist eine Frage der Berufsethik..."

„Dann benotet mich jemand anderes. Professor Strout, du meintest er ist zum Ende des Semesters wieder da und..."

„Nein", entflieht ihm schnell und resolut. Ich sehe ihn irritiert an und hebe fragend meine Hände in die Luft.

„Professor Stroud, er ist...kompliziert...und man kann mit ihm über solche Dinge nicht reden." Er bricht ab und sieht mich an. Seine Äußerungen sind löchrig, dass merkt er selbst.

„Er muss es doch nicht erfahren. Wir fragen jemand anderen", sage ich leise, doch er schüttelt nur den Kopf.

„Ben, bitte..." Ich sehe, wie sein Atem sich beschleunigt. Ich greife nach seiner Hand. Zuerst zieht er sie weg, doch ich greife erneut danach, löse seine verschränkten Arme und diesmal lässt er mich gewähren. Ich platziere seine Handfläche auf meine Brust, direkt über meinem Herzen.

„War ich nun ein Fehltritt für dich? Bereust du es?", frage ich ruhig. Jedes Wort brennt. Ich sehe die Anspannung in seinem Gesicht und wie sich seine Augenbrauen leicht zusammen ziehen. Hinter seinem schönen Gesicht muss es extrem arbeiten. Seit ich in sein Büro getreten bin, schlägt mir mein Herz bis zum Hals. So wie jedes Mal, wenn ich in seiner Nähe bin. Jeden Millimeter seines Gesichts fahre ich ab, beobachte jede noch so kleine Regung. Es ist eine Mischung aus zu vielem. Für mich ist es mehr, als nur ein dummes Abenteuer. Die Hand an meiner Brust wird immer wärmer. Ich spüre, wie seine Fingerkuppen leicht in den dünnen Stoff meines Shirts greifen. Das Pochen in meiner Brust wird lauter und heftiger. Ich merke die Bewegung und die Reibung auf meiner Haut als er seine Fingerspitzen noch stärker gegen mich drückt.

„Wir kriegen Probleme...", wiederholt er. Es ist keine Antwort auf meine Frage. „Wir kriegen beide...Probleme, wenn es rauskommt, wenn er es erfährt. Ich... du auch!" Dessen bin ich mir bewusst. Er möchte seine Hand wegnehmen, doch ich halte sie noch einen Moment fest.

„Wir dürfen uns so in der Uni nicht sehen." Auch das weiß ich. Ich lasse seine Hand los und sie sinkt zurück. Ich beobachte ihn, wie er auf seine Fingerkuppen schaut, so als würde er noch immer meinen Herzschlag auf ihnen spüren. Unbewusst streicht sein Daumen darüber, dann sieht er mich an. Allein seine Nähe lässt alles in mir pulsieren. Ich kann meine Erregung kaum verstecken. Der Widerstand in ihm schmilzt, ich kann es sehen und beiße mir auf die kribbelnden Lippen. Ich verringere den Abstand zwischen uns.

„Wir dürfen das nicht." Ein letzter fahriger Versuch. Es ist nur ein Flüstern und ich sehen, wie seine hellen blaugrünen Augen auf meine Lippen gerichtet sind. Wir dürfen es nicht, aber wir wollen es. Beide. Ich überbrücke die letzten Zentimeter und schmecke die herrliche Süße seiner verbotenen Lippen, nach denen ich mich jede Nacht sehne. Seine Hand wandert in meine Haare, zieht mich näher in den Kuss und lockend öffne ich meine Lippen. Die Berührung unserer Zunge lässt tausende Blitze durch meinen Körper jagen. Zuckend und erregend. Kann etwas nicht Verbotenes so gut sein? Ich lege ihm meine Arme um den Hals und drücke seinen warmen Körper dichter an meinen. Unser Kuss wird immer heftiger und leidenschaftlicher. Währenddessen fahren nun beide seiner Hände unaufhörlich durch meine Haare. Minimal löst er den Kuss. Ich spüre seinen heißen Atem auf meinen Lippen und ersehne mir sofort die Berührung zurück. Den Druck. Seinen Geschmack. Ich schnappe nach seiner Unterlippe, lasse meine Zähne leicht darüber streichen und lecke über die geschundenen Stellen mit der Zunge. Er schnappt frech danach, doch ich ziehe ihn nur wieder in einen langen, intensiven Kuss.
 

Die Vibration seines Handys auf seinem Schreibtisch durchbricht die elektrisierte Spannung. Ich wünsche mir er würde es ignorieren, doch zu meiner Enttäuschung löst er sich schnell und ist mit wenigen Schritten hinter seinem Schreibtisch. Er starrt auf den kleinen Handcomputer und sieht erschrocken zu mir. Plötzlich ist jede vorige Emotion aus seinem Blick verschwunden.

„Scheiße. Du musst gehen." Er streicht sich über die feuchten Lippen und damit meinen Geschmack davon. Währenddessen sieht er zurück auf das Handy, welches mittlerweile aufgehört hat zu vibrieren. Meinen verwunderten Blick ignoriert er. Er beginnt ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu ordnen und wirkt seltsam hektisch.

„Antony, was ist denn los?" Er bringt mich mit einem Handzeichen zum Schweigen und in diesem Moment klingelt sein Festnetztelefon.

„Los, geh. Bitte." Er deutet unnachgiebig zur Tür. Das Eiskalte und Unnahbare hat er auch wirklich gut drauf. Seine übertriebenen Reaktionen sind mir ein Rätsel und ich bin genervt, aber genauso auch enttäuscht. Antony hebt den Telefonhörer ab.

„Rochas. Professor!" Er sieht mich eindringlich an.

Mit gemischten Gefühlen verlasse ich sein Büro und verschwinde schnellen Schrittes den Flur entlang. Einige Studenten kommen mir entgegen. Um diese Uhrzeit sind es nur noch Vereinzelte.
 

Als ich die Treppe runter gehe und um die Ecke biege, stoße ich gegen einen komplett in schwarz gekleideten Typen. Trotz des schlechten Lichts trägt er eine Sonnenbrille. Er fängt mich an den Schultern ab.

„Vorsichtig, sonst gibt es Verletzte", entgegnet er mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht. Etwas in seiner Stimme jagt mir einen seltsamen Schauer durch den Leib. Seine Worte sind freundlich, doch der Ausdruck und der Klang seiner Stimme sind bedrohlich.

„Entschuldigen Sie vielmals. Ich... ich war in Gedanken." Seine Hand liegt noch immer an meiner Schulter. Er drückt leicht zu.

„Schon gut, es ist ja nichts passiert." Er grinst und lässt mich los. Ich sehe ihm nach, wie er die Treppe nach oben steigt. Als ich draußen ankomme, bemerke ich, dass ich meine Jacke bei Antony im Büro liegen gelassen habe.

„Mist." Zögernd stehe ich vor dem Fakultätsgebäude und weiß nicht, ob ich noch mal nach oben gehen oder einfach nach Hause verschwinden soll. Was verdammt noch mal war da eben passiert? Wieso hat er so reagiert? Er war abweisend und unfreundlich. Ich ärgere mich, ziehe meine Strickjacke um meinen Bauch und entscheide mich gegen die Jacke. Fröstelnd und Arme reibend laufe ich in die WG.

Der einfache Weg in die falsche Richtung

Kapitel 7 Der einfache Weg in die falsche Richtung
 

Ein lautes Telefongespräch weckt mich am Morgen. Ricks Stimme ist aufgebracht und energisch. In Shorts schleiche ich zur Tür und öffne sie. Nur einen Türspalt breit, doch ich kann ihn zwischen seinem Zimmer und dem Flur hin und her laufen sehen. Ich schaue zur anderen Seite und erkenne Marie, die ihren wuscheligen Kopf durch die Tür gesteckt hat und mich nun fragend ansieht.

Ich zucke mit den Schultern und gebe ihr zu erkennen, dass ich nicht weiß, worum es geht. Mit Händen und Füßen diskutieren wir darüber, ob wir ihn ansprechen sollen. Ich möchte, dass Marie geht, doch sie deutet mir dasselbe an. Okay, das ist albern.

Ich winke Marie heran und nach kurzem Zögern, gehen wir gemeinsam zu seinem Zimmer. Rick sitzt auf seinem Bett. Das Telefon liegt auf seinem Bauch und er hat seine Augen geschlossen.

„Alles in Ordnung?", frage ich vorsichtig in den stillen Raum hinein und ein wenig erschrocken schaut er auf. Wir müssen ein seltsames Bild abgeben. Ich in Shorts, Marie in ihren Schlafklamotten und Rick trägt noch seine Straßenschuhe.

„Entschuldigt bitte, wenn ich euch geweckt habe." Rick steht auf und kommt auf uns zu. Er fährt sich ermattet durch die Haare. Wir lassen ihn vorbei und folgen ihm tapsend in die Küche. Dort lässt er sich auf die Strecke fallen. Marie berührt meinen Arm und sie setzt zu ihm an den Tisch. Ich bleibe neben der Tür stehen.

„Was ist denn los?", fragt Marie einfühlsam und kitzelt damit ein weiteres schweres Seufzen aus Rick heraus. Er sieht uns abwechselnd an.

„Cora hat Schluss gemacht", entflieht ihm gequält. Oh man. Die beiden waren eine Ewigkeit zusammen. Seit der Schulzeit, soweit ich mich erinnere.

„Was ist passiert?", erkundigt sich Marie und sieht genauso verwundert aus, wie ich mich fühle.

„Tja, sie ist der Überzeugung ich gehe fremd und würde mich nicht mehr für unsere Beziehung interessieren. Totaler Blödsinn. Ich meine, ich pendele, wie ein Bekloppter hin und her, nur damit wir uns sehen. Da quatscht mich einmal eine alte Bekannte auf einer Feier an und sie wird so eifersüchtig, das sie denkt ich gehe fremd?", platzt es energisch aus ihm heraus. Begleitet wird seine Tirade mit stetigen kleinen Seufzern. Wir lassen ihn reden, denn anscheinend braucht er es. Ich lehne mich in den Türrahmen und lasse mich von den Problemen dieser Beziehung berieseln. Mit jedem Wort, das er über ihre Äußerungen und Problematiken verliert, bin ich erleichterter schwul zu sein. Meine bisherigen Beziehungen waren auch nie unkompliziert und mit Anni führe ich, in der Hinsicht eine Art Hetero-Ersatzbeziehung, denn ich kämpfe oft mit genau denselben Problemen bei ihr. Seinen gesamten Frust lässt er raus, schimpft über Reaktionen und Kleinigkeiten. Zum Schluss lässt er sich ermattet zurückfallen und legt den Kopf in den Nacken.

„Wow, du liebst sie wirklich, oder?", frage ich ihn danach, denn trotz der kritischen Worte ist eindeutig zu hören, das er niemand anderen will, außer sie. Er sieht mich verblüfft an und auch Marie tut es.

„Ach komm, du hast uns zwar gerade ihre Fehler aufgezählt und dich sagenhaft über sie aufgeregt, aber eigentlich sind das alles Gründe, weshalb du sie liebst, sonst würde dir vieles davon gar nicht auffallen oder wäre dir total egal." Sie sehen mich an, wie Goldfische.

„Warte ein paar Stunden und dann fahr zu ihr. Redet in Ruhe miteinander. Wahrscheinlich ist ihre Eifersucht schlichtweg eine Angstreaktion und sie will sehen, ob du noch um sie kämpfst. Eifersucht ist immer der einfache Weg, aber der falsche. Eine derartig lange Beziehung wirft man nicht einfach weg und das weiß sie ganz sicher.“ Damit stoße ich mich vom Türrahmen ab, streiche mir über den schlanken Bauch und schlendere ins Badezimmer. Nach dem Frühstück hält mich Rick noch einmal zurück.

„Hey, danke"

„Wofür?"

„Na, dass du mich wieder runtergeholt hast und mich an das erinnert hast, was eigentlich wichtig ist. Das man für das, was man wirklich möchte, kämpfen sollte."

„Noch hat es dir nicht geholfen.", kommentiere ich, grinse und will in mein Zimmer, doch er hält mich weiterhin zurück.

„Danke, wirklich!"

„Keine Ursache und ich spiele gern den WG-Kummerkasten. Die ersten drei Tipps sind kostenlos. Danach 10 Euro die Stunde!" Er lacht und ich erwidere es. Er verschwindet aus der Küche und ich bleibe an der Arbeitsplatte stehen. Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre eine Weile auf eine Unebenheit im Boden. Das PVC hat mehrere kleine Wellen gebildet. Mit meinem Fuß trete ich sie platt. Wenn ich ihn wegnehme, kommt die Welle wieder hoch. Sehr widerstandsfähig. Gedankenversunken mache ich das ganze Spiel noch ein paar Mal.

Für unser Alter ist es schon eine halbe Ewigkeit, die sie miteinander verbringen. Meine längste Beziehung hielt ein dreiviertel Jahr. Und selbst das war irgendwie nur ein ewiges Hin und Her
 

Ich koche mir einen weiteren Kaffee und setze mich an meinen Laptop. Aus dem Internet ziehe ich mir die Folien der neuen Woche und überfliege sie. Nach einer Weile lehne ich mich zurück. Ich bin zu unkonzentriert um vernünftig zu arbeiten. Das Alles macht mich wahnsinnig. Ich fahre mir mit beiden Händen über das Gesicht und stehe auf. Ich brauche Bewegung. Zuerst sammele ich die rumliegenden Klamotten zusammen und schmeiße eine Waschmaschine an. Danach sieht mein Zimmer schon halbwegs aufgeräumt aus. Nach einer guten Stunde sitze ich erneut vor dem Laptop und starte einen weiteren Versuch die neuen Folien durchzuarbeiten und die alten aufzuarbeiten. Am späten Nachmittag schneit Marie in mein Zimmer und weist mich daraufhin, dass ich mit dem Einkauf dran bin. Eine willkommene Abwechslung. Prokrastination. Ein herzliches Willkommen. Dritte Woche im Studium. Vielleicht sollte ich meine Lebenshilfe noch mal überdenken. Wir besprechen kurz die Einkaufsliste und gemeinsam gehen wir los. Am Bus trennen sich unsere Wege. Marie fährt weiter zu ihren Eltern. Pünktlich an der Kasse klingelt mein Handy.

„Hey, Sugar. Du machst dich ganz schön rar. Ich habe noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen", plappert Anni und ich lege mir das Handy zwischen Schulter und Ohr.

„Warum, ich bin doch ganz lieb und brav", weiche ich ihr aus. Ich fummele das Portmonee aus meiner Tasche und bezahle den Einkauf. Ich nehme dankend das Wechselgeld entgegen.

„Das glaubst du, doch selbst nicht, Ben."

„Meine Selbstverleugnungskräfte sind meisterlich." Sie lacht und durch die folgende Stille weiß ich, dass sie mich bei physischer Anwesenheit hypnotisch anstarren würde. „Okay, welches Hühnchen meinst du?", erfrage ich mich meines Schicksal hingebend. Ich versuche den Einkauf und das Telefon zu handhaben. Die Papiertüten in meiner Hand sind schwer.

„Das große Attraktive mit den blauen Augen." Ich seufze ergeben. Natürlich will sie über Antony sprechen. Ich verkneife mir eine Richtigstellung seiner Augenfarbe und mache mich auf den Rückweg.

„Und?", frage ich dümmlich, weiß aber worauf sie hinaus will.

„Und? Fragst du das ernsthaft. Ben, du darfst ihn nicht mehr sehen. Er macht dich ganz kirre im Kopf und das ist nicht gesund."

„Und wie soll ich das anstellen? Vorschläge, Frau Besserwisserin? Ich kann doch schlecht mit der Vorlesung aufhören, nur damit ich ihn nicht mehr sehe. Der Kurs ist obligatorisch, Anni. Ich muss ihn machen und es ist ein Einführungskurs, der mir im dritten Semester nichts mehr bringen wird."

„Das weiß ich doch."

„Und wieso nervst du mich dann?"

„Ich nerve nicht. Ich warne." Ich verdrehe beim Laufen mit den Augen.

„Warnen? Anni, bin kein kleines Kind mehr, was du davor beschützen musst, nicht auf die heiße Herdplatte zu fassen."

„Und genau darin liegt der Trugschluss. Gerade ihr großen Jungs spielt gern mit dem Feuer und das macht es so besonders gefährlich." Ich seufze schwer und das nicht nur wegen dem Gewicht der Tüten. Nun höre ich auch bei ihr ein ungeduldiges Geräusch.

„Benedikt, ich habe deinen Blick gesehen. Du wirst nicht aufhören, ihn sehen zu wollen. Es ist als würdest du vor einem großen roten Knopf sitzen, den du auf keinen Fall drücken darfst und was meinst du wird passieren? Richtig! Knall! Kabumm!" Die Geräusche, die sie von sich gibt, klingen absurd. Wenn sie wüsste, dass ich den großen roten Knopf längst gedrückt habe. Und es hat Spaß gemacht ihn zu drücken. Sehr sogar. Und ich würde ihn wieder drücken, so oft und so lange bis ich verhungere. Da gab es mal Experimente mit Mäusen, oder? Über die Gedanken muss ich etwas lachen.

„Du bist schon so ein großer roter Knallk(n)opf", werfe ich ihr durch das Telefon entgegen und ernte ein empörtes Schnaufen.

„Ich meine es ernst, Ben. Ich mache mir nur Sorgen." Die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme holt mich in die Realität zurück.

„Ich weiß! Anni, mir geht es gut und du weißt auch, dass ich die meiste Zeit ganz vernünftig bin. Du brauchst dir keine Sorgen machen."

„Du machst mich fertig!"

„Mit Freude, wie immer", entgegne ich grinsend.

„Gut, lass uns heute oder morgen ausgehen", setzt sie nach, ohne auf meinen Ausspruch einzugehen.

„Und wohin und vor allem wieso?", frage ich sie. Lust habe ich keine.

„Einfach irgendwo tanzen oder etwas trinken. Lass uns jemanden kennenlernen. Etwas Nettes für dich und was Nettes für mich. Wie klingt das?"

„Unwahrscheinlich und öde", erwidere ich wahrheitsgemäß und denke darüber nach, was beim letzten Mal passiert war als ich mir etwas Nettes gesucht habe. Das langweiligste Date meines Lebens. Und als ich die Sau rausgelassen habe, ist Antony passiert. Außerdem hat auch Anni keine Gabe dafür nette Kerle kennenzulernen. Eher sagenhafte Idioten, deren Abschied im Endeffekt mit massig Tränen und Gebrüll endeten.

„Komm schon. Ich will tanzen und etwas trinken", nörgelt sie mir entgegen. Doch ich bleibe hart.

„Nächste Woche, vielleicht. Im Moment ist mir nicht danach." Ich höre ein enttäuschtes Murren und frage sie ablenkend nach Nico, ihrem kleinen Bruder. Sofort beginnt ein neuer Redeschwall. Diesmal fühle ich mich nicht in die Enge gedrängt. Bei unseren dauernden Telefonaten sollte man meinen, dass wir uns kaum sehen, doch dem ist nicht so. Wir sehen uns nur nicht mehr oft, wie es in der Schule gewesen ist. Dort haben wir den lieben langen Tag zusammen gesessen und selbst im Unterricht unsere Gespräche nicht unterbrochen. Zum Leidwesen unseren Lehrer.
 

An der Haustür bleibe ich stehen. Noch immer textet mich Anni am Telefon voll und die überquellenden Tüten liegen schwer in meiner Hand. Ich komme kaum an meinen Schlüssel und auch die Treppe gestaltet sich schwierig. Ich kann fast nichts sehen.

„Anni, halt mal kurz den Mund. Du kriegst jetzt einen Hosentaschenplatz, weil ich sonst nicht in die Wohnung komme." Ich warte keine Antwort ab und schiebe das Telefon in meine Hosentasche. Am Treppenabsatz bleibe stehen, versuche beide Tüten mit einem Arm festzuhalten. Plötzlich wird mir eine Tüte aus der Hand genommen, verwundert blicke ich auf und schaue direkt in Antonys attraktives Gesicht. Neben der Tüte hält er auch meine Jacke im Arm.

„Hey", stammele ich verdutzt.

„Wir müssen reden.", sagt er ohne Begrüßung. Sein Blick ist undurchsichtig und mir läuft es kalt den Rücken runter. Sofort nimmt mein Puls an Fahrt auf und verschiedene Gefühle mischen sich mit der Verwunderung, die ich empfinde, weil er plötzlich vor meiner Haustür steht.

„Okay.", erwidere ich. Ich frage mich, woher er weiß, wo ich wohne, doch ich schiebe den Gedanken zur Seite, schließe die Tür auf und nehme ihm im Flur die Tüten aus der Hand. In der Küche packe ich schnell die verderblichen Lebensmittel in den Kühlschrank und linse dann in den Flur. Antony ist dort stehengeblieben und sieht sich um. Seine Gesichtszüge wirken angespannt und kalt. Sofort überfällt mich ein schlechtes Gefühl. Wahrscheinlich habe ich gestern doch übertrieben. Er legt meine Jacke nicht aus der Hand, sondern hält sie unerbittlich fest. Fast verkrampft.

„Möchtest du etwas trinken?", frage ich vorsichtig und stecke damit ab, ob das eine kurze oder längere Angelegenheit wird. Er sieht auf und überlegt.

„Wasser, bitte." Ich nicke und fülle zwei Gläser mit der klaren Flüssigkeit. Im Flur reiche ich ihm eines der Gläser, nachdem er keine Anstalten macht mir in die Küche zu folgen. Sofort nimmt er einen Schluck. Ich sehe dabei zu, wie sich sein Kehlkopf bewegt. Fahre mit den Augen seinen perfekt gestutzten Bart ab, der die feinen Linien seines Kiefers betont. Mir wird heiß. Doch in diesem Moment ist es mir eher unangenehm.

„Wegen gestern...", setze ich an, doch er unterbricht mich.

„Vergiss es", fährt er mich an und erschrocken sehe ich auf. Er stellt sein Glas auf der Kommode ab.

„Weißt du, für einen kurzen Moment bin ich wirklich auf dein Schauspiel reingefallen. Ich weiß nicht, was du bezweckst. Doch ich lasse mich nicht verarschen. Du spielst mir was vor und ich falle auch noch drauf rein... Ich dachte wirklich, dass das mit uns etwas... keine Ahnung." Mit jedem Wort wird er lauter und schneller. Ich schaue ihn verdattert an, denn weiß nicht, wovon der andere Mann spricht.

„Wie bitte? Wovon redest du? Welches Schauspiel? Was mache ich dir vor?", hake ich verblüfft ein.

„Fickst du ihn?" Bei diesen Worten zucke ich zusammen. Die Äußerung verwirrt mich nur noch mehr.

„Wen?" Antony greift in die Innentasche meiner Jacke und schleudert mir die Zigarettenschachtel entgegen. Ich fange sie auf, doch dabei kippe ich mir das Glas Wasser über. Ich spüre die Feuchtigkeit, die kalt an mir hinabfließt. Mein Shirt, als auch meine Hose sind durchnässt. Ich sehe verstört auf die Zigarettenschachtel. Nun wird mir klar, worauf er anspielt. Doch ich bin immer noch zu perplex um irgendetwas zu erwidern.

„Was?", stammele ich hingegen und sehe von der Schachtel auf.

„Luka DiMatteo, hat er dich dazu angestiftet? Solltest du mich umgarnen, damit er eine neue seiner Klatschstory bekommt? Damit er mir wieder eins auswischen kann? Wie lange plant ihr das schon?" Ich sehe erneut auf die Schachtel und dann wieder zu Antony. Ich kann nicht glauben, was ich höre. Es muss ein schlechter Scherz. Antony ist scheinbar richtig sauer. Doch seine Anschuldigungen sind völlig gegenstandslos, haltlos und unverständlich für mich.

„Fickt er dich?", fragt er erneut. Nun reicht es mir. Wut und Enttäuschung schwappen abwechselnd durch meinen Kopf.

„Stopp,...", fahre ich ihn an und er hält tatsächlich den Mund. Ich sehe, wie sich sein Brustkorb aufgeregt hebt und senkt. „Erst einmal, du hast nicht das Recht mich derartig anzufahren, mir derartige Beschuldigungen an den Kopf zu werfen. Und zweitens, weiß ich nicht wovon du sprichst. Ich schlafe mit niemand außer vor ein paar Tagen mit dir und garantiert hat mich auch niemand dazu angestiftet. Ich habe Luka vor ein paar Tagen auf dem Campus kennengelernt, nachdem du mich abserviert und auf dem Parkplatz stehengelassen hast. Er hat mich auf ein Bier eingeladen und angemacht, doch außer diesem Scherz hier..." Ich werfe ihm die Zigarettenschachtel gegen die Brust. Er fängt sie auf und sieht mich nicht mehr an. Die gesamte Wahrheit über die Schachtel und deren Inhalt offenbare ich nicht.

„...ist nichts passiert. Ich weiß nicht, was du für ein Problem mit ihm hast, aber das du es tatsächlich wagst solche Anschuldigungen gegen mich vor zubringen, ist nicht nur absolut absurd, sondern auch noch extrem verletzend. Was denkst du, wer du bist?", fahre ich ihn an. Meine Stimme ist erstaunlich gefestigt, dennoch spüre ich ein Zittern. Es schwingt Enttäuschung und Wut darin. Ich sehe ihn komplett entgeistert an und bin ehrlich schockiert. Ich nehme ihm meine Jacke aus der Hand.

„Danke für die Jacke. Da ist die Tür." Ich deute nur kurz in Richtung Wohnungstür und verschwinde in mein Zimmer.

Bekenntnisse eines Akademikers

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Bissige Hamster im Vorgarten

Kapitel 9 Bissige Hamster im Vorgarten
 

Nach einer Dusche und nach naiven Rumgeschnupper an meiner sexgetränkten Bettwäsche, trudeln nach und nach meine beiden Mitbewohner ein. Erst Marie, die endlich ihre Hausarbeit abgegeben hat und freudestrahlende durch die Wohnung hüpft. Ihre Erleichterung ist deutlich zu sehen, zu spüren und auch zu hören. Sie trällert und berichtet mir zwischen mehreren Strophen, dass sie ein weiteres gemeinsames Essen am Abend plant. Als nächstes folgt Rick. Auch er hat ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen als er durch die Tür kommt. Ich interpretiere es als positives Ende des kurzzeitigen Hurrikans Cora. Bevor ich etwas Freches sagen kann, folgt ihm eine kleine Blondine durch die Tür. Cora. Sie lächelt selig und beide verschwinden, nach einem kurzen Kennenlernensaustausch in Ricks Zimmer. Als die Tür ins Schloss fällt, sehen Marie und ich uns wissend an.

Als mein Handy wieder aufgeladen ist, speichere ich als erstes Antonys Nummer ab. Ich starre sie an und spüre, wie mein Puls aufgeregt nach oben geht. Werde ich mir trauen ihm zu schreiben? Ihn anzurufen? Im Moment spricht das seltsame, unsichere Gefühl in meinem Bauch dagegen.

Antony weiß, dass eine Beziehung zwischen Dozenten und Studenten im allgemeinen Sinne nicht verboten ist. Wir sind beide volljährig und somit existiert kein Straftatbestand. Das größte Problem sind die Benotungen und Prüfungen. Doch auch dafür gibt es Möglichkeiten. Ich habe als erstes an Prof. Stroud gedacht, doch nach Tonys Reaktion ist, das die schlechteste Idee von allen. Wahrscheinlich weiß der Professor nichts von der Gesinnung seines Mitarbeiters? Mein Inneres vermutet, dass es noch etwas anderes ist.

Ich lasse mich auf mein Bett fallen und sofort umgibt mich der eindeutige Geruch des anderen Körpers und von Sex. Die Kombination gefällt mir ausgesprochen gut. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Es hat sich gut angefühlt. Es hat sich richtig angefühlt. Erregend und aufregend.

Ich weiß noch immer nicht, was es eigentlich zwischen uns ist. Sex und Vergnügen? Der Anfang einer Beziehung? Antonys Reaktion war auch nicht sehr hilfreich. Sie war wahr, aber keineswegs erklärend. Ich seufze schwer und sehe auf die Uhr.
 

Ich beginne mein Zimmer aufzuräumen und stocke als ich irgendwann von eindeutigen Geräuschen aus dem Nachbarzimmer heimgesucht werde. Einen Moment stehe ich unschlüssig vor dem Bett und strecke meine Hand gerade nach einer hingeworfenen Socke aus. Erst ist es nur ein leise Brummen. Ein Schmatzen. Ein piepsiges Keuchen. Ich denke darüber nach, was Rick dort gerade mit seiner Freundin macht und in dem Moment wird sein Stöhnen um mehrere Dezibel lauter. Sofort stehe ich kerzengrade, sehe mich verzweifelt um. Ich muss hier raus. Ganz schnell. Ich würde auch nicht wollen, dass man mir beim Sex zu hört. Ich denke an Musik, doch das könnte sie stören. Kurzerhand gehe ich in das Zimmer, was am weitesten entfernt ist. Die Küche. Die Tür ist zu und als ich sie öffne, sehe ich Marie mit einem Tee und einem Buch am Tisch sitzen.

„Hi", flüstere ich ihr zu und sehe sofort das eindeutige Grinsen, welches auf ihre Lippen wandert.

„Scheint, doch geklappt zu haben!", kommentiere ich zwinkernd.

„Anscheinend. Ich will gar nicht wissen, wie laut es in deinem Zimmer ist.", sagt sie kichernd und sieht dann wieder zu ihrem Buch.

„Ich war kurz davor mir geräuschunterdrückende Kopfhörer zu besorgen für den Fall, dass das öfter passiert."

„Ich plädiere dafür, dass wir den beiden verdeutlichen, dass sie schön wieder zu ihr gehen sollen.", erwidert sie. Ich nicke es als guten Vorschlag ab, doch dann fällt mir etwas ein.

„Wohnt sie nicht noch bei den Eltern?", frage ich und ziehe eine Augenbraue nach oben. Auch Marie stockt, kramt in ihrer Erinnerung.

„Oh, das kann sein."

„Na, dann sind wir ja dem Grund des Problems auf die Spur gekommen." Wenn sie jedes Mal so laut werden, konnten sie bei ihren Eltern sicher nie Sex haben. Meine Mitbewohnerin beginnt erneut zu kichern. Dabei rutscht ihre Brille tief auf ihre Nase.

„Oh, sag mal rauchst du?", fragt sie und schiebt ihre Brille zurück. Ich lasse mich neben ihr auf den Stuhl nieder und sehe sie dann verwundert an.

„Mit Hingabe und ununterbrochen. Nein, wieso?"

„Da liegt eine Zigarettenschachtel im Flur mit einer Telefonnummer drauf."

„Ach die." Ich beiße mir auf die Unterlippe.

„Deine?", hakt sie nach.

„Möglicherweise. Das ist ein Scherz von jemanden, den ich kennengelernt habe", erkläre ich ohne auf die weiteren Inhalte einzugehen. Marie sieht mich forschend an, drückt ihre Brille zurück auf die richtige Position ihrer Nase.

„Hast du da schon reingeguckt? Ich glaube, da hat dir jemand eindeutige Avancen gemacht."

„Du drückst ja schön aus, dass mich einfach nur jemand flachlegen will." Ich grinse ihr belustigt zu und ernte einen undefinierten Blick sowie ein Nicken. Ich stehe auf, nehme mir eine Tasse aus dem Schrank und mache mir ebenfalls einen Tee. Ich warte auf weitere Fragen oder seltsamen Kommentare, doch nichts passiert. Marie steckt ihre Nase nur weiterhin tief in das schlabberige Buch in ihren Händen und schlürft gedankenverloren an ihrer Tasse. Sie fragt nicht danach, warum ich von einem Mann angemacht werde. Sie fragt nicht danach, warum ich so lapidar darauf reagiere. Anscheinend kommt so was auf dem Campus öfter vor oder meine Gesinnung ist ihr gleich. Ich spreche sie nicht darauf an.
 

Wir genießen das warme Getränk im stillen Einvernehmen. Ich blättere nebenbei in der Zeitung und wundere mich über die stetig zunehmende Schwachsinnigkeit der Menschheit.

Auf dem Rückweg in mein Zimmer bleibe ich bei der Zigarettenschachtel stehen. Ich lasse sie durch meine Finger wandern. Es ist die gleiche Marke, die auch ich früher geraucht habe. Ich erinnere mich genau an den Geschmack und wie sich der Rauch auf meiner Zunge angefühlt hat. Leicht warm und kitzelig.

Luka hat was und mich interessierte was für ein Problem zwischen ihm und Antony bestand. Den Rest des Sonntags verbringe ich am PC, schaue ein paar Filme und bequeme mich dazu ein wenig für die Uni zu machen. Auch Maries Wunsch für alle zu kochen erfüllt sich und wir essen am Abend zu viert. Coras rosige Wangen und das freudig übertriebene Grinsen in Ricks Gesicht sprechen Bände.

Am Montag sind die ersten Vorlesungen schnell vorüber und ich bin seit langem Mal konzentriert und schreibsam. In der Pause gönne ich mir einen Kaffee und stelle mich in die Sonne. Mein Vitamin D-Mangel ist gravierend und so strecke ich mich der Sonne entgegen, wie der heranwachsende Trieb eines Baumes nach einem verheerenden Winter. Der Sommer fehlt mir schon jetzt. Ich lehne mich genüsslich an die Abgrenzung zum Blumenbeet und spüre die Wärme auf meiner Haut.

„Na, wenn das mal nicht mein Eco-Boy ist", flötet mir Lukas raue Stimme entgegen. Ich drehe mich verwundert zu ihm um. Seine blonden Haare sind unfrisiert und liegen wirr um seinen Kopf. Er sieht verwegen und rockig aus. Es steht ihm. Der Gedanken an rockig, lässt mich innerlich kichern.

„Eco-Boy?", wiederhole ich dann dennoch verwundert. Ich ziehe fragend eine Augenbraue nach oben und ernte ein spitzbübisches Grinsen. Für einen Moment kommen mir Antonys Bedenken und negative Äußerungen in den Sinn. Doch ich habe nicht vor mit Luka über Antony zu reden. Obwohl erneut die Neugier in mir aufflammt. Luka stellt sich neben mich und legt, wie selbstverständlich seinen Arm um meine Schulter. Sein herber Duft benebelt mich augenblicklich. Er ist so anderes als Antonys.

„Nicht gut? Stehst du nicht auf Spitznamen?"

„Wenn du das so sagst, denken alle ich wäre Veganer!", erkläre ich unzufrieden.

„Also Tierlieb und gut zu Vögeln?", kommentiert er platt, aber keck und ich kann nicht verhindern, dass sich trotzdem feine Röte auf meine Wangen legt. Er beugt sich dichter zu mir heran. Sein heißer Atem kitzelt meinen Hals.

„Ich bin übrigens schwer beleidigt", sagt er im nächsten Atemzug. Die Frage nach dem Warum kann ich mir sparen und dennoch perlt das Fragewort von meinen Lippen. Leise und geflüstert.

„Du weißt ganz genau, warum!" Er betrachtet mich eingehend und intensiv. Ich trage genau dieselbe Jacke, wie beim letzten Mal, doch die Zigarettenschachtel liegt, nun in meinem Zimmer. Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Vor Aufregung, vor Panik und ein kleinwenig vor Erregung. Luka entspricht nicht meinem Typ, aber seine Art und Weise und sein Selbstbewusstsein beeindrucken mich. Es wirkt unkompliziert. Ich denke an Antony und in mir beginnt es zu kribbeln. Zwickmühle. Ich muss irgendetwas tun, ohne ihm eine Erklärung schuldig zu sein.

Unbewusst lehne ich mich zu Lukas Ohr, schließe kurz die Augen und nehme seinen Geruch in mir auf.

„Wenn ich dir den Eindruck vermittelt habe, leicht zu haben zu sein, dann muss ich dich leider enttäuschen", raune ich, spüre wie bei den letzten Worten meine Lippe leicht gegen sein kühles Ohrläppchen tippt. Es war keine Absicht und gerade deswegen durchzuckt mich ein aufgeregtes Kitzeln. Ich mache mich auf zwei mögliche Reaktionen gefasst. Verärgerung oder Ehrgeiz. Ich weiß nicht, was mir lieber ist.

Als ich mich wieder zurücklehne, kann ich sehen, wie er sich auf die Unterlippe beißt. Seine Zähne malträtieren das zarte, rosafarbene Fleisch. Für einen kurzen Moment zieht er scharf und hörbar die Luft ein. Es folgt die Reaktion, die ich mir insgeheim gewünscht habe.

„So, ist das also, dann entschuldige ich mich für meinen überaus plumpen Versuch und werde mir mehr Mühe geben.", säuselt er mir zu. Seine Worte und das angenehme Brummen seiner Stimme jagen mir einen elektrisierenden Schauer durch den Leib. Es ist pure Aufregung. Ich muss etwas hochsehen und er sieht mich direkt an. Sein Ausdruck spricht von reiner Herausforderung und einem Tick Erotik. Fast nur ein Hauch, doch er britzelt. Der Moment wird durch das Klingeln seines Handys unterbrochen. Zunächst geht er nicht ran, doch nachdem es nicht aufhört, wendet er seufzend seinen Blick ab.

„Wer stört?" Er sieht entschuldigend zu mir und dreht sich nach einer Weile weg.

Erst jetzt bemerke ich meine heftige Atmung. Mein Puls rast und erneut frage ich mich, was ich mit meinem Verhalten bezwecke. Okay, ja. Luka ist interessant und das leicht verruchte macht mich neugierig. Ich war zwar noch nie ein Kind von Traurigkeit, aber trotzdem waren meine bisherigen Sexgeschichten eher harmlos und eigenartig langweilig. Bis auf Antony. Ich lasse meine Hand durch meine zerzausten Haare wandern und sehe in die Weite, sehe Anni, die mit stampfenden Füßen auf mich zu gelaufen kommt. Sofort straffen sich meine Schultern und ich stehe kerzengrade. Ihr Gesichtsausdruck ist messerscharf. Ihre Brauen bilden eine verkrampfte Einheit. Es sieht seltsam aus, aber bei diesem Anblick ist mir nie zum Lachen zu Mute. Mein Magen wird flau und meine Beine schreien verzweifelt nach Weglaufen. Sie ist sauer und ich weiß nicht warum. In meinem Kopf gehen die Alarmglocken an und ich spiele alle Möglichkeiten durch. Wieder spüre ich dieses mahnende Kitzeln, aber ich kann die Erinnerung nicht greifen. Habe ich ein Treffen vergessen? Sollte ich sie anrufen? Anrufen. Siedenheiß prasselt es auf mich ein. Wir hatten telefoniert und ich habe sie für das Öffnen der Tür in die Hosentasche gesteckt. Antony. Sie hat mitbekommen, dass er bei mir war. Sie hat unser Gespräch gehört. Ich habe das Gefühl, dass mir in diesem Moment alle Gesichtszüge entgleiten. Was hat sie alles gehört? Anni ist nur noch wenige Meter von mit entfernt und ich versuche mich zu fassen. Ihre Augen funkeln und ich sehe einen Moment zu Luka, der noch immer telefoniert. Ihr Mund öffnet sich.

„Anni, schön dich zusehen!", brülle ich fast und komme ich ihr zuvor. Ich schaffe es für einen Augenblick sie aus dem Konzept zubringen. Ich setze erneut an, doch sie unterbricht mich rasch.

„Spar es dir, Ben!" Die Worte runterzuschlucken, ist gar nicht so einfach. Konsonanten haben so viele Ecken und Kanten. Ich stelle mich dumm. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sie meine Gesichtsentgleisung mitbekommen hat.

„Was kann ich dich für dich tun, Hase?"

„Reden, sofort!" Ihre Stimme duldet keine Widerrede. Zu meinem Glück beendet Luka gerade sein Telefonat und schaut verwundert auf die aufgebrachte, fremde Frau vor mir.

„Ben, ich mache keine Scherze! Los!", meckert sie energisch. Sie bemerkt Luka in ihrem Wahn gar nicht bis er ihr vorsichtig auf die Schulter tippt. Sie sieht ihn an. Doch Luka redet und sieht zu mir.

„Was hat denn diese hysterische, kleine Person für ein Problem mit dir?", fragt er amüsiert. Ich sehe von Luka zu Anni. Ihre Wangen blähen sich auf und sie sieht aus, wie ein kleiner rothaariger Hamster. Ihre kompakte Größe ist der Vorstellung nur zuträglich.
 

„Oh, wie niedlich!", kommt es prompt und quietschend von Luka. Er klatscht sogar kindlich in die Hände. „Wo hast du die her? Braucht sie viel Pflege?"

„Mehr als mir lieb ist. Luka, das ist Anni. Mein liebste Freundin und meine Anstandsdame, die mit dem Knüppel im Garten steht, wenn ich zu spät nach Hause komme." Ein pfeifendes Geräusch kommt von ihrer Seite.

„Anni, das ist Luka." Eine ausreichende Beschreibung für Luka habe ich noch nicht.

„Hi. Erst einmal. ich bin nicht hysterisch und schon gar nicht niedlich. Ich bin sauer. Zweitens geht es dich nichts an, also verpuff dich." Sie macht eine Geste, die etwas zerplatzt und ich beiße die Zähne zusammen. Annis Stimme ist knallhart.

„Uh, der Hamster ist bissig! Das mag ich. Aber gut, ich gebe mich für den Moment geschlagen, denn ich muss eh los. Du musst allein mit ihr zu Recht kommen. Vielleicht solltest du dir vorsichtshalber ein Schild umhängen: Vorsichtig, bissige Hamster im Vorgarten. Benutzt den Hintereingang." Ein Zwinkern. Luka stricht der rotgewordenen Anni frech eine gekringelte Strähne hinters Ohr. Ich verkneife mir nur schwer ein Lachen. Allerdings nur so lange bis er sich zu mir beugt.

„Ich warte auf deinen Anruf und verspreche ich dir, das ich mir etwas Überzeugendes einfallen lasse. Vorausgesetzt, du überlebst diese Konfrontation ohne ernstzunehmende Verletzungen.", raunt er. Mit seinen letzten Worten macht er eine Kopfbewegung zur Anni und grinst.

„Keine Sorge ich trage immer eine Spritze gegen Tollwut mit mir rum.", beschwichtige ich. Sie ist eh schon sauer, da kommt es auf ein weiteres blödes Kommentar nicht an. Luka grinst breit. Auf den anderen Teil seiner Ausführung gehe ich nicht ein. Ich vermeide einen Blick zu Anni. Im Gegensatz zum letzten Mal bekomme ich keinen Kuss, sondern nur ein weiteres eindeutiges Zwinkern. Anni und ich sehen ihm beide nach. Ihr Blick ist verwundert und fragend, doch sie schüttelt ihre Fragen davon und schaut mich wieder sauer an.
 

„Hey Mäuschen,...", flüstere ich leise hoffend und beschwichtigend, doch ich komme nicht weit, denn sie schneidet mir vehement das Wort ab. Mein übertriebenes Grinsen erstarrt.

„Spar es dir!", wiederholt sie.

„Du siehst gut aus! Hast du was mit deinen Haaren gemacht?" Reine Ablenkung, die kläglich scheitert. Ein Versuch war es wert. Ich seufze ergeben.

„Wie war dein Wochenende?", erkundigt sie sich unerwartet gelassen.

„Ruhig.", sage ich ausweichend. Noch besteht die klitzekleine Hoffnung, dass sie vielleicht doch nichts gehört hat und aus einfach aus einem anderen Grund sauer ist.

„Ruhig? Also nichts passiert?"
 

„Nein.", presse ich nun doch unruhig und kleinlaut hervor. Noch während ich das sage, beißt sie die Zähne zusammen.

„Es tut mir leid", sage ich resignierend und weiß, dass ich mich nicht mehr herausreden kann.

„Arghn, warum belügst du mich, Benedikt? Du hast nämlich unser Telefonat nicht beendet, sondern mich nur in deine Hose geschoben." Die Vollständigkeit meines Namens zeigt mir, dass sie wirklich sehr wütend ist.

„Ich weiß."

„Wie lange triffst du dich schon mit ihm?", fragt sie fassungslos und stemmt ihre Hände in die Seite. „Ich fasse es nicht. Ich predige seit Wochen, dass du die Geschichte besser ruhen lässt und du gehst die ganze Zeit heimlich mit ihm ins Bett?"

„Komm wieder runter, du tust ja so, als hätte ich schon seit Wochen eine Affäre mit ihm. Ja, ich hab ihn getroffen, aber es sind nur wenige Male gewesen und er hat wirklich dauernd dasselbe gesagt, wie du!" Ich lehne mich wieder zurück an den Zaun und verschränke abwehrend die Arme vor der Brust. Auch, wenn ich verstehen, dass sich Anni im Grunde nur Sorgen macht, nerven mich diese Diskussionen. Es ist mein Leben.

„Du streitest nicht mal ab, dass du heimlich mit ihm im Bett warst", bemerkt sie empört.

„Herrje, ich war nicht mit ihm im Bett", murmele ich und schiebe gedanklich bis auf Samstag hinterher. Die Aussage ist nicht falsch, denn vorher hatten wir es nur heimlich in seinem Büro getan. Nicht im Bett.

„Und was war das bitte bei dir in der Wohnung? Wieso war er überhaupt da?"

„Ich habe meine Jacke in seinem Büro liegengelassen.", gestehe ich ruhig und beiße mir leicht auf die Unterlippe.

„Wieso warst du in seinem Büro?", bohrt sie weiter.

„Nun ja. Ich hab ihn damit konfrontiert, dass das mit dem Konsequenzen und dem Verbot Bullshit ist.", bekenne ich weiter.

„Was?", fragt sie verstört und verschränkt ebenfalls die Arme vor der Brust. Ich sehe mich genötigt es zu erklären.

„Es gibt keine derartigen Bestimmungen oder Richtlinien, die erwachsene Beziehungen zwischen Lehrkörper und Studentenschaft verbieten. Es wird nur nicht gern gesehen. Also deine Freundin hat Unrecht. Ich bin volljährig und damit kann er so viel Sex mit mir haben, wie ich will. Also, hör auf dich so aufzuplustern, Anni." Die Rothaarige schnaubt.

„Gut, dann ist es nicht verboten, aber du sagst es selbst, es ist nicht gern gesehen! Also, was wollte er bei dir in der Wohnung?"

„Das weißt du doch längst, also tu nicht so scheinheilig!" Erwischt. Sie wird erneut rot.

„Ja, weiß ich und ich verstehe immer noch nicht, wieso du ihn nicht gleich rausgeworfen hast. Außerdem verstehe ich nicht richtig, worum es ging." Ich sehe in die Richtung in die Luka verschwunden ist. Sie scheint es zu erahnen.

„Luka? Dieser Luka?"

„Ja, mit ihm war ich in der Bar. Das hatte ich dir erzählt. Er hat mir zum Abschied eine Zigarettenschachtel mit seiner Nummer drauf gegeben und einer eindeutigen Nachricht."

„Und was hat dein Dozent damit zu tun? Ich meine, das war echt harter Tobak, den er da von sich gegeben hat."

„Er hat die Schachtel in meiner Jacke gefunden und anscheinend können sich die beiden nicht leiden." Weiter muss ich es nicht ausführen, denn seine Hirngespinste hat sie sehr wohl mitbekommen.

„Das ist doch nicht normal. Ben, der Mann verheißt nichts Gutes. Der tickt wegen ein bisschen Anmache, so aus? Das ist doch nicht sein Ernst, oder?"

„Er ist eifersüchtig, das hat doch auch was Nettes", sage ich und nehme meinen Dozenten in den Schutz. Die Tatsache, dass er eifersüchtig ist gefällt mir auf irgendeine Art und Weise.

„Bist du jetzt vollkommen von der Rolle. Solche Eifersucht ist nie gut", kommentiert sie energisch. Leider weiß sie, wovon sie spricht. Sie hat eine schmerzliche Erfahrung mit einem extrem eifersüchtigen Ex-Partner vorzuweisen.

„Anni, beruhige dich." Ich habe keine Lust mehr mich an zwei Tagen hintereinander anschnauzen zu lassen. Natürlich verstehe ich, warum sie sauer ist. Doch dieses Mal kommt es kaum in meinem Gehirn an.

„Und warum hast du mir das alles verschwiegen?"

„Ich hab es dir nicht gesagt, weil du so extrem dagegen warst."

„Warst? Ich bin es immer noch. Er macht Probleme. Ich dachte, ich spinne. Wie kann er solche Sachen zu dir sagen und du nimmst es einfach hin? Dann schmachtet er ein paar Entschuldigungen und du wirst sofort weich?" Ihre langen roten Locken bewegen sich hin und her. Ich habe es nicht einfach hingenommen und auch nicht vergessen. Und Antony schmachtet wirklich sehr überzeugend. Die Farbe ihres Gesichts beruhigt sich langsam und ich sehe, wie sie weiterhin sachte mit dem Kopf schüttelt. Ich beiße mir erneut auf die Lippen.

„Ich fasse es einfach nicht!" Sie holt tief Luft, doch mich interessiert mittlerweile etwas anderes.

„Wie lange hast du eigentlich mitgehört?", frage ich vorsichtig und sie sieht mich empört an.

„Nach deinem eindeutigen Wiedergutmachungsgebettel habe ich aufgelegt." Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Sie sieht zu mir und dann auf den Fußboden.

„Oh Gott. Hör zu, ich weiß, dass du mit alledem nicht konform gehst, aber ich mag ihn wirklich..." In ihren Augen ein Funkeln. „Und glaube mir, ich bin nur halb so verblendet, wie es wirkt."

„Bist du dir da sicher?" Eine berechtigte Frage, doch ich nicke.

„Erinnerst du dich, daran was du mir am Tag unserer Abschlusses gesagt hast? Es ist Zeit für Abenteuer. Das hier ist jetzt meins. Ich werde merken, ob ich etwas Großartiges entdecke oder mit gebrochenen Knochen zu Hause lande."

„Mit gebrochenen Herz", korrigiert sie leise und sieht mich noch immer nicht überzeugt an.

„Halt schon mal Pflaster bereit." Nun erhalte ich ein Lächeln. Schüchtern und immer noch skeptisch.

„Komm her!" Ich breite meine Arme aus und nach einem kurzen Zögern kommt sie auf mich zu. Wir unterstützen uns. Seit wir uns kennen.

„Ich kille ihn, versprochen", murmelt sie gegen meinen Hals und ich drücke sie fester an mich. Eine ganze Weile umarmen wir uns und ich sauge den zarten Zitronenduft ihrer Haare in mich ein. Es ist, wie ein frischer Sommermorgen in der Toskana.

„Okay, erzähl mir von Luka", sagt sie fordernd und löst sich von mir. Ich grinse schief.

„Was soll ich erzählen? Du hast ihn doch mitbekommen."

„Er ist frech", merkt sie an. Nicht nur das.

„Oh ja. Außerdem studiert er Journalismus und schreibt für die Campuszeitung. Hat viel zu tun." Ich hole mein Handy hervor und sehe auf die Uhr. In ein paar Minuten beginnt meine Vorlesung.

„Und?", fragt sie und ich sehe sie fragend an.

„Was und?"

„Ist er kein Kandidat?"

„Für eine schnelle Nummer, vielleicht. Solche Typen, wie er, meinen es nie ernst." Ich lache, vor allem über Annis seltsamen Gesichtsausdruck. Das Telefon in meiner Hand vibriert. Eine neue Nachricht von meiner Schwester. Ich stehe plötzlich kerzengrade und lese erstarrt die Nachricht.

„Ben, was ist?"

„Meine Mutter hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus." Mit läuft es eiskalt den Rücken entlang.

Steriles Familienglück oder 2+2=3

Kapitel 10 Steriles Familienglück oder 2+2= 3
 

„Was?", hakt sie besorgt nach. Ich spüre Annis Hand auf meinen Arm und sehe auf. Ich fahre mir mit der Hand über das Kinn und sehe auf die Nachricht. Es wird nicht deutlich, was passiert ist. Nicht, wie schlimm es ist oder wie es ihr geht.

„Meine Mutter ist im Krankenhaus", wiederhole ich geistesabwesend. Anni kennt meine Eltern und hat ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Sie haben eine gemeinsame Leidenschaft. Pfefferminzplätzchen.

"Und was ist passiert?", wiederholt sie.

„Natalia ist nicht sehr ausführlich in ihrer SMS", sage ich giftiger als beabsichtigt.

„Ruf sie zurück." Annis Vorschlag. Ich zögere. In diesem Moment vibriert mein Telefon erneut. Eine weitere Nachricht von Natalia. Darin steht das Krankenhaus und das es nicht allzu schlimm ist. Ausreichend Informationen sind es noch immer nicht, doch die Tatsache, dass es nichts Lebensgefährliches ist beruhigt mich bereits.

Der Drang sofort zu meiner Mutter zu fahren ist groß, doch das Wissen um die Zurückweisung meines Vaters lähmt mich. Ich bin hin und her gerissen. Wir verabschieden uns und verschwinden in unsere jeweiligen Vorlesungen. Mein Elan ist verschwunden und erneut bekomme ich kaum etwas von dem Gesagten mit. Das ist nicht gut. Die ersten Wochen meines Studiums sind derartig durcheinander, dass ich schon jetzt hinterher hinke.
 

Als ich am Abend in die WG komme, ist schon wieder niemand da. Nach einem kurzen ruhigen Augenblick fasse ich den Entschluss am Morgen nach Hause zu fahren und ich hoffe, dass sich meine Entschlossenheit die Nacht über hält. Ich packe meine Sache aus und schalte meinen Computer ein. Wenigstens die Folien der Vorlesung sollte ich mir runterladen. Vielleicht kann ich sie bei der Fahrt zum Krankenhaus durchgehen. Wie naiv. Nach einer Weile krame ich mein Telefon aus der Tasche. Ich tippe eine Nachricht an meine Schwester, doch ich sende sie nicht ab. Schon einmal hat ihr Mann, statt sie meine Nachricht gelesen und dann gab es großen Ärger. Sie diskutiert oft mit ihrem Mann darüber und gibt oft des Familienfriedens wegen nach. Ich beschwere mich nicht. Ich beschwere mich schon lange nicht mehr. In gewisser Weise habe ich mich damit abgefunden das verstoßende Familienmitglied zu sein, auch wenn ich noch immer nicht verstehe warum. Es schmerzt. Jeder Gedanke an sie schmerzt. Jeder verlorene Moment setzt mein Herz unwiderruflich in Flammen.

Ich lösche die getippte Antwort und fahre mir über die bebenden Lippen und ringe nach Atem. Mit meinem Daumen scrolle ich mein Telefonbuch hinab. Mein Finger stoppt einen Moment bei Anni. Doch es ist der Name, der direkt unter ihrem steht, der mich gerade am Meisten reizt. Antony. Die Erinnerung an seine schwungvollen Lippen und an diese wunderschönen Augen. Ich spüre, wie sich mein Herz etwas öffnet und die Schmerzen der Krämpfe nach und nach verfliegen. Keine Heilung, aber eine Linderung. Lange schwebt mein Daumen über seinen Namen, doch ich tippe ihn nicht an. So gern ich auch mit ihm reden will, meine familiären Probleme sollen noch kein Gegenstand unserer Beziehung sein. Er würde es nicht verstehen, denke ich jedenfalls. Er würde nicht damit umgehen könne. Wieso auch. Noch kennen wir uns nicht ausreichend. Mit einem leisen Seufzen lasse ich das Telefon auf dem Schreibtisch liegen und mache mir in der Küche noch ein Kleinigkeit zu essen. Die Stille in der WG umfängt mich in solchen Augenblicken immer besonders beißend und nervenzerrend. Ich bin nicht gern allein.
 

Am Morgen wache ich bereits mit einem flauen Gefühl auf, doch trotz alledem nehme ich den Bus zum Bahnhof. Ich brauche anderthalb Stunden bis ich in meiner Heimatstadt ankomme und als ich vor dem Krankenhaus stehe, zögere ich. Mein Puls erhöht sich und ich spüre, wie meine Hände beginnen zu schwitzen. Ich streiche sie an meiner Jacke ab. Doch es nützt nichts. Vielleicht habe ich Glück und niemand anderes ist da. Vielleicht. Ein Funken Hoffnung. Ich kann sie kurz sehen, mich vergewissern, dass es ihr gut geht und wieder gehen.

Erneut streiche ich meine verschwitzten Hände an den Kleidungsstücken ab, diesmal an der Jeans. Ich habe das Gefühl, dass das besser klappt. Ich reibe meine Handflächen gegen die raue Oberfläche bis Hitze entsteht. Ich atme ein und wieder aus.

Der klinische Geruch, der mir entgegenschlägt, als ich die Anmeldung betrete, weckt Erinnerungen. Knochenbrüche der Kindheit. Blessuren der frühen Jugend. Die Schrecken des jungen Erwachsenseins.

Ich wende mich an die junge Frau an der Anmeldung. Ihr rundes, fröhliches Gesicht steht in direkten Kontrast zu meinen Vorstellungen eines Krankenhauses. Ihr Lächeln verstärkt meinen Eindruck nur noch.

„Was kann ich für Sie tun?"

„Ich möchte eine Patientin besuchen, aber ich weiß leider nicht auf welcher Station sie liegt."

„Unsere Besucherzeiten sind für Gäste von 10- 12 Uhr dann erst wieder von 15 – 18 Uhr. Sie müssen, also wiederkommen", spult sie freundlich, aber bestimmt ab. Ich sehe auf die Uhr hinter ihr. Es ist kurz nach zwölf.

„Ich bin ein Familienglied. Gibt es da keine Ausnahmen? Ich bin zwei Stunden hergefahren." Sie sieht mich forschend an. Ihr Zögern verdeutlicht mir ihr Zweifeln und ich kann es verstehen. Ich bin ein Familienmitglied und habe keine genaueren Informationen? Wie kann das sein? Ich würde genauso ungläubig schauen. Ich seufze frustriert.

„Um wen geht es denn?"

„Michelle Kaufmann." Ich lehne mich mit beiden Armen auf den Tresen und sie beginnt in ihrem PC zu suchen.

„Ich habe für die Patienten nur zwei weitere Familienmitglieder angegeben. Ehemann und Tochter." Bereits bei der Erwähnung von zwei Familienmitgliedern beginnt es mir eiskalt den Rücken hinunter zu laufen. Enttäuschung und Trauer breiten sich wie ein Lauffeuer in mir aus. Es ist, wie das Gefühl einer rostigen, stumpfen Klinge, die sich direkt in meinen Brustkorb bohrt und mehrere Rippen auseinander spreizt. Eine Weile wandern ihre Augen über mein Gesicht als würde sie abschätzen wollen, in welchem Familienstand ich zu der Patientin stehen könnte. Ich ignoriere den fragenden Blick der jungen Frau und sehe noch einmal auf die Uhr.

„Schon gut, ich warte", sage ich resignierend, sehe mich nach einer Wartemöglichkeit um und entdecke unbequem aussehende Plastikstühle. Ein Kaffeeautomat, der laut brummt, obwohl ich noch etliche Meter von ihm entfernt bin. Unschlüssig bleibe ich vor eine Sitzreihe stehen. Ich habe nicht einmal ein Buch mit, nur die Aufzeichnungen und Folien der Vorlesungen von gestern. Ich habe nicht das Gefühl auch nur das Geringste lernen zu können.

„Entschuldigung?", ruft es hinter mir und ich nehme es im ersten Moment gar nicht wahr. Erst ein erneutes Rufen, veranlasst mich, mich umzudrehen. Die junge Frau kommt auf mich.

„Darf ich einmal ihren Ausweis sehen." Verwundert sehe ich sie an, doch ohne weiter darüber nach zu denken, krame ich nach meinem Portmonee und reiche ihr mein Personaldokument. Sie betrachtet ihn eingehend.

„Sie sind der Sohn, nicht wahr?" Sie wartet keine Antwort ab, sondern fährt fort.

„Sie liegt in der 5. Etage Orthopädie. Zimmernummer 26. Fragen sie am besten oben bei Schwester Bianca noch mal nach." Ein hübsches Lächeln und sie zeigt zwei schiefe Vorderzähne.

„Danke." Ich erwidere das Lächeln und mache mich auf zum Fahrstuhl. In der fünften Etage ist der Geruch nach Krankenhaus und Desinfektionsmittel noch schlimmer. Ich verkneife mir ein tiefes Einatmen und suche nach der Schwester. Es dauert nicht lange bis mich eine ältere Frau zur Seite zieht und mahnend ansieht. Ihr ovales Gesicht ist faltig. Ihre Augen blicken streng und dennoch hat sie den Gesichtsausdruck einer gütigen Großmutter. Freundlich und aufopferungsvoll. Schwester Bianca. Ich erkläre ihr mein Anliegen und sie beginnt zu Lächeln. Mein Eindruck wird nur noch verstärkt. Für einen kurzen Moment wird mir ganz warm.

„Sie sind der Sohn? Sie wird sich sehr freuen, aber im Moment schläft sie." Anscheinend weiß, sie sofort wen ich meine.

„Darf ich trotzdem zu ihr?"

„Wenn sie leise sind." Ich nicke verstehend und sie führt mich zu ihrem Zimmer.
 

Ich bleibe zunächst an der Tür stehen und betrachte meine Mutter im Krankenbett. Ihr bleiches, schlafendes Gesicht. Was war nur passiert? Ihre komplette rechte Seite scheint bandagiert und stillgelegt. Auch ihre linke Hand ist mit weißen Mull umhüllt. Neben ihr steht ein Tropf. Mein Herz wird schwer. Leise ziehe ich mir einen Stuhl an ihr Bett. In diesem Moment wendet sie mir ihren Kopf zu. Ihre Augen sind weiterhin geschlossen und sie schläft, doch auf ihrer linken Gesichtshälfte prangt ein großer Bluterguss. Sie muss gestürzt sein. Ich setze mich leise und strecke meine Hand nach ihr aus, doch ich ziehe sie im ersten Moment zurück. Zu groß ist die Angst, dass sie aufwachen könnte. Ich bleibe sitzen und schließe die Augen. Meine Mutter so zu sehen, ist nicht leicht für mich. Die Hilflosigkeit frisst sich durch meinen Körper und wird nur noch durch das schlechte Gewissen übertroffen, welches ich empfinde, weil ich es nicht schaffe sie einmal im Monat zu besuchen.

„Mama, es tut mir so leid", flüstere ich in die Stille und schirme mir mit der Hand die Augen ab, vergieße eine stille Träne

Ich weiß nicht, wie lange ich still neben ihr sitze, doch irgendwann steckt die Schwester ihren Kopf durch die Tür. Sie winkt mich zu sicher heran.

„Schläft sie?"

„Ja."

„Gut, die Nacht war sehr anstrengend für sie." Während sie spricht, nickt sie unaufhörlich. Es hat etwas Hypnotisches.

„Entschuldigung, aber können Sie mir sagen, was passiert ist?" Verwunderung durchwandert ihren Blick. Sie fragt nicht nach, warum ich unwissend bin.

„Sie ist mit ihrem Fahrrad gestürzt und es war ein Auto daran beteiligt."

„Sie wurde angefahren?", frage ich perplex und erschrocken.

„Ja. Zum Glück war kaum Geschwindigkeit im Spiel", sagt sie und versucht zu beschwichtigen.

„Und was hat sie genau? Brüche? Prellungen?", frage ich die Schwester und sie nickt.

„Sie hat einen schweren Oberschenkelhalsbruch und einige angebrochene Knochen an der linken Hand und an den Rippen." Die Aufzählung der Verletzung erschreckt mich nur noch mehr. Ich spüre, wie sie eine runzelige Hand auf meine Schulter legt.

„Sie hatte viel Glück." Ich nicke es ab und sehe zu meiner schlafenden Mutter. Glück ist immer relativ.

Noch einmal setze ich mich auf den Stuhl bis sie erwacht. Ich bin selbst eingenickt, doch ich habe meine Hand neben ihre Hüfte gelegt. Eine tastende Berührung und ich schrecke auf. Sanft greife ich nach ihrer Hand.

„Hey,...", hauche ich leise, damit sie sich nicht erschreckt.

„Ben? Ben, bist du das?", fragt sie und schafft es nicht ihren Kopf komplett zu mir zu drehen. Ich stehe auf und setze mich zu ihr an den Bettrand. Sie lächelt verschlafen.

„Was machst du denn für Sachen?", frage ich sanft und sie streckt ihre Hand nach mir aus, um mir über die Wange zu streicheln. Wahrscheinlich möchte sie sicher gehen, dass sie nicht träumt.

„Ein Autofahrer hat mich beim Abbiegen nicht gesehen und hat mich angefahren. Wir standen an der Ampel. Heutzutage ist es sehr gefährlich in der Stadt mit dem Rad zu fahren. Du fährst kein Fahrrad, oder?" Nachdem sie geendet hat, atmet sie tief und erschöpft ein. Kaum Geschwindigkeit, doch es hatte gereicht um meine arme Mutter vom Rad zu reißen.

„Nein, Mama. Ich fahre Bus. Hast du starke Schmerzen?"

„Ich bekomme Schmerzmittel. Mach dir keine Sorgen."

„Du weißt, dass ich das nicht kann." Ein Lächeln auf ihren Lippen.

„Natalia hat dir Bescheid gesagt?"

„Ja, sie hat mir geschrieben."

„Schön, dass du gekommen bist." Ein erneutes Streicheln. Ich greife ihre Hand und halte sie fest.

„Wie geht es dir, mein Schatz? Was macht das Studium?" Mit ihren Worten bildet sich erneut die zentnerschwere Last in meinem Leib. Sie schnürt mir die Brust zu. Meine Mutter liegt im Krankenhaus und sie fragt mich nach meinem Befinden und meinem Leben. Ich schließe die Augen.

„Mir geht es gut. Ich soll dich ganz lieb von Anni grüßen und natürlich gute Besserung wünschen. Auch sie macht sich Sorgen und verspricht dir, bald wieder Pfefferminzplätzchen mit dir zu essen." Ich kann ein Schniefen nicht unterdrücken und erst als meine Mutter mir eine Träne von der Wange streicht, merke ich, dass ich weine. Der Beschluss meines Vaters mich zu verstoßen, traf vor allem sie. Aber sie hat nicht die Kraft sich gegen ihn zu wehren und ich nicht den Mut. Nun bleiben wir mit unserer Trauer und Sehnsucht allein zurück.

„Mach dir keine Sorgen, Schatz. Ich werde gut gepflegt." Ich nicke und schrecke zusammen, als die Tür auf geht. Natalia steht im Raum. In ihren Händen hält sie einen Strauß Blumen.

„Mama, wie geht..." Sie bricht ab, als sie mich erkennt. „Ben." Auch von ihr bekomme ich ein Lächeln. Sie kommt auf mich zu und nimmt mich in den Arm.

„Wie schön, dass hat sich Mutti gewünscht." Sie lächelt und stellt die Blumen in eine leere Vase.

„Wie geht es dir, Mama?", fragt sie fürsorglich, haucht unserer Mutter einen sanften Kuss auf die Stirn.

„Besser. Im Moment habe ich keine Schmerzen." Meine Schwester streicht ihr eine leicht ergraute Strähne aus dem Gesicht und sieht mich an.

„Mutti, entschuldigst du uns kurz?" Ich sehe, wie Mama nickt und folge Natalia nach draußen. Noch einmal umarmt sie mich.

„Wie lange wird sie hier bleiben müssen?", frage ich sie und sehe zu, wie sie mit den Schultern zuckt. Meine Schwester sieht genauso aus, wie unsere Mutter in jungen Jahren. Ihre leicht gewellten, dunkelblonden Haare umrahmen ein ovales, hübsches Gesicht. Sie hat kleine Sommersprossen auf der hellen Haut. Eine etwas zu lange, schmale Nase. Im Gegensatz zu mir hat sie blaue Augen, die so klar sind, wie die unseres Vaters. Niemand, der uns sieht, hält uns für Geschwister, denn ich sehe aus, wie unser Vater. Dunkele Haare, schmales Gesicht. Doch meine warmen braunen Augen kommen von meiner Mutter.

„Das kommt darauf an, ob der Oberschenkelhalsbruch operiert werden muss, oder nicht. So, oder so, das wird eine Weile dauern", erklärt Natalia bedrückt.

„Wurde der verantwortliche Autofahrer gestellt?"

„Nein, Fahrerflucht. Es gibt Zeugen, die einen schwarzen Kombi gesehen haben, aber noch weiß man nichts Genaues." Ich fahre mir durch die Haare.

„Wie geht es euch?", frage ich leise und sie lächelt.

„Gut, die Mädchen quengeln und werden ständig krank, aber ansonsten ist alles in Ordnung. Wir vermissen dich", plaudert sie unaufgeregt. Ich weiche ihrem Blick aus.

„Dito. Lass uns wieder reingehen. Ich bin froh, dass ich rein durfte."

„Wie meinst du das?"

„Laut der Krankenhausakten besteht unsere Familie nur noch aus drei Mitgliedern", sage ich verbittert zu Natalia. Ich erspare ihr einen Kommentar und gehe zurück in das Krankenzimmer. An ihrem Blick sehe ich den Unglauben und das leichte Entsetzen.
 

Die nächsten paar Minuten sind fröhlich. Wir reden. Wir lachen. Ich erzähle ein wenig von der Universität und spare Antony und andere Eskapaden aus. Das sich die Tür öffnet bekommen, wir im ersten Moment nicht mit. Erst das Rascheln von Blumenpapier zerreißt die Heiterkeit.

„Was macht er hier?" Er spricht mich nicht direkt an. Das tut er schon lange nicht mehr.

„Was ist das für eine Frage, Papa?", fragt nun Natalia retour. Ich lege ihr meine Hand auf den Arm, doch sie beruhigt sich nicht. „Wie konntest du nicht angeben, dass ihr einen Sohn habt? Ben hätte Mama beinahe nicht besuchen dürfen", beschwert sie sich ohne zu zögern. Sie ist außer sich. Mir ist es unangenehm. Mein Vater murrt und reagiert nicht. Er wird mich ignorieren, so wie immer.

„Ist schon gut", flüstere ich und stehe auf. Noch ein letztes Mal beuge ich mich zu meiner Mutter und hauche ihr einen Kuss auf die Wange. Bei meiner Schwester dasselbe. Dann gehe ich.
 

Ps vom Autor: Vielen lieben Dank an meine lieben Leser und Kommieschreiben :D Danke Danke Danke!

Seine Hände bringen das Vergessen

Kapitel 11 Seine Hände bringen das Vergessen
 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich zu seiner Nummer scrolle, Minuten lang auf das Display starre, aber es ist das erste Mal, dass ich seine Nummer wirklich fast wähle. Mein Daumen wandert über das glatte Display, streichelt fast liebevoll das kühle Glas. Ich möchte seine Stimme hören, obwohl ich nicht einmal weiß, was ich ihm sagen soll. Als ich meinen Kopf gegen die kühle Scheibe des Zuges lehne, spüre ich sofort die heftigen Vibrationen, die sich durch meinen Schädel arbeiten. Unnachgiebig und dennoch beruhigend, fast einlullend. Kurz schließe ich die Augen und drücke tatsächlich auf den grünen Hörer des Handys. Antony kennt meine Nummer nicht, doch daran denke ich gerade nicht. Das Klingeln ist leise und geht bei den geräuschvollen Vibrationen in meinem Ohr fast unter. Es dauert einen Moment bis er abhebt. Für ihn ist es nur eine fremde Nummer auf dem Display zu sehen.

„Rochas", kommt es bürokratisch kalt.

„Hast du Zeit für mich?", frage ich leise. Ohne Begrüßung und ohne Umschweife. Ich höre, wie es am anderen Ende der Leitung für einen Moment still bleibt.

„Ben?", erkundigt sich Antony zurückhaltend.

„Ja." Einsilbig. Ich kann den deprimierten Klang meiner Stimme nicht vollkommen verstecken.

„Was ist los?", fragt er mich verwundert, doch ich will ihm über das Telefon nicht antworten.

„Hast du Zeit für mich?", wiederhole ich und warte auf seine Reaktion. Wenn er ja sagt, würde es mir zeigen, dass ihm mehr an mir liegt als reiner Sex. Sagt er dagegen nein, dann weiß ich worauf ich setzen muss. Ich hoffe inständig, dass er ja sagt.

„Hör zu, ich bin noch in der Uni beschäftigt..." Der erste Kitzel der Enttäuschung. Doch noch ist es kein richtiges nein. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie er auf die Uhr sieht und sich unsicher über den gestutzten Bart streicht. Ich höre, wie er etwas hin und her schiebt. Metall, das sich durch Papier bohrt. Das Geräusch des Tackers.

„...aber ich bin gleich fertig. Wo bist du?", fährt er fort und ich atme aus. Mein Herz macht einen leichten Sprung. Bubbert und pocht.

„Ich komme gleich am Hauptbahnhof an", sage ich nach einem Blick nach draußen in die Dunkelheit. Bäume ziehen schnell an mir vorbei und auch die ersten Häuser. Sie wirken im fahlen Licht der Laternen monströs und düster.

„Am Hauptbahnhof? Wieso bist du am Hauptbahnhof...egal... Gib mir 15 Minuten und dann hole ich dich dort ab, okay?" Erneut höre ich, wie er etwas bewegt. Das Klirren eines Glases. Das Klicken einer Aktentasche.

„Danke", flüstere ich und lege auf. Als der Zug ankommt, lasse ich mir Zeit und setze mich vor dem Bahnhof auf eine Bank. Ich habe das Gefühl, dass sich meine Glieder taub anfühlen. Ich kämpfe gegen die Enttäuschung, die Wut und auch gegen Trauer. Noch beim Verlassen des Zimmers konnte ich hören, wie meine Mutter und meine Schwester mit meinem Vater zu diskutieren begannen. In gewisser Weise fühlte es sich, wie ein Déjà-vu an. Einen Moment später die tiefe, durchdringende Stimme meines Vaters, die jeden weiteren Protest unterband. So ist es schon immer gewesen. Seine Stimme bricht Stahl und erst recht Herzen. Mein Vater ist ein alter Militär und seine Keine-Widerrede-Einstellung kann er nicht ablegen. Nicht einmal als er schon Jahre aus dem Militärdienst ausgeschieden war. Er war nie wirklich gefühlvoll oder väterlich und mein Outing hatte jede noch so winzige, sanfte Gefühlsregung für seinen Sohn komplett erstickt. Als hätte er es schon immer gewusst, dass aus mir nichts Vernünftiges werden kann. Von vornherein.
 

Nach dem Krankenhausbesuch bin ich noch mehrere Stunden in der Stadt herumgelaufen, habe meine alte Schule besucht und stand vor meinem Elternhaus. Drei Jahre ist es her, dass mich mein Vater rausgeworfen hat. In diesen Jahren war ich nur noch sporadisch zu Hause gewesen. Ab und an. Meistens heimlich. Mein Herz brennt. Doch obwohl er stets so streng mir gegenüber war, hat er dennoch ohne zu murren dafür gesorgt, dass ich wenigstens finanziell über die Runden komme. Genauso, wie auch jetzt meine Eltern mein Studium finanzieren. Ich weiß nicht, ob es allein die Worte und die Bitten meiner Mutter sind, die ihn dazu veranlassen.

Nach einer Weile schiebe ich meine kalten Finger in meine Hosentasche, doch es hilft nicht. Die Kälte aus meinem Inneren scheint nach Außen zu dringen. Ich fühle mich eigenartig leer. Ich lehne mich nach vorn und lege meinen Kopf in meine Hände, bleibe so sitzen. Kein Zeitgefühl. Nur hin und wieder höre ich das Signalgeräusch eines Zuges. Die Ein- und Ausfahrt.

Irgendwann spüre ich eine warme Hand an meinem Kopf und sehe auf. Antonys Anblick erleichtert und bedrückt mich zu gleich. Zu seinem fragenden Blick mischt sich Sorge. Ich richte mich auf und bleibe vor ihm stehen. Er wartet auf eine Erklärung, doch ich spüre nur, wie sich mein Hals zusammenschnürt. Ich habe das Gefühl keine Luft zu bekommen.

„Was ist denn los?", erkundigt er sich sanft und ruhig. Seine Hand greift nach meiner. Ich schaffe es nicht ihn anzusehen, denn im Grunde schäme ich mich dafür ihn angerufen zu haben. Sicher interessieren ihn meine Probleme herzlich wenig. Warum auch? Ich bin schließlich nicht der einzige Schwule mit familiären Problemen. Es gibt sie zuhauf und ich bilde keine Ausnahme.

„Ben?" Eindringlicher und ich schlucke. Mein Hals ist trocken.

„Mein Vater hasst mich", quäle ich mir heraus und spüre, wie mit diesen Worten auch Tränen über meine Wangen perlen. Meine Aussage ist bedeutungsvoll, aber nichtserklärend. Mein Blick ist verschleiert, so dass ich Antony Reaktion nicht sehe.

„Entschuldige, dass interessiert dich sicher gar nicht, aber ich hatte das Bedürfnis dich anzurufen. Ich weiß nicht, wieso", berichte ich zwischen Tränen. Ich bekomme keine Antwort, sondern spüre nur seine warme Hand an meiner Wange und wie er mich in eine Umarmung zieht. Es ist kein dieser lauen Scheinumarmungen. Sie ist fest und intensiv. Beruhigend und tröstend. Seine Finger beginnen durch meine Haare zu streichen und die Kälte aus meinem Körper zu vertreiben. Die Berührungen sind wohltuend und ehrlich. Meine Lippen reiben über den rauen Stoff des Mantels und ich schließe die Augen. Ich ziehe seinen angenehmen, nur noch dezenten Geruch in mich ein. Seine Lippen treffen mein Ohr. Er haucht mir einen Kuss auf den Bogen, als er merkt, dass ich ruhiger werde. Als ich mich von ihm löse, blicken mich seine kühlen Augen ungewöhnlich warm an. Diesen Ausdruck haben sie bisher nur nach dem Sex gehabt. Mir wird immer wärmer.

„Komm ich fahre dich nach Hause.", bietet er an. Ich nicke nur.

Wir brauchen nur ein paar Minuten bis zur WG, die wir schweigend verbringen. Als er den Motor abstellt, bleiben wir sitzen.

„Wo warst du gewesen?", fragt er in die Stille hinein und ich sehe auf.

„Zu Hause. Meine Mama hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus."

„Geht es ihr gut?"

„Gebrochen Knochen und Blutergüsse. Sie hat Glück gehabt. Das sagen jedenfalls alle." Antony nickt und ich sehe, wie er mit seiner nächsten Fragen hadert. Die Frage nach meinem Vater. Ich komme ihm zuvor.

„Kommst du noch mit hoch?", frage ich gerade heraus. Ich sehe kurz aus dem Fenster und dann wieder zu ihm. Er zögert.

„Wie du weißt, habe ich morgen Vorlesungen und muss mich noch ein bisschen was vorbereiten", sagt er leise, aber nicht eindeutig ablehnend. Das helle Licht seines Handys erleuchtet kurz das Innere des Autos. Angezeigt wird eine unbekannte Nummer.

„Bitte." Ich werde es nur einmal aussprechen. Ich kann sehen, wie er mich mustert und sich durch die Haare streicht. Nur wenig Licht fällt in das Auto, so dass ich seinen Gesichtsausdruck nicht vollständig sehen kann. Doch ich spüre, wie seine Augen über mein Gesicht wandern, jede meiner Reaktionen in sich aufnehmen. Ich sehe dabei zu, wie er nach seinem Handy greift, es komplett abschaltet und mich anlächelt. Ich denke mir nichts dabei.

„Okay."

Mit einem leisen Geräusch öffnet sich die Tür. Nirgendwo brennt Licht, doch das heißt nicht, dass niemand zu Hause ist. Ohne die Jacke oder die Schuhe im Flur auszuziehen, schleichen wir in mein Zimmer.
 

Meine Bitte war mit keiner Absicht verbunden, doch als ich ihn beobachte, wie er seinen Blick durch mein Zimmer schweifen lässt, wird mir unerwartet heiß. Allein seine Anwesenheit bringt mich um den Verstand. Ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und lehne mich gegen die Tür. Antony hört nur das Geräusch und wendet sich zu mir. Den anderen Mann hier zu wissen, bedeutet mir viel. Es ist, wie die Erfüllung eines unausgesprochenen Wunsches, der sich fest in meinem Herzen manifestiert hat.

Ich beobachte ihn dabei, wie er den Mantel von den muskulösen Schultern streift. Er wirft ihn auf meinen Schreibtischstuhl und winkt mich zu sich heran.

„Komm her." Darum lasse ich mich nicht zwei Mal bitten. Vor ihm bleibe ich stehen, sehe hoch und spüre seine Hand, die mir eine Strähne hinters Ohr schiebt. Ich fahre mit den Augen die markanten Stellen seines Gesichts ab. Kinn, Wangen und bleibe an seinen verlockenden Lippen hängen. Mein Weg ist nicht weit, denn er kommt mir direkt entgegen. Unsere Lippen treffen sich, doch es ist eine zarte und sanfte Berührung. Zunächst nur ein Hauch. Ein liebesvolles Ertasten. Wir küssen uns gegenseitig die Ober- und die Unterlippe. Ich genieße das Kribbeln, welches mit jeder unserer Berührungen einhergeht. Fühle, wie es sich in mir ausbreitet und jeden Rest der Kälte verdrängt. Erneut lege ich meine Arme um ihn, doch diesmal lasse ich sie an seiner Hüfte liegen.

Sein Bart kratzt mir leicht über das Kinn, während sich unsere Lippen weiterhin auf einander bewegen. Liebkosendes Streicheln. Kostendes Schmecken. Ich genieße die einmalige Süße seiner Lippen, die meine Geschmacksknospen kitzeln und necken. Es ist so erregend. Antonys Finger streichen über meinen Nacken, über meine Schulter hinab zu meiner Hüfte. Sanft zieht er mich noch näher. Erneut umschließt er meine Unterlippe. Spielt, saugt und küsst. Ich lasse meine Augen geschlossen, nehme jede seiner Berührungen in mir auf. Unsere Lippen tanzen zeitlos und unaufhörlich. Es ist einfach nur ein wunderbares Gefühl, welches in mir schwelt und meinen Körper durchschwemmt. Zufriedenheit, Geborgenheit und Glück. Seine Hände, die sanft und zart über meinen Körper streichen, jedes noch so negative Gefühl weg zu wischen vermögen. Seine Hände lasse mich vergessen. Wenigstens für diesen Moment.
 

Wie lange wir so da stehen und uns einfach nur nahe sind, weiß ich nicht. Ich spüre irgendwann den leichten Zug, den er in die Richtung meines Bettes macht. Mein Dozent löst den Kuss und lässt sich fallen. Er blickt von meiner Körpermitte zu mir auf. Ich bin erregt, auch wenn ich weiß, dass diese Berührungen nicht auf Sex abzielten. Ich möchte auch keinen. Ich möchte einfach nur das Beisammensein genießen. Die Anwesenheit des anderen Mannes auskosten. Antony lächelt und zieht mich aufs Bett. Er streift mir das Shirt über den Kopf und ich entledige mich der Hose. Er tut es mir gleich. Danach ziehe ich ihn erneut in einen sanften Kuss und wir lassen uns ins Bett fallen.

Sein warmer Körper scheint mich wohlig zu umfangen. Das Streicheln seiner Hand in meinem Nacken wird hin und wieder fahriger bis es verstummt. Für einen weiteren Moment genieße ich die wunderbare Wärme, drücke mich fest an ihn und atme tief ein. Dann setze ich mich vorsichtig auf und schwinge die Beine aus dem Bett.

„Wo willst du hin?", fragt er schläfrig.

„Ich klettere heimlich aus dem Fenster und hau ab...", fantasiere ich scherzhaft und sehe in das verschlafende Gesicht.

„Dir ist schon klar, dass du hier wohnst?", kommentiert er halb ernst, halb scherzhaft.

„Wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen." Ich werfe ihm ein Bild von mir und Anni zu und stehe auf.

„Ich hole uns etwas zu trinken.", erkläre ich. Beim Hinausgehen kann ich hören, wie er sich aufsetzt. Nur in Shorts streife ich durch die Wohnung und lausche. Es ist noch immer nichts zu hören und augenscheinlich hat sich auch nichts verändert. Wir sind allein. Ich komme mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser zurück.

Antony sitzt mit dem Bild in der Hand in meinem Bett. Nur sein linkes Bein ist von der Decke verhüllt. Der Rest seines schönen Körpers kann schamlos von mir betrachtet werden.

„Deine Scheinfreundin?", fragt er belustigt. Er kennt Anni nicht. Wahrscheinlich hat vergessen, dass sie bei unserer ersten Vorlesung mit im Hörsaal gesessen hat. Die anderen Male bin ich allein bei ihm gewesen und auch sonst hat er mich nur allein in der Uni gesehen.

„Sozusagen", kommentiere ich und sehe, wie er verwirrt eine Augenbraue nach oben zieht. Ich setze mich zu ihm aufs Bett und reiche ihm ein Glas.

„Muss nicht jede Frau einen schwulen besten Freund haben? Ich bin ihrer", sage ich lapidar und grinse übertrieben. Ich gieße uns einen Schluck Wasser ein und spüre Antonys nichtsverstehenden Blick auf mir.

„Sie ist meine beste Freundin und ich kenne sie schon seit der Grundschule." Während ich das sage, zieht er mich rückwärts in eine Umarmung. Seine Lippen an meinem Hals und seine warme Brust an meinem Rücken. Sanft streicht er mir über den flachen Bauch, hinauf zur Brust und wieder zurück. Ich trinke einen Schluck Wasser.

„Erzähl mir von dir?", flüstere ich und neige meinen Kopf zu ihm. Antonys Augen sind geschlossen und sein Gesicht scheint unendlich friedlich.

„Was möchtest du denn wissen?"

„Alles", kichere ich klischeehaft.

„Dafür reicht die Nacht nicht", kommentiert er und haucht mir einen Kuss auf die Lippen.

„Dann die Kurzfassung."

„Hm, okay. Ich bin in Portugal geboren und in Spanien groß geworden. Mit 17 Jahren kam ich hier her, ging zur Schule und begann zu studieren. Seit 3 Jahren bin ich nun Dozent im Fachgebiet für Wirtschaftsingenieurswesen und du bist der erste Student, der mich ins Bett gekriegt hat." Die letzten Worte sind nur geflüstert, hauchen sich gegen meine Ohrmuscheln und lassen die feinen Härchen in meinem Nacken tanzen. Eine wirklich kurze Zusammenfassung, aber nun verstehe ich, woher sein Temperament kommt. Südländer. Das erklärt einiges, aber nicht diese ungewöhnlichen, hellen Augen. Ich spüre, wie mein Puls nach oben klettert.

„Wie oft versucht man es denn bei dir?", frage ich neugierig. Ich hebe eine Augenbraue nach oben und kann die Verwunderung in meiner Stimme nicht verstecken. Für einen kurzen Moment denke ich an die junge blonde Frau in seinem Sprechzimmer. War sie eine der Abgewiesenen?

„Ich bin ein attraktiver Mann, Benedikt", kommentiert er meinen erschrockenen Ausdruck, den ich nicht aus meinem Gesicht bekomme.

„Oh, entschuldige, so habe ich das nicht gemeint", gebe ich entschuldigend von mir, stelle das Glas zur Seite und wende mich ihm zu, in dem ich mich auf die Seite drehe.

„Ich bin nur erschrocken darüber, dass so viele keinen Anstand haben und..." Antony unterbricht mich.

„So, wie du?" Absichtlich provozierend. Ich schaue empört, aber auch etwas belustigt an.

„Ich habe dich schon nackt gesehen bevor ich wusste, dass du mein Dozent bist", gebe ich retour und schaue ihn trotzig an.

„Das macht einen Unterschied?", fragt er mich und sieht mich eindringlich an.

„Ja, absolut." Ich richte mich auf und erwidere seinen Blick.

„Ich musste mir nicht mehr vorstellen, wie sich dein Körper anfühlt... musste nicht mehr erahnen, wie süß deine Lippen schmecken... wie gut es ist über deinen Körper zu streicheln und wie wunderbar es ist dich zu spüren. Ich wusste es längst. Also, wie hätte ich widerstehen sollen?" Ich hauche mit jedem geraunten Beispiel einen Kuss auf seine Brust und sehe jedes Mal kurz auf. Seine Augen beobachten meine Bewegungen. Seine Ohren lauschen meinen Worten. Ich sehe, wie sich auf seiner Haut eine leichte Gänsehaut bildet.

Er streckt seine Hand nach mir aus und streicht mir ein paar der durcheinander liegenden Haare zurück. Sie bleibt an meiner Wange liegen und sein Daumen streicht über meine Haut.

„So, hat mich noch keiner überzeugt."

„Ich konnte es einfach nicht vergessen." Seine Hand gleitet in meinen Nacken und zieht mich in einen langen, intensiven Kuss. Er ist anderes als die vorigen. Härter, intensiver und definitiv verlangender. Dieser Kuss spricht eindeutig von Sex. Ein Schauer der Erregung jagt durch meinen Körper und ich knie mich über ihn. Der Gedanken an meine Mitbewohner blitzt auf. Die Unsicherheit, ob wir wirklich allein sind. Doch mit jedem weiteren Kuss und mit jeder weiteren fordernden Berührung schwindet der lästige Funke.

Sag mir was du willst

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mit gepiercten Nervenenden

Kapitel 13 Mit gepiercten Nervenenden
 

Marie wendet sich noch einmal dem Treppenhaus zu bevor sie die Tür schließt und dann zu mir in die Küche kommt. Sie zieht ihre Jacke aus und legt sie über einen der Küchenstühle.

„Hey, guten Morgen. Hast du heute keine Vorlesungen?", fragt sie mich. Ich fühle mich ertappt.

„Hey. Doch schon, aber da ich verschlafen habe, dachte ich, dass ich mich nun auch nicht mehr beeilen muss." Der erste und zweite Block sind soweit fortgeschritten, dass ich eintreffen würde und nur noch 10 Minuten bleiben. Es wäre sowohl für mich peinlich als auch respektlos gegenüber dem Professor. Ich sehe dabei zu, wie sie nickt und sich ihr Näschen schnuppernd Richtung Kaffee neigt. Ich reiche ihr eine der frisch abgewaschenen Tassen, die sie dankend annimmt.

„Und woher kommst du so in den fortgeschrittenen Morgenstunden?", erfrage ich neugierig und sehe dabei zu, wie sie sich das Tuch vom Hals wickelt.

„Von einer Freundin. Sie hat gestern Geburtstag gefeiert. Ich wollte noch fragen, ob du mitkommen möchtest, aber du warst nicht aufzufinden."

„Ja, ich war unterwegs und bin erst abends zurückgekommen." Ich hatte auch ohne zu feiern eine wilde Nacht. Noch immer lehne ich am Küchentresen und sehe dabei zu, wie Marie sich eine Tasse mit dem schwarzen Gebräu füllt. Sie schnuppert. Sie seufzt und dann lächelt sie. danach setzt sie an den Küchentisch und wärmt sich ihre Hände an der Tasse.

„Darf ich dich etwas fragen?", durchbricht sie die Stille.

„Sicher", erwidere ich ruhig und doch merke ich eine leichte Anspannung, die sich vor allen in meinen Schultern zeigt. Ich ziehe sie hoch, straffe sie.

„Du bist schwul, nicht wahr?", platzt es ohne Schonung aus ihr hervor. Weniger fragend, als diagnostizierend. Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe.

„Uff, damit habe ich nicht gerechnet. Wie kommst du darauf?", frage ich unbewusst abwehrend zurück.

„Entschuldige, das sollte ganz und gar keine Anfeindung sein. Ich finde das völlig in Ordnung." Ihre Hände wackeln hilflos umher, während sie ebenso aufgeregt hin und her sieht.

„Ich habe mich nur wegen der Zigarettenschachtel gewundert, denn die Telefonnummer war von Luka und ihn kenne ich von der Campuszeitung. Vorausgesetzt natürlich das ist der Luka, den ich denke, aber die Zigarettenschachtel würde zu ihm passen.", plaudert sie mit erhitzter Stimme, holt kurz Luft und spricht, danach beruhigt weiter, „Na ja und der Kerl, der mir eben ihm Treppenhaus entgegen kam, kam eindeutig aus unserer Wohnung." Sie lächelt schief und in der Kombination mit den kurzen Haaren hat es etwas Lausbubenhaftes.

„Du machst Sherlock Holmes Konkurrenz und ja", kommentiere ich ihre brillante Zusammenfassung und bin insgeheim froh, dass sie Antony nicht als einen der Dozent der Uni erkannt hat oder gar nicht mit der Uni in Verbindung bringt. Ich hoffe es jedenfalls.

„Warum hast du nichts gesagt?", fragt sie nach einem Schluck Lebenselixier. Ich lasse mich zu ihr an den Tisch nieder und fahre mir durch die Haare. Ja, warum habe ich nicht schon vorher etwas gesagt? Ich weiß es nicht.

„Ich war unsicher, ob es und wie es vielleicht unser Zusammenleben beeinflussen wird. Ich meine ... na ja... Rick... vielleicht " Marie sieht mich aufmerksam an und beginnt zu kichern, als ich nur rumstammele.

„Ich glaube, der wird sich nur darüber ärgern, dass du nicht gleich mit der Wahrheit herausgerückt bist", stellt sie fest und ich hoffe inständig, dass sie damit Recht hat.

„Hoffentlich. Ich finde nie wieder so eine gute Wohnung mit so netten Menschen", sage ich übertrieben theatralisch und lehne mich zurück. Marie beginnt zu lächeln.

„Ja, also von mir kommt bestimmt nichts. Außer dass wir eine Regelung dafür finden müssen, wie wir das mit dem Beischlafbesuch regeln."

„Beischlafbesuch?", wiederhole ich und komme nicht umher zu lachen.

„Du weißt schon, dass mit dem Sex." Als sie das Wort ausspricht, wird sie rot.

„Du beziehst dich auf Cora und Rick? Ich bin total artig", gebe ich kichernd von mir.

„Sicher doch, nur spricht der Kerl auf der Treppe eine andere Sprache." Ich kann ihr nicht widersprechen, aber wenigstens ist bei mir keiner meiner WG-Leute zu Hause gewesen. In diesem Moment bin ich unendlich froh darüber, vor allem als ich mir unser frühmorgendliches Spiel in Erinnerung rufe.

„Da, genau dieser Blick sagt auch etwas ganz anderes." Sie wackelt mit ihrem Zeigefinger vor meiner Nase umher.

„Was? Nein, gar nicht wahr.", wehre ich mich halbherzig. Ich schüttele den Kopf und lache.
 

„Oh, ich sollte los", sage ich erschrocken nach einem Blick auf die Uhr, "Sonst verpasse ich noch mehr Vorlesungen." Ich stehe auf.

„Ben! Eine Frage noch..." Das Zögern in ihrer Stimme ist kaum zu überhören.

„Ja?" Marie sieht mich musternd an. Sie hadert mit sich.

„Nein, schon gut. Viel Spaß", kommt es von meiner Mitbewohnerin und sie beginnt in ihrer Tasche zu kramen. Ich sage nichts und verschwinde in meinem nach Sex duftendes Zimmer. Bevor ich mich komplett anziehe, öffne ich das Fenster und setze mich einen Moment aufs Bett. Womöglich hat sie ihn doch erkannt? War es das, was sie eben noch fragen wollte? In meinen Fingern beginnt es zu kribbeln. Woher sollte sie ihn kennen? Unsere Fachbereiche liegen auf gegenüberliegende Seiten des Campus. Vielleicht aus der Bibliothek? Selbst dann, könnte Antony auch als ein Student durchgehen. Unwirsch fahre ich mir durch die Haare und versuche die Gedanken daran zu verdrängen. Ich streiche die Decke zurück und denke weiter an meinen Dozenten. Ein warmes, erregendes Kitzeln breitet sich in meinem Inneren aus und das nicht nur, weil ich an die vergangene Nacht, dem Morgen und die anderen erotischen Male denke. Nein, allein der Gedanken an ihn, reicht aus um meinen Leib mit umfassender Wonne zu erfüllen. Ich lächele. Selig. Nein, dümmlich.
 

Etwas Normales hat er gesagt. Ein Essen bei ihm zu Hause. Ich fühle, wie mich schon jetzt tiefgreifende Aufregung überkommt. So was habe ich noch nie gemacht. Ich falle nach hinten und direkt in das zerwühlte Bettlaken. Vielleicht wird es doch mehr werden als ein aufregendes Abenteuer. Wer weiß.

Ich schaffe es mit ein paar Minuten Verspätung in die Vorlesung. Trotz der Geschehnisse im Krankenhaus fühle ich mich beschwingt und gut. In der Pause treffe ich auf Anni. Sofort fragt sie mich nach meiner Mutter. Ich berichte ihr von dem Unfall und hadere mit der Erzählung über das Zusammentreffen mit meinem Vater. Ich behalte es für mich.

Nach meinem Rauswurf von zu Hause bin ich bei Anni, ihrer Mama und ihrem Bruder untergekommen. Sie haben mich liebevoll und mit helfender Hand bei sich aufgenommen. Doch nicht ohne meinem Eltern zu verdeutlichen, wie unfair sie das Ganze fanden. Annis Mutti war, wie eine Furie bei meinen Eltern aufgeschlagen, hat diskutiert und argumentiert. Dennoch hatte es nichts genutzt. Mein Vater blieb steinhart. Meine Mutter hat geweint.

„Und was passiert jetzt?", fragt Anni mich und ich sehe zu ihr.

„Sie wird noch eine Weile im Krankenhaus bleiben. Und danach kommt Reha nehme ich an." Ich weiß es nicht genau, denn darüber haben wir nicht mehr gesprochen.

„Oh weh, deine arme Mama. Das wird sicher schwer und anstrengend."

„Natalia wird sich gut um sie kümmern und Dad auch." Die letzten Worte verschlucke ich mehr als das ich sie wirklich ausspreche. Seufzend sehe ich zu Boden. Erneut bricht das Wissen über seine Ablehnung schwer auf mich ein. Ob ich mich je an den Gedanken gewöhnen kann? Ob es je aufhört so weh zu tun?

„Was ist los?" Ich spüre Annis kühle Hand an meinem Arm und blicke auf ihre bunten Fingernägel. Diesmal sind es herbstliche Farben, die mit feinen weißen Ornamenten verziert sind. Sie macht sie sich selbst und ich bin jedes Mal beeindruckt. So viel Arbeit und so viel Geduld. Solche Geduld bringt sie nur für wenige Dinge auf.

„Hey, die sehen gut aus!", sage ich leise und Anni wackelt mit den Fingern.

„Danke, es hat ewig gedauert, aber es ist wirklich schön geworden. Jetzt sag mir, was los ist?"

Ablenken klappt selten.

„Ach nur das übliche deprimierte Gefühl nach einem Zusammentreffen mit meiner Familie. Das ist alles."

„Okay, dann brauchst du definitiv eine Ablenkung. Lass uns heute Abend noch mal ins Fitnessstudio gehen. Wir boxen ein bisschen, bringen unsere Körper in Schwung und dann gehen wir in die Sauna. Wehe, du sagst nein. Bitte sag nicht nein", fordert sie mich auf. Wie soll ich da widersprechen. Dazu sieht sie mich mit ihrem süßen Hamstergesicht bettelnd an.

„Darf ich dich um boxen?", frage ich belustigt. Anni schaut empört. Ihre Wangen werden damit nur noch größer. Lukas Kommentar über Annis kleine Bäckchen hatte sich in meinen Kopf gefressen und wenn ich daran denke, muss ich unweigerlich kichern. Ich bin so amüsiert, dass ich ihr ohne weitere Diskussionen zustimme.

„Großartig, vielleicht treffen wir ja jemand leckeres. Für dich und für mich", gibt sie flötend von sich und ich hebe eine Braue. Anscheinend hat sie noch immer nicht aufgeben mich von dem Akademiker wegzubekommen.

„Dir ist schon klar, dass es getrennt Saunen geben wird. Also eine für dich und eine für mich. Damit wird es für dich nichts Leckeres zu sehen geben", merke ich an und sie steckt mir die Zunge heraus. Zum Vorschein kommt ihr Zungenpiercing. Das alte Ding hat sie seit ihrem 16. Lebensjahr.

„Zieh den Waschlappen wieder ein und dein seltsames Piercing auch. Ich dachte, du hast das Ding raus genommen."

„Nö! Außerdem ich habe gelesen, dass die Männer draufstehen."

„Ja, mit 16 Jahren vielleicht...", kommentiere ich. Annis Zunge wandert erneut aus ihrer Höhle. Und dann kramt sie in ihrer Tasche nach einem Kaugummi.

„Apropos Piercings. Dieser Luka soll auch massig davon besitzen. Nicht nur die in seinem Ohr, sondern auch an Stellen, die nicht jeder zu Gesicht bekommt." Sie zwinkert mir zu. Ich spüre, wie mir bei dieser Vorstellung ein Ruck durch den Unterleib fährt. Ich weiß nicht, ob es der Erregung oder der Schmerzvorstellung geschuldet ist. Ich gebe nicht viel auf Klatsch und Tratsch. Anni hingegen schon.

„Aha und woher willst du das wissen?", frage ich ablenkend.

„Recherche!", sagt sie knapp. Sie hakt sich bei mir ein und gemeinsam gehen wir Richtung Mensa.

„Und warum betreibst du über Luka Recherche?"

„Weil ich ihn interessant finde und wissen wollte, wie er so tickt. Ich habe in einem meiner Kurse eine Kommilitonin, die ist in einem höheren Semester und hat Kontakte zur Zeitung."

„So, so" Ich ärgere mich ein wenig über Annis Neugier, aber dennoch spüre ich, wie ich selbst wissbegierig darauf warte etwas mehr von ihr zu erfahren.

„Ja, er ist wohl ein ganz Wilder. Viele Männergeschichte, wie du gesagt hast, aber im Grunde sind das alles nur Gerüchte und niemand weiß, was wirklich bei ihm abgeht."

„Er ist nicht auf den Mund gefallen, wie du gemerkt hast."

„Das ist er wirklich nicht und er hat dir bei eurem ersten Treffen ein eindeutiges Angebot gemacht, oder?", erkundigt sie sich neugierig. Ich verstehe ihre Begeisterung nicht und schaue meine Freundin verwundert an. Manchmal ist sie mir ein Rätsel. Sie begeistert sich für einen Typen, der nicht mehr will als Sex und bei Antony, bei dem es zugegeben ein wenig komplizierter ist, rastet sie aus. Dabei ist die Geschichte mit meinem Dozenten im Grunde viel einfacher. Das soll mal jemand verstehen.

„Ja, gut, dass ich nicht so einfach zu haben bin", sage ich spitz und ernte von ihr nur ein belustigtes Kichern.

„Ich meine ja nur, dass du dir Luka warmhalten solltest."

„Glaub mir, er hat besser zu tun als sich von mir hinhalten zu lassen. Außerdem kann ich mich zurzeit nicht beschweren, was das Vergnügen angeht." Ihr Blick verändert sich und dann seufzt sie.

„Herrje, fang nicht wieder mit deinem Dozenten an. Er hat ein schlechtes Karma. Für ein One-Night-Stand war er gut, aber zu mehr taugt er nicht. Ihr könnt euch, doch sowieso nicht sehen." Unweigerlich lasse ich sie los und bleibe stehen, während sie noch ein paar Schritte weitergeht.

„Du kennst ihn überhaupt nicht", sage ich verärgert.

„Du doch auch nicht und Luka ist mit seinen Absichten wenigstens eindeutig."

„Und das findest du besser?", frage ich sie fassungslos. Sie seufzt.

„Nein, das habe ich doch nicht gesagt. Er ist nicht der Typ für eine feste Bindung, Ben. Aber du weißt, woran du bist." Ich werde langsam sauer. Manchmal behandelt sie mich, wie einen kleinen dummen Jungen und das nervt mich.

„Weil du ja auch ein Beziehungsexperte bist?", kontere ich sarkastisch und bereue meinen Ausspruch so gleich. Ich kann zu sehen, wie sie zuckt und dann getroffen zur Seite sieht.

„Tut mir echt leid, aber bringst mich echt auf die Palme. Ich habe nie davon gesprochen mit Antony den Rest meines Lebens zu verbringen, aber ich möchte ein Chance und dich als Unterstützung wissen, nicht als mahnendes, böses Übel im Nacken." Sie sieht mich an und legt ihren Kopf schief. Ich kann sehen, wie es in ihr arbeitet. Sie streicht sich eine Strähne ihres roten Haares zurück und kommt auf mich zu.

„Okay, du hast Recht. Es tut mir leid." Sie nimmt meine Hand und lächelt. Ich schaue sie erstaunt an. So schnell lenkt sie normalerweise nicht ein.

„Mach den Mund wieder zu. Du hast wirklich Recht, ich bin dir gegenüber unfair."

„Du bist Antony gegenüber unfair", berichtige ich und sie kräuselt ihre Nase.

„Ja, Ja." Sie hakt sich wieder bei mir ein und zieht mich weiter. Obwohl ich mich über den Ausgang und ihrer Entschuldigung freue, bin ich dennoch nicht zufrieden. Annis Meinung ist mir wichtig und ihre ablehnende Haltung beschäftigt mich. Wir gehen einen Moment schweigend nebeneinander her und ich grummele innerlich vor mich hin bis sie beim Laufen ihren Kopf gegen meine Schulter lehnt. Ihr idyllisches Gesicht, beruhigt mich. Wir besorgen uns in der Mensa eine Kleinigkeit zu essen und dann trennen sich unsere Wege vorerst. Bevor sie geht, betont sie unser Treffen fürs Fitnessstudio und nach 5 Minuten bekomme ich noch eine mahnende Nachricht, dass ich es ja nicht vergessen soll.
 

Nach der letzten Vorlesung verschwinde ich kurz in die WG und packe mir ein paar Sportklamotten zusammen. Beim Hinausgehen treffe ich auf Rick.

„Hey, dich gibt es auch noch?", frage ich spaßig und ziehe mir die Jacke über.

„Hi! Ja, lebendig, aber müde. Du bist auf dem Sprung?"

„Ja, ich habe ein Fitnessdate", sage ich und verdrehe dabei die Augen. Rick lacht.

„Klingt anstrengend und irgendwie anrüchig.", kommentiert er belustigt. Es dauert einen Moment bis ich verstehe, was er meint. Ich beginne zu lachen.

„Nicht ganz, was du denkst. Ich gehe mit meiner besten Freundin im Fitnessstudio schwitzen. Mehr nicht." Wir lachen beide.

„Und du machst dir mal einen ruhigen Abend?"

„Ja, ich hoffe, dass es ruhig bleibt. Ich bin gefühlt nur noch im Stress. Den letzten Abgaben folgen schon wieder die nächsten" Er sieht wirklich geschafft aus.

„Wenigstens ist mit dir und Cora wieder alles okay", horche ich nach. Sein Blick verändert sich. Seine Augen glänzen und blitzen.

„Oh ja, alles prima." Das Prima zieht er besonders lang und grinst.

„Das haben wir gehört." Obwohl ihm die Aussage eindeutig peinlich ist, wird sein Grinsen nicht weniger.

„Entschuldige, aber bei ihren Eltern ziert sie sich derartig, dass, wie du dir vorstellen kannst, meistens gar nichts läuft."

„Haben wir uns fast gedacht", bemerke ich lachend. Ich sehe ihm dabei zu, wie er die Schuhe auszieht und seine Jacke anhängt. Ich lächele, wünsche ihm das volle Maß an Erholung und greife nach meinem Rucksack. Ich verabschiede mich und bin wenige Minuten später im Fitnessbereich der Uni.
 

Im Umkleideraum ergattere ich einen Spint, ziehe mich um und warte im Vorraum auf Anni. Sie kommt zu spät. Gelangweilt, setze ich mich auf eines der Fahrräder und beginne zu strampeln. Nach einer Weile spüre ich eine Hand an meiner Schulter und wende mich in der Annahme, dass es Anni ist um. Neben mir steht Luka. Sein markantes Gesicht wird von einem breiten und fantasierenden Grinsen dominiert. Seine Augen wandern meinen Körper entlang und ich fühle mich, als würde er mich ausziehen.

„Ganz allein in der Höhle des Löwen?" raunt er mir entgegen und ich höre mit dem Treten auf. Luka trägt eine einfache Jogginghose und ein weites Shirt. Der Ansatz seiner Haare ist feucht. Er ist wohl schon länger hier. Meine Hände umgreifen die Hörner des Lenkers.

„Ich wusste nicht, dass das hier ein gefährlicher Ort ist?"

„Oh ja, wie für eine einsame Gazelle am Tümpel. Krokodile und Löwen. Spürst du das Kribbeln", raunt er mir zu und ich sehe mich fragend im leeren Fitnessraum um. Luka leckt sich über die Lippen und ich werde rot.

„Wow, ich erzittere furchtsam", sage ich amüsiert. Luka lacht und ich bin mir fast sicher, dass er das nicht ernst gemeint hat. Er stellt sich direkt vor mich und lehnt sich auf den Lenker. An seinem Blick kann ich sehen, wie sehr er es genießt und wie sehr ihn meine Reaktionen ansprechen. Der Funken Verunsicherung in meiner Stimme schürt seine Erregung und das Schlimme daran ist, dass es mir irgendwie auch gefällt. Es ist die Art und Weise, die für mich so fremd ist, dass mein Herz vor Aufregung heftig gegen meinen Brustkorb schlägt. Die elektrisierende Anspannung die zwischen seinen Bemerkungen entsteht und mich dazu zwingen genau zu überlegen, was ich ihm erwidere. Doch meistens sind meine Antworten, genau das wogegen ich mich im meinem Kopf entscheide. Ebenso wie jetzt. In dem Bereich meines Vernunftzentrums, schreit es danach ihm eine eindeutige Abfuhr zu erteilen. Ein für alle Mal zu verdeutlichen, dass ich kein Interesse habe, doch das feine erregende Kribbeln in meinem Unterleib schreit das genaue Gegenteil. Ich bin neugierig und kann es schlecht verbergen.
 

Ich beuge mich zu ihm nach vorn. Seine Augen folgen meine Lippen.

„Sag mal und sei bitte ehrlich, hast du damit wirklich Erfolg?", erfrage ich flüsternd. Während ich das sage, beuge ich mich immer weiter nach vorn. Seine Augenbraue zuckt leicht nach oben, aber noch immer hat er dieses amüsierte Lächeln in seinem Gesicht. Es steigert sich sogar in ein begeistertes Grinsen. Ich frage mich, wie oft er dieser Show bei anderen abzieht und denke an Annis erwähnte Gerüchte über diesen Mann.

Auch Luka beugt sich noch etwas nach vorn. Unsere Gesichter sind nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Sein warmer Atem streift meine Lippen. Ich nehme das leichte Aroma von Zigaretten wahr und erschaudere. Seine Augen wandern die Konturen meines Gesichts entlang und ich erwarte seine Erwiderung. Mit einem Mal legen sich seine warmen Hände um meine, die noch immer die Hörner des Rads umfassen. Durch die Berührung zucke ich unmerklich zusammen und halte die Luft an. Sein Gesicht streift meins. Ich spüre leichte Bartstoppeln. Die Hitze seiner Haut brennt sich in meine Wange. Seine Lippen sind nah an meinem Ohr. Automatisch denke ich an Annis Bemerkung mit den Piercings. Ich schiele zu den Ringen an seiner Ohrmuschel und frage mich, wo er noch überall welche hat.

„Ehrlich, ja?", hakt er leise nach. Ich nicke minimal und spüre die erneute Berührung unserer Gesichter.

„Öfter als du denkst, aber es gibt nicht so viele, bei denen ich es teste." Mit seinen Worten bildet sich Gänsehaut an meinen Hals. Sie zieht sich augenblicklich über meine Brust, meine Arme und endet in meiner Lendengegend. Prickelnd. Ich spüre, wie mein Puls sich beschleunigt und die Ader an meinen Hals zu pochen beginnt. Lukas Lippen, die direkt diese Stelle küssen, sind heiß und feucht.

Nicht mehr als ein weiterer verpasster Moment

Kapitel 14 Nicht mehr als ein weiterer verpasster Moment
 

„Ich kann gut einzuschätzen, wie groß das Interesse meines Gegenübers ist", bekennt Luka sanft brummend, während ich Mühe habe vor Spannung nicht vom Trainingsgerät zu fallen. Gut, dass ich nicht auf einem richtigen Fahrrad sitze. Weiterhin strömt mir seinen herben Duft entgegen. Das Kitzeln des Zigarettenaromas, welches scheinbar von seinen Lippen strahlt, ist ungewöhnlich intensiv. Er beugt sich zurück und ich sehe ihm nun direkt in die Augen. Doch mein Blick wandert weiter über sein markantes Gesicht. Feine Stoppeln auf seinem Kinn und den Wangen. Sie geben ihm einen rüden Ausdruck. Luka leckt sich ungeniert über die Lippen.

„Kannst du das?", frage ich leise und klebe wieder an seinen Lippen. Mein Herz schlägt hart gegen die Brust. Ich folge der Bewegung seiner Augen, die von meinem Hals über meinen Körper wandern.

„Ja, und ich weiß auch, wenn man mich hinhält", äußert er nun, dass eigentliche Problem dieses Gesprächs. Mein Herz setzt einen Moment aus. Ich versuche ihm nicht zu deutlich zu zeigen, dass er Recht hat, aber anscheinend sprechen meine Augen ihre ganz eigene Sprache. Als er mit der Musterung meines Körpers fertig ist, sieht er mich an.

„Wirklich schade", raunt er mir zu. Ich sehe das Glitzern der Erregung in seinem Blick und schlucke unmerklich.

„Luka", ruft eine helle, weibliche Stimme und ich schauee an ihm vorbei zur Tür. Die zierliche Frau aus der Bar steht am Eingang. Auch sie trägt ein sportliches Outfit. Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Es war irgendwas Niedliches. Luka wendet sich nicht zu ihr, sondern sieht mich weiterhin an. Als würde er noch immer nach einer eindeutigen Bestätigung suchen. Seine Freundin gibt allerdings keine Ruhe und verlangt erneut nach ihm.

„Ich bin gleich da", ruft er ihr zu. Ich sehe ihn wieder an und fühle mich gezwungen etwas zu sagen.

„Tut mir Leid, aber ich bin einfach nicht der Typ für so wa.", gestehe ich ein und erwarte kein Verständnis. Ich bekomme auch keins.

„Dann sendest du, aber die falschen Signale, mein Lieber. Also, was ist genau ist das Problem? Die Anziehung ist es nicht." Ich richte mich auf und kann nicht verhindern, dass ich meine Arme vor der Brust verschränke. Luka hingegen lehnt sich weiter nach vorn und stützt nun seinerseits seinen Oberkörper auf meinem Lenker ab. Sein Blick ist auffordernd und er wird keine lapidare Ausrede gelten lassen. Ich entscheide mich für die Wahrheit, auch wenn ich im Grunde noch immer keine Betitelung für das zwischen mir und Antony habe.

„Es gibt einen anderen...", sage ich klar und deutlich. Lukas Körper zuckt.

„Autsch." Seine Hand wandert zu seiner Brust. „Mein Herz es zerspringt." Zu theatralisch. Er schließt gequält seine Augen. Des Sterbensnahe geht er auf die Knie und neigt sich in Zeitlupe zum Boden, fällt aber nicht gänzlich um. Ich sehe seinem Schauspiel eine Weile zu und komme nicht umher kurz zur Tür zusehen. Seine Freundin wartet noch immer und verdreht übertrieben die Augen als ich zu ihr schaue. Ich zucke mit den Schultern, während sie verständnislos nickt. Luka beendet das Trauerspiel und beugt sich wieder zu mir ans Rad.

„Eco-Boy, ich kann damit umgehen, aber..." Er stößt sich ab und breitet seine Arme aus, „... aber du verpasst was." Sein selbstsicheres und überzeugtes Auftreten ist beeindruckend und ich kann nicht verhindern, dass ich einen Laut von mir gebe, der wie ein Eingeständnis klingt.

„Dessen bin ich mir sicher", gebe ich gespielt überzeugend von mir. Ich bin mir nur nicht sicher, wie gespielt es wirklich ist. Luka hebt zum Abschluss neckisch eine Augenbraue, beißt sich verführerisch auf die Unterlippe und zwinkert mir übertrieben zu. Luka gehört eindeutig nicht zu der Sorte, die Probleme hat jemand kennenzulernen und diese Person am gleichen Abend in sein Bett zu bekommen. Mein Mitleid hält sich in Grenzen.

„Mein Angebot bleibt bestehen", sagt er beim Gehen, dreht sich noch einmal kurz zu mir um und lächelt dieses einnehmende Lächeln. Luka klopft sich dabei auf die Brust. In mir regt sich etwas, aber es ist in keiner Weise das, was ich verspüre, wenn mir Antony zu lächelt.
 

Nachdem Luka weg ist, trifft auch Anni endlich ein. Sie ist gestresst und in dem Moment, in diesem sie sich neben mich aufs Fahrrad setzt, ist die prozentuale Verteilung der Gesprächsführung für mich auf 10% beschränkt. Nach etwa 20 Minuten Monolog schaffe ich es etwas zu erwidern, danach folgt wieder ein Monolog. Annis Stimmung wird auch nach einer Stunde strampeln nicht besser, so dass ich uns, vor allem mir den Saunagang erspare und sie zu einem Eis einlade. Der erste Moment, in dem sie still ist, ist der als sie genüsslich an ihrer Kugel Schokoladeneis leckt. Ein feines zufriedenes Glitzern in ihren Augen und ich kann sie besänftigt nach Hause bringen.

Als ich in die WG zurückkomme, ist es überall Dunkel. Im Flur bleibe ich einen Moment stehen und lausche. Doch ich kann nichts hören, gehe aber davon aus, dass Rick in seinem Zimmer ist. Ich koche mir einen Tee und packe meine Sporttasche aus und liebäugle damit direkt eine Waschmaschine anzustellen. Dabei fällt mir mein Handy entgegen. Ich habe eine neue Nachricht. Mein Puls geht nach oben als ich sehe, dass sie von Antony ist.

Er fragt mich nach meinem Tag und wie es mir geht. Ich antworte ihm und ein paar Minuten nachdem ich die Nachricht abgesendet habe, klingt mein Telefon. Ich bin gerade dabei mich auszuziehen und lasse meine Hose zu Boden fallen, während ich nach dem Handy greife.

„Hallo", sage ich und schubse die Hose mit dem Fuß zur Seite.

„Hey." Ein warmer Schauer jagt über meinen halbnackten Körper als ich Antonys Stimme erkenne. Ein freudiges Kitzeln breitet sich in meiner Magengegend aus, welches langsam weiter nach unten wandert. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht so schnell damit gerechnet, dass er sich meldet.

„Bist du noch in der Uni?", frage ich ihn und lasse mich aufs Bett fallen.

„Nein, schon eine Weile nicht mehr. Ich war, ja gestern lange dort", erklärt er und ich streiche mir langsam über die flachen Bauch.

„Hat mit der Reorganisation deiner Termine alles geklappt?"

„Ja, mehr oder weniger. Professor Stroud wird morgen, übrigens das Seminar leiten. Er ist eine Woche früher zurückkehrt und darauf Feuer und Flamme die neuen Studenten kennenzulernen", Antony klingt wenig begeistert und auch etwas genervt. Wahrscheinlich hat es ein paar Diskussionen gegeben. Das heißt auch, dass wir uns nicht sehen werden. Ich bin enttäuscht, aber ebenso neugierig. Es wäre das erste Mal, dass ich den Professor unterrichten sehe und auch höre.

„Du, ich bin bis Freitagabend unterwegs und wahrscheinlich auch nur schwer zu erreichen, deshalb wollte ich dich fragen, was du am Samstag essen möchtest. Ich mache, was du willst."

„Was ich will?", frage ich schelmisch und grinse, während ich mir grübelnd über den freigelegten Bauch fahre. Was Essen angeht bin ich relativ einfach gestrickt und habe daher keine Idee.

„Überfordert dich das?", kommt es frech von der anderen Seite des Hörers. Nun fühle ich mich darin bestätigt ihm etwas besonders Schwieriges vorzuschlagen.

„Oww, ich wollte gerade noch Pizza sagen. Aber jetzt will ich Coq au vin und zum Nachtisch selbst gemachtes Mousse au chocolat", knalle ich raus und höre Antony sofort lachen.

„Ernsthaft?", fragt Antony zwischen mehreren Lachern.

„Jetzt? Ja! Ich weiß zwar nicht, was das genau ist, aber so lange es keinen Froschschenkel sind, ist es mir egal." Sein Lachen wird nur noch lauter und ich liebe es.

„Okay, okay. Ich mache dir einen Vorschlag", höre ich ihn sagen. Ich bin gespannt und drehe mich auf den Bauch, lasse die Beine nun auf und ab schwingen.

„Ich höre?", sage ich und kann die Neugier nicht verstecken, die in meiner Stimme mitschwingt.

„Ich befürchte das Coq au vin dir nicht schmeckt also mache ich Pollo asado. Das ist auch Hähnchenfleisch, nur spanischer Art und..." Er macht eine künstlerische Pause und ich beiße mir leicht auf die Unterlippen. Ich warte gespannt. „...du bekommst natürlich Mousse au chocolat", ergänzt er und ich kann mir ein begeistertes Grinsen nicht mehr verkneifen. Ich gebe ein erregtes Schnurren von mir und höre Antony genügsam lachen.

„Klingt fantastisch und ich kann den Samstag kaum erwarten", säusele ich.

„Natürlich nur wegen des Mousse au chocolats...", sagt er gespielt beleidigt.

„Warum auch sonst?", gebe ich unschuldig von mir. Ein weiteres Lachen. Doch ein Klopfen der Zimmertür verhindert, dass ich etwas erwidern kann und lässt mich aufblicken.

„Warte kurz. Ja?", rufe ich, setze mich auf und angele nach meiner Hose. Rick öffnet die Tür einen Spalt.

„Hast du einen Augenblick?", fragt mein Mitbewohner und trägt einen schrecklich ernsten Gesichtsausdruck.

„Ja, klar. Gib mir einen Moment", antworte ich. Rick nickt und schließt die Tür.

„WG-Pflichten?", fragt Antony am Telefon.

„Scheint so. Er hatte einen echt furchteinflößenden Blick drauf", gebe ich zu bedenken und höre ein amüsiertes Kichern, welches von der anderen Seite zu mir dringt. Antony nimmt mich nicht ernst.

„Schaffst du schon. Es bleibt bei Samstag?"

„Unbedingt! Immerhin hast du mir Schokolade versprochen", antworte ich frech und stelle mir Antonys lächelndes Gesicht vor.

„Das merke ich mir, Ben. Meine Rache wird süß sein."

„Oh gut, noch mehr Schokolade", kommentiere ich frech seine wenig ernst gemeinte Drohung, „Vielleicht in Kombination mit dir.", schlage ich die Wogen glättend vor und versuche mit einer Hand meine Hose zu schließen.

„Hm, interessante Vorstellung. Ich melde mich noch mal bei dir."

„Okay", hauche ich ins Telefon und lächele. Ich freue mich schon jetzt ungemein auf unseren gemeinsamen Abend. Die gemeinsame Nacht.

„Mach dir noch einen schönen Abend", sagt Antony zum Schluss und ich wünsche es ihm zurück. Dann lege ich auf. Für einen Moment bleibe ich unschlüssig im Zimmer stehen und atme tief durch.

Ich ordne meine Haare und suche Rick. Als ich ihn in dem Gemeinschaftsraum namens Küche nicht finde, klopfe ich an seine Tür.

„Hey, du hast mit mir reden wollen?", frage ich in den Raum. Rick sitzt an seinem Schreibtisch und dreht sich zu mir, als ich meinen Kopf durch die Tür stecke.

„Oh ja, komm rein..." Ich folge seiner Anweisung und bleibe genauso unentschlossen im Raum stehen, wie er eben in meinem.

„Okay, was gibt es?", frage ich allem gewappnet. Rick dreht sich mit seinem Schreibtischstuhl zweimal im Kreis und nimmt mir damit meine Anspannung. Ernst konnte es also nicht sein.

„Alsoooooo.....Marie hat in zwei Wochen Geburtstag und ich wollte dich fragen, ob du mit mir zusammen eine kleine Party planen willst." Er dreht sich erneut und ich beruhige mich nun komplett.

„Ja, natürlich. An was hast du gedacht?", frage ich begeistert, sehe mich in seinem Zimmer um, doch als ich keinen weiteren Stuhl finde, bleibe ich stehen. Rick bemerkt meinen suchenden Blick und deutet mir an, dass ich mich auf das Bett setzen soll. Ich komme dem nach und lasse mich auf das ordentlich gemachte Bett nieder. Ich kenne noch nicht sehr viele Leute hier und bin zum Thema Gäste keine wirkliche Hilfe.

„Ich dachte an irgendwas hier in der WG. Nichts großes, aber bestimmt brauchen wir alle Zimmer, wenn das für dich in Ordnung ist. Warte kurz." Er verschwindet in der Küche und kommt mit zwei Flaschen kaltem Bier zurück. Er reicht mir eines und ich nehme es dankend an, obwohl ich für einen Moment zögere. Ich trinke selten und nicht gern.

„Stellen wir die Feier unter ein Motto?", frage ich. Rick nimmt einen Schluck aus der Flasche. Danach hebt er seine Augenbraue und ich sehe schon, wie er meine Idee abschmettert.
 

„Find ich gut!" Das Klirren des Glases durchdringt den Raum als er seine Flasche gegen meine stößt. „Jetzt muss uns nur noch ein Motto einfallen", merkt er lachend an. Meine Hand wird feucht. Wir debattieren den Vorschlag, vielleicht irgendwo etwas zu mieten. Doch als wir unsere Finanzen überdenken, fällt das eher aus. Irgendwann setzt sich Rick mit einem Zettel zu mir und gemeinsam beginnen, wir ein wenig zu planen. Ich übernehme die Essens- und Getränkeplanung. Rick die Planung für die Dekoration und Geschenke. Wir stellen fest, dass wir beide keine Kontakte zu Maries Freund oder Kommilitonen haben und beginnen mit Schnick-Schnack-Schnuck auszuknobeln, wer den Kontakt herstellen muss. Ich verliere und ergebe mich schnell meiner Aufgabe. Das kann nicht so schwer sein. Wir leeren das Bier und Rick holt neues. Ich lasse mich vom Bett auf den Boden gleiten und lehne mich an. Meine ausgestreckten Beine knacken laut und Rick grinst angeekelt.

„Ich dachte, du warst fleißig sporteln?"

„War ich auch"

„Wieso klingst du dann immer noch so eingerostet?"

„Ich bin in einem knackigen Alter!" Rick lacht laut und wir stoßen ein weiteres Mal an.

„Danke, dass du mir beim Planen hilfst. Ich weiß im Moment nicht, wo mir der Kopf steht."

„Gern. Was ist eigentlich bei dir los?" Ich nehme einen Schluck Bier und genieße mittlerweile den Geschmack der kühlen, herben Flüssigkeit. Malz kitzelt dabei über meine Zunge. Ich sehe, wie Rick die Augen rollt und sich dann neben mich setzt. Er lehnt seinen Kopf nach hinten und schließt die Lider.

„Ich bin mit einem meiner Professoren aneinander geraten und der macht mir jetzt das Leben etwas schwer. Ich habe noch immer eine Arbeit bei ihm offen und er rückt meine Note nicht raus. Es ist kompliziert."

„Oh krass, aber darf er das?", frage ich und schaue in sein angespanntes Gesicht. Rick holt etwas aus und erklärt mir den Sachverhalt. Er erzählt mir, dass er bereits in einem vorigen Semester mit demselben Professor seine Probleme hatte, da er eine für ihn ungerechtfertigte Note angefochten hat. Rick hatte Recht bekommen und der Professor eine Verwarnung. Die konkreten Hintergründe und die Motive der Lehrkraft erläutert er mir nicht. Ich denke an Antony und den ungern gesehen Sachverhalt unserer Lehrer-Schüler-Beziehung. Wir haben noch immer nicht geklärt, wie es am Ende mit den Prüfungen von statten geht.
 

Nach Ricks Ausführungen bin ich in der Verantwortung neues Bier zu holen und lenke unser Gespräch in den privaten Bereich.

„Aber bei dir und Cora ist alles wieder in Butter?" Ich weiß, dass ich das bereits am Abend bei unserem Zusammentreffen gefragt habe, aber da ich auf den Sprung gewesen war, hatte er vielleicht nicht alles preisgegeben. Rick wackelt mit seinem Kopf hin und her.

„Cora befürchtet, dass ihr sie nicht mögt, weil sie so viel jünger ist."

„Oh ja, nur deswegen hassen wir sie inbrünstig... und was heißt hier so viel jünger? Sie ist 18 Jahre, oder?"

„Jupp!", erwidert er als wären wir dem Problem auf die Spur gekommen.

„Du weißt schon, dass auch erst 19 Jahre alt bin." Rick verschluckt sich an seinem Bier und beginnt heftig zu lachen. Er kippt etwas zur Seite und ich sehe, beleidigt dabei zu, wie er sich den Bauch hält. Bereits nach dem zweiten Bier ist die Stimmung viel lockerer. Als er sich wieder aufsetzt, stupst er mir gegen die Seite.

„Sorry, daran habe ich gar nicht mehr gedacht."

„Kannst du mal sehen, wie erwachsen ich rüberkomme!" Ich grinse breit und Rick bekommt einen erneuten Lachanfall. Seit ich in der WG lebe habe ich ihn hauptsächlich mit ernstem Gesicht gesehen. Befreit und Lustig steht ihm deutlich besser. Überhaupt fällt mir zum ersten Mal auf, wie attraktiv er eigentlich ist. Seine sonst gut gestylten, hellbraunen Haare wuscheln sich um seinen Kopf und rahmen ein schmales, aber attraktives Gesicht. Er hat das typische Kinngrübchen, welches durch etliche Hollywood-Schauspieler bekannt geworden ist. Er wird mit seiner hübschen, blonden Freundin ansehnliche Kinder zeugen.

„Ich meine, wir reden hier von einer Altersdifferenz von 4 Jahren. Das ist ja, fast nichts und trotzdem in mancher Hinsicht...", kommentiert Rick bedeutungsschwanger und leert seine Flasche. Eine konkrete Antwort bleibt er mir schuldig. Ich denke an Antony und an unseren Altersunterschied. Mir wird klar, dass ich gar nicht genau weiß, wie viel älter der andere ist. Ich schätze ihn auf 27 Jahre und dann wären es 8 Jahre. Klingt viel. Ich habe nicht das Gefühl, dass ihn der Altersunterschied sonderlich stört. Rick beobachtet mich. Seine Augen wandern über mein Gesicht. Ich weiche seinem Blick aus.

„Ihr seid schon echt lange zusammen", leiere ich mir aus dem Hemd und sehe, wie er nickt.

„Ja, eine halbe Ewigkeit."

„Wie ist das so?", frage ich interessiert und sehe zu ihm. Auch er sieht mich direkt an, antwortet nicht sofort, sondern scheint sich an etliche Dinge zu erinnern.

„Schön. Vertraut. Ich liebe es, dass sie mich kennt, mich versteht und wir haben ja im Grunde alles gemeinsam zum ersten Mal erlebt." Ricks Augenbrauen wandern abwechselnd wackelnd nach oben. Irgendwie ja romantisch.
 

„Das meiste ist echt perfekt..."säuselt er verträumt und meinem Kopf bildet sich aus mysteriöse Weise ein riesengroßes Aber. Anscheinend ist meine Skepsis deutlich aus meinem Gesicht herauszulesen, den Rick lacht kurz auf, grinst danach. „Sex könnten wir öfter haben und na ja...allgemein mehr Variation, wenn du verstehst." Etwas in mir beginnt sich zu verkrampfen als er das so lapidar ausspricht. Ich bin nicht prüde, aber einem solchen Gespräch unter Männern fühle ich nicht gewachsen. Ich setze die Flasche an und leere mein Bier in einem Zug. Mein Puls geht nach oben und in mir regt sich mein Fluchtinstinkt.

„Ich hole uns eben neue.", sage ich, stehe sprunghaft auf und bleibe erst stehen als mich Rick auch von seinem Zimmer aus nicht mehr sehen kann. Ich öffne den Kühlschrank und lasse mir die kalte Luft ins Gesicht strömen. Mir ist etwas schwindelig vom zu schnellen Aufstehen. Vielleicht ist es auch das Bier. Oder beides. Oder die Situation. Mir wird trotz der kalten Luft warm und ich bereue, dass ich Rick noch immer nicht erzählt habe, dass ich nicht auf das andere Geschlecht stehe. Wenn er mir jetzt Dinge über sein Sexualleben erzählt, mich nach meinem fragt und ich lüge, wird er sich sicher verarscht fühlen. Ich möchte ihm, aber auch nicht vor dem Kopf stoßen. Ich kenne nur die Erzählungen von Anni.
 

Noch einmal atme ich tief durch und ziehe zwei neue Biere aus dem Kühlschrank. Rick sitzt noch immer vor dem Bett, als ich zurückkehre und nimmt dankend grinsend die kalte Flasche entgegen. Er legt sie sich kurz auf den Bauch und seufzt. In mir kitzelt das Bedürfnis ihm zu beichten, aber ich kann mich nicht durchringen. Mir fehlt der Mut. Rick wendet sich wieder zu mir. Mein Herz rast. Ich habe das Gefühl, das es laut und unnachgiebig gegen meinen Brustkorb schlägt und schallend durch das Zimmer dröhnt. Rick scheint davon nichts mitzubekommen.

„Cora will immer nur normal", plaudert er, setzt die Flasche an und leert sie fast mit einem Zug. Für einen Moment hatte ich die Hoffnung, dass er das Thema abgehakt hatte. Leider nicht.

„Ich meine, ich kenne nur sie. Nur sie.", betont er extra. „...verstehst du?", setzt er fort und ich nicke. Natürlich verstehe ich.

„Vielleicht kommt das noch."

„Kann alles sein",

„Da muss man sich einfach hin entwickeln und mutig werden", sage ich, zucke mit den Schultern und denke darüber nach, wie ich den Status meiner Erfahrung definieren würde.

„Mutiger werden...das wäre super!" Wahrscheinlich schwelgt er in Fantasien. „Aber sie macht ja auch keine anderen Sachen...echt verfahren."

„Andere Sachen?", frage ich ein wenig zu dümmlich.

„Du weißt schon, so richtig schön einen blasen und so." Als er es ausspricht, verschlucke ich mich augenblicklich an meinem Bier. Nun ist es wirklich ein Männergespräch. Rick beißt sich auf die Lippe und verrenkt sein Gesicht. Ich schaue ihm verwundert dabei zu und komme nicht umher zu lachen. Ein selten dämlicher Anblick. Doch dann streichen weißen Vorderzähne über die feuchte Unterlippe. Ich sehe, wie sie sich in das zarte Fleisch bohren. Ein Raunen dringt aus seinem Mund. Das rechte Augen geschlossen, das anderen halbgeöffnet und beobachtend. Seine Lippen öffnen sich zu einem angedeuteten Stöhnen. In meinem Kopf aktiviert sich das Kopfkino. Ich überstehe das nicht. Er muss damit aufhören.

„Oh, bitte hör auf. Dein Gesichtsausdruck brennt sich gerade in meinen Kopf.", sage ich übertrieben spaßig und sehe mit Zufriedenheit, wie sich sein Gesicht wieder entspannt. Nun lacht auch mein Mitbewohner und legt dabei seine Hand auf mein Bein. Ich zucke zusammen. Rick bemerkt meine Reaktion nicht und klopft auf meinen Oberschenkel rum.

„Okay, entschuldige. Welcher Mann bekommt nicht gern einen geblasen, oder? Wie es sich wohl anfühlt...", beginnt er nun doch zu fantasieren. Ich schlucke erneut schwer und führe ablenkend die Flasche Bier an meine Lippen. Im Gegensatz zu ihm, weiß ich ganz genau, wie es sich anfühlt. Weiß um die göttliche Wärme, die feuchte wohltuende Reibung. Ja, ich weiß ganz genau, wie herrlich es sich anfühlt wissen Lippen um seinen Schwanz zu spüren, die sich genüsslich hoch und runter arbeiten. Ich setze die Flasche ohne zu trinken ab.

„Viele Frauen stehe nicht so drauf", sage ich ausweichend. Anni erzählte mir auch einmal, dass sie es überhaupt nicht mochte. Sie verspürte dabei immer eine Art Zwang und ein extremes Unbehagen. Wir haben über das Für und Wider diskutiert und kamen auf keinen grünen Zweig. Während ich in Gedanken versunken das Gespräch zurück in mein Gedächtnis rufe, mustert mich Rick aufmerksam.

„Wie sieht du es?", fragt er nun und ich blicke auf.

„Ja, ich mag es auch", erwidere ich und beziehe mich dabei auf seine vorige Aussage. Rick kichert angetrunken vor sich hin.

„Das meinte ich gar nicht.", kommentiert er lachend, „Eher, sowas, wie hast du dich schon mal gefragt, wie sich das anfühlt. Wie das so im Mund ist? Ich meine für die Frau?" Rick kippt mit seinem Oberkörper etwas zu mir und legt seinen Arm um meine Schultern. Ich verkrampfe mich etwas und weiche seinem fragenden Blick aus.

Die Leere der Ernüchterung

Kapitel 15 Die Leere der Ernüchterung
 

Eine coole ausweichen Antwort wäre jetzt das Richtige, doch mit dem Schreck ist jegliche Coolness aus meinen Gliedern gewichen. Wie soll ich ihm erklären oder eher verschweigen, dass ich ganz genau weiß, wie es sich anfühlt, weil es schon mehrfach getan habe? Rick sieht mich mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrtheit an. Ich merke, wie die Formulierungen in meinem Kopf beginnen zu stottern.

„Ähm,...na ja...ähm. Also ja, vielleicht,...ähm, ich meine...", stammele ich nun kleinlaut vor mich hin und greife erneut zum Bier. Ich trinke auch diese Flasche fast leer und stehe schlagartig auf. Rick, der sich eben noch an mich gelehnt hat, fällt prompt zur Seite.

„Huch,...", kichert er angeduselt und versucht mich zu fixieren. Es bleibt beim Versuch. Ich bin schon fast an der Tür als sich auch Rick eigenartig hilflos aufgerappelt hat und mit einem Mal sein Arm wieder einknickt. Seine festgehaltene Bierflasche neigt sich nach vorn und einiges der Flüssigkeit kippt aus. Ich drehe um und helfe ihm sich wieder aufzusetzen. Die Flasche halte ich und sehe mit Genugtuung, wie sich Ricks Hände wieder fester um das dunkele Glas legen.

„Du hast eindeutig zu wenig getrunken, wenn du noch so aufstehen kannst...", lacht er mir erstaunlich sinnreich entgegen. Ich hocke mich neben ihm und schaue in das amüsierte Gesicht. Ricks Kopf neigt sich gegen meinen Arm und er schließt benommen die Augen. Anscheinend reichen bei ihm drei Bier schon aus.

„Du hattest eindeutig genug... brauchst du Hilfe?", frage ich leise und nehme ihn die Flasche endgültig aus der Hand.

„Nein, schon gut. Ich bin nur leider nicht mehr so trinkfest, wie früher oder wie ich gedacht habe. Drei Bier...echt mal."

„Genau genommen nur zweieinhalb...", korrigiere ich. Ricks meerblaue Augen verdrehen sich phänomenal und ich richte mich auf. Das angefangene Bier stelle ich auf der Kommode ab.

„Hey, entschuldige, wenn ich bei dir mit meinem offenen Gelaber eine Grenze überschritten hab..." Ich unterbreche ihn mit einem energischen Kopfschüttler.

„Hast du nicht. Mir tut es leid, wenn es so rüberkam. Ich bin nur etwas ... na ja, empfindlich..." In seinem Gesicht spiegelt sich das Unverständnis. Er versteht nicht, was ich damit meine und ich schelte mich innerlich für meine Feigheit. Warum kann ich es ihm nicht einfach sagen? Er hat mir nie den Eindruck vermittelt etwas gegen Homosexualität zu haben, aber in meinem Innern lässt die Vorstellung über sein mögliches Reaktionsspektrum jeglichen Mut schrumpfen. Meine Feigheit ist unglaublich.

„Nicht so wichtig", wiegele ich ab.

„Ben, was ist los?", fragt er misstrauisch als würde er genau wissen, dass ich ihm nicht alles sage. Seine Stirn legt sich trotz seines weichen alkoholisierten Hirns erstaunlich ernst in Falten.

„Vielleicht solltest du dich hinlegen", schlage ich vor um ihn abzulenken. Ich greife nach seinem Arm und ziehe ihn etwas hinauf. Rick hält mich zurück. Ich blicke über ihn gebeugt hinab. Die Wärme seiner Hand scheint durch meinen dünnen Pullover zu dringen. Sein Blick ist ungebrochen. Ich sehe nichts als freundschaftliches Empfinden darin und fühle mich nur noch schlechter, weil ich ihn anschwindele.

„Ich kann mir dir über sowas einfach nicht reden. Entschuldige, Rick.", gestehe ich unverfänglich. Ich winde meinen Arm aus seinem Griff und richte mich auf. Sein fragender Blick durchdringt mich, doch ich versuche ihn zu ignorieren. „Leg dich schlafen und dann rede mal mit Cora darüber, was du dir wünschst. Vielleicht hilft das schon", empfehle ich bevor ich die Tür schließe und in mein Zimmer verschwinde. Dort bleibe an der Tür gelehnt stehen. Meine Augen sind geschlossen, während ich mehrere Mal laut ein und ausatme. Ich merke, wie mein Puls trotz der Flucht immer weiter nach oben geht. Das kann doch nicht wahr sein. Warum habe ich es nicht einfach gesagt? Jetzt wird er sich erst Recht fragen, was mit mir nicht stimmt. Ich trete gegen die Hose, die neben der Tür liegt und sehe dabei zu, wie sie ein paar Papier von meinem Schreibtisch fegt und auch den Behälter mit Schreibgeräten umwirft. Fantastisch. Ich lasse mich auf das Bett fallen und ignoriere das Chaos.
 

Der Alkohol lässt mich schlecht einschlafen und ich liege lange wach. Am nächsten Morgen habe ich ein kratzendes Kätzchen in meinem Kopf und ich ärgere mich immer noch über meine Feigheit. Warum habe ich es ihm nicht einfach gesagt? Ich bin stark von der Reaktion und der Ablehnung meines Vaters beeinflusst. So sehr, dass ich vor allem bei anderen Männern ein Problem damit habe über meine Homosexualität zu reden. Doch nicht jeder reagiert, wie mein Vater. Das kann ich mir wieder und wieder sagen, aber es ändert nichts.

In der Schule gab es einen ähnlichen Moment, wie gestern. Ich musste mich vor einem Bekannten erklären, den ich schon aus Kindheitstagen kannte. Wir waren nicht in derselben Klasse und hatten auch nicht denselben Freundeskreis, dennoch treffen wir uns oft beim Sport. Nichts was er tat, löste in irgendeiner Form sexuelle Erregung in mir aus. Er erfuhr es, nachdem ich von meinen Eltern rausgeschmissen worden bin und war schrecklich pikiert, dass ich ohne ihm etwas zu sagen die Gemeinschaftsdusche mit ihm benutzte. Jede Erklärung und jede Bekundung über mein Nichtinteresse schmetterte er ab. Wir sprachen kein Wort mehr miteinander. Irgendwann erfuhr ich, dass er eigentlich nur beleidigt gewesen war, dass ich es ihm nicht von allein gesagt habe. Doch das macht es nicht besser, denn bis heute gehen wir uns aus dem Weg. Ich erinnere mich noch gut an das ernüchternde Gefühl. Es breitete sich jedes Mal aufs Neue in mir aus, wenn ich an diesen Moment zurückdenke. Die Vorstellung, dass das jetzt auch mit Rick passieren kann, schmerzt. Was wenn es jetzt schon zu spät ist? Ich nehme mein Kissen und drücke es mir auf das Gesicht. Ein lauter Schrei entflieht meiner Kehle, der durch die Füllung gedämpft wird. Ich halte so lange die Luft an, bis ich nicht mehr kann und stehe auf.
 

Das Seminar mit Professor Stroud ist spannend und aufschlussreich, aber ich denke fast ununterbrochen an Antony und daran, dass er nicht da ist. Ich zwinge mich dazu dem Seminar zu folgen. Ich habe ein paar Bilder des Professors von Büchern und Artikeln gesehen, doch ich bin überrascht, als ein adrett wirkender und edel ergrauter Herr vor uns steht. Seine 60 Jahre sind ihm kaum anzusehen. Entweder tat ihm der Urlaub wirklich gut oder er hielt sich mit etwas anderem jung. Natürlich geistert mir Lukas Tratsch im Kopf umher.

Am Nachmittag treffe ich mich mit Anni und sie überredet mich zum Shopping. Als ich am Abend in die WG zurückkehre, sind alle Türen geschlossen und die Räume dahinter dunkel. Ernüchternd. Ich greife mir mein Handy tippe Antony eine unverfängliche Nachricht. Als ich einschlafe habe ich noch immer keine Antwort erhalten. Er meinte ja, dass er bis Samstag schwer zu erreichen sein wird. Trotzdem wurmt es mich.

Den Rest der Woche sehe ich niemanden aus der WG, nicht einmal Marie. Sie scheint, wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Nur die Tatsache, dass am Morgen ihre Lieblingstasse in der Spüle steht, sagt mir, dass sie mitten in der Nacht nach Hause kommt. Am Freitagmorgen werde ich von der sanften Vibration meines Handys geweckt. Mit geschlossenen Augen taste ich danach und schaffe es auch nur mit einem Auge auf das grellerleuchtete Display zu schielen. Die Nachricht ist von Anni. Ich drehe meinen Kopf wieder zur Seite und schließe meine Augen. Nun beginnt es zu läuten. Ich drehe mich zurück und seufze leicht. Blind und müde tippe ich auf den grünen Hörer und gehe ran.

„Wie geht es dir, Darling?", flötet sie mir ins Ohr. Für meinen Geschmack zu fröhlich und zu quietschend. Ich murre ihr nur eine Antwort zu.

„Oh, ist der Hase noch müde?" Ich möchte sie erwürgen.

„Der Hase ist jetzt schlecht gelaunt. Also was willst du, du Nervensäge?", brumme ich ihr entgegen und drehe mich langsam auf den Rücken. Ich hole tief Luft und fahre mir durch die zerzausten Haare.

„Ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend mit in den Te-Club kommst? Wieder mal richtig tanzen und auspowern." Allein der Gedanke an Tanzen und Menschenmassen schreckt mich ab. Außerdem explodiert im selben Moment die herrliche Aufregung über das Essen bei Antony in meinem Körper. Sie kitzelt und kribbelt. Ich spüre, wie ich dämlich lächele als ich mir vorstelle, wie wunderbar der Abend werden wird. Ein gutes Essen. Leckerer, süßer Nachtisch. Antonys nackter, heißer Körper. In meinem Kopf bilden sich mehr und mehr Bilder, in denen wir mehr tun als uns gegenseitig Süßigkeiten auf die Haut zu reiben. Wie traumhaft es sein muss schmelzende Schokolade von seinem Körper zu lecken.

„Ben? Bist du noch anwesend oder schon wieder eingepennt", fragt Anni mit heller Stimme.

„Was? Ja, entschuldige. Nein, ich kann nicht. Ich habe schon etwas anderes vor. Außerdem musst du mich sowas nicht am frühen Morgen fragen", sage ich noch immer etwas abwesend, leicht sauer und nach meinen Überlegungen erregt. Ich hebe meine Bettdecke an. Allein die Vorstellung lässt meine Lenden vor Erregung und Aufregung freudig zucken.

„Wie, du hast schon etwas vor? Verheimlichst du mir schon wieder etwas?", fragt Anni aufgebracht und neugierig.

„Ständig, aber das Geheimnis kennst du. Ich hab eine Verabredung mit Antony", erkläre ich und setze mich um.

„Oh, ein richtiges Date?" Verwundert.

„Ja, ein Essen."

„Oh, dass ist... schön." Sie klingt überrascht. Ihre schlechte Meinung von Antony rührte vor allem daher, dass mit unserer Konstellation kein normales Kennenlernen und Leben möglich scheint. Jedenfalls für sie. Das belehrt sie eines Besseren. Sie versucht mich nur ein einziges weiteres Mal vom Ausgehen zu überzeugen, aber nichts und niemand konnte mich davon abhalten Mousse au chocolat mit Antony zu essen, von ihm zu essen.
 

Ein paar meiner Seminare fallen aus und ich sitze wartend in der Mensa. Eine letzte Vorlesung beginnt um 16 Uhr an einem Freitag. Ein harter Bruch des Müßiggangs. Meine Lust hält sich in Grenzen. Ich lasse meinen Finger um den bereits eingeweichten Pappbecherrand streichen, treffe einen Tropfen grünen Tees und lecke ihn von meinem Finger. Ich habe mich gegen einen weiteren Kaffee entschieden, weil mich sonst der Herzkasper trifft.

Antony hat sich die ganze Zeit über nicht gemeldet. Er hat sicher zu tun. Ich vermisse ihn und einen Geruch und das Gefühl seiner Haut unter meinen Fingern zu spüren. Das sanfte Kitzeln seines Bartes, wenn er mich küsst und die stoppeligen Haare über mein Kinn streicheln oder über meine Wange gleiten. Erregung und Wohlgefühl breitet sich in mir aus. Das sanfte Kribbeln in meinem Magen wandert über die Haut durch meinen gesamten Körper. Meine Fingerkuppen pulsieren und auch meine Zehenspitzen vibrieren. Er hat es mir wirklich angetan.

Ich habe nicht gedacht, dass es mich wirklich so treffen würde, doch ich denke andauernd an ihn. Es ist lange her, dass ich mich verliebt habe. Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und seufze leise auf. Ich genieße das warme Gefühl, welches sich in mir ausbreitet und schließe die Augen. Mein Traum lässt mich lächeln.

Gut eine dreiviertel Stunde schlafe ich mit dem Kopf auf meinem Arm gebettet seelenruhig in der Mensa. Ich bekomme nicht einmal mit, dass sich zwei Studentinnen zu mir setzen und nebenbei fröhlich essen. Irgendwann wache ich auf und schaue mich benommen um. Ich suche mein Handy, sehe auf die Uhr und dann in die beiden hübschen Gesichter der Studentinnen. Eine Inderin mit ebenmäßigen Gesicht und schönen braunen Augen und ein Blondine mit ebensolchen warmen braunen Augen. Nur das erheiterte Lächeln ihrer Gesichter zeigt mir, dass ich wahrhaftig nichts mitbekommen habe. Ich entschuldige mich für Alles, was ich eventuell während meines Tiefschlafs von mir gegeben haben könnte und als ich aufstehe um endlich zu gehen, winkt mich die Blonde noch einmal zu sich heran. Lächelnd fährt sie mir mit den Fingern durch die zerzausten Haare und drückt mir einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand. Ich bedanke mich höflich und mache mich vom Acker. Als ich die Mensa verlasse, kann ich nicht verhindern, dass ich zu grinsen beginne. Oh, weia. Das Leben als Student ist wirklich anders. Ich schüttele den Kopf und fahre mir selbst noch einmal durch die verwuschelten Haare. Wiederholt sehe ich auf die Uhr. Antony hat sich noch immer nicht gemeldet, also versuche ich ihn zu erreichen. Doch ich kriege nur die Mailbox.

Ich seufze leicht und mache mich auf den Weg zu seinem Büro. Er meinte, er sei bis Freitag unterwegs, deshalb bin ich mir nicht sicher, ob ich in ihn seinem Büro antreffen werde. Aber ein Versuch ist es wert.
 

Im Flur kommt mir eine Horde Studenten entgegen, die gerade ihren Hörsaal verlassen. Ich bleibe stehen, weil ich die Befürchtung habe, dass sie mich sonst gnadenlos über den Haufen rennen, da ich der Einzige bin, der in die gegen gesetzte Richtung muss. Als sich die Masse endlich lichtet, kann ich in der Nische zu den Büros der Lehrkräfte bereits Antony erkennen. Sein Blick ist müde und seine Haare sind ungewöhnlich durcheinander. Den Reflex nach ihm zu rufen, verkneife ich mir. Seine Arme verschränken sich und im nächsten Augenblick breitete er sie unverständlich aus. Er scheint mit jemanden zu diskutieren, doch ich kann seinen Gegenüber nicht erkennen. Unschlüssig bleibe ich stehen. Er wirkt aufgebracht.

Eine Hand streckt sich nach Antony aus. Sie ist männlich und sehr groß. Die Finger berühren seinen Hals, reiben über seine Schulter und bleiben darauf liegen. Antony lässt es geschehen, aber nach einer Weile löst er sich und schiebt den anderen energisch von sich. Sie verschwinden in seinem Büro.

Ich stehe unschlüssig auf dem Flur. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Noch weiß ich nicht, warum. Eifersucht? Angst? Neugier? Wer ist es?

Unbewusst bewegen sich meine Beine und ich stehe wenige Schritte später in der kleinen Nische zu den Büros. Mein Blick wandert über das Glasschild auf dem Antonys Name steht. Die Tür ist nur angelehnt und meine Neugier nimmt überhand. Ich gehe näher. Leise Stimmen. Vorsichtig drücke ich die Tür noch etwas auf und bereue es. Ich sehe Antony mit einem großen, schwarz gekleideten Kerl vor seinem Schreibtisch stehen. Antony trägt nur ein paar legere Jeans und einen schlichten Pullover. Er lehnt gegen dem Schreibtisch und nun erkenne ich, dass er nur Socken trägt. Wieso keine Schuhe? Das irritierte Pochen in meiner Brust wird immer stärker. Ich schaue auf den großen, fremden Mann, der Antony anscheinend sehr vertraut ist. Er kommt mir bekannt vor. Beide verschränken die Arme vor der Brust.

„Wann?", fragt die fremde Stimme. Sie ist kalt und einschneidend. Antony seufzt schwer und schüttelt mit geschlossenen Augen seinen Kopf. Seine wirren Haare richten sich an einigen Stellen auf. Er antwortet nicht, was seinem Gegenüber nicht gefällt.

„Wann hast du genug vom Lehrer spielen und kommst nach Hause?" Antony sieht auf. Seinen schönen blauen Augen blitzen.

„Es ist mitten im Semester. Was denkst du wird Manuel sagen? Wie stellst du dir das vor?", antwortet er unwirsch. Abweisend. Nach Hause. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Blut pumpt sich durch meine Adern, wie rauschende Stromschnellen aus heißer, verbrennender Flüssigkeit. Ich bekomme nur noch Bruchstücke von dem mit, was sie sagen.
 

Sie diskutieren und der Größere setzt seine Sonnenbrille auf. Nun macht es Klick. Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich ihm in die Arme gerannt bin. Seine gigantischen Hände, die meine Schultern umfassten und mir läuft es eiskalt den Rücken herunter als ich mir auch seine Stimme ins Gedächtnis rufe. Sie hatte mir Angst eingejagt. An dem Tag habe ich Antony in seinem Büro aufgesucht. Wir haben uns geküsst. Doch als sein Handy zu vibrieren begann, war er plötzlich wie ausgewechselt. Abweisend und kühl. Der unwirsche Rauswurf und die unfreundliche Art hatten mir schwer zu schaffen gemacht. Der Größere beugt sich zu meinem Dozenten.

„Mir ist egal, wie du es machst...komm nach Hause!" Ein heißes Flüstern an sein Ohr. Mir wird Übel, als mir klar wird, dass der Rauswurf damals wegen ihm gewesen sein muss. Ist das sein Freund? Hat Antony doch einen Partner? Es herrscht eine unendliche Leere in meinem Kopf.

„Für den Moment habe, was ich wollte. Spiel keine Spielchen..."

„Hör auf", schneidet ihm Antony abwehrend das Wort ab. Aber er nimmt keine dazu passende Körperhaltung ein. "Du musst gehen..."

Der Größere beugt sich ohne etwas zu erwidern zu Antony hinab und ihre Lippen treffen sich zu einem Kuss. In diesem Moment scheint es als würde mein Herz stehenbleiben. Mein Blick ist auf die beiden Gestalten gerichtet. Jede noch so kleine Bewegung nehme ich in mir auf. Den Ausdruck ihrer Gesichter kann ich kaum erkennen, doch ihre Körpersprache ist eindeutig. Antony erwidert den Kuss. Schwankend wende ich mich ab, halte mich einen Moment am Türrahmen fest. Er hat mich belogen.
 

Die Gewissheit brennt sich in mein Hirn. Heiß und schmerzhaft. Eine Lüge. Alles ist eine Lüge. Ich beuge mich nach vorn und habe das Gefühl mich gleich übergeben zu müssen. Mein Magen schmerzt oder ist es der Schmerz meines Herzens, das scheinbar in meinen ganzen Körper auszustrahlen scheint? Ich taste mich an der Wand entlang zum Flur. Ermattet bleibe ich ein paar Schritt vom Büro entfernt stehen. Der Schmerz in meiner Brust lässt mich keuchen. Ich bekomme keine Luft mehr. Meine Lunge brennt. Die Bilder unseres Zusammenseins kommen mir in den Sinn. Sie beginnen zu verglühen und sich in mein Fleisch zu brennen. Mahnend. Verletzend. Quälend. Wie kann er mir das antun? Ich spüre, wie sich die Seitenstrenge meines Halses zusammenziehen und das heftige Kribbeln beginnt meine Augen zu reizen. Ich bin nahe am Heulen. Ich darf nicht anfangen zu weinen. Mehrere Versuche brauche ich um halbwegs durchatmen zu können und um mich wieder aufzurichten. Es sind tausende Nadeln, die sich schmerzhaft mit jedem Luftzug in meine Lunge bohren und sich in meinem gesamten Körper ausbreiten. Jeder Schritt schmerzt.

„Hey, Ben." Ich wende mich zu der Stimme, die meinen Namen ruft und sehe Marie auf mich zu kommen. Meine Hand liegt noch immer an meinem Bauch und ich habe das Gefühl mich jeden Moment zu erbrechen. Es fällt mir schwer mich zusammen zu reißen, doch ich schlucke meine Gefühle für einen Moment runter. Ich versuche es jedenfalls.

„Hey,...", bekomme ich kläglich herausgepresst und sehe, wie mich Marie ausgiebig mustert als sie näher kommt.

„Ich musste dich gerade drei Mal rufen, bevor du reagiert hast. Alles okay?", fragt sie mich skeptisch und ich kann nicht verhindern, dass mein Blick kurz zu Antonys Büro wandert. Ich möchte unbedingt weg sein, bevor Antony und sein Freund rauskommen.

„Ja, alles okay. Was kann ich für dich tun?", frage ich ausweichend und drehe mich mit dem Rücken zu den Büros.

„Ich bin heute Morgen auf Rick getroffen und er mir erzählt, dass ihr beide einen seltsamen Moment hattet. Er ist etwas verwirrt. Alles okay bei euch?" Ihre bebrillten Augen sind forschend und neugierig. In ihrer Stimme schwingt Besorgnis. Sie ist sehr auf unserer WG-Frieden bedacht.

„Ja, ist nur ein kleines Missverständnis und wir kriegen das wieder hin", versichere ich ihr und will einfach nur weg. „Tut mir Leid, Marie, aber ich kann gerade nicht mit dir reden..." Damit schiebe ich mich an ihr vorbei und bekomme nicht mehr mit, dass in diesem Moment auch Antony und der Typ in den Flur treten.
 

Ich schaffe es eine Etage runter. Doch an der Treppe geben ein weiteres Mal meine Beine einfach nach. Am Geländer halte ich mich fest und lasse mich auf die Stufe fallen. Eine Welle der Enttäuschung überrollt mich. Mein Magen zieht sich zusammen und ein weiteres Mal habe ich das Gefühl mich übergeben zu müssen. Das kann nicht wahr sein. Was soll das? Warum macht er das? Fassungslosigkeit wechselt zu Enttäuschung, um im gleichen Moment mit unbändiger Traurigkeit zu verschmelzen. Antony hat mir ins Gesicht gesagt, dass er keinen Partner hat, aber was war der andere dann? Meine Finger beginnen zu zittern. Ich kralle sie in meine lockere Jeans. Sie zittern nur noch heftiger. Er hat mich belogen. In meiner Trauer kitzelt langsam Wut. Ich stehe auf und wende mich um. Ich blicke nicht auf, deshalb bemerke ich nicht den großen Körper, der bereits vor mir steht und mich festhält bevor ich gegen ihn rennen, Eine große Hand bewahrt mich davor einen Schritt zurück zu machen und somit die Treppe runter zu stürzen.

„Vorsicht. Du lebst ganz schön gefährlich, Kleiner." Die kalte Stimme lässt mich erstarren und als ich nun doch nach oben schaue, blicke ich direkt in die sonnenbrillenverdeckten Augen. Das frostige Lächeln auf seinen Lippen, lässt mich erstarren und als mir klar wird, wer vor mir steht, weiche ich angewidert zurück. Ich weiß nicht, ob er mich erkannt hat, doch sein Ausspruch lässt es mich vermuten.

„Danke, aber Sie müssen sich ja nicht so anschleichen. Also geben Sie gefälligst auch Acht", sage ich zähneknirschend und weiß, dass es in keiner Weise freundlich ist, so etwas zusagen, noch passt es zu meinem Wesen. Sein Anblick macht mich so wütend. Und traurig. Mit einer schnellen Bewegung schiebe ich seine Hand von meiner Schulter und mich an ihm vorbei. Er packt mein Handgelenk und hält mich zurück. Sein Griff ist fest und schmerzhaft. Er zieht meinen Arm nah an sich heran und der Druck wird noch heftiger. Mein Herzschlag wird schneller. Der Typ macht mir Angst. Seine eiskalte Stimme. Die verdeckten Augen. Was macht Antony nur mit so einem Kerl? Wie kann er mit diesem Mann das Bett teilen? Schmerz überfällt mich und bündelt sich als Stein in meiner Magengegend.

„Das tue ich, sonst wurdest du, wahrscheinlich mit ein paar gebrochenen Knochen, dort unten liegen." Er deutet die Treppe hinab und ich schlucke. Ein kurzer Ruck, der mich nach hinten neigt, doch er hält mich fest. Der Kerl hatte Recht, aber ich sage nichts, sondern weiche seinem durchdringenden Blick aus. Der Griff wird lockerer und ich ziehe meine Hand an meinen Körper. Ich wende mich ab und betrete bereits die ersten beiden Stufen nach unten.

„Vielleicht solltest du dir ein paar Warnschilder umhängen", ruft er mir belustigt nach und als ich endlich aus seinem Blickfeld bin, bleibe ich einen Moment stehen. Furcht pocht durch meine Glieder und wechselt sich mit dem Schmerz ab, der von meinem Handgelenk zu meinem Herzen pulsiert. Warum passiert mir so etwas? Warum durfte ich nicht ein einziges Mal glücklich und zufrieden sein? Fast unbewusst setzen meine Beine ihren Weg fort. Wohin ist mir in diesen Augenblick nicht egal. Mit jedem Schritt fällt mir das Atmen schwerer. Die Seitenstrenge meines Halses ziehen sich erneut zusammen, doch dieses Mal schicken sie puren Schmerz durch meinen Körper. Meine Finger tasten sich an meinen Hals. Sie sind kalt und fremd.
 

Als ich in der WG ankomme, kriege ich kaum noch Luft. Ich fühle mich taub und leer. Ich keuche schwer und heftig. Ich schließe hinter mir die Tür und lehne mich sofort dagegen. Mein Kopf prallt gegen das schwere Holz und ich wiederhole den Vorgang mehrere Mal. Ich spüre nicht einmal diesen Schmerz, so sehr bin ich betäubt. Ich ertrinken und nichts kann mich davor bewahren. Meine Jacke hänge ich noch an den Garderobenständer, doch dann bleibe ich an der Wand gelehnt stehen und rutsche hinab. Am Boden, zwischen Schuhen und Kram bleibe ich sitze. Unwillkürlich ziehe ich meine Knie an mich heran und bette meinen Kopf darauf. Augenblicklich beginne ich zu weinen. Es bricht aus mir heraus und meine Tränen brennen sich siedendheiß in meine Haut. Schmerzhaft. Zerstörend. Mein Herz zerreißt.
 

Meinen Tränenfluss versiegt nicht, doch irgendwann weine ich nur noch stumm. Kein Laut dringt aus meiner Kehle. Ich bin zu keine Bewegung mehr fähig. Als die Haustür auf geht, schiebt sich die schwere Holztür gegen meinen Fuß und gegen meinen Ellenbogen. Es sollte mir wehtun, doch ich merke nichts. Nur ein dumpfes, leeres Gefühl.

Die Wahrheit im spöttischen Lächeln der Ehrlichkeit

Kapitel 16 Die Wahrheit im spöttischen Lächeln der Ehrlichkeit
 

„Huch? Ben? Warum sitzt du hinter der Tür?", vernehme ich Ricks Stimme und sehe nicht auf. Das Rascheln von Kleidungsstücken ist zu hören. Das Fallen eines Schlüssels auf Holz. Ich rege mich nicht. Erst jetzt scheint Rick Besorgnis ihn einzuholen, denn er hockt sich vor mich. Ich spüre seine warme Hand an meinem Unterarm und vernehme die Sorge in seiner Stimme nur dumpf.

„Hey, ist was passiert? Bist du okay?", fragt er leise. Ich schließe meine Augen und kriege einfach die Bilder von Antony und dem schwarzen gekleideten Mann nicht aus meinen Kopf.

„Benedikt." Erst als Rick meinen vollständigen Namen benutzt, sehe ich auf. Ich weiß nicht, wie ich eigentlich aussehe. Doch anscheinend gebe ich keinem guten Anblick ab, denn Ricks Blick wird immer besorgter.

„Na komm, ich helfe dir hoch. Hier ist es doch unbequem und kalt", sagt er ruhig und zieht mich hoch, in dem er nach meinem Arm greift. Ich lasse es geschehen. Meine Beine sind taub und ich brauche Rick zu Stabilisierung. In der Küche stellt mir er ein Glas Wasser vor die Nase, doch ich greife nicht danach.

„Ich muss dir etwas sagen", sage ich unvermittelt und höre, wie mein Mitbewohner in seinen Bewegungen innehält. Ich fühle mich in diesen Moment so taub, dass ich den Ärger, die Wut oder den Zorn den Rick mir entgegen bringen könnte, einfach hinnehme. Er soll sich nicht um mich kümmern und irgendwann davon überrascht werden.

„Ich bin schwul", spreche ich es nun aus ohne ihm die Möglichkeit zu geben etwas im Vorfeld zusagen.

„Oh, puh...ich dachte schon, da kommt jetzt etwas Ernstes", kommt es verdattert von dem anderen und meine Fassade beginnt langsam zu bröckeln. „Das erklärt, natürlich warum du vor ein paar Tagen so seltsam reagiert hast." Ich höre, wie er den Wasserkocher anstellt und zwei Tassen aus dem Schrank nimmt.

„Das ist alles?", frage ich leise und doch etwas perplex.

„Ja, warum?"

„Ich dachte, du wirst sauer."

„Sauer? Warum sollte ich? Ich bin nur etwas enttäuscht, weil du es mir nicht von Anfang an gesagt hast." Genau, wie es Marie vermutet hat. In mir breiten sich ein wenig Erleichterung und im gleichen Maß Schuld aus. Ich beobachte, wie er Kaffee einfüllt und dann aufgießt. Er stellt die Tasse auf den Tisch und setzt sich mir gegenüber.

„Marie weiß es längst, oder?", fragt er und ich nicke.

„Ja, sie hat es sich zusammen gereimt." Sie ist auch einfach öfter mit mir zusammen in der WG. Die Punkte, die sie dazu veranlasst haben, erläutere ich nicht. Der Kaffee riecht anregend und ich greife nun doch nach der warmen Tasse.

„Tut mir leid, dass ich nicht ehrlich war. Ich bin was Outings angeht ein wenig vorbelastet..." Rick nickt verständnisvoll.

„Schon gut, ich verstehe das. Das war bei meinem Bruder nicht anders." Ricks Bruder ist also schwul. Ich komme mir immer dämlicher vor, aber woher hätte ich das wissen sollen? Ich fahre mir mit der Hand kurz über die Stirn und dann über die Lippen.

„Erzählst du mir, warum du so tief traurig drein schaust?" Er nippt an seinem Kaffee. Ich denke an Antony und erneut wird das Gefühl der Enttäuschung entflammt. Gänsehaut bildet sich an meinem Hals und meine Hand beginnt zu zittern. Meine Fingerkuppen tippen im rasenden Tempo gegen die kalte Oberfläche des Tisches. Ich bekomme sie nicht beruhigt und ziehe die Hand unter den Tisch. Rick hat es sicher gesehen. Ich will ihn mit meinen Problemen nicht nerven. Ihm aber auch nicht gegen den Kopf stoßen, da ich sehr froh bin, dass er mir nicht sauer ist. Ich habe nie gedacht, dass ich irgendwann mit ihm am Tisch sitze und so ein Gespräch führe. Ich kann es nicht. Ich bin weniger offen und ehrlich, als ich vorgebe zu sein. Zu dem weiß ich nicht, wie ich ihm erklären soll, dass ich mit meinen Dozenten schlafe und nun mit der Tatsache konfrontiert bin, dass er eigentlich liiert ist. Seine Augen beobachten mich aufmerksam und mir zieht sich nur noch mehr der Brustkorb zusammen. Ich versuche ein paar Worte zu formulieren, doch sie er ergeben bereits in meinem Kopf keinen Sinn mehr. Kurz klappt mein Mund auf. Ohne Effekt. Also mache ich ihn wieder zu.

„Scheint kompliziert zu sein!", interpretiert Rick meinen traurigen Versuch.

„Ich nehme mal an, dass es nicht um eine schlechte Note geht? Es ist zu früh im Semester für ein Notendrama", mutmaßt er verspielt, ohne, dass ich mich nicht ernstgenommen fühle. Ich sehe meinen Mitbewohner nasekräuselnd an. Rick tippt sich gegen das Kinn.

„Hm, dein Lieblingseis kann ich dir auch nicht weggegessen haben, denn wir haben keins. Was ist dein Lieblingseis? Ich könnte welches besorgen?", schlägt er vor und lässt mich tatsächlich schmunzeln.

"Du siehst, wie ein Erdbeereis-Fan aus", rät er weiter.

"Fast. Himbeere und Zitrone", gestehe ich. Am liebsten in Kombination. Ich mag lieber Sorbets und Mousse. Und wieder sind meine Gedanken bei Antony und unserem geplanten Abend. Ich höre Rick weiterhin locker plappern, aber ich reagiere nicht.
 

Ich hätte vorsichtiger sein soll, mahnt es in mir. Vielleicht hätte ich auf die belehrenden Stimmen hören sollen. Es war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ricks Finger umspielen den Griff der Tasse und ich beobachte sie dabei. Seine Versuche mich aufzumuntern und mir zu helfen, ehren ihn sehr. Aber ich bin noch nicht so weit.

„Ich kann einfach nicht darüber reden...noch nicht. Aber danke", flüstere ich und ringe mir ein Lächeln ab. Ich begreife es noch nicht.

„Hey, du hast mir bei Cora auch sehr geholfen und wenn du später reden willst. Du weißt, wo du mich findest", sagt er einfühlsam und ich nicke es dankbar ab. Ich richte mich auf, doch Rick hält mich noch kurz zurück. Seine Hand an meinem Handgelenk.

„Hey,... ich verspreche dir, dass ich dir dein Lieblingseis in 15 Minuten besorgen kann."

Ich nicke und verschwinde in mein Zimmer. In Mitten des Raumes bleibe ich stehen. Mein Blick fällt sofort auf das Bett. Ich spüre, wie sich mein Herz erneut schmerzhaft verkrampft als die Bilder seines schlafenden Körpers durch meinen Kopf geistern. Das ruhige und entspannte Gesicht. Ich habe das Gefühl, dass sein Geruch auf einmal das gesamte Zimmer erfüllt. Es geht vom Bett aus und obwohl meine Glieder noch immer taub sind, lasse ich mich vor das Bett nieder. Ich reiße die Bezüge von Decke und Kissen und verzweifele bei dem Versuch das Laken aus der hinteren Ecke zu zerren. Die Matratze hebt sich an, doch das Betttuch hängt fest. Ich ziehe erneut daran, doch nichts. Mit einem lauten Klappern fällt Matratze zurück auf den Lattenrost. Genau in diesem Moment beginnt mein Telefon zu klingeln und ich erstarre.

Die freie Hand tastet nach dem Handy in meiner Hosentaschen. Antonys Name leuchtet mir entgegen. Mit der anderen Hand ziehe ich ein weiteres Mal am Laken. Nichts. Meine Hand krallt sich nur noch fester in den Stoff. Mit Tränen in den Augen lasse ich mein Gesicht endgültig in die vor mir liegende Decke fallen. Selbst diese riecht ohne Bezug nach Antony. Das Klingeln hört nicht auf.
 

Eine ganze Weile bleibe ich so vor meinem Bett sitzen und weine, während ich dabei zusehe, wie das Leuchten meines Displays nicht endet. Ich bette mein Gesicht auf die Seite und starre zu meinem Schreibtisch. Meine Hand streckt sich noch einmal nach dem Laken aus. Ich ziehe nur minimal an dem Stoff und sofort löst sich die Ecke und ich richte mich wieder auf. Das Handy lege ich einfach zur Seite.

Die Tatsache, dass er nach alledem noch immer unbekümmert unseren gemeinsamen Abend plant, verletzt mich, auch wenn ich weiß, dass er nicht ahnen kann, dass ich von ihm und dem Mann in Schwarz weiß. So sehr es mich auch verletzt, so sehr beginnt die Wut in mir zu brodeln, weil er mit vollem Bewusstsein zweigleisig fährt. Wie kann er das tun? Wie habe ich mich nur so täuschen lassen können? Wie hat er mich derartig einlullen können? Wieso glaubte ich, dass ich ihm etwas bedeuten könnte?

Er hat es gesagt! Er sagte es mir direkt ins Gesicht. Bisher bin es immer nur ich gewesen, der eifersüchtig war. Ich denke an Antony. Wie ehrlich war dessen Eifersucht, wegen des Zigarettenschachtelirrtums von Luka wirklich gewesen? Vielleicht hatte er nur Angst gehabt, dass ihm jemand ein Spielzeug wegnimmt. Der Gedanke daran zieht mich immer tiefer in ein dunkles Loch.

Ich lege meinen Kopf noch einmal zurück auf die Matratze und schließe die Augen. Vielleicht wäre es besser gewesen ihn sofort mit meinem Wissen zu konfrontieren. Doch ein Aufeinandertreffen mit ihm und seinem Partner hätte ich nicht überstanden. Was hätte ich ihnen entgegensetzen können? Antony würde alles abstreiten und zum Schluss stände ich, als dummer, kleiner Student da, der sich in seinen Dozenten verliebt hat und die Signale völlig falsch interpretierte. Niemand würde mir in diesem Moment Glauben schenken. Doch nun geht Antony davon aus, dass ich morgen zu ihm komme und wenn ich nicht auftauche, wird er versuchen mich zu erreichen. So wie eben. Ich weiß schon jetzt, dass ich es nicht schaffe an das Telefon zu gehen. Ich werde es anstarren und im schlimmsten Fall einfach anfangen zu weinen, ohne dass sich damit irgendetwas klärt.

Ich höre, wie sich die Haustür öffnet und schließt. Marie. Ich bleibe unbeweglich sitzen. Auch als es nach einer Weile an meine Tür klopf und sie danach fragt, ob ich mit essen will. Ich verneine dankend und ziehe nur die Decke dichter an meinen Kopf. Irgendwann schlingen sich meine Arme um den glatten Stoff und schließe die Augen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Mir fehlt der Mut um Antony zu Rede zu stellen, aber ebenso schwindet meine Kraft das Ganze still zu ertragen, da sich so keines der Probleme löst. Erneut herrscht absolute Leere in meinem Kopf.

Irgendwann schlafe ich in der sitzenden Position ein und erwache am Morgen mit schmerzenden Knochen und steifem Rücken. Zurück ist mein knackiges Alter. Kälte zieht sich durch meinen Körper und sie verschwindet auch nach einer langen, warmen Dusche nicht. Ich stehe im Türrahmen meines Zimmers und sehe auf die abgezogenen Betthüllen. Ich atme tief ein und bleibe dennoch stillstehen. Ich atme wieder aus und schaffe es noch immer nicht meine Füße zu bewegen. Die ganze Nacht über benebelte mich Antony imaginärer Geruch und der Gedanke ihn nun wieder zu riechen, verursacht mir nahezu Angstzustände. Ein weiteres Mal atme ich geräuschvoll ein, mache die fehlenden Schritte, klaube den Stoff zusammen und stopfe ihn ungesehen in die Wäschetrommel der Maschine. Ich mache mir keine Gedanken über weitere Wäschestücke, sondern schalte die Maschine sofort ein. Erst jetzt atme ich heftig wieder aus. Mein Puls rast.
 

Für den Rest des Tages verkrieche ich mich in mein Zimmer und versuche einige Vorlesungsfolien durchzugehen. Ich zwinge mich dazu, doch mit jeder herannahenden Stunde unseres eigentlichen Treffens fällt es mir schwerer. Irgendwann sitze ich mit dem Stift in der Hand einfach da und starre an die Wand. Nach dem ersten Klingeln meines Telefons schalte ich es ab und lege mich ins neubezogene Bett. Ich rieche Waschmittel und Weichspüler. Meine Finger streichen über das glatten Stoff des Kissenbezugs und ich brauche ewig um wirklich einzuschlafen.

Irgendwann mischen sich die Worte meines Vaters dazu, wie schlechte Kommentare zu dem Best of's meiner Unzulänglichkeiten. Mein Vater ist der Überzeugung, dass meine Neigung blanker Hohn und reiner Selbstbetrug ist. Eine Strafe seiner eigenen Unzulänglichkeiten und ein deutliches Zeichen meiner fehlenden Liebe zu ihm. Warum sonst sollte ich so was tun? Doch, das stimmte nicht, aber mein Vater versteht es nicht. Es hat nichts mit ihm zu tun und es lag gewiss nicht daran, dass ich ihm damit verdeutlichen will, wie wenig mir meine Familie bedeutet. Ich habe trotz aller Strenge meine Eltern immer geliebt und ich werde auch nie damit aufhören.

Dennoch hallen nun wieder seine Worte durch meinen Kopf, die mir die Schuld dafür geben und mir verdeutlichen, dass es selbstverständlich sei, dass ich nicht glücklich werden würde. Im Moment zweifele ich selbst daran, dass eine erfüllende und langwierige Liebe für mich möglich ist.
 

Im Badezimmer sehe ich, dass Marie meine Bettwäsche auf den Wandständer über der Badewanne gehangen hat. Still danke ich ihr, nehme mir vor mich zu revanchieren und verlasse leise das Haus. Einen weiteren Tag trübsinnig in meinem Zimmer zu sitzen, bringt keine Punkte. Ich ziehe meine Jacke enger und gehe spazieren. Die kühle Luft ist angenehm und beruhigend. Mein Weg führt mich an typischer Zeilenbebauung vorbei. Haus für Haus reiht sich aneinander. Sie sehen alle gleich aus, doch dafür sind die Gebäude alle gut erhalten und scheinbar frisch renoviert und glänzen mit beige Fassaden und weiße, neue Fenstern.

Die Zeit verrinnt, doch ist es mir egal. Mein Körper und meine Gedanken sind schwer. Seele und Leib sehnen sich nach Stillstand, doch gehorchen mir meine Beine nicht mehr. Sie setzen ihren Weg fort und bringen mich zum Bahnhof. Warum hierher? Vielleicht weil ich hier einen so schönen Moment mit Antony verleben durfte? Ich denke an die Sicherheit, die ich verspürte, als ich in seinen Armen lag. Seine kräftigen, haltenden Arme, die jede trüben Gedanken fortspülten. Wie kann es sein, dass er das gespielt hat? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand solche Gefühle vermitteln kann, obwohl einem die anderen Person nicht wichtig ist. Im Grunde macht mich der Gedanke nur noch wütender. In meiner Brust und in meinem Kopf tobt ein Sturm. Jede noch so kleine Gefühlsregung vermischt sich mit den beißen Spott meines wissenden Verstandes. Die pure Enttäuschung als Selbstgeißelung. Wie hatte ich nur glauben können, dass ihm wirklich etwas an mir liegt? Ich bin eine zufällige Bekanntschaft aus einer Bar. Zufällig. Alles nur ein Zufall. Unserer Treffen. Unsere erste Nacht und auch unserer Wiedersehen. Nichts als Zufall.
 

Ich laufe zu einem der Bahnsteige und lasse mich auf eine Bank nieder. Schon oft, wenn ich hier saß, fiel mir auf das dieser Ort, ein Ort der Gefühle ist. Wahre Gefühle, die man in der heutigen Zeit oft zu verstecken versucht. Trauer, die man empfindet, wenn man einen geliebten Menschen auf Wiedersehen sagt. Reine Tränen voller Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr. Manchmal wissend. Manchmal ungewiss. Ehrliche Worte der Zuneigung fallen hier, wie Laub von den Bäumen im Herbst. In den schönsten Formen. Mit den schönsten Bedeutungen. Reich an Farbe und Gefühl. Weit trägt sie der Wind und lässt sie neue Orte sehen. Immer im Herzen.
 

Am wundervollsten sind die Gesichter beim Wiedersehen. Sie strahlen mit so viel Ausdruck der Freude. Feste und doch zärtliche Umarmungen. Küsse, die alle Gefühle der vergangenen Zeit widerspiegeln. Freude, Glück, unendliche Liebe. Für einen Moment frei von Sorgen und Angst. Nichts zählt außer der so geliebten Person in den eigenen Armen. Die Wärme. Der Geruch. Die Emotionen. Alles Gefühle, nach denen sich jeder Mensch sehnt.

Heute ist es ungewöhnlich leer und nachdem einer der Züge gehalten hat, mische ich mich in den Strom der ankommenden Menschen. Irgendwann stehe ich vor Annis Wohnhaus. An der Wohnungstür bleibe ich zögernd stehen.

Annis Bedenken kommen mir in den Sinn. Obwohl sie meine beste Freundin ist, habe ich das Bedürfnis wieder umzudrehen, die Treppe hinab zu stürmen und nie hier gewesen zu sein. Auch vor ihr will ich mir die Blöße nicht geben müssen. Mein Handy vibriert. Es wird erneut Antony sein. Augenblicklich bilden sich Tränen in meinen Augen und plötzlich geht die Tür auf. Annis Mitbewohnerin sieht mir entgegen. Ihren Namen habe ich vergessen. Sie ist erschrocken. Doch dann ruft sie direkt nach Anni. Nun kann ich nicht mehr fliehen und als ich sie um die Ecke biegen sehe, wird mir leicht mulmig. Ein kurzer Blick und sofort erkennt sie, dass etwas passiert ist. Ich brauche nicht einmal etwas sagen und schon nimmt sie mich sanft an die Hand, so wie sie es mit ihrem Bruder macht. Ihre langen roten Haare sind zusammen gesteckt. Ein paar einzelne Strähnen ringeln sich an ihrem Hals und an ihren Schläfen hinab. Kein Make up. Ein wirklich seltener Anblick, denn nur ich erleben darf. Obwohl sie ein blasserer Hauttyp ist, wirkt sie trotzdem frisch und munter. Auch diesmal. Sie führt mich durch den Flur und schließt leise die Tür. Ihre Mitbewohnerinnen steht mittlerweile in der Tür zu ihrem Zimmer und sieht mich an. Ohne ein Wort schiebt sie mich in ihr Zimmer, ignoriert die fragenden Blicke ihrer WG-Bewohnerin. Ich kämpfe mit meinen Gefühlen und jeder weitere ihrer Blicke sorgt dafür, dass ich den Tränen immer näher komme.

„Was ist los?", fragt sie mich ohne zu zögern. Ich schließe die Augen und sehe den Mann, der mich so sehr verletzt hat. Ich denke an seine Finger auf meiner Haut. Wohltuend und glücklich machend und mit einem Mal ist da der Kuss, den er diesem kaltherzigen Kerl gegeben hat. Bilder meiner Fantasie mischen sich mit den realen Momenten meiner Beobachtungen. In meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich beginne schon wieder zu weinen und merke, wie sich Annis sanfte Arme um mich legen. Sie drückt mich fest und nach einer Weile merke ich, wie ihr Hände in einem gleichmäßigen Takt über meinen Rücken streichen.

„Bitte, sag nicht, dass er dir jetzt schon das Herz gebrochen hat?", höre ich sie sagen und versteife mich. Ihre unverblümte Ausdrucksweise zieht mich noch weiter runter. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie von vornherein gewusst hat, dass das mit Antony schiefgehen wird. Ich habe gehofft, dass sie wenigstens ein paar Minuten so tut, als wäre sie überrascht, entsetzt oder wenigstens bemüht.

„Musst du, das so sagen?", kommentiere ich geknickt und lasse meine Hände zur Seite fallen.

„Ich habe also Recht? Was ist passiert?" Sie löst sich von mir und sieht mich an. Bevor ich antworten kann, nimmt sie meine Hand und zieht mich zu Bett. Ich lasse mich ermattet darauf fallen und spüre, wie mich eine Nagelfeile in die Seite piekst. Murrend ziehe ich sie hervor und beginne ihr von meinen Beobachtungen und auch die Bruchstücke der Gespräche zu erzählen. Anni atmet schwermütig ein und setzt sich dann aufrecht in den Schneidersitz. Meine Finger streichen einige Falten ihres gemachten Bettes glatt. Sie schweigt, was ankündigt, dass sie gerade überlegt, wie sie mir ihre Meinung am besten präsentiert. Das macht alles nur noch schlimmer. Ich kenne ihre Meinung zum Thema Antony und ich bin mir jetzt bereits sicher, dass ich es nicht hören will.

„Hast du wirklich geglaubt, dass das funktioniert?"

„Ich hab's gehofft.", gestehe ich ehrlich ein.

„Aber er ist dein Dozent und er ist viel älter. Wundert es dich denn wirklich so sehr, dass da plötzlich ein Partner auftaucht?" Ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich atme getroffen ein. Was Beziehung angeht ist sie etwas abgestumpft. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie selbst so viele schlechte Erfahrungen gemacht hat oder ob das in gewisser Weise ihr direktes Naturell ist. In diesem Augenblick überforderte es mich.

"Ich habe ihn gefragt und er hat es verneint."

„Herrje, natürlich hat er es verneint. Sein Partner ist bestimmt ein wichtiger Geschäftsmann, der viel unterwegs ist und der gute Antony langweilt sich jedes Mal so sehr, dass er einmal im Monat in einer Bar geht um jemanden aufzureißen. Tammtammtamm, diesmal warst du es. Natürlich hat niemand damit gerechnet, dass du plötzlich an seinem Arbeitsplatz auftauchst und deshalb war er am Anfang auch so abweisend." Annis fantasievolles Klischee ist beeindruckend und erdrückend zugleich. Ich seufze getroffen und weiche ihrem Blick aus. Gerade in diesen Momenten, wo ich am liebsten nur in den Arm genommen werden will und man mir beruhigende und tröste Dinge sagen müsste, haut sie raus, wie dumm und voraussehbar das Ganze war. Es ist nicht so, als sei sie nicht fürsorglich, aber es fehlt ihr etwas an Empathie. In diesem Augenblick fehlt ihr jegliche Einfühlsamkeit und es ermattet mich.

„Kann sein...", erwidere ich.

„Ich hab es dir, doch gesagt." Damit setzt sie noch einen drauf. Das ist genau das, was ich nicht hören will. Es ist keine Hilfe und es verärgerte mich mehr als das es beschwichtigend wirkt. Ich stehe auf und laufe in ihrem Zimmer umher, während sie mir vom Bett aus zuschaut. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich atme ein und lasse meine Hände wieder locker. Ich wiederhole das Spiel.

„Könntest du nicht einfach damit aufhören, mir zu sagen, wie dumm ich bin?", sage ich verbittert.

„Aber ich hab es dir, doch wirklich gesagt", macht sie beharrlich weiter und ich werde langsam wirklich sauer. Ich weiß nicht mehr, wie oft sie zu mir gekommen ist als ihr Freund sie wieder geschlagen hatte. Ich weiß nicht, wie oft ich ihr gesagt haben, dass er sich nicht ändern wird und sie sich trotzdem nicht hat helfen lassen. Doch jedes Mal aufs Neue habe ich sie in den Arm genommen, habe beruhigend auf sie eingeredet und ihr deutlich gemacht, dass alles besser werden würde. Warum kann sie, das nicht bei mir? Ich weiß selbst, dass ich naiv und leichtgläubig gewesen bin. Doch Annis kalte Bekundung, dass ich selbst daran schuld bin, macht es nur noch schlimmer.

„Ja, ich weiß und ich weiß auch, dass es dich freut wieder einmal Recht zu behalten. Fühlst du dich jetzt besser?", belle ich ihr verärgert entgegen und sehe, wie sie getroffen zusammen zuckt.

„Das ist nicht wahr!" Sie springt vom Bett auf und sieht mich eindringlich an.

„Warum sagst du es mir dann andauernd so, als würde es dich freuen, dass auch mir so ein Scheiß passiert?" Sie zuckt ein weiteres Mal zusammen und sieht mich sauer und verletzt an.

„Ben, du bist unfair. Ich habe nie gewollt, dass er dich so verletzt. Ich bin nur ehrlich und sage dir die Wahrheit. Es hätte bei der einen Nacht bleiben sollen und das weißt du!" Ja, ich weiß es, aber ich will es mir nicht eingestehen. Anni ist ehrlich und das schätzte ich sehr an ihr, aber in diesen Moment hätte ich mir Zurückhaltung gewünscht. Wieder ist es Traurigkeit und Wut, die mich überfällt. Traurigkeit, dass selbst meine beste Freundin kein Halt für mich ist und Wut, darüber dass sie auch noch glaubt mir damit zu helfen. Ehrlichkeit und Wahrheit. Wie viel verträgt man davon wirklich? Ich weiß es nicht.

Der zornige Weg in die falsche Richtung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das betrügerische Gefühl der Lust

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Bekenntnisse eines Akademikers 2

Kapitel 19 Bekenntnisse eines Akademikers 2
 

Ich blicke auf den Zigarettenstummel in meiner Hand. Warum muss derzeit alles schiefgehen? Beim nächsten Mülleimer lasse ich die Zigarette verschwinden und habe für einen Moment das Gefühl, dass mit diesem Stummel mein Leben im Müll verschwindet. Nichts, aber wirklich nichts scheint zu funktionieren. Liebe. Freundschaft. Familie. Alles im Arsch.

Mein Körper fühlt sich schwer, aber zugleich unglaublich leer an. Es ist seltsam. Ich sehe auf meine Fingerspitzen. Sie sind taub und das, obwohl ich mich direkt daran erinnere, wie sie über warme, wohltuende Haut streichen. Was ist nur los mit mir?

Entmutigt und seltsam ermattet, gehe ich zur Bushaltestelle und nach nur wenigen Minuten kommt ein Bus. Ich setze mich ganz nach hinten und lehne meinen Kopf müde gegen die leicht vibrierende Scheibe. Das sanfte Rütteln beruhigt mich und ich schließe meine Augen. Warum passiert das nur alles? Für einen Augenblick spüre ich tiefe Verzweiflung, die sich in bodenlose Ernüchterung wandelt. Die anhaltende und tiefsitzende Enttäuschung über die Gefühlskälte meines Erzeugers, der mir damit auch den Rest meiner Familien genommen hat. Meine beste Freundin, die so wenig Empathie und Mitgefühl für mich aufbringt, dass ich mittlerweile der völligen Überzeugung bin, dass bei ihr etwas ganz grundlegend kaputt gegangen sein muss. Und der Mann, bei dem ich mir Halt und Chance wünschte, der aber letztendlich meine Gefühle nur mit Füßen tritt. Und dann noch Luka. Ein Kapitel für sich. Im Grunde meine eigene Dummheit.
 

Die Ernüchterung bereitet sich in mir aus, wie eine Krankheit, die meine Glieder lähmt und meinen Verstand in die Knie zwingt. Na, wenn das mal nicht Stoff für kitschige und dramatische Belletristik ist. In meinem Kopf bündeln sich die Szenen meines chaotischen Lebens zu einer erzählerischen Storyline mit mahnenden Kommentaren. Als ich das nächste Mal auf die Ansage achte, bin ich schon um 5 Stationen an meiner Haltestelle vorbeigefahren und damit bei der Endstation angelangt. Großartig.

Der Bus hält und ich stehe nicht sofort auf. Der Busfahrer wiederholt die Durchsage und betont dabei den Hinweis auf die Endstation. Sein Blick, der über den Rückspiegel auf mich gerichtet ist, ist genervt und leicht aggressiv. Bevor er ein weiteres Mal den Mund aufmacht, ziehe ich mich an einer Haltestange hoch und steige aus dem Bus. Hinter mir schließt er sofort die Tür.

Es ist verdammt kalt. War es vorhin auch schon so kalt? Wahrscheinlich habe ich es nur nicht wahrgenommen, weil diese verräterische Lust in meinem Blut schwamm und sich mein eigener Körper fremd anfühlte. Jetzt trifft sie mich schlagartig.

Ich ziehe merklich die Schultern nach oben und erhoffe mir so mehr Schutz vor der bitteren Kälte. Mein Hals liegt komplett frei. Ich weiß nicht einmal, wo meine Winterklamotten hingekommen sind. Anni weiß es. Noch möchte ich sie nicht anrufen und danach fragen. Ich denke an meine Mutter. Ich habe meine Schwester gebeten, mich auf den Laufenden zu halten, aber bisher habe ich keine Nachricht von ihr bekommen. Es belastet mich nicht zu wissen, wie es meine Mutter geht. Mein Leben gerät aus den Fugen und ich habe niemanden, mit dem ich darüber reden kann. In mir wächst das Bedürfnis eine liebevolle Stimme zu hören, die mich beruhigt und mit sagt, dass alles wieder gut wird, auch wenn es nicht stimmt. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und blicke still auf das dunkele Display, während ich schleichend weiterlaufe.

Ich wähle nach kurzem Zögern Natalias Nummer. Es klingelt lange und ich lege nicht auf, bis ich ihre Stimme höre.

„Ben?" Fast nur ein Flüstern. Wahrscheinlich musste sie in einen anderen Raum gehen, bevor sie ans Telefon kam. Unwillkürlich schließe ich die Augen. Ich fühle mich getroffen, auch wenn ich im Grunde weiß, woran es liegt und es nichts Neues ist.

„Hey, wie geht es euch? Wie geht es Mama?"

„Mama, darf nächste Woche nach Hause. Sie muss nicht operiert werden." Ich atme erleichtert aus. Natalia hört es.

„Sie verkraftet es wirklich gut, Ben. Wir kümmern uns um sie. Ich habe mit meinem Chef gesprochen und geregelt, dass ich für einige Zeit verkürzte Arbeitszeiten nehme und sie so unterstützen kann." In mir wächst erneut das schlechte Gewissen. Ich wäre auch gern für sie da. Vor allem, weil es für mich am wenigstens aufwendig wäre, ihr zu helfen.

„Sie hätte dich gern an ihrer Seite, das weißt du, ja?" Sie scheint meine Gedanken zu erraten. Es ist kein Vorwurf, sondern eine unaufgeforderte Bestätigung, dass der Groll weder von meiner Mutter noch von meiner Schwester ausgeht. Ich denke an die Szene im Krankenhaus. Der kalte Blick meines Vaters, der jeglichen Mut aus mir riss. Ihre Stimme verdeutlicht mir ihre bedauernde Machtlosigkeit.

„Ich weiß." Mehr bekomme ich nicht heraus.

„Ben, es ist alles gut, wirklich! Mama schafft das", versucht sie mich zu beruhigen.

„Schaffst du das wirklich alles?", hake ich nach und mache mir einfach nur Sorgen, dass sie sich zu viel zumutet. Ich höre sie leise seufzen. Ein Job, zwei kleine Kinder und eine kranke Mutter. Ebenfalls ein perfektes Klischee.

„Ich bin ein großes Mädchen, Benedikt. Ich schaffe das. Roman kümmert sich um die Mädchen und wir wohnen nicht so weit entfernt. Das wird schon. Außerdem ist Mama ganz versessen darauf, niemanden zur Last zu fallen. Was wiederum Schwierigkeiten machen könnte", kommentiert sie amüsiert, doch ich höre die Sorge, die mitschwimmt.

„Ja, sie kann keine Hilfe entgegen nehmen. So ist sie schon immer. Wie geht es den Mädchen?", flüstere ich meiner Schwester entgegen.

„Sie wachsen und werden immer frecher. Im Ernst, sie werden langsam, wie du damals warst." Natalia ist 6 Jahre älter als ich und damit hat sie mich als Kind komplett wahrgenommen. Ich war kein kleines Püppchen, welches man als große Schwester lustig umher tragen konnte. Ich war nervtötend und ständig am Rumrennen. Bereits damals hatte ich meinen eigenen Kopf und das hat mich des Öfteren in Probleme gebracht. Unbewusst fahre ich mir mit der Hand über das Schlüsselbein. Im Laufe meiner Kindheit habe ich es mir ganze 5 Mal gebrochen. Fast immer im Abstand von 3 Jahren. Das erste Mal mit einem Jahr. Wenn man über den Knochen streicht, dann spürt man die Stellen, an denen er wieder zusammen gewachsen ist.

„Besonders Mira ist sehr wild. Und sie ist letztens fast von der Couch gefallen. So, wie du damals." Ich stelle mir vor, wie sie zu lächeln beginnt und bleibe stehen.

„Du hattest mich geschubst."

„Gar nicht wahr!", wehrt sie sich. In diesem Moment öffnet sich am anderen Ende der Leitung eine Tür. Natalia schreckt auf. Für einen Augenblick ist es still, dann ein Flüstern. Ich höre meinen Namen. Ein niedliches Kichern. Eine meiner Nichten. Mein Herz wird schwer. Ich höre sie leise und sanft miteinander sprechen, verstehe, aber nur Natalia.

„Allo Ben..." Ein zartes Flüstern haucht sich durchs Telefon, gefolgt von einem erneuten kindlichen Lachen. Natalia lobt ihre zweijährige Tochter und ich habe das Gefühl, dass mir mein Herz gleich aus dem Brustkorb springt. Ich weiß nicht einmal, ob es Mira oder Sophie war. In meinem Kopf sehe ich die beiden Mädchen eng eingewickelt in ihren Decken. Pausbäckige, neutrale, aber hübsche Babygesichter. Natalia hält sie beide im Arm. Mittlerweile sind sie so groß, dass sie das wahrscheinlich nicht mehr kann. Ob sie ihre hellen Haare haben oder seine dunklen? Ich weiß es nicht.

„Mira redet schon sehr viel. Sophie ist eher ruhig.", berichtet sie. Das glückliche Lachen einer Mutter. Ich kann nicht verhindern, dass mir erneut Tränen über die Wange laufen. Still und heiß. Ich streiche sie schnell weg.

„Ben, bist du noch dran?"

„Ja, ich bin noch dran."

„Alles okay bei dir?" Ich schaffe es nicht, sofort zu antworten.

„Ja. Alles gut." Ich kann nicht aufrichtig antworten. Natalia ist diejenige, die nun schweigt.

„Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Mama und wie es dir und den Mädchen geht. Das ist alles." Ein Teil der Wahrheit. Ich habe auch eine vertraute und liebevolle Stimme hören wollen, auch wenn ich weiß, dass es nichts ändert. Natalia kann mir nicht helfen. Unsere Mutter kann es auch nicht.

„Ben, wenn etwas ist, dann rede mit mir." Erneut höre ich die Tür. Ich sehe auf die Uhr. Sicher kommt ihr Mann bald nach Hause und ich will ihr keine Probleme machen.

„Ich bin ein großer Junge, Natalia. Es ist alles gut." Die Wendung 'Dass ich es schaffe' lasse ich weg, denn im Moment bin ich mir dessen einfach nicht sicher. Natalia schweigt. Sie wägt ab.

„Ben,..." Sie zweifelt. Ich seufze leicht. Dass sie sich nun auch Sorgen um mich machen muss, war nicht beabsichtigt.

„Talia, du hast doch Ahnung vom Kochen. Was kann ich machen, was jedem schmeckt und was auch ich hinbekomme? Oh, was anderes als Nudeln."

„Was anderes als Nudeln...Besitzt ihr eine Mikrowelle?" Der Ernst ihrer Stimme wird nach wenigen Sekunden von einem mädchenhaften Kichern abgelöst. Es durchringt mich. Es lässt mich schmunzeln, dennoch ziehe ich unbewusst eine Schnute. Obwohl ich selbst weiß, dass meine Kochkünste nicht die Besten sind, trifft mich ihre Aussage direkt ins Geschwisterherz. Ich bin dennoch dankbar, dass meine Ablenkung funktioniert hat.

„Wie fies."

„Entschuldige bitte." Ein erneutes Kichern. Sie klingt, wie damals. Ich lächele und fühle mich wirklich etwas besser.

„Okay, okay...wie wäre es mit Minutensteaks, Buttergemüse und ein paar Kartoffeln. Es wäre nur ein bisschen anbraten und auftauen. Das kriegst du hin." Klingt gut. Ich notiere mir ihren Vorschlag gedanklich und blicke kurz auf die Uhr. Zeit habe ich noch allemal um alle Zutaten zu besorgen.

„Empfehlung angenommen!", kommentiere ich, nachdem ich merke, dass sie auf eine Antwortet wartet.

„Lass dir beim Kartoffeln schälen helfen, nicht, dass wir bald noch jemanden im Krankenhaus besuchen kommen müssen." Diesmal entfährt ihr ein herzhaftes Lachen.

„Haha, sehr witzig, Natalia." Sie lacht weiter. „Und schälen ist nicht das Problem, sondern das Geschmackverleihen."

„Kochen ist nicht umsonst eine Kunst, Ben", flötet sie mir entgegen und ich höre erneut, wie die Tür bei ihr auf geht.

„Gut, ich muss meinen Mädels auch noch eine Kleinigkeit zaubern. Meld dich, ja?"

„Ich versuche es. Drücke deine Süßen."

„Mach ich. Ben, pass auf dich auf." In dem Moment, in dem ich das Gespräch beende, vibriert es in meiner Hand. Eine Nachricht. Sie ist von Antony. Mein Herz verkrampft sich. Er will mit mir reden. Ihn zu ignorieren, würde nichts bringen, also entscheide ich mich zu antworten. Ich tippe ein deutliches Nein und schiebe das Telefon zurück in meine Hosentasche. Es bleibt still. Ich nutze die Gelegenheit und besorge im Supermarkt noch ein paar Kleinigkeiten, bevor ich mich zurück in die WG bewege. Darunter die Zutaten, die mir meine Schwester genannt hat und klischeehaft Eiscreme. Vanille. Meine anderen Lieblingssorten gab es nicht. Ich werde als auf Ricks Angebot zurückkommen müssen.
 

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Lauter als gewollt, dennoch gibt es keine Reaktion in der WG. Ich räume die Lebensmittel in den Kühlschrank und bleibe danach lauschend im Flur stehen. Keine Geräusche, aber unter Maries Zimmertür ist ein Lichtstrahl zu sehen. Ich gehe zurück in die Küche und hole mir das Eis aus dem Gefrierschrank, greife einen Löffel und verschwinde in meinem Zimmer. Nach Kochen ist mir nicht mehr. Vielleicht morgen. Vielleicht übermorgen. Für diesen Moment habe ich das Gefühl, nichts zu Ende bringen zu können.

Ich lasse mich am Schreibtisch nieder. Ich neige meinen Oberkörper Richtung Schreibtisch und lasse den Kopf sinken. Mein Rücken meldet sich mit leichter Aufruhre. Ich richte mich wieder auf und greife nach dem Becher mit Eis. Ich sehe auf die unberührte Oberfläche und lasse meinen Löffel dann fast zärtlich darüber gleiten, sodass sich in der Löffelinnenfläche eine kleine Welle bildet. Ich sehe dabei zu, wie sie leicht nach unten läuft als ich den Löffel mit der Fläche nach oben vor mich halte. Erst als die Creme fast am Ende angelangt ist, lecke ich sie ab, spüre die Kälte, die meine Zungenspitze reizt, merke die Süße, die meine Geschmacksknospen kitzelt. Das blumige, volle Aroma, welches süß meinen Hals hinabrinnt. Ich mache dasselbe ein weiteres Mal und lasse den Löffeln in meinem Mund liegen. Knarrend lehne ich mich zurück. Ich schließe meine Augen, spüre die Rastlosigkeit, die mich in diesem Moment durchströmt. Warum darf ich nicht glücklich sein? Mir vergeht augenblicklich der Appetit. Ich nehme einen weiteren Löffel, doch es befriedigt mich nicht und ich schiebe die Packung lustlos von mir fort. Meinen Kopf bette ich erneut auf das harte Holz. Es klopft an meine Tür und ich hebe mein auf dem Tisch platziertes Haupt.

„Ja?" Ich sehe, wie Marie ihren Wuschelkopf durch den Spalt schiebt und im Zimmer nach mir sucht.

„Hey, da ist jemand für dich an der Tür." Mein Blick ist zuerst verwundert, doch dann bekomme ich eine leise Ahnung. Ich seufze resigniert und nicke ihr zu. Bevor ich das Zimmer verlasse, drücke ich Marie lächelnd das Eis in die Hand. Im Flur erblicke ich die angelehnte Wohnungstür. Mein Herz poltert durch mein Inneres. Ich habe gehofft, dass er es darauf beruhen lässt.

Marie hat ihn nicht in die Wohnung gelassen und ich bin froh darüber. Meine Fingerspitzen beginnen dennoch vor Aufregung zu kribbeln. Ich zögere, während ich der Tür näher komme. Antony blickt auf als ich sie öffne. Nur einen Spalt um ihn anzudeuten, dass er nicht willkommen ist. Er trägt dieselben Klamotten, wie am Morgen. Er ist wohl direkt von der Uni hier her gefahren.

„Hey", sagt er zurückhaltend. Ich antworte nicht. Meine Fingerspitzen pulsieren stärker. Ich drücke sie aufgeregt gegen das kühle Holz. „Können wir reden? Bitte", fragt er leise und sieht sich unbewusst im dunklen Flur um. In mir beginnt es immer mehr zu kribbeln. Mit seinem Anblick wächst erneut die Wut, die Enttäuschung aber auch die Neugier. Das Bedürfnis seine Erklärungen zu hören, schreit laut in mir. Ich sehe Marie aus der Küche zu mir sehen, nehme das als Anlass hinaus auf den Flur zu treten. Ich schiebe vorher meinen Hausschlüssel in die hintere Hosentasche und schließe hinter mir die Tür. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Ein Ausdruck meiner Unsicherheit und keine direkte Abwehr. Ich vermeide es Antony anzusehen.

„Es tut mir leid, dass ich nicht ehrlich zu dir gewesen bin", sagt er leise und ich schließe die Augen. Wenigstens versucht er mich nicht davon zu überzeugen, dass ich mir das Ganze eingebildet habe oder dass es anders war als es aussah.

„Aber es ist wirklich nicht so, wie..."

„Nicht...", unterbreche ich ihn. Ich unterdrücke ein frustriertes Lachen. Es wäre ja auch Mal eine willkommene Abwechslung gewesen. Ich gebe ein verächtliches Geräusch von mir und blicke ihn verärgert an.

„Willst du mir jetzt erzählen, dass es dein verschollener Kindheitsfreund ist oder was weiß ich", philosophiere ich sarkastisch, aber ermattetet ideenlos für ihn und sehe, wie Antony seine Arme hebt. Sie fallen fast resigniert wieder nach unten und er fährt sich unwirsch durch die mittlerweile ungemachten Haare.

„Nein, das möchte ich nicht.", erwidert er fahrig. Er sieht erschöpft aus.

„Bitte, gib mir nur ein paar Minuten. Danach kannst du mir an den Kopf werfen, was du willst. Brülle mich an, mach mich fertig oder was auch immer, aber lass mich ausreden." Ich sehe dabei zu, wie er einatmet und sich sammelt. Er wirkt nicht viel gefasster. Die Tatsache, dass es auch ihm nicht leicht fällt, lässt mich etwas Genugtuung verspüren, aber es befriedigt mich nicht.

„Ja, ich habe dir nicht gesagt, dass dort noch jemand anderes ist und es tut mir leid. Ich führe mit ihm keine Beziehung, aber ich hatte eine mit ihm...einen sehr komplizierte..." Er macht eine Pause und sieht mich an. Ich spüre, wie unwillkürlich meine Augenbraue nach oben wandert und beginne skeptisch zu gucken. Die Erklärung reicht mir nicht. Kompliziert ist vieles, doch das ist keine Rechtfertigung. Ich schweige, wie er es verlangt hat, beiße aber die Zähne zusammen.
 

Antony lehnt sich gegen die Treppenbrüstung und für einen Moment wirkt es, als wüsste er nichts mit seinen Händen anzufangen. Er streicht über seine Jacke, dann kurz über seine Hose. Seine Finger verschränken sich letztendlich ineinander und er bettet sie gegen seinen Unterbauch.

„Ich habe ihn vor etlichen Jahren in Neapel kennengelernt. Wir haben eine Beziehung geführt, die von meiner Seite beendet wurde...nach dem es... komisch wurde..." Ich warte auf weitere Erklärungen, doch Antony starrt Löcher in den Boden. Seine Finger reiben aneinander. Er weiß nicht, wie er es mir erklären soll, doch ich lasse nicht locker.

„Ja, und weil eure Beziehung beendet ist, schläfst du mit ihm in deinem Büro?", frage ich sarkastisch und Antonys Gesicht wird immer leidender.

„Oh Ben, es tut mir wirklich leid. Ich wollte es nicht und ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll..." In mir beginnt es zu brodeln. Ich wende mich einen Augenblick von ihm ab. Sie haben wirklich miteinander geschlafen. Diese nun bestätigte Tatsache erfasst mich noch einmal mit ungemeinen Unwohlsein und lässt erneut den Schmerz aufflammen.

„Okay, versuch es trotzdem. Ich bin nicht so dumm, wie du anscheinend denkst", stelle ich klar und klinge dabei gefasster als ich in Wirklichkeit bin. Antonys innerer Kampf ist deutlich zu sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass er mir einfach nicht deutlich sagt, was Sache ist. Will er den anderen Mann schützen? Aber wovor? Geht es ihm nur darum, sich selbst zu schützen. Warum ist er dann hier? Noch immer ringt er mit sich. Ich habe keine Lust mehr auf dieses Spiel. Mit einem Kopf schütteln, wende ich mich zur Tür, lasse den Schlüssel ins Schloss gleiten, doch Antony hält mich zurück.

„Ben, bitte nicht. Das Problem ist einfach, dass er der Schwager des Professors ist." Es dauert einen Moment bis ich verstehe, was er damit sagen will. Für einen Moment starre ich ihn fassungslos an.

„Von Professor Stroud", wiederhole ich ungläubig. Antony nickt. Meine Finger umgreifen das Geländer der Treppe. Das kühle Holz und seine Stimme holen mich in die Realität zurück.

„Ben, es klingt wie ein totales Klischee, aber ich hab diesen verflixten Job wirklich durch Beziehungen bekommen. Manuel, Professor Stroud, weiß nicht... Er weiß nichts von der Beziehung zwischen mir und Mateo. Er hätte es nicht gut geheißen und..." Antony ringt mit sich und den Worten. Ich sehe ihn einfach nur fragend an, denn ich verstehe es noch immer nicht vollkommen. Antony versteht meinen Blick.

„Ich wurde ihm damals nur als ein Freund vorgestellt. Und... na ja, ich verstand mich gut mit dem Professor und er fragte mich, ob ich nicht an die Uni wechseln möchte. Er würde mich als wissenschaftlichen Mitarbeiter vorschlagen. Zu dem Zeitpunkt waren Mateo und ich noch irgendwie mit einander liiert, aber nicht mehr richtig und ich..."

„Und?", frage ich weiter, denn nichts von alle dem erklärt, warum er noch immer im Kontakt mit Mateo steht und warum er mit ihm schläft, obwohl ihre Beziehung schon so lange beendet ist.

"Ich habe mich endgültig getrennt als ich den Job wirklich bekam..."

„Anscheinend hast du ihm das mit der Trennung nicht deutlich mitgeteilt", sage ich bissig.

„Das habe ich, aber er hört es nicht...", fährt er mich an. Mein Puls geht augenblicklich höher als er mich gegen die Wohnungstür drückt und mit beiden Händen meine Oberarme fest pinnt. Er ist mir so nahe, dass ich den Geruch seines Aftershaves wahrnehmen kann. Es ist nur noch ein Hauch und trotzdem erfasst er mich mit voller Wucht.

„Er lässt mich nicht gehen. Er kommt hierher, wieder und wieder und er kommt immer zu mir. Mateo akzeptiert kein Nein. Er erpresst mich damit, dass er Manuel von ihm und mir erzählen wird und dass ich dann meinen Job los bin, den ich wirklich mag, Ben. Ich gebe ihm, was er will und er geht. Das hat für mich funktioniert... bisher...", fährt er fort.

„Bisher...", kommentiere ich mit zittriger Stimme.

„Ich habe nicht ohne Grund erstmal abweisend auf dich reagiert. Mein Leben ist schwierig. Ich begnüge mich nur hin und wieder mit oberflächlichen, einmaligen Bekanntschaften, weil das alles ist, was ich vernünftig funktioniert. Es hat mir immer gereicht. Du warst ein One-Night-Stand und es wäre besser so geblieben", presst er ehrlich hervor und ich fühle mich nur noch schlechter. So ist das. Ich verstehe nicht, warum er mir das nicht von vornherein gesagt hat. Ich schlucke schwer, versuche meine Tränen zu unterdrücken, die sich einen Weg nach außen bahnen. Brennend und heiß. Seine Worte verletzen mich tief.

„Okay, ich war einfach nur dein vierteljährliches Stell-dich-ein." Ich sehe, wie er schwer schluckt. Kein Gegenwort.

„Du wolltest nie eine Beziehung." Sein Blick geht zur Seite und fährt sich mit der Hand über den Kehlkopf.

„Du hast mir eine Nähe weiß gemacht, die nie da war", fahre ich fort.

„Nein." Nur ein Flüstern. Ich gehe nicht darauf ein.

„Nähe, die du nie wolltest."

„Das ist nicht wahr." Antony seufzt resigniert auf.

„Was, das hast du mir doch gerade erklärt!", belle ich, sehe, wie er leicht mit dem Kopf schüttelt um erneut zu verneinen, was er mir vor wenigen Minuten an den Kopf geknallt hat.

„Wieso hast du mich dann in dem Glauben gelassen, wir würden eine Beziehung beginnen können! Doch du wolltest mich gar nicht an deinem Leben teilhaben lassen, denn ich war ja nur dein verdammtes Nümmerchen für Zwischendurch." Mit den letzten Worten wird meine Stimme immer lauter. Mein Herz immer gespannter.

„Dir war doch von vornherein klar, dass es nichts Ernstes ist, aber du bist nicht auf die Idee gekommen, mir das ebenso mit zu teilen...Hat es dir Spaß gemacht?", gebe ich anklagend von mir.

„Bitte, hör auf. Ich habe Mist gebaut und ich weiß das.", fährt er mich an und ich zucke deutlich zusammen. Es ist nur die Lautstärke, die mich erschreckt. Seine Stimme ist weder wütend noch verärgert. Sie ist verzweifelt. „Ich kann dir nicht mehr sagen, als dass es mir aufrichtig Leid tut. Wirklich, ich habe schon lange nichts mehr so sehr bedauert, wie das." Antonys Blick ist getrübt. Seine Finger beginnen von neuem über die Materialien seiner Kleidung zu streichen, so wie sie es bereits zum Anfang unseres Gesprächs getan haben.

„Warum soll ich dir das glauben? Was soll ich dir überhaupt noch glauben?"

„Ich wäre nicht hier, wenn mir das zwischen uns egal wäre. Wenn du mir egal wärst." Antony deutet auf mich und dann auf sich. Eine unsichtbare Verbindung. Ich erwidere seinen Blick. Das erste Mal in voller Länge. Er soll den Schmerz sehen, den ich noch immer empfinde. Antony hat mir etwas glauben gemacht, was so nicht stimmte und das im vollen Bewusstsein.

„Wenn ich dir nicht egal bin, warum hast du mich dann trotzdem so lange in dem Glauben gelassen, dass es mehr sein könnte? Warum hast du..."

„Weil es so ist!", wirft er dazwischen und ich schlucke die anderen Fragen, die sich in meinem Kopf gebildet haben, runter. Ich sehe ihn an. Antonys Blick ist erschrocken. Doch dann senkt er seinen Blick und fährt sich fast nervös über die Lippen.

„Ben, ich habe nichts gesagt, weil ich wirklich gehofft habe, dass wir beide vielleicht... Ich dachte, dass das mit uns... und dann kam Mateo und ich war wieder so machtlos, wie sonst...", fährt Antony fort. Er macht einen Schritt auf mich zu. In meinem Rücken befindet sich die Tür. Seine hellen, schönen Augen sehen mich eindringlich an und ich habe das Gefühl innerlich zu zerbersten. Hat Antony wirklich gehofft, dass wir zusammen sein könnten? In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln. Ein weiterer Schritt, den er auf mich zu macht. Antony hebt seine Hand, doch er stoppt bevor er mich berührt.

„Ich habe Angst, dass dir Mateo etwas an tut", gesteht er. In meinem Magen wird es flau. Ich schließe meine Augen und dann spüre ich seine kühlen Finger, wie sie hauchzart über meine Wange streichen.

„Mateo ist gefährlich." Die Intensität seines Blicks ist durchdringend. Ich spüre seine Hand, die sich fast zögernd an meinen Arm legt und dennoch so viel Kraft innehat. Als würde er seiner Aussage damit noch mehr Nachdruck verleihen wollen.

„Ich bin ein dummer Idiot. Ich bin das immer gewesen. Ich habe nach der Trennung von Mateo mein Herz abgeschottet. Es verschlossen, weil ich wusste, dass mich das immer verfolgen wird, aber ich habe..." Seine Hand greift nach meiner und er bricht ab. Ich lasse es geschehen. Kühle Finger, die meine treffen. Sein Zeigefinger streicht hauchzart über meine Handinnenfläche. Ein feines Kitzeln. Mein angespannter Kiefer beginnt zu zittern. Er blickt auf unsere ineinander geschlungenen Hände und sieht mich dann an. Seine sonst so kühlen Augen sind warm und voller Reue.

„Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass du dich so schnell in mein Herz schleichst." Die Ehrlichkeit in seinen Worten umfasst mein Herz, scheint es vor weiterem Zerreißen zu bewahren. Wie ein hauchzarter Wall. Dennoch wird mein Herz schwer. Mit einem Mal erfasst mich die Schuld, wie ein Anker, der mich zu Boden zieht.

„Ich war bei Luka", flüstere ich ihm entgegen und spüre, wie sich seine Finger augenblicklich anspannen.

Der Blick nach vorn, nach einem langem Blick zurück

Kapitel 20 Der Blick nach vorn, nach einem langem Blick zurück
 

Meine Worte verhallen im dunklen Flur. Ich merke, wie Antony zurückweicht. Er senkt seinen Blick und er entlässt meine Finger. Ich spüre die kühle Luft umso deutlicher an den warmen Stellen unserer vorigen Berührung und ich wünsche mir noch im selben Augenblick das angenehme Gefühl zurück. Ich will ihn wieder spüren. Doch vielleich war es das letzte Mal.

„Was genau heißt das?", fragt er.

"Ich wollte..." Ich breche ab, weiche seinem Blick aus und schüttele minimal mit dem Kopf. Es reicht ihm als Antwort. Seine Hand fährt über seinen Mund und der Ausdruck seiner Fassungslosigkeit wird deutlich. Damit hat er nicht gerechnet. Es bereitet mir keine Genugtuung auch, wenn ich deutlich erkenne, wie sehr ihn mein Geständnis trifft und ich genau das gewollt habe. Es ist Schuld und Scham, die sich durch meinen Körper arbeiten und einfach nur Dunkelheit zurücklassen. Trotzdem stelle ich nicht klar, dass ich den Schritt zum Äußersten nicht gegangen bin, denn ich glaube, dass es für Antony nichts ändert. Seine Worte Hallen durch meinem Kopf. Ich bedeute ihm etwas. Aber er hat mich belogen. Mein Herz scheint zu zerreißen. Der Zwiespalt der vergangenen Tage entfacht sich erneut. Doch diesmal scheint er noch intensiver zu sein.

„Warum er?" Die Frage ist nur ein Flüstern. Es dauert einen Moment bis er mich ansieht. Seine kühlen, klaren Augen erfassen mich als ich einfach nicht antworte. Ich weiß einfach nicht, was ich antworten soll. Warum er? Luka war da. Er wollte mich. Und mit ihm konnte ich ihn am meisten verletzen. Genauso, wie mich selbst. Nachdem Gespräch in Antonys Büro war ich aufgewühlt und wütend. Nein, das alles sind lose Ausreden. Mein Gehirn wirft sie mir vor, weil ich mein Grundmotiv selbst so dumm und niveaulos finde, dass ich es mir nicht eingestehen will.

Antony ballt seine Hände zu Fäusten. Ich kann es deutlich sehen, dann kommt er auf mich zu. Er drückt mich gegen die Wand, aber es ist nicht aggressiv, eher verzweifelt.

„Warum gerade er?", wiederholt er. Seine Finger krallen sich in meinen Pullover. Ich spüre, wie sich sein gesamter Körper gegen meinen lehnt und sein Kopf auf meiner Schulter zum Liegen kommt. Seine Finger krallen sich fester in den Stoff meines Oberteils. Ein Ruck geht durch meinen Körper als er mich ein weiteres Mal sanft gegen die Wand stößt. Nur minimal ziehe ich die Luft ein. Antony blickt auf. Er mustert mich und ich kann nicht verhindern, dass ich beschämt zur Seite blicke.

„Hat er dir wehgetan?", fragt er leise und ehrlich besorgt. Nun liegt seine flache Hand auf meiner Brust. Ich spüre, wie er mir drei Mal sachte gegen die Brust klopft und wie er sich dann wieder von mir löst. Ich brauche es nicht zu bestätigen, denn aus irgendeinem Grund weiß er es. Vermutlich, weil neben dem verletzten beruflichen Stolz ein ebenso privater steckt. Meine Finger werden bei diesem Gedanken taub.

„Luka gehört nicht zu der sanften Sorte." Ein seltsames Lächeln auf seinen Lippen. Ich spüre, wie seine Finger über meinen Kiefer streichen. Hauchzart als wäre es nur ein minimaler Windzug. Sie fahren den gesamten Kiefernast entlang und gleiten zu meinem Kinn. Sein Daumen tippt kurz gegen meine Unterlippe und streicht dann einmal komplett über beide.

„Hast du Nein gesagt?", fragt mich Antony leise und sein Blick haftet sich weiter an meine nun bebenden Lippen.

„Ja", gebe ich ehrlich von mir. Ich sehe, wie er nickt und dann kurz seine Lider schließt.

„Gut." Nur ein Flüstern. Seine warme Hand umfasst meine Wange. Eine sanfte, zärtliche Geste. Dann spüre ich seine Lippen auf meinen. Erst sanft und hauchzart. Dann werden sie fest und unnachgiebig. Diesmal ist es anders als bei den letzten Malen. Es fühlt sich an, wie ein Abschied. Seine Hand gleitet in meine Haare, fasst nach meinem Hinterkopf und drückt mich fester an ihn. Als er den Kuss löst, sind seine Augen noch einen Moment geschlossen. Ich sehe dabei zu, wie er seine Unterlippe mit der Oberen entlang streicht, als würde er versuchen den letzten Rest des Aromas unseres Kusses zu bewahren. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, doch er weicht zurück und hält seinen Blick gesenkt.

„Wir sollten uns nicht mehr sehen." Er sieht an mir vorbei nach unten. Er kann mir nicht einmal mehr in die Augen schauen. Ich widerspreche nicht, auch wenn ich sofort spüre, wie sich mein Herz schmerzhaft zusammen zieht. Wir haben uns gegenseitig verletzt. Wir haben uns gegenseitig, mehr oder weniger betrogen.

Obwohl in meinem Kopf schon seit Tagen diese Wut und die Trauer vorherrschen, trifft mich die Vorstellung ihn nicht wieder zu sehen enorm hart. Ist es wirklich endgültig? Mein Verstand sagt mir, dass es womöglich das Beste ist. Dass es die logische Konsequenz aus den aufgetauchten Problemen ist. Doch mein Herz bettelt darum, dass ich endlich einschreite. Ich bin wie gelähmt. Antony geht ohne, dass ich mich einen Millimeter bewege. Im Dunkeln bleibe ich stehen, höre wie sich die Haustür leise schließt. Nun ist er wirklich fort.
 

Ich brauche eine halbe Ewigkeit bis ich endlich den Schlüssel aus meiner Hosentasche ziehe und in die Wohnung zurückkehre. Noch immer ist in der Küche Licht zu sehen. Ich wende mich ab und höre dann doch leise Schritte. Das Licht im Flur geht an. Marie. Sie steht in der zur Küche.

„Alles okay, bei dir?" Wie viel sie wohl gehört hat? Im Flur muss es extrem hallen.

„Ben!" Ich drehe mich zur ihr und setze ein beruhigendes Lächeln auf.

„Ja, alles okay. Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Nichts weiter." Sie sieht mich zweifelnd an. Sie hat mehr mitbekommen. Hat sie Antony erkannt? Sie ist die Einzige, die ihn mehrere Mal hier gesehen hat. Damals auf der Treppe. Als er am Samstag nach mir gesucht hat. Heute im Flur. Marie ist nicht dumm und schon lange Zeit in der Universität.

„Ich koche morgen für uns", lenke ich ab.

„Also, ich werde es versuche und hoffe, dass ich euch nicht umbringe. Halte dir den Abend frei, okay?" Ein erzwungener Scherz. Marie schmunzelt dennoch. Ich kitzele mir ein Lächeln heraus und gehe zum Bad statt in mein Zimmer. Ich brauche dringend eine Dusche. Mittlerweile habe ich das Gefühl mein gesamter Körper beginnt unangenehm zu kribbeln.

„Ben, wirklich alles gut?" Maries Stimme hält mich ein letztes Mal zurück. Ich beschließe nicht mehr zu beschwichtigen. Sie scheint mir sowieso nicht zu glauben.

„Wird schon wieder.", sage ich stattdessen und verschwinde im Badezimmer. Ich entkleide mich schnell und stelle mich unter die Dusche. Im ersten Moment ist der Strahl kalt. Ich zucke nicht einmal. Als das Wasser endlich warm wird, stelle ich mich mit dem gesamten Körper hinunter, spüre wie es über mein Gesicht rinnt. Ich schließe meine Augen und halte die Luft an. So lange, wie ich es aushalte. Ich wiederhole das Ganze dreimal und seufze danach fahrig. Das Alles wird mir zu viel.

Danach seife mich gründlich ein, vollführe das gesamte Körperreinigungsprogramm und fühle mich danach nicht wirklich besser. Ein Blick in den Spiegel. Ich sehe direkt in braune, müde Augen. Ich sah schon mal besser aus. Die letzten Tage haben mich enorm ausgezerrt. Ich binde mir das Handtuch fester um die Hüfte und verlasse das Bad.
 

Zurück in meinem Zimmer bleibe ich an der Tür gelehnt stehen. Meine Glieder fühlen sich unendlich schwer an und obwohl die Dusche angenehm und schön war, hat es mir nicht geholfen. Abgesehen davon, dass ich so zauberhaft dufte, wie ein gutausgestatteter Seifenladen. Ich schließe meine Augen und sofort laufen die letzten Stunden dieses Tages vor mir ab. Das mit Luka war ein Fehler. Das wusste ich bereits, währenddessen. Doch jetzt trifft mich die schockierende Ernüchterung, wie ein Schlag. Sicher wäre Antony und mein Gespräch anders verlaufen, wenn das nicht passiert wäre. Hätten wir vielleicht wirklich eine winzige Chance gehabt? Ich schiebe den Gedanken wieder beiseite, denn nicht nur ich habe Fehler begangen, sondern auch Antony. Er hat mit Mateo geschlafen. Er hat mir diese ganzen Dinge verschwiegen und mich die meiste Zeit über nur für einen fortgeführten One-Night-Stand gehalten. Ich starre auf meine Füße und schupse einen Papierknüddel weg, der vor mir auf dem Boden liegt. Ich bin mir sicher, dass Antony weiterhin verschwiegen hätte, dass da dieses Problem schwelt, wenn ich es nicht durch Zufall mitbekommen hätte. Mateo ist gefährlich, wiederholt sich in meinem Kopf. Mateo. Nun hat der Mann in Schwarz einen Namen. Ich denke an den großen Mann und gestehe mir ein, dass er wirklich furchteinflößend wirkt. Aber vor allem ist es die Stimme, die mir im Gedächtnis geblieben ist. Kalt. Berechnend. Noch jetzt spüre ich, wie mir Gänsehaut über die Glieder fährt, wenn ich mich an den festen Griff um meinen Arm erinnere.

Das Klingeln meines Handys reißt sich aus den Gedanken. Auf dem Display taucht Annis Namen auf. Mein gerade nicht so sehr gefeiertes Freundinnenmonster. Ich zögere. Doch dann drücke ich den grünen Hörer, schweige aber. Eine Art der Demonstration meiner weiterhin niedergeschlagenen Stimmung ihr und ihrer Wahrheit gegenüber.

„Du nimmst ab. Gut!" Sie klingt erleichtert und trotzdem verstummt sie für einen Moment.

„Ben??...Du bist doch dran, oder?", fragt sie vorsichtig und ich seufze leicht.

„Wer sollte es sonst sein?", kommentiere ich und weiß, dass sie sich jetzt allerhand seltsame Dinge vorstellt. Anni gehört zu der Sorte mit viel verquerer Fantasie.

„Ben,...", setzt sie an und ich seufze über den eindeutigen Verschleiß meines Namens. Sie druckst rum und das nervt mich bereits jetzt. Doch bevor ich etwas sagen kann, fährt sie fort.

„Es tut mir so leid. Wirklich. Ich habe mich unsensibel und dumm verhalten. Ich hätte dir eine bessere Freundin sein sollen und nicht so ein Stinkstiefel." Ich weiß, dass es ihr Leid tut, aber dennoch verspüre ich Unzufriedenheit. Im Grunde weiß ich nicht, ob es irgendwas gibt, was mich in diesem Moment erreichen würde. Ich bin zu ermattet von allem, was in den letzten Tagen passiert ist. Ich stoße mich von der Tür ab und lasse mich auf mein Bett fallen. Das Handtuch um meiner Hüfte verrutscht. Es ist mir egal. Meine Finger streichen ein paar Knitter von der Decke. So lange bis eine glatte Fläche zurückbleibt.

„Es tut mir Leid, Ben. Bitte lass es mich wieder gut machen." In ihrer Stimme schwimmt eindeutige Reue. Ich starre auf den glatten Fleck, der zwischen den zerwühlten Stoff ruht, wie eine Oase in der Wüste. Ein seltsamer Anblick. Annis Stimme zu hören beruhigt mich, auch, wenn ich noch immer diese kribbelnde schwelende Enttäuschung verspüre. Ich brauche sie. Denn sonst habe ich niemand weiter und wir sind schon gemeinsam durch so viele schwere Zeiten gegangen.

„Sehen wir uns Morgen?" Eine Bitte. Ich schließe meine Augen.

„Ja", antworte ich leise.

„Oh, danke my Dear", sagt sie erleichtert, bekundet mir ihre allumfassende Zuneigung und legt dann auf, nach dem ich ihre mitteile, dass das genug des Guten ist. Ich lege das Telefon zur Seite und lasse mich seitlich auf das Bett fallen. Obwohl mir etwas kalt ist, decke ich mich nicht zu, sondern bleibe im Grunde nackt liegen. Die Müdigkeit überfällt mich, wie ein Schlag und ich schlafe einfach ein.
 

Ein leises Klopfgeräusch weckt mich. Ich höre es nur dumpf und dann geht auch schon die Tür auf. Geplättet sehe ich auf und stütze mich auf meinen Ellenbogen ab. Ein Schatten taucht in der Tür auf.

„Hey, bist du da?" Ricks flüsternde Stimme dringt zu mir. Ich schiele auf die erleuchteten Zahlen meines Weckers. Es ist erst halb neun. Definitiv keine Schlafenszeit.

„Ja", antworte ich verschlafen. Ich streiche mir kurz ein paar Strähnen zurück und stelle fest, dass mir nun doch kalt ist. Meine Finger sind klamm. Auch meine Füße fühlen sich an, wie Eisklumpen.

„Darf ich reinkommen?"

„Ja." Erst als er die Tür weiter öffnet und Licht in mein Zimmer fällt, merke ich, dass mein Handtuch vollkommen verrutscht ist. Ich lege es schnell einen Zipfel der Decke über meinen Unterleib und sehe mich nach meinen Klamotten um. Sie liegen auf meinen Schreibtischstuhl. Zwischen mir und Rick.

„Na huch, mir war nicht klar, dass du ein Nacktschläfer bist.", kommentiert er meinen Anblick und dreht sich lachend um. Er tastet sich rückwärts näher in den Raum.

„Entschuldige, ich bin nach dem Duschen direkt eingeschlafen und hab es dann komplett vergessen. Ich versichere dir, ich bin sonst nicht nackt", plappere ich. Sehe mich suchend nach Kleidungsstücken um, die ich besser erreichen kann. Doch dank meines vormaligen Aufräumanfalls ist nichts mehr übrig, wonach ich greifen kann. Normalerweise bin ich nicht so ordentlich und das ist eindeutig ein Pluspunkt für Chaos.

„Ach, kein Ding. Du bist nicht der erste nackte Mann, der plötzlich vor mir steht." Rick dreht sich ebenfalls umher und sieht sich um. Ich deute zu meinem Schreibtisch und Rick nimmt die Sache vom Stuhl, wirft sie mir zu.

„Gut, dass ich eigentlich sitze!", flachse ich und sortiere die einzelnen Kleidungsstücke. Artig dreht sich Rick um. Als ich mir die Hose anziehe, drehe ich mich trotzdem automatisch von ihm weg. Mein Mitbewohner nutzt die Gelegenheit um mir sein Anliegen mitzuteilen.

„Marie macht sich sorgen. Sie meinte, dass du vorhin ziemlich niedergeschlagen gewirkt hast und da wollte mal nach dir sehen", erklärt er und ich bin von ihrer Sorge gerührt. Trotzdem ist es mir unangenehm.

„Alles halb so wild, wirklich! Ich hatte nur ein paar anstrengende Tage und bin müde."

„Es hat nicht mit deinem Zusammenbruch vom letzten Mal zu tun?" Ich denke an den Moment zurück, in dem er mich hinter der Tür gefunden hat. Für ihn muss es wirklich, wie ein Zusammenbruch ausgesehen haben. Wenn ich so darüber nachdenke, war es das wohl auch gewesen. Ich habe ihm damals nicht gesagt, warum ich derartig aufgelöst gewesen bin. Mir widerstrebt es auch jetzt ihm davon zu berichten. Ricks Blick verweilt auf mir. Er scheint mich zu durchdringen. Ich habe das Gefühl, das ich ihn nicht so schnell loswerde, wie Marie.

„Ja, irgendwie schon", sage ich dann doch ehrlich und setze mich wieder aufs Bett zurück.

„Willst du darüber reden?" Rick kommt näher und setzt sich nach kurzen Zögern zu mir. „Auch, wenn man es mir nicht ansieht, aber ich bin ein verdammt guter Zuhörer", ergänzt er leicht schmunzeln. Er will mir den Druck nehmen und er schafft es. Es ist nett von ihm. Auch, wenn es ein seltsames Gefühl ist

„Ich glaube dir das", erwidere ich. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll, ohne wie ein dummer, unglücklicher Teenager zu klingen. Außerdem kann ich ihm auch nicht alle Zusammenhänge erklären. In meinem Kopf ist noch immer alles heillos durcheinander. Ich denke an Antonys Worte. Sie waren so ehrlich und schön gewesen. Er hat Gefühle für mich. Doch er hat mich auch eiskalt belogen. Ich weiß nicht, wie oft sich das heute schon in meinem Kopf wiederholt hat. Ich blicke auf meine Hände. Sie streichen unruhig über meinen Oberschenkel. Ich spüre den rauen Stoff der Jeans unter meinen Fingern. Ricks Hand taucht in meinem Blickfeld auf. Sie legt sich halb auf meine Hand und stoppt so mein Handeln.

„Wie meintest du das vorhin, dass du nicht der erste nackte Mann bin, der vor dir steht?", frage ich ausweichend und auch neugierig.

„Oh, da gab es schon einige." Ricks Stimme klingt verschwörerisch.

„Okay, was verheimlichst du?"

„Vor ein paar Jahren als ich noch zu Hause gewohnt habe, war ich öfter meinen Bruder besuchen, da der schon eine eigene Wohnung hatte. Es verhieß Freiheit und vollkommene Selbstbestimmung. Allerdings bin ich bei ihm des Öfteren über nackte Männer gestolpert. Das war bis zu einem gewissen Grad etwas verstörend.", erzählt er lachend. Das Gesicht, was er zu seiner Aussage macht, ist großartig. Aufgerissene Augen und ein verzerrter Mund. Ich kann mir ein Lachen nun nicht mehr verkneifen. Rick erwidert meinen Blick ebenso amüsiert. Seine Hand berührt noch immer meine. Sie ist warm und seltsam beruhigend.

„Hör zu, ich weiß, dass wir uns noch nicht so gut kennen." Es folgt kein Aber. Es ist eine einfache Tatsache. Ich nicke verstehend und seufze fahrig.

„Ich habe einfach einen komplizierten Männergeschmack", sage ich letztendlich und tatsächlich fasst sich damit Einiges zusammen. Der Mann, in den ich verliebt bin, der eine Art Doppelleben mit einem gefährlichen Stalker führt und zusätzlich noch Lehrkraft an der Uni ist. Und ein Mann, mit dem ich aus Rache beinahe geschlafen habe und der ein grober Mistkerl ist. Kompliziert und doch so einfach. Blinde Dummheit auf allen Seiten, vor allem auf meiner. Bei Luka ist es eher Egomanie.

„Okay. Inwiefern?", hakt er nach.

„Ich bin in jemanden verliebt, der keine Beziehung sucht und habe dann aus verletztem Stolz heraus auch noch Mist gebaut, der vermutlich alles vollkommen versaut hat. Wir haben uns gegenseitig verletzt. Zusätzlich habe ich mich mit meiner besten Freundin verkracht und meine Mutter hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Das war im groben die Zusammenfassung mein ersten Uniwochen." Ich blicke kurz zu meinem Mitbewohner und dann wieder auf meine Hände. Noch immer berührt Rick meinen Arm.

„Uff, du nimmst gleich alles mit, oder?" Rick sieht mich an und lehnt sich dann zurück, so als würde er das mitgeteilte, so besser verarbeiten können. „Wie geht es deiner Mutter jetzt?"

„So weit gut. Sie darf bald wieder raus. Braucht, aber pflege." Rick nickt. Damit ist der Teil abgehakt.

„Oh, Ben, es tut mir wirklich leid, dass du da scheinbar an einen Idioten oder eher mehrere geraten bist. Liebe ist kompliziert und manchmal auch schmerzhaft. Auch wenn sie es eigentlich nicht sein sollte. Nur wenige habe das Glück seinen Lebenspartner früh zu finden und nicht mal das garantiert, dass es auch funktioniert."

„Du bist einer der Wenigen." Ich klinge mitleidig und das liegt mir eigentlich fern.

„Glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich mehr als einmal darüber nachgedacht habe das Ganze zu beenden." Seine ehrlichen Worte beeindrucken mich.

„Entschuldige, ich wollte nicht unterstellen, dass du es leichter hast", gebe ich leise von mir.

„Nein, du brauchst dich nicht entschuldigen. Ein bisschen hast du Recht, aber das heißt nicht, dass wir nicht auch zu kämpfen haben, wie du ja beim letzten Mal eindrucksvoll mitbekommen hast." Er rollt mit den Augen und schüttelt dann zusätzlich den Kopf. Simple Eifersucht und ein unausgewogenes Sexleben. Ich komme nicht umher zu schmunzeln. Ich denke an Antony. Auch er war eifersüchtig geworden und das nur, weil er mich mag. Noch immer beginnt es in meinem Bauch zu kribbeln, wenn ich an seine Worte denke. Trotzdem hat er mit jemand anderen geschlafen und es mir verheimlicht. Wie gefährlich ist dieser Mateo? Im Grund ist es egal, denn er will mich nicht mehr sehen.

„Hey, ich weiß nicht, was dazwischen euch passiert ist, aber wenn du eine winzige Chance siehst, das er dich trotz dieser Beziehungsablehnung mag, dann gib noch nicht auf. Manchmal muss es sich einfach erst entwickeln." Seine Hand berührt meine Schulter und streicht dann kurz über meinen oberen Rücken. Ein beruhigend und angenehme Geste, die ich so nicht kenne.

„Ich weiß nicht, was noch zu retten ist. Ich hab es wirklich ganz schön versaut", gestehe ich. Ich weiß nicht, wie viel Kraft in mir übrig ist. Ich kämpfe schon so lange. Meine familiäre Situation kommt mir in den Sinn. Vor allem mein Vater, mit dem ich bereits etliche Kämpfe ausgefochten habe. Meine Schwester und meine Nichten, die ich nicht sehen darf. Nur Beispiele von vielem. Ich lächele trotzdem.

„Hm, ich kann mir nicht vorstellen, dass es gar keine Möglichkeit mehr geben soll. Manchmal muss es sich erst einmal wieder beruhigen." Seine Hand bettete sich weiterhin an meine Schulter. Sie ist warm und wohlig. Rick japst und richtet sich auf. Ich nicke ihm dankend zu. Bevor er aus der Tür verschwinden kann, halte ich ihn zurück.

„Hey, Dankeschön!"

„Immer gern!" Ein Lächeln, dann schließt sich meine Tür. Ich habe nicht geglaubt, dass ich mit Rick einmal so ein Gespräch führen würde. Es ist komisch, aber irgendwie auch angenehm. Ich habe nicht sehr viele männliche Freunde. Grübelnd lasse ich mich zurück aufs Bett fallen, streife mir die Hose von den Beinen und kuschele mich diesmal gleich in die Decke. Ich schlafe nicht so schnell ein.
 

Am nächsten Tag bin ich pünktlich in meinen Vorlesungen. Mit jedem Schritt, den ich in den Fluren der Universität mache, spüre ich Beklemmungen in meiner Brust. Das Antony und ich uns nicht mehr sehen, ist relativ. Wir werden uns ständig begegnen. Besonders in diesem Semester. Bereits morgen werde ich im Seminar auf ihn treffen. Mein Magen beginnt zu kribbeln. Eine Nachricht von Anni erreicht mich und wir verabreden uns vor der Mensa. Das schwere Gefühl in meiner Magengegend wird noch ein wenig steiniger. Ich mache mich auf dem Weg zur Mensa, ziehe bei der Kälte meine Jacke dichter an meinen Körper und horche auf als ich aufgeregtes Getuschel vernehme. Einen Pulk von Studenten, die zum Teil mit schockierten Gesichtern umher blicken. Erst nachdem ich neugierig näher herangekommen bin, sehe ich den Grund für die Aufregung und erstarre.

Antony presst Luka mit dem Rücken gegen eine Ziegelwand. Seine Hände verkrampfen sich fest im Kragen des blonden Mannes. Luka scheint verhältnismäßig ruhig. Antonys Blick ist eiskalt. Ich habe das Gefühl, dass mir das Blut in den Adern gefriert und hoffe inständig, dass das gerade nicht wegen mir passiert. Luka raunt Antony etwas entgegen, was kein anderer verstehen kann. Doch der Portugiese presst den Journalisten fester gegen die Wand. Das Grinsen in Lukas Gesicht ist bösartig. Niemand geht dazwischen. Ich schiebe mich durch die Menschenmenge und gehe direkt auf die beiden angespannten Körper zu.

"Hört auf damit!", schreite ich ein. Ich packe Antony an der Schulter. Doch im ersten Moment scheint es als wurde er nichts von dem um ihn herum mit zu bekommen. Er stößt mich leicht weg. Seine Schulter zuckt und wirft mir einen Seitenblick zu. Erst dann lässt er Luka los. Kein Wort fällt. Luka richtet sich grinsend den Kragen, rückt seine Lederjacke zurecht und schenkt mir seine Aufmerksamkeit. Er mustert mich und das unverhohlen, so dass es auch Antony mitbekommt.

„So, so. Rochas, du brichst deine eigenen Regeln wegen ihm", sagt Luka belustigt und für einen Moment habe ich das Gefühl, dass Antony gleich zu schlägt. Seine Hand zuckt und ich nehme sie kurzerhand in meine. Antony stockt und zum ersten Mal seit ich da bin, sieht er mich richtig an. Seine sonst zu kühlen Augen sind voller Schmerz und Wut. Die Wut richtet sich nicht gegen Luka, sondern gegen mich. Antony reißt seine Hand los und geht einfach davon. Ich bleibe getroffen stehen und sehe ihm nach, wie er sich durch die Menschenmenge schiebt.
 

Es ist Lukas Geruch, den ich bemerke und der mich wieder ins Hier und Jetzt holt. Dann sein Gesicht, welches über meiner linken Schulter auftaucht.

„Das ist also der Andere. Harter Tobak, Eco-Boy." Seine Stimme ist nur ein Flüstern. Lukas Arm schmiegt sich an meinen Bauch. Er drückt sich von hinten an mich heran. Kurz schließe ich die Augen und versuche mich zu sammeln. Noch immer höre ich leises Gerede, welches langsam verstummt, während sich der Pulk vollends auflöst. Als Einzige bleibt Anni ein paar Meter von uns entfernt stehen. Ich sehe sie direkt an. Ihr Blick ist sorgenvoll.

„Hast du Mateo schon kennen gelernt? Wenn nicht, dann wirst du es noch.", haucht mir Luka ins Ohr. Seine Lippen streichen mit diesen Worten über meine Haut. Mein Körper reagiert sofort.

Die Unklarheit in der zähen Masse voller Antworten

Kapitel 21 Die Unklarheit in der zähen Masse voller Antworten
 

Ein seltsamer Schauer erfasst mich als Luka die Spitze meines Ohres küsst. Seine Hand presst sich einen Moment lang fest gegen meinen Bauch und hält mich in Position. Unbewusst spanne ich ihn an und drücke mich dann von ihm weg. Was meint Luka damit, dass ich Mateo kennen lernen werde?

Luka zieht abwehrend die Hände hoch als ich mich energisch löse und steckt sich eine Zigarette zwischen seine Lippen. Seine Hände greifen nach einem Feuerzeug, jedoch zündet er die Zigarette nicht an. Es lässt es nur klicken. Ein arrogantes Lächeln liegt auf seinen Lippen als er erneut beginnt, mich zu mustern. Ein Kopfschütteln folgt. Ein weiteres Zündgeräusch des Feuerzeugs.

„Du und der Wirtschaftsfutzi, that blow my mind", stößt er aus.

„Was ist das mit dir und Antony?", frage ich ohne auf seinen Ausspruch zu reagieren. Er weiß, sowieso schon zu viel und ich bin mir sicher, dass mehr hinter den Problemen zwischen Luka und Antony stecken muss.

„Ich habe ihn gefickt." Während er spricht, zieht er kurz seine Schultern nach oben, so als müsste mir das als Aussage vollkommen ausreichen. Ich kann dabei zu sehen, wie die Zigarette zwischen seinen Lippen hin und her wippt. Er macht wieder einen Schritt auf mich zu und steht damit wieder dicht vor mir. Sein Blick wandert über meine Schulter zu Anni und dann wieder zu mir zurück. Sie haben also miteinander geschlafen. Es überrascht mich nicht so sehr, wie es müsste. Und dennoch spüre ich ein feines schockiertes Kitzeln, welches sich durch meinen Körper arbeitet. Mein Kopf gibt mir zu verstehen, dass ich es geahnt habe. Antonys Reaktion, als er die Zigarettenschachtel und die Handynummer von Luka bei mir gefunden hatte, sprach Bände. Übertriebene Eifersucht, das dachte ich im ersten Moment, aber anscheinend war es nur eine unbehagliche Verknüpfung mit negativen Erinnerungen an den anderen Mann. Ich kann mir vorstellen, dass es keine rosarote Verbindung gewesen ist. Auch, wenn ich hoffte, dass es vielleicht etwas anderes, weniger Prekäres ist.

„Ha ha, ich kann mir vorstellen, dass ich nicht zu eurem Bettgeflüster gehörte."

„Ben?", ruft Anni. Ich wende mich ihr kurz zu, verdeutliche ihr, dass ich gleich zu ihr komme und drehe mich wieder dem blonden Mann zu. Luka zündet sich nun endlich den Glimmstängel an. Sofort regt sich in mir das Bedürfnis ihm die Zigarette aus dem Mund zu nehmen und sie selbst zu rauchen. Ich versuche zu widerstehen, aber das momentane Chaos in meinem Kopf schreit förmlich danach. Ich sehne mich nach Beruhigung. Die krebsverursachenden Todesstäbchen verheißen genau das. Ich denke an meine Mutter. Diese Worte hatte sie benutzt als sie mich das erste Mal mit einer Zigarette erwischt hat. Krebsverursachenden Todesstäbchen. Ich war damals 15 Jahre alt. Die sonst ruhige und stille Frau ist völlig aus der Haut gefahren. Nie zuvor war derartiges passiert. Es gab endlose Diskussionen und Ansprachen und bis heute weiß ich nicht, ob mein Vater jemals davon erfahren hat. Meine Mutter hat es allein geschafft für genügend Furcht und Bange zu sorgen. Mein Blick haftet an der Zigarette. Luka bemerkt es und hält sie mir hin. Ich schiebe mit erstaunlicher Leichtigkeit seine Hand weg.

„Was ist nun vorgefallen?", frage ich stattdessen. Ein wenig bissig und spitz.

„Möchtest du die ganze Wahrheit?" Wieder beugt er sich etwas zu mir. Ich rieche den Rauch, der auf seinen Lippen haftet. Ich nicke nicht, sondern starre ihn nur still an.

„Ich wollte Informationen über Professor Manuel Stroud. Dieser eingebildete, dumme Narr ist vollkommen überschätzt und überbezahlt. Ich bin in meinem Studium sehr früh mit ihm aneinander geraten. Er war doch tatsächlich der Überzeugung, ich wäre ein überheblicher Nichtskönner und ließ mich durchfallen. In einem nichtsbedeutenden Nebenfach." Seine Stimme ist abfällig und kalt. Sie ist wütend. Garantiert gibt es nur wenige Menschen, die ohne große Probleme mit jemand wie Luka zu Recht kommen. Es wundert mich nicht, dass er aneckt.

„Dein Motiv ist also gekränkter Stolz und was bitte hat das mit Antony zu tun?"

„Na. Na. Er nannte mich einen Nichtskönner, das kann ich doch bei meinen Fähigkeiten nicht auf mir sitzen lassen!" Während er das sagt, lässt er seinen Zeigefinger vor meinem Gesicht hin und her tanzen. Luka ist ein Egomane und Narzisst. „Ich habe ihm mein Können bewiesen und als guter Journalist nutzt man jede mögliche Quelle. Also habe ich mich an die Person gehängt, die in der Uni am engsten mit ihm zusammenarbeitet. Antony Rochas. Junger, engagierter Neudozent. Seine rechte Hand. Besser ging es nicht. Das Antony auch noch auf Kerle steht, war sozusagen mein kleines Bonbon. Wir hatten viel Spaß zusammen." Diese Worte bohren sich heiß in meinen Leib. Sie sind nur geflüstert und doch treffen sie mich, wie tausende Nadeln, die wie Klingen meinen Körper zerfetzen. Getroffen weiche ich seinem Blick aus.

„Am Anfang war mir nicht klar, dass Stroud und Rochas praktisch familiär zusammenhängen bis ich auf Mateo traf, der es mir eindrucksvoll klar machte." Nun sehe ich Luka doch wieder an. Mateo machte es ihm deutlich? Das sagte Vieles, aber auch nichts. Sein Daumen streicht über die tiefe Narbe an seiner Unterlippe und ich verstehe.

„Streiche Antony aus deinen Gedanken, denn er wird sich nicht für dich entscheiden. Er ist zu feige und noch dazu wird Mateo nicht zulassen, dass er sich von ihm entfernt." Lukas Hand streckt sich nach mir aus, streicht hauchzart über meinen Kiefer, legt sich an meine Wange, während seine Lippen die andere Seite meines Gesichts küssen. Ich lasse ihn gewähren, weil mein Gehirn schwer damit beschäftigt zu verarbeiten.

„Weißt du, was ich glaube?" Er macht eine theatralische Pause. Ich schlucke.

„Was?", frage ich genauso, wie er es mit diesen Worten bezweckt. Er nimmt einen letzten Zug und schnippt den Stummel unachtsam ins Beet.

„Dass deine Aktion sowieso dafür gesorgt hast, dass er dich auf keinen Fall zurück will." Ein frostiger Schauer durchfährt meine Glieder als mir klar wird, dass ich diesen Gedanken bereits selbst hatte. Antonys enttäuschter Blick, der nach meinem Geständnis folgte, hat sich in meine Gedanken gemeißelt. Mein Fehler. Lukas Daumen streicht über die Haut meines Kinns. Sanft, fast liebevoll. Doch die Berührung ist, wie beißender Hohn.

„Pass auf dich auf, Eco-Boy", flüstert er mir entgegen. Ich spüre seine Lippen, die sich gegen meine Schläfe drücken.

„Ach und falls du deinen Mut wieder findest, weißt du, wo du mich findest." Damit verabschiedet er sich und verschwindet. Nur ein Hauch von Zigarettenrauch bleibt zurück. Ich schließe meine Augen und öffne sie erst wieder als ich Anni näher kommen höre.
 

„Was hat das hier zu bedeuten?", fragt sie mit erregter Stimme. Sie hat die Situation genau beobachtet und ich kann sehe, wie aufgeregt sie atmet. Meine Augen wandern über ihr ebenmäßiges Gesicht. Sie trägt heute erstaunlich wenig Make up. Ihre Augen wirken müde. Ihre lockige Haarpracht ist in einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Ein paar von Annis roten Haarsträhnen streicheln durch den Wind angeregt über ihre Wange und über ihre Stirn.

Auch ich habe noch immer so viele Fragen in meinem Kopf, dass ich mich kaum dazu in der Lage fühle ihre zu beantworten. Luka hat nur wenige wirklich beantwortet. Im Grunde hat er nur Vermutung bestätigt und mir verdeutlicht, dass Antony einen berechtigten Groll gegen ihn hegt. Er hat ihn ausgenutzt und verraten und das wegen Informationen. Luka ist, wie geahnt ein Schwein und er macht keinen Hehl draus.

„Ben?" Annis Hand greift an meinem Arm und ich sehe wieder zu ihr. Ihr fragender Blick dringt tief in mich ein. Mein Herz wird schwer. Ich zögere, was sie auch merkt.

„Hör zu. Es tut mir wirklich leid. Ich war extrem unsensibel und eine wirklich schreckliche Freundin. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist und warum ich diese Dinge zu dir gesagt habe und... und..." Sie bricht ab und senkt ihren Blick. Mein Gefühl sagt mir, dass sie gleich weint. In meiner Brust beginnt es bereits zu brennen. Ich ertrage es nicht, sie weinen zu sehen. Ein erstes Schniefen bricht hervor. Dann ein leises Schluchzen. Sie schluckt und wischt sich mit der Hand unter der Nase entlang. Wie automatisch greift meine Hand in ihren Nacken. Ich ziehe ihren Kopf an meine Schultern. Ihr Parfüm in meiner Nase. Blumig. Süß. Ihr Schluchzen wird etwas lauter, doch zu meiner Überraschung drückt sie sich von mir weg und schüttelt ihren Kopf.

„Nicht Ben, das habe ich nicht verdient.", gibt sie schluchzend von sich. Sie atmet tief ein und trotz ihrer Worte sehe ich eine feuchte Spur auf ihrer linken Wange.

„Ich hätte dir eine Freundin sein sollen und das war ich nicht. Es tut mir so leid. Ich verspreche dir, dass ich mich bessern werde und dass ich dich nie wieder so im Stich lasse." Mit diesen Worten beginnt sie richtig zu weinen. Ihre feuchten Augen blicken mir entgegen, während immer mehr Tränen über ihr Kinn perlen und auf dem grünen Stoff ihrer Jacke ein feuchtes Muster hinterlassen. Annis Körper bebt. Es ist lange her, dass ich sie so sehr weinen gesehen habe. Es trifft mich hart, aber ich kann die Enttäuschung in meinen Gliedern nicht vollkommen davon wischen.
 

Ein junges Pärchen kommt an uns vorbei. Sie tuscheln und bleiben ein paar Meter hinter uns stehen. Wahrscheinlich glauben sie, dass ich Anni zum Weinen gebracht habe. Ich möchte nicht wissen, welche bösartigen und klischeehaften Szenarien sie sich ausmalen.

„Ich war echt enttäuscht, Anni", gestehe ich. Wohlwissend, dass ich noch mal so richtig schön Salz in die Wunde streue.

„Ich weiß", murmelt sie schuldbewusst. Ihre Augen füllen sich prompt mit noch mehr Tränen. Ich widerstehe dem Drang sie sofort in den Arm zu nehmen, um sie einfach nur nicht mehr weinen zu sehen. Trotzdem suche ich bereits meine Taschen nach einem Taschentuch ab. Ich finde eine fast leere Packung in der Innentasche meiner Jacke und reiche sie ihr. Anni nickt. Weswegen genau ist mir nicht klar, also fahre ich fort.

„Ich hätte deine Unterstützung gebraucht." Meine Stimme ist ruhig und wenig vorwurfsvoll. Ich weiß, wie sehr diese Art sie quält. Anschreien und rumbrüllen wäre ihr lieber. Damit kann sie etwas anfangen. Doch dazu bin ich nicht wirklich der Typ. Augenblicklich denke ich an Antony, denn diesen habe ich bei unseren Konfrontationen angebellt. Nicht die ganze Zeit, aber dennoch für ein paar Momente. Ein heftiges Ziehen in meiner Brust. Ich bin selten derartig aufgebracht.

„Ich weiß", wiederholt sie piepsig. Erneut streckt sie ihre Hand nach mir aus und lässt sie wieder sinken. Diesmal greife ich danach und halte sie fest. Erschrocken blickt sie auf. Ihre blauen Augen sind betrübt. Ein leises Schniefen mit reichlich Rotz ist zu hören und ich verziehe angeekelt das Gesicht. Anni pfriemelt endlich ein Taschentuch hervor und schnaubt. Ich seufze leicht und ziehe sie dann in meine Arme. Mein Kinn legt sich auf ihren Kopf ab. Haare kitzeln meine Wange als Strähnen ihrer widerspenstigen Haare durch die leichte Bewegung aus ihren Zopf fallen. Aprikosenduft umnebelt mich. Annis Arme legen sich um meine Hüfte und sie drückt sich fest an mich. Sie beruhigt sich. Warum nur werde ich so schnell weich.

„Du bist doof", kommentiere ich leise, merke prompt, wie sie zustimmend nickt. Das lässt mich schmunzeln. Immerhin streitet sie es nicht ab. Dass mir Anni Recht gibt, ist selten genug.

„Es tut mir wirklich leid, Ben", murmelt sie gegen meine Brust.

„Ich weiß!" Anni sieht auf. Ihre Augen wandern über mein Gesicht als würde sie darin die Wahrheit lesen können. Ich verstecke nichts vor ihr. Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass es ihr leid tut und auch, dass es wahrscheinlich wieder passieren wird.

„Haben wir uns wieder lieb?", fragt sie leise und drückt ihr Gesicht wieder tiefer in meine Halsbeuge. Ich bette meine Wange an ihrem Kopf und seufze theatralisch.

„Frag mich nächste Woche noch mal", sage ich leise, aber witzelnd. Anni versteht mich, was sie mir durch ein feines Nicken signalisiert. Ich drücke sie etwas fester an mich und schließe einen Moment beruhigt die Augen. Wir haben schon vieles durch gestanden, da schaffen wir diesen kleinen Bruch auch. Auch, wenn mich Annis Reaktionen ein klein wenig Vertrauen gekostet haben.
 

Eine Weile stehen wir schweigend an der frischen Luft. Kühler Wind trifft unsere Körper, aber ich friere nicht und das, obwohl seit geraumer Zeit meine Jacke offen steht.

„Ben?"

„Hm?"

„Erzähl mir, was passiert ist" Ich habe damit gerechnet, dass sie mich nach den vergangenen Tagen fragen wird und doch verkrampft sich augenblicklich meine gesamte Magengegend. Es schmerzt. Ich weiß nicht, wie ich das Alles verständlich zusammenfassen soll, da es mir ja selbst noch immer nicht zu Hundertprozent verständlich ist. Die Rothaarige löst sich von mir. Sie greift nach meinen Reißverschluss und schließt meine Jacke. Wie fürsorglich. Danach nimmt sie sich das letzte Taschentuch und tilgt auch die letzten Spuren ihrer Heulattacke. Nun ja, nicht alle. Ich deute ihr die entstandenen Pandaaugen an und zum Schluss müssen auch meine beiden Daumen dafür herhalten die Spuren bestmöglich zu vertuschen.

„Hast du noch einmal mit Antony gesprochen?"

„Ja.", bestätige ich knapp. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und deute Anni an, dass ich Richtung Mensa gehen möchte. Ich mache ein paar erste Schritte, doch Anni folgt mir zunächst nicht. Ich wende mich zu ihr um. Noch immer trübt etwas ihre Augen und ich weiß, dass es die Unwissenheit ist, die sie quält. Ich winke sie ran und ein wenig unwillig beginne ich, ihr alles zu erzählen. Das Aufeinandertreffen mit Antony in der Uni und seine Ausflüchte. Die Schuldzuweisungen oder eher gesagt seine Schuldzurückweisungen. Sein plötzliches Auftauchen in der WG. Die Bedeutung von Mateo, derer ich selbst noch nicht sicher bin. Außer dass er anscheinend eine große Rolle in Antonys Leben spielen muss. Negativ oder positiv. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Weiß nicht, was es bedeutet, dass er sich anscheinend nicht von dem anderen Mann lösen kann.

„Ich habe Mist gebaut", flüstere ich leise und sehe zu der Rothaarigen.

„Jetzt kommt der Teil mit Luka. Er hat dich rumgekriegt, oder?", fragt sie vorsichtig und es verwundert mich immer wieder, wie leicht sie mich durchschaut. Normalerweise, wenn sie mir ein sexuelles Abenteuer herauskitzelt, verziehen sich ihre Lippen zu einem verschmitzten Grinsen. Diesmal vernehme ich nur ein leises Seufzen. Für gewöhnlich erfragt sie jedes Detail, doch nun scheint sie kein einziges Wort hören zu wollen. Ich bin dankbar dafür, denn ich bin selbst noch nicht bereit.

„Ben, bitte, sag mir, dass es nicht meine Schuld ist, dass du mit Luka geschlafen hast." Sie sieht mich fast verzweifelt an.

„Soweit ist es nicht gekommen, aber...er hat...na ja..." Ich stocke, weil ich in diesem Moment nicht weiß, was ich ihr antworten soll. Noch, wie ich es ihr verständlich machen, was genau passiert ist. Vielleicht trifft sie eine Teilschuld. Obwohl, ich auch weiß, dass es ganz allein mein Fehlverhalten war. Ich habe nicht genügend über mein Handeln nachgedacht und bin aus den falschen und dümmsten Motiven mit Luka mitgegangen.

„Die letzten Tagen waren eine Katastrophe und weiß im Moment nicht mehr, wohin mit den ganzen Emotionen. Es überfordert mich, Anni. Ich...." Ich atme tief ein.

„My Dear, hör mir mal zu. Du bist der hoffnungsfrohste und positivste Mensch, den ich kenne und das macht dich so besonders, Benedikt. Ohne dich hätte ich meine schwere Zeit nicht überstanden, denn du hast mich stets aufgefangen und mir deutlich gemacht, wie wunderbar das Leben mit all seinen Facetten ist. Es läuft nur mal nicht alles glatt, aber das heißt nicht, dass es schlecht bleibt..." Kurz gesagt, ich habe auch schöne Momente mit Antony gehabt und daran soll ich mich halten. Hoffungsvolle Worte. In meinem Kopf formulieren sich Antonys Mögensbekundung und ich bekomme Gänsehaut. Was wäre passiert, wenn ich ihm nichts von meinem Fehltritt erzählt hätte? Wäre er bei mir geblieben? Im Grunde lässt mir dieser Gedanke keine Ruhe mehr. Aber ich bin mir sicher, dass selbst wenn es positiv geendet hätte, es irgendwann später herausgekommen wäre. So etwas bleibt niemals unausgesprochen.

„Ich will eine Zigarette", sage ich laut und sehe plötzlich in zwei erschrockene blaue Augen. Ungläubigkeit und leichtes Entsetzen. Sie schlägt mir sachte gegen die Schulter.

„Benedikt!!"

„War nur ein Spaß!", sage ich beschwichtigend oder eher lügend. Meine Fingerspitzen kribbeln. Annis Blick wird misstrauisch. Sie drückt mir ihren Finger in die Wange und ihre Lider senken sich.

„Benedikt Kaufmann, wehe, du fängst wieder an zu rauchen", sagt sie bedrohlich und in meinem Kopf ergänze ich den Satz mit 'oder ich erzähle es deiner Mama'. Das hätte Anni definitiv drauf, zumal sie sich sehr gut mit meiner Mutter versteht.

„Lass uns endlich etwas essen. Ich verhungere sonst noch.", murre ich, statt weiterhin über Zigaretten zu diskutieren. Anni nickt.
 

Ich kann mich für kein Essen entscheiden. Seit 10 Minuten stehe ich in der Mensa und bin heillos überfordert. Wahrscheinlich ist es auch meiner seltsamen Stimmung geschuldet, dass ich einfach keinen wirklichen Appetit habe. Ich beschließe nur ein belegtes Brötchen mitzunehmen, bezahle und suche einen freien Tisch. Ich lasse meinen Blick über die gefüllt Tischen wandern, sehe viele glückliche Gesichter und höre ein herzhaftes Lachen. Ich sehe zu der schönen Inderin und erkenne sie wieder. Ihre Freundin hat mir ihre Telefonnummer aufgedrückt, nachdem ich an ihrem Tisch sitzend eingeschlafen war. Sie haben mir meine Haare gerichtet. Diesmal sitzt sie mit zwei jungen Männern am Tisch. Ein Brünetter und ein Blonder mit wuscheliger Lockenmähne. Sie lachen schon wieder. Der Brünette sieht zu mir. Seine aufmerksamen und wachen braunen Augen sind beeindruckend. Ob ihn wohl Sorgen plagen? Bei dem Lächeln kann ich es mir kaum vorstellen. Ich bette meinen Kopf auf meinem Arm und schließe meine Augen. Ich höre, wie Besteck gegen Keramik schlägt. Annis Finger beginnen durch meine Haare zu streichen. Sanft und liebevoll.

„Hey Ben!", ruft es mir entgegen und ich sehe verwundert auf. Rick kommt auf unseren Tisch zu gelaufen. Die Wahrscheinlichkeit ein bekanntes Gesicht in der Mensa anzutreffen, ist so wahrscheinlich, wie einen Pinguin in der Arktis zu finden. In seiner Hand hält er ein vollbeladendes Tablett. Eine Suppe. Ein Hauptgericht und ein Nachtisch. Ein komplettes Drei-Gänge-Menü.

„Da hat aber jemand Hunger!", kommentiere ich sein Essensberg und sehe, wie Rick grinsend neben mir Platz nimmt.

„Mein Tag war schon lang, du Erstsemester, du." Rick lächelt und ich bin ein kleinwenig beleidigt. Auch ich habe viele Vorlesungen und Seminare, aber ich bin bei weitem nicht so lange unterwegs, wie Rick es immer ist. Er sieht zu meiner besten Freundin und reicht ihr die Hand. Sie stellen sich einander vor. Annis Körpersprache ändert sich fast augenblicklich. Ihre Schultern straffen sich und wenn sie sich etwas nach vorn neigt, fallen ihre Schultern nach vorn, so dass sich ihre Brüste etwas zusammendrücken. Sie ist im Flirtmodus. Selbst ihre Stimmenlange ändert sich. Sie wird weicher und ein kleinwenig tiefer. Ob das bei heterosexuellen Männern eine Auswirkung hat? Rick ist definitiv vom Äußeren her ihr Typ. Ich werde sie wohl noch mal daran erinnern müssen, dass er in einer langjährige und glückliche Beziehung steckt. Wir plauschen eine Weile über belangloses Zeug. Meine Stimmung hellt sich auf. Anni verabschiedet sich nach einer Weile zu ihrer nächsten Vorlesung und Rick hat nur noch seinen Nachtisch zum Vertilgen. Er taucht seinen Löffel in cremigaussehenden Pudding. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein heller Schokopudding ist oder vielleicht irgendwas mit Karamell. Anhand der Farbe ist es nicht auszumachen. Mit einem Mal taucht der Löffel vor mir auf.

„Ich habe Angst, dass du mich gleich anspringst und mir die Haare vom Kopf frisst", kommentiert Rick meinen starren Blick.

„Schoko oder Karamell?"

„Weder noch! Cappuccino!", sagt er verschwörerisch. Ein weiteres Mal schiebt er mir den Löffeln hin. Als ich danach greifen will, zieht er seine Hand zurück.

„Nee, nee, du gibst mir nachher den Löffeln nicht mehr wieder!"

„Du hast schlechte Erfahrungen gemacht, oder? Lass mich raten, Cora ist eine gemeine Futterdiebin!" Anni ist vom gleichen Typ. Niemals selber bestellen und Hunger verneinen, aber wenn anderen etwas haben, haben sie plötzlich doch riesigen Appetit.

„Es ist schrecklich. Sie mampft mir einfach immer alles weg! Ich bin furchtbar traumatisiert!", gibt er theatralisch von sich und reicht mir dann den Löffel. Ich stecke mir den Pudding in den Mund. Er hat einen angenehmen, dezenten Kaffeegeschmack. Wirklich lecker. Der sahnige Geschmack breitet auf meiner Zunge aus. Ich schließe für einen Moment genießerisch die Augen. Es fällt mir wirklich schwer den Löffel wieder aus der Hand zu geben.

„Du siehst wirklich arg traumatisiert aus." Wir lachen beide und ich gebe Rick brav den Löffel zurück.

„Ich wollte heute Abend für euch kochen. Nur ganz einfach Kartoffeln mit Buttergemüse und Minutensteaks. Aber ich hadere noch damit", plaudere ich und sehe dabei zu, wie Rick seine Schale Pudding eins fix zwei leer futtert.

„Oh, das klingt lecker! Warum überlegst du noch?"

„Ich will euch ungern umbringen", gebe ich ehrlich von mir. Rick stockt und fängt dann laut an zu lachen.

„Du willst für uns kochen, obwohl du es gar nicht kannst? Kritisch!"

„Keine Ahnung, was mich da geritten hat, aber ja." Ich lache selbst ein wenig, weil es so absurd klingt.

„Ich helfe dir, wenn du magst! Vielleicht überleben wir das Ganze dann!" Ich sehe, wie er lächelt und dann noch einen winzigen Rest aus seiner Schale kratzt. Vermutlich würde er sie auslecken, wenn nicht so viele neugierige Augen um uns herum wären. Gesättigt und zufrieden lehnt er sich zurück. Seine Hand gleitet über seinen noch immer flachen Bauch. Ich wusste nicht, dass Rick kochen kann, aber wenn er es nur halbwegs hinkriegt, garantiert es uns vielleicht ein verträgliches Mahl.

„Das wäre echt toll!", gebe ich erleichtert zu. Ich meine es wirklich ehrlich. Die Gespräche mit Rick tun mir gut. Auch, wenn er im Grunde gar nicht so viel macht. Aber allein die Tatsache, dass er mich nicht seltsam oder abwertend anblickt und mir zu hört, hilft mir.

„Sonst geht's dir gut?" Er lehnt sich mit beiden Armen auf den Tisch. Seine Frage reißt mich aus den Gedanken.

„Ja, ich bin nur etwas verträumt!"

„Schlecht geschlafen?" In seiner Stimme schwimmt Fürsorge.

„Nur irgendwie unruhig!", gestehe ich. Ich muss ihm nicht erklären warum. Meine Gedanken wandern wieder zu Antony. Die Vorstellung, morgen mit ihm in einem Seminarraum sitzen zu müssen, bereitet mir bereits jetzt extremes Herzrasen. Ich sehe mich schon die gesamte Nacht kein Auge zu tun. Dabei bräuchte ich dringend etwas Ruhe und Schlaf.

„Gib dir etwas mehr Zeit. Manche Dinge lösen sich erst nach einer Verschnaufpause!" Er hebt seinen Zeigefinger.

„Hast du selbst gesagt!", legt er dann erklärend nach und ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was er meint. Während des Eifersuchtsdramas mit Cora habe ich ihm etwas Ähnliches geraten. Er solle sie etwas in Ruhe lassen. Ihr Zeit geben und dann alles in entspannter Atmosphäre klären. Wahrscheinlich sollte ich meinen eigenen Rat annehmen.

„Ich hab bis 18 Uhr Vorlesung, aber danach können wir mit kochen loslegen.", teile ich ihm mit. Ricks Hände vollführen eine Karatebewegung und ich zweifele daran, dass wir mit allen Fingern aus der Kochaktion herauskommen. Zum Abschied legt er mir seinen Arm um und drückt mich sachte an sich. Irgendwie vorsichtig. Wahrscheinlich ist es ihm doch nicht ganz geheuer. Ich kann es ihm nicht verübeln. Lächelnd danke ich ihm und entlasse ihn in seine Vorlesungen. Ich bringe unsere Tabletts weg und gehe zurück zur WG.
 

Mein Weg führt mich über den Parkplatz. Eine Autotür, die sich öffnet. Ich sehe auf. In dem Moment, in dem mein Blick auf das schwarze, bekannte Auto fällt, richtet er sich auf. Antony. Seine kühlen, blaugrünen Augen sind trüb. Er sieht mich an und entgegen meiner Erwartungen steigt er nicht sofort ein. Seine linke Hand umgreift die Gepäckhalterung auf dem Autodach. Ich spüre, wie mit jeder Sekunde unseres Augenkontaktes mein Herz aus meinem Brustkorb zu springen scheint. Schmerz und Wut, aber vor allem ist es das grausame Gefühl des Vermissens, welches sich durch meinen Körper arbeitet. Meine Gefühle für den anderen Mann sind nicht weniger geworden. Im Gegenteil, sie sind vielfältiger und tiefer als je zu vor. Antony wendet seinen Blick ab und steigt in sein Auto.
 

PS vom Autor: Ich danke euch tollen Menschen dafür, dass ihr meine Geschichte lest und mir das Gefühl gebt, dass ich etwas Freude verbreiten kann :D Ihr seit wunderbar!

Der feige Weg in die falsche Richtung

Kapitel 22 Der feige Weg in die falsche Richtung
 

In der WG angekommen, führt mich der erste Gang in mein Zimmer. Direkt in mein Bett. Ich lasse mich auf das zerwühlte Nachtlager fallen, schließe die Augen und spüre sofort, dass ich nicht einschlafen werde. Die Frustration darüber, unendlich müde zu sein und dennoch nicht schlafen zu können, legt sich auf meine Glieder, wie tonnenschwere Steine, die mich tiefer und tiefer in die katatonische Dunkelheit ziehen. Was spricht dagegen für eine Weile einfach still liegen zu bleiben? Ein paar Stunden. Ein paar Tage? Nichts spricht dagegen, außer der Tatsache, dass auch ein temporärer deprimierter Anfall nicht gesund ist und ich es gar nicht erst dazu kommen lassen will. Mit diesen Gedanken richte ich mich wieder auf und sehe auf die Uhr. Es ist noch viel Zeit bis Rick endlich aus der Uni eintrudelt. Wann Marie zurückkommt, weiß ich nicht. Da ich ihr aber Bescheid gegeben haben, nehme ich an, dass sie rechtzeitig eintrudelt. Ein weiteres Mal sehe ich auf die Uhr. Keine Veränderung.
 

Ich beschließe in Ruhe duschen zugehen und meinen Körper etwas auf Vordermann zu bringen. Eine Rasur war dringend notwendig und insgesamt kann mir eine Grundreinigung nicht schaden. Vielleicht schaffte ich es ja, die Geschehnisse der letzten Tage von mir zu waschen. Reines Wunschdenken, aber was schadete es? Als ich mich entkleide und vor der Badewanne stehe, entscheide ich mich um und lasse Wasser in die Keramikschüssel laufen. Ich greife nach einem Badezusatz 'Glückliche Auszeit', der auf dem Wannenrand steht und der eindeutig von Marie ist. Ich erschnuppere den zarten Duft von rotem Mohn und Hanf. Wenn das mal keine Ansage ist. Während die Wanne vollläuft, durchstöbere ich ganz unschicklich das kleine Körbchen, in dem Marie weitere Pflegeprodukte aufbewahrt und finde noch ein paar weitere Zusätze. Kuschelbad. Stressfrei. Tiefenentspannung. Nichts davon würde ich in diesem Moment ablehnen. Ich schnuppere mich durch die umfangreiche Auswahl und kann mich im Endeffekt nicht entscheiden. Kurzerhand kippe ich von jedem ein Bisschen hinein und bin der Überzeugung, dass das die beste Variante gewesen ist. Die Gerüche sind so durcheinander, dass ich nicht mehr heraus riechen kann, was zu was gehört.

Stressfreie und kuschelige Tiefenentspannung voller Glück. Was will ich mehr?

Sie hält eine viertel Stunde an und dann wandern meine Gedanken langsam wieder zurück zu dem Portugiesen. Antonys Blick. Ein tiefreichender Stich, der sich derartig mit Sehnsucht umhüllt, dass ich unbewusst lautstark aufstöhne. Meine Hand gleitet an die Stelle über meinem Herzen. Wann wird es nicht mehr wehtun?
 

Die allumfassende Wärme des Wassers macht mich noch schläfriger. Als ich meine Augen schließe, denke ich darüber nach, wie sein Haar riecht und wie seine Lippen schmecken. Ich fühle, wie der Geschmack über meine Zunge schleicht, blüht und giert und wie der Duft, so klar erinnert, eine Welle der Zufriedenheit durch meinen Körper jagt. Was musste ich mich auch so sehr in diesen Kerl verlieben? Es ist nicht mal logisch. Wir kennen uns kaum, schreit mein Gehirn und mein Herz antwortet, dass das nun so bleiben wird. Ein Seufzer perlt von meinen Lippen. Ein Abenteuer schallt es durch meinen Kopf. Ein Schmerzhaftes. Ich lasse meine Augen geschlossen.

Ein Klopfen und ich schrecke hoch. Wasser spritzt durch die heftige Bewegung über den Wannenrand und benetzt den Boden. Ein weiteres Klopfen.

„Ben?" Ricks Stimme. Er klingt besorgt.

„Ja,...", sage ich fahrig und benommen. Ich sehe mich um, greife nach meinem Handy und stelle fest, dass ich fast 45 min geschlafen habe. Mittlerweile ist das Wasser nur noch eine lauwarme Brühe. Ich sehe, wie die Tür einen Spalt aufgeht und dann Ricks Profil hervorlugt. Er schaut absichtlich nicht zu mir.

„Alles okay?"

„Ja, ich bin nur eingeschlafen. Wirklich wirksam diese pure Tiefenentspannung", kommentiere ich Ricks Frage und sehe, wie er wissend grinst.

„Hast du dich an Maries Badeölen gütlich getan?", kommentiert er und ich erröte prompt.

„Erwischt und jetzt weiß ich, was wir ihr zum Geburtstag schenken können", merke ich an, lasse das kalte Wasser kurz plätschern und ziehe den Stöpsel. Ich sehe auf meinen nackten Körper hinab und bin mit der Körperpflege kein Stück weiter gekommen. Meine Fingerspitzen sind komplett verschrumpelt. Unbewusst lasse ich meine Zunge über die Fingerkuppe des Mittelfingers wandern. Ein witziges Gefühl.

„Guter Plan! Cora hat auch eine Menge von diesem Kram auch und ich gestehe, dass ich mich ebenfalls ab und an gern von Kuschelbad benebeln lassen", plaudert er amüsiert und lässt mich grinsen. So so, Rick ist als ein ganz kuschliger. "Ansonsten geht es dir gut, ja?"

„Ja, bestens. Wirklich!", versichere ich und fahre mir mit den kalten Händen übers Gesicht.

„Gut, es war nämlich etwas besorgt. Zimmer leer. Badezimmertür zu. Kein Geräusch zu hören. Das hat Horrorfilmpotenzial." Fatal. Ich verstehe, warum er sich Sorgen gemacht hat.

„Stab 1 lässt grüßen, nur das ich keine Heather Graham bin.", plappere ich und greife über die Wanne hinaus zu dem Handtuch, welches ich vorher sorgfältig in Reichweite gelegt habe. Ich denke an die Scream- Filme und beschließe sie demnächst mal wieder auszuleihen. Sie haben während meiner Schulzeit oft für Lacher bei mir gesorgt. Rick lacht ebenfalls. Wenn er das verstanden hat, dann habe ich einen Verbündeten für den Scream- Marathon.

„Wenn du eine Heather Graham wärst, dann dürfte ich hier nicht mehr wohnen...Okay, ich warte in der Küche auf dich", gibt mein Mitbewohner lachend von sich und schließt die Tür. Ich stehe auf und stelle endlich die Dusche an. Als mich das warme Wasser trifft, seufze ich genüsslich auf und bleibe erstmal zwei Minuten einfach stehen.

Obwohl ich weiß, dass Rick wartet, ziehe ich im Schnelldurchgang mein gesamtes Programm durch und spüre, wie ich mich gleich besser fühle. Ich werfe mir T-Shirt und Jeans über, gehe zu Rick in der Küche, der Kaffee schlürfend die neue Fernsehzeitung liest. Oder eher durchblättert.

„Und kommt etwas Spannendes?", frage ich und blicke über seine Schulter auf das aktuelle Programm. Rick stützt seine Wange auf seine Handfläche und sieht zu mir.

„Also, wenn du auf Barbies traumhafte Glitzerwelt stehst, dann haben wir heute viel zu gucken." Er grinst und ich ziehe angewidert die Oberlippe nach oben.

„Entschuldige, aber ich stehe mehr auf Ken, wie du weißt. Also wenn Ken, der Baumeister dabei ist, gern", kommentiere ich und ernte ein herzhaftes Lachen von meinem Mitbewohner. Das Lachen wandelt sich alsbald in ein äußerst witziges Kichern und Rick legt mir die Hand auf die Schulter, während ich versuche, ein halbwegs ernstes Gesicht zu machen.

„Hihi, der war gut, Ben" Auch ich lasse meine Augen über das Fernsehprogramm wandern und festige meinen Plan, demnächst die Horrorfilme auszuleihen. Rick ist der Einzige in unserer WG, der überhaupt einen Fernseher besitzt. Ich bin bereits seit Jahren der Überzeugung, dass es sich nicht mehr lohnt ein derartiges Gerät zu besitzen, weil sich andauernd alles wiederholt und nur noch Mist kommt. Hartz 4-TV und anderer niveauloser Scheiß. Ich richte mich auf und wandere zum Kühlschrank. Ich krame die gekauften Lebensmittel heraus und sehe Rick erwartungsvoll an.
 

„Auf in den Kampf, oder?", kommentiert Rick meinen Blick und richtet sich auf. Er schnappt sich ein Messer und lässt sich von mir instruieren. Wie erkläre ich ihm, dass ich im Grunde keinen Plan habe? Egal, was ich sage es wird so oder so schnell deutlich. Ich stelle das gefrorene Gemüse auf dem Herd und stelle die Platte an. Rick macht die Platte wieder aus und gibt etwas Wasser dazu. Gemüse braucht nicht so lange, wie die Kartoffeln. Wir schälen Kartoffeln und Rick philosophiert eine Weile über die allgegenwärtige Notwendigkeit von Butter beim Kochen. Cora und ihre Mutter würden stets fettfrei kochen. Seine Mutter schwört auf Butter. Sie nimmt immer reichlich. Cora meckert jedes Mal. Als die Kartoffeln still vor sich hin kochen, widmen wir uns dem Gemüse. Gerade als er einen großen Schwung Butter in die gesunde Komponente des Mahls haue, kommt Marie rein und beginnt den Kopf zu schütteln.

„Das habe ich jetzt nicht gesehen,...", flötet sie uns entgegen und verschwindet wieder aus der Küche. Rick grinst, schabt noch eine weitere Flocke Butter ab und streicht sie am Rand des Topfes ab. Dann sieht er dabei zu, wie sie durch den heißen Dampf langsam in den Topf rutscht. Perfide. Immerhin darf sich das Gemüse jetzt ernsthaft Buttergemüse schimpfen. Als wir das Braten des Fleisches hinter uns gebracht haben, rufen wir Marie und bestreiten ihren Vorwurf, dass das gesamte Menü verbuttert ist. Wir argumentieren mit garantiertem Geschmack und Ausgewogenheit. Schließlich ist an den Kartoffeln schließlich keine.

Ich genieße die heitere Stimmung und kleinen Spitzen, die der Reihe nach umgehen. Es lässt mich für ein paar Augenblicke vergessen. Nur ab und an wirft mir Rick einen prüfenden Blick zu. Ein ebensolcher von Marie. Obwohl ich mit ihr nie explizit darüber gesprochen habe, bin ich mir sicher, dass sie sich durch Antonys Besuch und allem drum herum einiges Zusammenreimen kann. Keine der beiden fragt nach meinem Befinden. Ich bin ihnen dankbar. Mir waren die Probleme, der anderen schon immer lieber als meine eigenen und so vernehme ich mit einem gewissen Grad an Zufriedenheit, wie Marie sich über ihre Dozentin beklagt, die ihren Studenten eine Hausarbeit nach der nächsten vor die Füße wirft und sich dann gefühlte Ewigkeit zum Korrigieren lässt. Sie gibt kaum Vorlesungen, sondern reduziert ihre Lehrmethode auf reines Selbststudium. Marie ist frustriert. Ich kann es nachvollziehen. Rick wettert und präsentiert ein eigenes Beispiel konfuser Lehrarten. Da kann ich mit meinem eingetragenen und kaum anwesenden Professor noch sehr zufrieden sein.
 

Als ich nach einer ausreichenden Verdauungspause vorschlage als Nachtisch das gekaufte Vanilleeis zu verspeisen, beichtet mir Marie, dass sie gestern Nacht in einem Frustanfall die halbe Packung geleert hat. Rick und ich beschließen, dass sie dafür nur einen Happs bekommt und sie gibt sich erstaunlich schnell damit zufrieden. Den Rest vertilgen Rick und ich, während wir lachend darüber philosophieren, dass Menschen die kein Eis mögen Aliens sein müssen.

Erst weit nach Mitternacht lösen wir unsere heitere Runde auf. Als ich noch einmal kurz im Bad verschwinde, kann ich höre, wie Rick eine telefonische Diskussion führt. Anscheinend hat er vor lauter heiterer Quatscherei vergessen sich bei Cora zu melden. Die Eifersucht schlägt wieder zu. Ein definitiver Minuspunkt für Beziehungen. Zum Glück sind alle Menschen gleich. In Maries Zimmer ist das Licht bereits aus. Ich kehre in mein ruhiges Zimmer zurück und sehe, dass auch mein Handy munter vor sich hin blinkt. Anni. Sie fragt nach meinem Befinden und ich entscheide mich dafür, ihr morgen erst zu antworten. Als ich beim Schließen der Nachricht im Telefonbuch lande, ist es Antonys Name, der mich stocken lässt. Er befindet sich direkt hinter dem meiner problematischen Tagesabschnittsfreundin. Ich sollte seine Nummer löschen. Nicht, dass ich jemand bin, der bei Trennung mit Telefonterror antwortet oder dergleichen, aber allein der Anblick seines Namens hat bereits dafür gesorgt, dass mich dieses beklemmende Gefühl überschwemmt. Ich spüre, wie sich mein Herz gegen meinen Brustkorb rammt. Sein Name ausgesprochen, geflüstert, nur gedacht und mein Körper randaliert. Mir wird in diesem Augenblick klar, dass ich morgen im Seminar auf ihn treffen werde. Eineinhalb Stunden. Im Moment klingt es nach einem unmöglichen Unterfangen. Mein Daumen schwebt geschlagene 5 Minuten über den 6 Buchstaben und dann lasse ich das Telefon unter meinem Kopfkissen verschwinden. Ich drehe mich auf die Seite, ziehe meine Beine nach oben und bleibe in dieser erbärmlichen Fötusstellung liegen. Ich drücke meine Nase in das frischgewaschene Kopfkissen, seufze unentwegt und starre an die Wand. So lange bis ich einschlafe. Wann weiß ich nicht. Als ich am Morgen erwache, habe ich das Gefühl nicht einen Moment lang wirklich geschlafen zu haben. Ich ziehe das Kopfkissen in meine Arme, drücke es fest und bleibe noch eine Weile liegen.
 

Die Vorlesungen am Vormittag stehe ich durch. Doch mit jeder Minute, in der das Seminar näher rückt, werde ich unruhiger. Ich spüre es, dieses bedrückende Gefühl, welches danach schreit, dass ich mich ihm nicht aussetzen will. Dass ich seinen Blick nicht auf mir spüren will und dass ich nicht bei jedem Wort darüber nachdenken möchte, was passiert wäre, wenn. Meine Fingerspitzen tippen abwechselnd von Daumen zu kleinem Finger gegen meinen Oberschenkel. Eine stille Melodie der Feigheit, die mir bald einen gedankenverlorenen Ausweg bietet. Vor der Tür zum Seminarraum bleibe ich stehe. Unwillkürlich und wie aus Geisterhand. Es ist wie eine unsichtbare Sperre, die mich daran hindert den Raum zu betreten. Sie ist nur in meinem Kopf. Ich höre die Stimmen. Leises Getuschel. Lautes Lachen. Als die Tür auf geht und mir ein Kommilitone entgegen kommt, schrecke ich zurück. Ich werfe nur einen kurzen Blick in den Raum und natürlich sehe ich Antony, der lässig an einen der vorderen Tische lehnt und sich mit zwei Studentinnen unterhält. Sein Lächeln wirkt seltsam müde und das Bedürfnis mich in seine Arme zu werfen und darum zu betteln, dass er mir verzeiht, wird so stark, dass ich mich langsam, aber sicher darin verliere. Ich kann das nicht. Ich kann nicht in seiner Nähe sein.

Also wende ich meinen Blick ab und gehe. Erst als ich draußen vor der Uni stehe, habe ich das Gefühl, wieder atmen zu können. Ich höre, wie sich eine Autotür öffnet und schließt. Der gestartete Motor röhrt und ich kann der schwarzen Limousine nachsehen, als sie an mir vorbeifährt. Getönte Scheiben und ein fremdes Kennzeichen. Solche Wagen sieht man hier an der Universität nicht so oft. Ich sehe ihm nach.
 

Die nächsten Unitage verbringe ich, mehr schlecht als recht, hinter mich. Ich bin unkonzentriert und abgelenkt. Sobald ich das Universitätsgebäude betrete, spüre ich, wie sich mein Puls beschleunigt und ich ständig hin und her schaue, in Furcht und quälenden Hoffnung, den anderen Mann zu sehen. Es macht mich fertig. Als Selbstbestrafung zwinge ich mich das gesamte Wochenende dazu, alle Skripte und Vorlesungsfolien durchzuarbeiten. Ich habe das Gefühl schon ein halbes Semester verpasst zu haben. Dabei waren es nur ein paar unkonzentrierte Wochen. Mir graut es bereits vor den Prüfungen. Am Sonntagabend bin ich mir sicher, dass ich den Einführungskurs von Professor Stroud im dritten Semester nachholen werde. Allein die Vorstellung jede Woche auf Antony zu treffen und am Ende bei ihm eine Prüfung abzulegen, mündlich und im direkten Kontakt, häutet mich bei lebendigem Leib. Es gerät alles durcheinander. Familie. Uni. Alles. Ich bin frustriert und langsam verzweifelt.
 

Am Sonntag lasse ich meinen Kopf gerade mitleidig auf die harte Tischplatte meines Schreibtischs klopfen als zwei Mails auf meinem Laptop eingehen. Die eine informiert mich darüber, dass die kommende Montagsvorlesung der Einführungskurses von Professor Stroud abgehalten wird und die andere ist von einem Kommilitonen, der für eine Hausaufgabe nach langem hin und her mich als Partner zugewiesen bekommen hat. Mir bleibt auch nichts erspart. Ich werde ihm sagen müssen, dass ich den Kurs dieses Semester nicht zu Ende bringe. Ich hadere mit mir. Es ist im Grunde schrecklich albern und im höchsten Maß unreif. Ich sollte besser damit umgehen können. Warum kann ich mich nicht einfach durchbeißen? Ich müsste mich erwachsen und meinem Alter entsprechend verhalten, aber ich schaffe es einfach nicht. Nach einer Weile apathischem auf den Bildschirm starren, schreibe ich dem Kommilitonen eine Absage und verfluchen selben Moment meine Feigheit.
 

Nach den ersten Vorlesungen am Montag verlasse ich gemeinsam mit einem meiner Kommilitonen den Hörsaal. Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Vielleicht hat er ihn mir auch nie genannt. Bei den vielen neuen Gesichtern wird er es mir hoffentlich nachsehen. Sehr wahrscheinlich sogar, denn es fällt ihm seit Minuten nicht auf, dass ich nicht zu höre. Er schwadroniert überschwänglich über die allzu offensichtliche Unfähigkeit des Dozenten den Stoff auch nur im Geringsten spannend zu gestalten. Ich kann nicht mehr als ihm beipflichten. Ökonomie ist trocken und zusammen mit diesem Dozenten wird es zur Wüste Gobi. Interessanter Weise und wie ich erst letztens gelesen habe, ist der trockenste Ort der Welt jedoch ein Tal in der Antarktis. Maries National Geographic sind immer wieder spannend. Außerdem ist es selten so, wie es scheint, schallt es durch meinen Kopf und nur schwer kann ich mir ein resigniertes Seufzen verkneifen. Mein Gesprächspartner ist mittlerweile bei der mäßigen Präsentation unserer Dozenten angekommen. Oder schon wieder. Seine Beschwerde gleicht einer Dauerschleife. Ich persönlich bin über jede Art von Folie erfreut. Alles, was man während der Vorlesungen nicht versteht und nicht schafft mitzuschreiben, kann man später gut nach lesen. Ohne Folien ist das jedoch unmöglich. Mein Kommilitone bringt in ad hoc genau dieses Argument und ich komme nicht umher zu grienen. Ich lasse meinen Blick schweifen und sehe Antony im Gang stehen. Er unterhält sich mit einem anderen Dozenten. Unbewusst verlangsamen sich meine Schritte. Es nützt nichts, denn in diesem Moment sieht er auf. Seine kühlen blaugrünen Augen erfassen mich und ich widerstehe dem Drang mich sofort umzudrehen und wegzulaufen. Er richtet noch ein paar Worte an seinen Gegenüber. Ein Nicken und er sieht wieder zu mir. Als ich an ihm vorübergehe, halte ich unbewusst die Luft an, schließe meine Augen und spüre auf einmal seine Hand an meinem Oberarm. Er hält mich zurück. Mein Herz setzt aus und schlägt erst in dem Moment weiter, in dem ich ausatme. Natürlich bleibe ich stehen.

„Herr Kaufmann, darf ich Sie einen Moment sprechen?", fragt er ruhig und ich spüre einen feinen Schauer, den seine Stimme in mir auslöst. Ich will, dass er meinen Namen sagt und hasse mich im nächsten Moment dafür. Mein Gesprächspartner merkt erst ein paar Meter weiter, dass ich nicht mehr neben ihm laufe und wendet sich um. Mein Name dringt gerufen durch den Flur und zur gleichen Zeit von Antony geflüstert an mein Ohr. Unwillkürlich schließe ich meine Augen, spüre das intensive Kribbeln in all meinen Gliedern und atme schwer. Ich wende mich zu dem Mann, der in diesem Moment direkt neben mir steht. Sein Blick verrät mir nicht, weswegen er mich sprechen will. Da wir aber mitten auf dem Flur stehen, wird es um die Uni gehen. Ich verdeutliche meinen Kommilitonen, dass ich ihn nicht weiter begleiten werde und bleibe versucht ungerührt bei Antony stehen. Auch er lässt seinen Blick kurz schweifen, sieht zu meinem vorigen Gesprächspartner und dann zu dem anderen Dozenten, der nur ein paar Meter von uns entfernt steht und sich mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin austauscht.

„Lass uns in mein Büro gehen, bitte." Mein Blick sagt deutlich, dass ich das nicht für notwendig erachte, doch Antony wiederholt die Bitte und ich knicke ein. Er lässt mich vorgehen. Seine Hand berührt für diesen Moment meine Schulter, während er mich scheinbar durch eine Masse Studenten führt. Mein Puls steigt mit jedem Schritt, den wir auf die Tür seines Büros zu machen. Ich muss nicht lange darüber nachdenken, worüber er mit mir sprechen will. Sicher hat man ihm von meiner Absage gegenüber dem anderen Studenten erzählt. Leise schließt er die Tür.

„Mir wurde zugetragen, dass du die Zusammenarbeit für das Projekt abgelehnt hast. Wieso? Hast du ein Problem mit dem Kommilitonen?"

„Nein."

„Was dann? Es ist eine Partnerarbeit, die kannst du nicht allein machen." Nicht allein ist die Definition von Partnerarbeit. Ich schweige ihn an und weiche einfach nur seinem Blick aus.

„Benedikt, was soll das?" Mein ausgesprochener Name erzeugt einen heftigen Schauder, der meinen gesamten Körper beansprucht. Ich mag es nicht einfach, wenn jemand meinen vollständigen Namen ausspricht, doch wenn er ihn sagt, ist das Gefühl ein anderes und es ist viel intensiver. Heiß und sehnsüchtig.

„Du hast bereits unentschuldigte Fehlstunden und du weißt, dass das Seminar eine Anwesenheitspflicht hat. Also, was soll das?", fragt er mich und klingt schrecklich pädagogisch. Es nervt mich.

„Na ja, einmal noch und die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns sehen müssen minimiert weiter. Das ist doch das, was du willst." Noch einmal Fehlen und er kann mir das Seminar als nicht bestanden listen. Antony seufzt deutlich entgeistert.

„Was geht es dir darum? Du setzt deine Ausbildung aufs Spiel!"

„Ich hole den Kurs im dritten Semester nach", schmettere ich sein Kommentar ab.

„Dann werde ich das Seminar noch immer leiten. Die Vorlesungen übernimmt der Professor, aber für den Rest bin ich zuständig. Diese Taktik funktioniert also nicht", erläutert er mir aufgeregt und greift nach meinem Handgelenk. Unbewusst zieht er mich näher an sich heran. Mein Herz beginnt zu pulsieren. Unrhythmisch und nervös. Ein Stechen erfasst mich als mir die wohlige Wärme bewusst wird, die sich augenblicklich von meinem Arm über meinen ganzen Körper ausbreitet.

„Es ist keine Lösung", sagt er noch etwas deutlicher hinterher.

„Vielleicht nicht, aber... vielleicht schaffe ich es dann in deiner Nähe zu sein ohne das Gefühl zu haben keine Luft zu bekommen...es tut einfach zu sehr weh", sage ich ehrlich. Sein Griff wird fester. Für einen Moment wird die Kühle seiner Augen weich und warm.

„Ben, ich bitte dich...", setzt er an, doch die Tür, die aufschwingt, unterbricht ihn. Ich löse meine Hand aus seinem Griff.
 

„Antony hast du, eventuell.... Oh, verzeihen Sie." Als Professor Stroud den Raum betritt, weiche ich automatisch noch ein Stück weiter zurück. Antony Augen schließen sich für einen Moment und er atmet angestrengt aus. Erst danach wendet er sich dem Professor zu.

„Wenn das alles ist, dann werde ich jetzt gehen", komme ich beiden zu vor, sehe keinen von beiden an und wende mich zur Tür.

„Wir sind noch nicht fertig, Herr Kaufmann. Einen Augenblick. Was brauchen Sie, Professor?" Obwohl mich seine bestimmenden Worte maßlos ärgern, bleibe ich stehen.

„Kaufmann? Sie sind einer der Studenten aus dem Einführungskurs. Oh, ich glaube, ich habe eine ihrer Hausaufgaben gelesen", beginnt Professor Stroud zu erzählen und ich sehe ihn verwundert an. Er erinnert sich an meinen Namen? Bei der Masse an Studenten ist das reichlich eigenartig. Ich ertappe mich erneut dabei, dass ich mich wundere, wie adrett und jung er wirkt. Seine graumelierten Haare sind modisch zurück gekämmt und auch sein legerer Look überrascht mich. Jeans und ein einfach dunkelblaues Hemd. Antony nickt an meiner Stelle bestätigend und sieht zu mir.

„Oh, ich erinnere mich. Sie haben in der ersten Hausaufgabe ein paar interessante Aspekte angesprochen. Sie haben sie aber nicht weiter ausgeführt. Sehr schade! Antony, Sie haben mich darauf aufmerksam gemacht, oder?", säuselt er weiter und sieht immer wieder überlegend nach oben.

„Wir hatten eine Wortzahlbegrenzung", kommentiere ich lapidar. Der Professor lacht auf, während Antony seufzt.

„Ja, Herr Rochas macht das gern."

„Bei 40 Arbeiten pro Seminar muss ich es begrenzen, damit mir nicht einige Studenten zweistellige Seiten Beiträge abliefern", erklärt Antony und klingt für einen Moment, wie trotziges Kind. Sein Blick wandert unauffällig zu mir. Stroud hat gut reden, denn er muss diese ganzen Arbeiten nicht lesen und nicht korrigieren.

„Das ist vollkommen legitim." Er lacht ein weiteres Mal auf und macht dann eine beschwichtigende Geste. Es ist offensichtlich, dass sie ein mehr als arbeitsbezogenes Verhältnis haben. Ich fühle mich unwohl und fehl am Platz. Ich wende meinen Blick ein weiteres Mal ab und merke erst, als Antony erneut das Gespräch auf Strouds Anliegen lenkt, dass ich mir abwehrend die Arme vor den Bauch gelegt habe.

„Was kann ich für Sie tun, Professor?", hakt Antonys nach um das Ganze zu beschleunigen. Sein Blick liegt auf mir und er wandert nur zögernd zu dem älteren Mann zurück. Auch seine Arme verschränken sich vor seiner Brust.

„Ich suche ein paar Unterlagen und das aktuelle Vorlesungsverzeichnis, aber das kann warten."

„Ich werde es Ihnen gleich vorbeibringen", schlägt Antony vor, während sich der Professor bereits zur Tür begibt. Er winkt es nur ab und verschwindet. Die Tür schließt sich mit einem leisen Klicken und unwillkürlich lausche ich den Schritten, die irgendwann verstummen. Stille.
 

Keiner von uns beiden sagt etwas. Es ist noch unangenehmer als vorher. Mit ihm allein in diesem Raum zu stehen, packt mich bei den vielfältigen Emotionen, die ich seit Tagen empfinde und vor denen ich andauernd davon laufe. Nichts würde ich in diesem Moment lieber tun als wegrennen, doch meine Füße bewegen sich nicht. Er hat mir, bevor wir unterbrochen wurden, etwas sagen wollen. Ich fürchte mich vor seinen Worten und dennoch sehne ich sie mir herbei in der blinden Hoffnung, dass sie etwas Positives hinterlassen. So absurd es auch ist. Mein Herz schlägt noch immer schmerzend für ihn und das wird es auch noch lange tun. Das weiß ich. So ist es immer bei mir.

Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Antony seine Arme sinken lässt. Im Grunde fallen sie fast resignierend nach unten und auch seine Körperhaltung krümmt sich. Der Stolz und auch die innere Stärke scheinen für einen Augenblick vollkommen verschwunden. Es geht ihm nicht gut und obwohl ein klein wenig Genugtuung in mir kitzelt, überwiegt die lähmende Traurigkeit darüber, wie es mit uns geendet hat.

Seine Finger durchfahren sein Haar, bringen es durcheinander und wecken in mir den Wunsch, es für ihn zu tun. Er atmet tief und langsam sehe ich, wie sich seine Schultern wieder straffen. Doch Stolz und Stärke sind nur ein schattenhaftes Flackern.

„Ich bitte dich inständig darüber nachzudenken, ob du den Kurs wirklich abbrechen willst. Ich habe deine Fehltage noch nicht eingetragen. Falls du dich für den Kurs entscheidest, bleiben sie vergessen, aber wenn du nächste Woche auch nicht kommst, dann werde ich deine Entscheidung akzeptieren und den Abbruch vermerken." Erst nachdem er fertig ist, sieht er mich an. Ich nicke nur knapp und er tritt seufzend hinter seinen Schreibtisch. Das Gespräch ist beendet und das, was er vorhin sagen wollte, bleibt unausgesprochen.
 

Ich trete aus seinem Büro. Meine Hand verweilt einen Moment an der geschlossen Tür und als ich mich umwende, sehe ich den Professor im Türrahmen seines Büros stehen. Er sieht mich direkt an.

Die Komplexität der Einfachheit

Kapitel 23 Die Komplexität der Einfachheit
 

„Professor", murmele ich zur Kenntnis nehmend. Die dunklen Augen des älteren Mann mustern mich aufmerksam. Sie wirken seltsam wissend und verstehend. Doch er kann es nichts wissen. Woher sollte er auch?

Ein unangenehmes Schaudern erfasst mich und lässt meine Händen einen Augenblick lang zittern. Ob er solche Szenen öfter miterlebt? Die junge blonde Frau, die damals mit tränenfeuchten Wangen aus Antonys Büro stürmte, kommt mir in den Sinn. Ebenso kommt auch unser Gespräch über seine Beliebtheit. Ich erinnere mich an sein verschmitztes Lächeln und die Versicherung, dass er außer mir niemand anderen so an sich herangelassen hat. In dem Moment war es ein gutes Gefühl gewesen. Nun weiß ich nicht mehr, was ich davon halten soll. Professor Strout nickt und ich setze mich gerade in Bewegung als es in meinem Rücken mörderisch knallt. Die Tür zu Antonys Büro vibriert verräterisch und ich schrecke merklich zusammen. Ein weiteres Rumsen ertönt, gefolgt von einem Klirren.

Ich kann nicht verhindern, dass ich mich zur Tür meines Dozenten wende. Abgesehen von Stille folgt nichts. Unwillkürlich stelle mir vor, wie die Kaffeetasse, die eben noch auf seinem Schreibtisch gestanden hat in Scherben vor der Tür liegt, wie sie gegen das harte Holz prallte und dann in hunderten Bruchstücken zu Boden rieselt. Es ist als würde ich ihn leise Schimpfen und Murmeln hören. Sicher klaubt er in diesem Moment die Scherben wieder auf. Als ich mich abwende, blicke ich in Professor Strouds Gesicht. Sein erschrockener Gesichtsausdruck weicht augenblicklich einem Verwunderten. Ein lautes Raunen hinter der Tür ist zu hören, welches nur gedämpft zu uns dringt.

Welche Fragen sich nun in seinem Kopf abspielen müssen? Ich spüre, wie sich auf meinem gesamten Körper einen kribbelnde Gänsehaut bildet. Sie streicht über meine Glieder mit einem kühlen Prickeln der Erleichterung und einer Spur von tiefsitzenden Trauer. Uns beiden geht es schlecht mit dieser Situation und doch wissen wir uns nicht zu helfen. Ich schlucke schwer, weiche Strouds Blick aus und setze mich in Bewegung. Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich wahr, wie er an Antonys Tür klopft.
 

Es ist niemand da als ich die Wohnungstür öffne. Die Zimmertüren meiner Mitbewohner stehen beide offen. Obwohl ich mir um deren sichere Abwesenheit bewusst bin, schaue ich in beide Räume und bin mir letztendlich nicht einmal sicher, was ich damit bezwecke. Meine Stimmung spricht gegen Gesellschaft. Ich verspüre nicht das geringste Bedürfnis zu kommunizieren oder irgendjemand Rede und Antwort zu stehen. Ein Blick in die Küche und dann erkläre ich mich selbst für bescheuert. Gesellschaft haben hin oder her aber die Stille der Wohnung macht mich nervös. Von der Küche mache ich einen Abstecher ins Badezimmer, trotte dann in mein Zimmer und öffne als Erstes das Fenster. Müdigkeit überfällt mich. Im Grunde begleitet sie mich schon die ganzen letzten Tage hindurch. Augenblicklich fällt mein Blick auf das Bett. Ich merke eine deutliche Anziehung, aber auch eine ebensolchen Widerstand. Seltsam hin und her gerissen, spüre ich, wie meine Glieder schwer werden und die andauernde Müdigkeit, wie ein Paukenschlag über mich hereinbricht. In meinem Kopf entfalten sich die Erinnerungen an die zweisamen Augenblicke zwischen mir und dem Portugiesen. Bilder entstehen, die meine Fingerspitzen pulsieren lassen und einen ergreifenden Schauer durch meinen Körper jagen. Nichts weiter als Fantasien und Sehnsüchte. Ich vermisse dieses wunderbare Gefühl, welches sich für ein paar Momente zwischen uns wähnte. Ein lauter Seufzer hallt durch den Raum, gefolgt von einem wütenden Knurren. Das muss aufhören. Diese deprimierenden und trübseligen Gedanken machen mich fertig. Der Stillstand bringt mich um den Verstand. Ich brauche Bewegung. Dringend.

Ich blicke auf die Uhr. Der Müdigkeit zum Trotz packe ich mir ein paar Trainingsklamotten zusammen und fahre zurück zur Uni.
 

Viele Leute kommen mir entgegen, als ich die Tür zum Fitnessbereich öffne. Auch an den Geräten ist einiges los. Mehr als bei den letzten Malen, die ich mit Anni hier gewesen bin. Ich ziehe mich um und bleibe unschlüssig stehen. Ich habe mir bisher nicht überlegt, was ich eigentlich machen will. Ausdauertraining? Ein paar Geräte? Erst mal aufwärmen. Meine Augen wandern die fleißigen Sportler ab. Schwitzende Körper. Angestrengte Gesichter. Bei einigen bin ich mir sicher, dass sie tatsächlich einen sportthematisierten Studiengang haben müssen. Andere sind einfach nur Poser. Ich schüttele meinen Kopf, weil ich jedes Mal aufs Neue nicht verstehe, was man daran toll findet. Eine schlanke Rothaarige sitzt auf einem der Fahrräder und die Blondine, mit der sie sich angeregt unterhält, arbeitet an den Kraftgeräten. Zwei junge Männer trainieren ihre Oberschenkel an der Presse.

Ich schwanke eine Weile zwischen Laufband und Fahrrad hin und her und entscheide mich letztendlich für das Laufen. Eine Route mit Höhen und Tiefen. Ein steigendes Tempo. Ich spüre die Hitze in meinem Körper und wie langsam mein Kopf immer leerer wird. Irgendwann summe ich unaufhörlich eine Melodie, die ich nicht wiedererkenne. Schon eigenartig. Ein Ohrwurm verursacht durch den ersehnten Leerlauf für das Gehirn. Genauso, wie ich es mir erhofft habe. Das Brennen in meinen Muskeln wird mit jedem Kilometer, den ich zurücklege, stärker. Ich konzentriere mich nur noch darauf und genieße es. Erst als auch meine Lunge zu pieken beginnt, drücke ich auf Stopp, laufe es aus und bleibe dann ermattet vor dem Trainingsgerät stehen. Fahrig angle ich nach meiner Wasserflasche und leere sie mit großzügigen Schlucken. Ich beuge mich nach vorn, spüre, wie bei jedem Luftzug meine Lungenflügel angestrengt flattern und brauche eine ganze Weile um mich wieder aufzurichten.

Ich sehe mich um. Mittlerweile sind nur noch wenige Leute übrig. Die Rothaarige vom Fahrrad ist auf einen diese mörderischen Stepper gewechselt. Von meiner Position aus kann ich ihr direkt auf den Hintern starren. Er scheint fest und gut trainiert, ist aber noch immer viel zu flach. Insgesamt ist sie eher von der zierlichen, fast burschikosen Körperform.
 

Unbewusst führe ich meine Trinkflasche zum Mund und stelle fest, dass sie sich trotz aller Anstrengung nicht wieder gefüllt hat. Ich wende mich den Versorgungsbereich zu und stelle fest, dass er gut belegt ist. Einer der übertrieben muskelbepackten Kerle steht zusammen mit einen erträglich gebauten Schwarzhaarigen an den Getränkespendern. Genau dort, wo ich eigentlich hin möchte. Sie unterhalten sich. Als ich nach kurzem Zögern auf sie zugehe, kann ich deutlich die gespannten, bläulichen Adern auf den Bizeps des blonden Mannes erkennen. Sie scheinen jeden Moment zu platzen und zeichnen seltsame Muster auf seine Haut.

„Wenn er dich derartig auf die Palme bringt, dann stopf ihm das Maul", gibt der Blonde gerade zum Besten und es ist als würde reines Testosteron von seinen Lippen fließen. Es scheint fast aus all seinen Poren zu tropfen. Der Blonde grinst übertrieben und sieht zu mir, als ich zu den verschiedenfarbigen Tornistern komme. Isotonischer Sirup in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Ich hafte meinen Blick an die beschrifteten Zapfhähne und versuche, das Gespräch der beiden Männer nicht zu belauschen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Es passiert automatisch, vor allem, wenn man es derartig vorgesetzt bekommt.

"Übertreib nicht immer so", wiegelt der Angesprochene den Vorschlag ab. Ich starre gebannt auf die Beschriftung der Geschmackrichtungen. Erdbeere. Grüner Apfel vielleicht? Blaubeere ist mir zu bitter. Zu dem finde ich die blaue Färbung gruselig. Ich schiele unbewusst zu den beiden diskutierenden Männern.

„Ich weiß ja auch nicht, er benimmt sich manchmal, wie ein tollwütiger Piepmatz. Motz. Motz. Motz. Und er hat immer das letzte Wort", sagt der Schwarzhaarige weiter und sein Kopf macht bei den letzten Worten eine ulkige Wackelbewegung. Dazu verdrehen sich seine braunen Augen in spektakulärer Weise. Doch obwohl seine Worte eine gewisse Verärgerung ausdrücken sollen, schwingt in ihnen etwas ganz anderes.

„Noch schlimmer als dein rothaariger Drache?" Der Blonde grinst breit und neigt seinen Kopf in die Richtung der Ausdauergeräte. Auch seinem Gesprächspartner perlt ein charmantes Lachen von den Lippen. Unbewusst sehe ich zu dem Schwarzhaarigen, der seinen Blick unverhohlen auf die Rothaarige mit dem flachen Hintern richtet.

„Er macht mich auf eine andere Art verrückt. Irgendwie... schwer zu erklären. Egal, ich muss und will mit ihm auskommen, weil ich sonst meinen Mitbewohner lynche." Er wirkt nachdenklich und ich merke reichlich spät, dass er mit einem Mal zu mir sieht. Zitrone. Schnell wende ich meinen Blick wieder ab. Ich drücke einmal auf Geschmack mit der Citrusfrucht und sehe dabei zu, wie der isotonische Sirup in meine Flasche läuft.

„Kain, ganz ehrlich ich hätte Abel und diesen... Jack schon lange den Marsch geblasen", setzt der Muskelmann fort und nimmt einen großen Schluck aus seiner Trinkflasche.

"Jeff", berichtigt der Schwarzhaarige, doch der Blonde winkt nur ab.

„Warum treiben sie es nur bei euch?", fragt er weiter und ich werde unwillkürlich rot. Das war das Stichwort dafür, dass ich das Weite suchen sollte. Belauschen gehört sich einfach nicht.

„Es ist kompliziert." Es scheint sie nicht mal zu stören, dass ich alles mit anhören kann. Ich möchte noch Kirschgeschmack, aber sie lehnen direkt davor.

„Entschuldigt, darf ich mal?" Ich deute hinter den Schwarzhaarigen. Er macht lächelnd einen Schritt zur Seite und lässt mich damit an die anderen Geschmacksrichtungen. Ich drücke noch mal auf den Spender mit Kirche und fülle dann auch Wasser dazu. Ein bisschen schütteln und rütteln. Fertig! Ich spüre, wie sie mich beide dabei beobachten und in diesem Moment ihr Gespräch kurz einstellen. Noch im Trinken entferne ich mich von den beiden Männern und bin dankbar das mein Gesicht vor Anstrengung noch so erhitzt ist, dass niemand sehen kann, dass ich vor Scham rot wurde. An einem der Fahrräder bleibe ich stehe und trinke weiter. Ich mag den leicht sauren Geschmack und das erfrischende Gefühl, was mit den isotonischen Getränken einhergeht. Das angenehme Kribbeln in meinen Muskeln ist belebend. Jetzt noch eine erfrischende, warme Dusche und ich bin wieder halbwegs ein Mensch.

„Ben, oder?" Ich wende mich erschrocken der weiblichen Stimme zu und stoße mit dem Schulterblatt gegen eine der Lenkradstangen. Ich verkneife mir mit Mühe einen schmerzerfüllten Laut, schaffe es aber nicht den dazu gehörigen Gesichtsausdruck zu verhindern. Das gibt einen blauen Fleck. Als ich mich wieder konzentrieren kann, blicke ich in das hübsche Gesicht einer extrem zierlichen Frau. Ich weiß, dass ich ihr schon begegnet bin, aber ich kann mich nicht mehr erinnern wo. Ich muss dementsprechend fragend gucken, denn sie nennt mir ihren Namen.

„Lili", sagt sie erklärend, deutet mit winzigen, kleinen Händen kurz auf sich. Leider keine deutliche Zündung. Ich schaue weiter, wie ein nichts verstehendes Äffchen. Namen waren noch nie meine Stärke.

„Ich arbeite mit Luka in der Redaktion der Campuszeitung." Oh. Klick. Bei der Erwähnung von Lukas Namen wird mit ganz mulmig. Ich sehe, wie ihre aufgeweckten, rehbraunen Augen mein Gesicht mustern.

„Ja, die Bar. Ich erinnere mich", sage ich letztendlich und frage mich sofort, was sie von mir will. Kommt jetzt vielleicht die Ansage, dass ich mich von ihrem Kollegen fernhalten soll? Keine Sorge, das werde ich ab sofort. Sie beginnt zu lächeln. Mir wird immer mulmiger. Noch bevor sie den Mund aufmachen kann, kommt die Rothaarige von der anderen Seite und begrüßt sie überschwänglich. Lautes, quietschendes Getuschel. Küsschen. Wange zu Wange. Ich schiele kurz zur Seite und wäge ab, ob ich es schaffe zu verschwinden, bevor sie mit ihrem Mädchenritual fertig sind. Doch das passt einfach nicht zu mir. Ich gehöre zu der höflichen Sorte. Mein Blick wandert zu der Versorgungsstation. Noch immer stehen die beiden Männer dort. Auch keine Fluchtmöglichkeit. Erst als das Getuschel vor mir verstummt, sehe ich wieder zu den beiden Frauen zurück, die mir aufmerksam entgegen blicken. Diesmal beide. Die Rothaarige streckt mir ihre Hand entgegen.

"Hi, ich bin Merena." Ein Lächeln. Erst jetzt sehe ich, dass sie Trotz ausschweifenden Fitnessprogramm perfekt geschminkt ist. Nichts ist verlaufen oder verschmiert. Eine ziemliche Meisterleistung.

„Ben." Ein kurzes Schütteln. Ihre Hand ist leicht feucht. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich nur für wenige Sekunden auf mich und dann entspringt ihrem Mund ein Fluss an Worten, schnell und hektisch, der sich nicht an mich richtet. Ich kann nicht verhindern, dass ich kurz an Anni denke und mein Gehirn immer träger wird. Frauen sind mir ein Rätsel. Mittlerweile hat Anni verstanden, dass sie nicht so mit mir reden kann, aber das hat einige Zeit gedauert. Meine Aufmerksamkeit bleibt irgendwann einfach hängen und kommt dann vollständig zum Erliegen.

„Warte, warte. Dass können wir gleich besprechen. Ich möchte Ben vorher noch etwas fragen." Lili hält der Rothaarigen den Mund zu und sieht mich mit einem leichten Augenrollen an. Merena wird brav still und in meiner Magengegend beginnt es wieder leicht zu rumoren. Ich begradige unbewusst meine Schultern.

„Also, du weißt ja, dass ich für die Campus Zeitung arbeite."

„Ja."

„Und unser Korrespondent für Wirtschaft und Börse beendet dieses Jahr sein Studium und wir suchen jemand, der das übernehmen möchte. Luka meinte, dass du Wirtschaftsinformatik studierst." Ich sehe sie perplex an und spüre, wie meine Schultern wieder nach vorn kippen. Luka, also.

„Wirtschaftsingenieurswesen und ich bin erst im ersten Semester...", gebe ich zögerlich von mir und bin der Ansicht, dass ich der vollkommen Falsche dafür bin. Mir fehlt es an Fachwissen und auch Kompetenz.

„Das ist nicht so schlimm. Wir wollen ja keine hochtrabenden Fachanalysen von dir. Außerdem würde Maik dich einarbeiten und dich bis zum Ende des Semesters nicht allein lassen." Sie klingt völlig überzeugt. Ich schaue wieder, wie ein Äffchen. Ganz sicher.

„Ähm... also...lieber nicht...", versuche ich es wiederholt. Ihre Mund schiebt sich etwas zur Seite und sie beißt sich auf die Wange, während sich ihre Stirn runzelt. Vermutlich passiert es nicht, so oft, dass die Leute ihrem Charme widerstehen.

„Überleg es dir doch wenigstens. Vielleicht macht es dir ja mehr Spaß als du glaubst..." Sie lässt nicht locker und ich schlucke. Ich möchte ihr ungern mitteilen, dass ich vor allem Luka nicht begegnen möchte. Allein dieser Gedanken lässt mich innerliche erschaudern und beschwört Erpelpelle, die sich über meinen gesamten Körper quakt.

„Ben ist nur schüchtern und möchte dir nicht sagen, dass ich der Grund bin, aus dem er ablehnt. Nicht wahr?" Die bekannte, baritone Stimme Lukas verscheucht jedes noch so kleine Entchen von meiner Haut und macht einen kühlen Kribbeln Platz. Ich spüre, wie er mir von hinten einen Arm um die Hüfte legt und mir nach seinen Kommentar einen Kuss gegen das Ohrläppchen drückt. Seine Hand gleitet nach vorn, über meinen Bauch und bleibt oberhalb des Bauchnabels liegen. Ich versuche mich von ihm zu entfernen, doch er packt mich nur noch etwas fester.

„Lass mich los!", sage ich leise und schiebe seine Hand von meinem Bauch.

„Na, na. Wie unfreundlich. Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen?" Ein Raunen trifft erneut mein Ohr. Er haucht mir ein erklärendes Bitte entgegen. Luka spielt mit mir, weil er sauer ist.

„Nun, lass ihn los, Luka." Diesmal ist es Lili, die einschreitet und ihren Kollegen sachte wegschiebt. Von Luka keine Gegenwehr.

„Ist ja gut, ich mach doch gar nichts." Luka nimmt beide Hände abwehrend nach oben, setzt seinen Unschuldsblick auf und stellt sich dann auf die Seite der beiden Frauen. Seine Arme umfassen ihre Schultern und er drückt sie, wie ein Pascha an sich.

„So, Ladies, was kann ich euch heute Gutes tun?", flirtet er den beiden Frauen entgegen und ich sehe, wie Lili die Augen verdreht. Merena kichert.

Ich umfasse meine Trinkflasche fester und gehe ohne mich noch einmal umzudrehen in den Umkleideraum zurück. Das Bedürfnis nach einer langen, ausgiebigen Dusche ist verschwunden. Ich möchte nur zurück in die WG und das in Windeseile.
 

In Gedanken versunken krame ich meine Klamotten aus dem Spind und seufze schwer. Erst als die Spindtür schließe, merke ich dass sich Luka dahinter gegen die metallischen Schränke lehnt. Der Schreck sitzt tief. Mein Herz setzt einen Moment aus und schlägt dann im Marathonmodus weiter. Ich habe nicht mitbekommen, dass jemand rein gekommen ist. Noch, dass er mir so nah gekommen ist.

"Verdammt noch mal, Luka!!" Ich atme erregt aus, sammele mich. „Was willst du?", presse ich aus zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Schon wieder so unfreundlich. Was habe ich dir getan? Ich war doch ganz lieb." Er stößt sich von den Schränken ab und bleibt vor mir stehen. Ich verkneife mir ein leicht verächtliches Schnauben, weil ich mit seiner Aussage nicht vollkommen konform gehe.

„Was willst du von mir?", wiederhole ich. Doch diesmal ruhiger.

„Du gefällst mir einfach. Ist das ein Verbrechen?" Diese Worte werfen mich aus der Bahn und ich schaue ihn entgeistert an.

„Ich bin keines deiner dummen Spielzeuge, Luka." Ich wende mich von ihm ab und stopfe meine Sportklamotten in den Rucksack. Er fällt von der Holzbank, als mich der Blonde ruckartig gegen die Metallschränke drückt. Sofort spüre ich seine Lippen auf meinen, schmecke den metallischen Rauch der Zigaretten und bin zu überrascht um mich sofort zu wehren. Luka kostet das Überraschungsmoment aus, entlockt mir einen gering erwiderten Zungenkuss. Es dauert einen Moment bis ich endlich alle Sinne beieinander habe und ihn wegdrücke. Er zieht sich zurück.

„So viel Verzweiflung. Hin und hergerissen zwischen dem Verlangen nach Nähe und der Vernunft. Du magst ihn wirklich, nicht wahr?" Ich halte seinem intensiven Blick nicht stand.

"Was weißt du schon! Für dich ist doch alles nur ein Spiel", knalle ich ihm an den Kopf. Luka schnaubt.

„Spaß ist doch eine wichtige Komponente, oder? Ich kann dir viel besser geben, was du brauchst. Du musst mich nur lassen." Unbewusst halte ich die Luft an. Auf seinen Lippen liegt ein undefinierbares Lächeln, welches mir glauben machen soll, dass es ihm ernst ist. Doch ich bin nichts weiter für ihn als ein weiterer Name auf seiner Liste. Ein Name mit einem Sternchen, weil ich mich ihm nicht sofort willig hingegeben habe.

Mir geben, was ich brauche? Das ich nicht lache. Eine wahnwitzige Vorstellung, denn für Luka ist nichts wichtiger als er selbst. Nur seine eigenen Belange und Bedürfnisse zählen. Ein verächtlicher Laut flieht über meine Lippen als mir die Absurdität dieser Worte immer deutlicher wird.

„Und, was brauche ich, deiner Meinung nach?", frage ich interessiert und bin mir bereits sicher, dass die Antwort seine egomanischen und selbstüberschätzenden Tendenzen nur bestätigen wird. Luka ist ein Blender. Nichts anderes.

„Jemanden, der dich führt und vollkommen befriedigt. Keinen daher gelaufenen Akademiker, der vor lauter Selbstmitleid und Illusion den Schwanz einzieht." Erneut ein leises Schnaufen, denn er bestätigt mir nur das, was ich die gesamte Zeit denke.

„Ich habe keine Lust einer deiner Spielbälle zu sein. Du bist nur hier, weil du hoffst Antony weiter verletzten zu können. Nur warum? Hat er dir mehr als nur den Stolz angeknackst?" Lukas Augen verengen sich. Ich liege also richtig.

„Du weißt ja nicht, wovon du sprichst." Nur ein Flüstern. „Er hat mich direkt ins Messer laufen lassen. Ja, dein liebreizender Dozent ist nichts weiter als ein Feigling, der es nicht mal für nötig hielt mich vor seinem stalkenden Ex-Freund zu warnen. Schlimmer noch, er nutzte ihn um sich Ärger vom Hals zu schaffen", knurrt er mir deutlich aufgebracht entgegen. Ich schlucke entsetzt.

"Und du liegst falsch! Ich mag dich wirklich. Und glaub mir, Antony kann nur enttäuschen", sagt er in voller Überzeugung. Ich schlucke.

„Fick dich, Luka."

"So versaut. Ich steh drauf." Als er geht, zwinkert er mir noch zu und ich bleibe noch einen Moment ermattet gegen den Spind gelehnt stehen.
 

Bereits im Treppenhaus kann ich fröhlichen Stimmen aus unserer gemeinsamen Wohnung hören. Es sind deutlich mehr als gewöhnlich. Ich öffne die Wohnungstür und mir kommen Marie und ein fremdes Gesicht entgegen. Sie stellt ihn mir als einen Freund vor. Sie betont das Einen besonders und ich komme nicht umher zu schmunzeln. Ich bin dennoch überrascht. Rick und Cora sitzen in der Küche. Sie diskutieren lebhaft. Ich sage nur kurz Hallo und gehe unter die Dusche. Lange und ausgiebig. Ohne es zu wollen, denke ich über Lukas Worte nach. Ich wüsste nicht, wovon ich rede, wiederhole ich. Etwas Ähnliches hat er im Zusammenhang mit Mateo schon einmal gesagt. Hat Antony wirklich Mateo dazu benutzt Luka mundtot zu machen? So extrem waren Lukas Worte bei mir angekommen. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich will es nicht. Es ist so verwirrend. Eine ganze Weile lang hänge ich einfach nur meinen Gedanken nach, wälze eine These von der einen zur anderen Seite. Ohne Ergebnis.

Irgendwann klopft es wild an die Badezimmertür. Die weiblichen Anwesenden müssen dringend aufs Klo. Ich gebe mich schnell geschlagen, nach dem sie mir versichern, dass ich etwas vom Abendbrot abbekomme. Das hätte ich zwar auch so, aber es ist doch schön zu hören. Wir sitzen gemeinsam in der Küche. Reden und diskutieren. Maries "Kumpel" ist Physiker und er arbeitet als studentische Hilfskraft an der Universität. Nach dem Essen verschwinde ich auf mein Zimmer und mache meinen PC an.

„Hey, willst du wirklich nicht mitkommen?" Rick steckt seinen Kopf durch die Tür und ich sehe auf. Seit einer guten Stunde versucht er mich davon zu überzeugen mit ihm, Cora, Marie und ihrem "Nicht"-Freund ins Kino zu gehen. Beim Essen schwankte ich noch. Doch als sie mir erklärten, dass sie zu einer Marathonvorstellung von Harry Potter gehen, war mir sofort klar, dass mich keine zehn Pferde da hinbekommen. Alle acht Filme. Hintereinander. Mir wird bereits bei der Vorstellung ganz schummerig. Vielleicht habe ich Schlickschlupfe. Anni liebt die Bücher und sie hat mich schon des Öfteren mit den Filmen gequält. Mir fehlt es an der nötigen Fantasie. Auch jetzt schüttele ich demonstrativ den Kopf und das, obwohl mein Mitbewohner es nicht sehen kann. Als ich nicht sofort reagiere, öffnet er die Tür etwas weiter und macht einen Schritt in mein Zimmer. Ich sehe, wie Cora ihren schlanken Arm um seine Taille legt und ihn fast wieder herauszieht.

„Ben hat gesagt, er sympathisiert mit Voldemort. Ihn nehmen wir nicht mit", kommentiert sie wenig ernst gemeint. In Ricks Gesicht bildet sich ein höhnendes Grinsen.

„Er meinte nur, er mag Snape und wäre gern ein Slytherin. Ich gehe mit ihm konform, darf ich dann auch hier bleiben?", sagt Rick. Seine Freundin zieht sofort zischend die Luft ein. Sie ist hart getroffen.

„Nun musst du erst recht mit und die Filme so lange gucken bis du endlich ein Verfechter Gryffindors bist." Ricks Gesichtsausdruck wird schlagartig mitleidig.

„Ben,..." Flehend perlt mein Namen über die Lippen meines Mitbewohners.

„Ich würde ihr lieber gehorchen, wenn du jemals wieder mit deinem Zauberstab wedeln willst", gebe ich amüsiert von mir. Ricks Gesichtsausdruck ändert sich erneut. Diesmal zeichnet sich ein breites und verstehendes Grinsen ab. Bei Cora dauert es länger und zu meiner Freude ist es Rick, der dafür einen Schlag gegen den Arm kassiert. Wie lacht er auch darüber? Sträflich.

„Möge die Macht mit euch sein...", rufe ich den Beiden hinterher als sie mein Zimmer wieder verlassen und bin mir sehr wohl bewusst, dass es der falsche Film ist. Ich drehe mich bereits wieder zu meinem PC als Rick ein letztes Mal seinen Kopf durch meine Tür schiebt.

„Du noch viel lernen musst, junger Padawan." Er wirft mir einen Yoda-Blick zu und ich muss nun doch lachen. Ich höre, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt und widme meine Aufmerksamkeit wieder der E-Mail. Seit geschlagenen 15 Minuten lasse ich den Mauszeiger auf dem Sendebutton hin und her schweben. Es ist eine Nachricht an den Kommilitonen, der mich wegen dem Seminarprojekt kontaktiert hat. Wenn ich meine vorige Ablehnung zurücknehme, dann entscheide ich mich dafür den Grundkurs fortzusetzen. Ich würde Antony sehen. In jeder Vorlesung und in jedem Seminar. Allein bei dem Gedanken daran, beginnen meine Finger leicht zu zittert. Selbst der Mousezeiger wuselt wild auf dem Bildschirm hin und her. Es wird nicht besser werden. Ich darf nicht davor wegrennen. Ich atme ein weiteres Mal tief durch und als ich zum Ausatmen ansetze, drücke ich auf senden.
 

Ich schiebe die Mouse von mir weg und trabe mit heftig schlagenden Herzen in den Flur. Antony Rochas wird nicht der Letzte gewesen sein, der mir das Herz bricht. Ich rede mir ein, dass ich es mir mit dieser negativen Einstellung einfacher mache, aber dem ist nicht so. Egal, wie sehr man sich davon überzeugen will, es schmerzt unendlich. Mein Herz krampft sich zusammen. Ich fasse mir mit der Hand gegen die Brust und seufze leicht. Das darf so nicht weitergehen. Das nur weil mein Körper und mein Verstand verrücktspielen. Ich höre eine Bewegung im Treppenhaus und bleibe stehen. Ich lausche. Schritte, die weder leiser noch lauter werden. Als wurde jemand der Tür hin und her laufen. Als ich durch den Spion sehe, erkenne ich nur Dunkelheit.

Ich mache die Tür auf und schaue in den Flur. Eine Gestalt im Dunkel. Das schwache Licht aus der Wohnung lässt mich die Person erst erkennen, als sie dicht vor mir steht. Der präzise gestutzte Bart rahmt das markante Kinn perfekt und zieht meinen Blick sofort auf diese verheißungsvollen Lippen. Seinen kühlen Finger legen sich an meine Wangen. Sie gleiten in meinen Nacken und dann spüre ich Antonys heiße Lippen auf meinen.

Das bittersüße Verlangen nach Sünde

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Zurück zum Punkt Null?

Kapitel 25 Zurück zum Punkt Null?
 

Ärger. Das Wort wiederholt sich in meinem Kopf. Nicht zum ersten Mal, was dazu führt, dass ich mir dessen vollkommen bewusst bin. Im Grunde bedeutete unsere Beziehung schon die ganze Zeit Ärger.

„Ben,..." Ihre Stimme ist eine Mischung aus Verunsicherung und Mahnung. Marie weiß, dass sie kein Recht hat, mich zu belehren, aber es zu müssen, liegt an ihrer konservativen Einstellung. Vielleicht auch an ihrer freundschaftlichen Empfindung mir gegenüber. Scheinbar hat sie sich schon eine längere Zeit darüber Gedanken gemacht. In meinen Kopf schreit es danach, dass sie sich nicht einmischen soll, doch ich sage nichts, weil im selben Augenblick die Vernunft ihre mahnenden Rückschlüsse zieht.

„Es ist nicht so einfach....", setze ich an, doch Marie unterbricht mich.

„Ich weiß, dass es in dem Sinne nicht verboten ist, aber ich weiß auch, dass das nicht gern gesehen wird... Ben, wenn das rauskommt!", spinnt sie ihre Gedanken unbeirrt weiter, blickt dabei auf ihre Finger und nur ab und an schaut sie über ihre Brille hinweg zu mir. Ihr Tonfall ist eine wankende Mischung aus ernst gemeinter Sorge und ein klein wenig Fassungslosigkeit. Diese Art der Beziehung passt vermutlich nicht in ihr heimeliges Weltbild. Ich kämpfe mit meinen Empfindungen und bringe kein Wort zur Verteidigung oder wenigstens zur Erklärung hervor. Sie spricht von zukünftigen Behinderungen und Steinen. Wege und Möglichkeiten, die sich durch eine solche skandalöse Anhaftung versperren. Für mich. Für Antony. Maries Vortrag endet mit einem nervösen Seufzen. Ich streiche mir durch die Haare, spüre die Schwere in meinen Gliedern, die mich schon eine ganze Weile schleichend lähmt und versinke in Gedanken. Marie fasst an den weißlackierten Türrahmen. Sie hat kleine, fast knubbelige Finger mit kurzen Nägeln. Praktisch und uneitel. Etwas Anderes würde auch nicht zu ihr passen. Ihre letzten Worte habe ich schon nicht mehr richtig wahrgenommen.

„Ben?" Noch mehr Verunsicherung. Wahrscheinlich kann sie nicht zu ordnen, wie sie meine wortlose Reaktion auffassen soll. Bevor ich etwas erwidern kann, geht hinter mir die Tür auf. Ein gähnender Rick trabt Richtung Toilette, bleibt dicht hinter mir stehen und legt mir sein Kinn auf die linke Schulter. Er hat beidseitig noch genügend Platz, um frontal um mich herumzugehen.

„Du stehst im Weg", murmelt er und ich merke, wie er kurz an mir schnuppert. Dabei stupst seine Nasenspitze sachte gegen meinen Hals. Sie ist schrecklich kalt, aber wenigstens nicht feucht. Seine unbedarften Berührungen fördern ein sonderbares Kitzeln, welches jedes Mal wieder in völliger Zufriedenheit verebbt. Nur mit einem Auge mustert er mich, als ich ihm Platz mache und er an Marie vorbei ins Badezimmer geht. Ricks Akzeptanz durchströmt mich beruhigend. Ich nutze diesen seltsamen Moment um mich aus der Affäre zu ziehe.

„Schlaf gut. Ich versuche leise zu sein..." Schnell verschwinde ich in mein Zimmer und schließe hinter mir die Tür. Ich bin mir sicher, dass sich Marie nur um mich sorgt.
 

Ich bleibe mitten im Raum stehen, blicke zu dem Bett, in dem vor einer Stunde noch unsere warmen Körper gelegen haben, sich gesuhlt und gewälzt haben. Automatisch schließe ich meine Augen als ich das Gefühl seiner Hände zurück auf meinen Körper ersinne. Das feines Kribbeln, wenn seine Haut auf meine trifft. Die Sanftheit seiner Lippen. Liebkosend und so umwerfend süß. Ich erschaudere allein bei der Erinnerung daran. Mir entfährt ein erregtes Brummen. Ich straffe meine Schultern, öffne das Fenster und schwinge mich auf meinen Schreibtischstuhl. Leider mit so viel Elan, dass ich fast wieder herunterfalle. Ich ziehe mich zurück auf das Polster und schalte meinen Rechner an. Ich logge mich in den Universitätsverteiler ein, downloade mir ein paar neue Vorlesungsfolien und checke meine E-Mails. Die Antwort von meinem eventuellen Projektpartner. Er erklärt mir, dass er mittlerweile angefangen hat und bittet darum, dass wir uns bald möglich zusammensetzen. Ich willige ein, schreibe ihm meine Handynummer auf, da wir uns so besser verständigen können und beruhige mein schlechtes Gewissen damit, dass ich mir ein paar erste Informationen des Themas aus dem Internet ziehe. Nach einer Dreiviertelstunde kann ich noch immer nicht einschätzen, ob das Thema wirklich nur langweilig oder versteckt interessant ist. Ich denke an den Vortrag und die kommenden Diskussionen im Seminar. Mein Magen wird flau. Das wird ein Spaß! Für gewöhnlich habe ich nichts gegen eine gute Kontroverse, aber ich muss selbst dafür stehen. Ich schiele auf mein Handy. Ein munteres Blinken. Eine Nachricht. Mein Pulsschlag beschleunigt sich. Noch bevor ich die Nachricht öffnen kann, beginnt das Telefon in meiner Hand zu klingeln und ich lasse es fallen.
 

Das Plastikgerät kommt in meinem Schoss zum Liegen, nachdem ich es fallengelassen habe und vibriert munter gegen meinen Unterbauch. Annis Name schlägt mir entgegen. Ich erhole mich nur schwer von dem Schreck und gehe ran.

„Hey, my Dear...", flötet mir meine Freundin entgegen und ich lehne mich zurück. Meine rechte Hand lege ich beruhigend auf meinen flatternden Bauch. Ich spüre dumpf meinen pulsierenden Herzschlag und schließe meine Augen.

„Hey, Quälgeist...", gebe ich amüsiert zurück und stelle mir vor, wie die Rothaarige am anderen Ende des Telefonhörers eine Schnute macht und wie sie sich dabei ein paar ihrer Locken keck von der Stirn pustet. Ein leises Seufzen. Sie weiß, dass ich es nicht allzu ernst meine und dennoch soll sie merken, dass ich noch immer enttäuscht bin. Ich fühle mich im Recht dazu.

„Wie geht es dir?", fragt sie nach sekundenlangem Zögern. Ihre Stimme nimmt dabei einen eigenartigen Ton an und veranlasst mich, meine lümmelnde Position aufzugeben und mich ordentlich hinzusetzen.

„Gut,...", gebe ich vorsichtig von mir, ziehe dabei das U besonders lang und lasse es selbst unglaublich fragend klingen. Ich spare mir ein dem Umständen entsprechend oder ähnlichem. Anni schweigt erneut, so als würde sie versuchen, anhand meines Tonfalls herauszuhören, wie ernst es mir ist.

„Gut, gut. Ich hatte beim Mittagessen den Eindruck, dass dir noch etwas das Herz beschwert und da du dich die Tage nicht gemeldet hast, da habe ich mir Sorgen gemacht." Sie klingt erleichtert und im selben Moment wieder aufgeregt. Ich denke an unser Essen zurück. Rick hat sich spontan zu uns gesetzt und Annis komplette Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ehrlich gesagt habe ich nicht gedacht, dass sie vor lauter Flirterei noch gemerkt hat, dass ich anwesend war.

„Okay, seit wann machst du dir bei anderthalb Tagen schon Sorgen?", frage ich verstört. Ich bin mir sicher, dass mehr dahinter steckt als reine Fürsorge. Sie seufzt. Laut und deutlich.

„Zwei Tage und ich habe Angst, dass du dich noch weiter verkriechst, Benedikt." Mein voller Name. Es ist ihr Ernst.

„Mir geht es gut. Wirklich. Du kennst mich doch." Ich bin nicht der Typ, der schnell über seine Gefühle reden kann. Ich brauche meine Zeit und für gewöhnlich ist ihr das auch klar.

„Ich weiß, dass du dich lieber vergräbst, aber genau das ist nicht gut...Rede mit mir. Bitte!", kommentiert sie und schafft es das Ganze nicht vollkommen wie eine Belehrung klingen zu lassen. Reden. Ich kann nicht. Ich will nicht. Zudem ist in den letzten Tagen so viel passiert, dass ich selbst noch keine Chance hatte, intensiv über alles nachzudenken. So durcheinander ist mein Leben schon lange nicht mehr gewesen. Der Unfall meiner Mutter, der mich zutiefst bedrückt. Die Streitereien mit Anni. Luka. Was will er wirklich von mir? Mit ihm habe ich definitiv einen gewaltigen Fehler begangen und ich werde aus ihm nicht schlau. Ich streiche mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht und merke, wie mein Blick zurück zu meinem Bett wandert. Meine Gedanken sind sofort wieder bei meinem Dozenten. Der Stein des Anstoßes. Antony. Mein Herz macht einen Satz und schlägt dann heiß pulsierend in meiner Brust. Es ist ein wunderbares Gefühl gepaart mit einem Schwarm voller freigelassener Schmetterlinge. Allein der Gedanke an ihn bringt meinen ganzen Körper in Aufruhr.

„Anni, du nervst mich...", sage ich ehrlich seufzend, richte mich wieder vollkommen auf und verlasse meinen Schreibtisch um mich aufs Bett zu werfen. Ich spüre, wie die Matratze unter meinem Körper etwas nachgibt. Ein leises Quietschen. Gut, dass es das nicht in der Nacht getan hat. Nichts ist ablenkender als ein quietschendes Bett beim Sex.

„Nein, ich liebe dich. Das ist ein meilenweiter Unterschied!" Und das soll eine Rechtfertigung sein, um mir pausenlosen auf den Geist gehen? Ich weiß ja nicht.

„Es wird Zeit, dass wir mal wieder ausgelassen feiern gehen." Ich spüre, wie mein rechter Mundwinkel ungelenk nach oben wandert. Gut, dass mich in diesem Moment niemand sieht. Ich mache einem halbseitigen Joker Konkurrenz. Anni redet unbeirrt weiter, weil meine mimische Entgleisung zu meinem Leidwesen keine begleitende akustische Äußerung hat.

„Ein paar Kommilitoninnen haben mir von einem beliebten Club erzählt. Gute Drinks. Moderate Preise. Genau das, was wir brauchen um zu vergessen..." Der letzte Diskobesuch hat mein Leben durcheinander gewürfelt, ich glaube kaum, dass ein nächster das Chaos lichtet.

„Anni...", entflieht es mir stoppend. Für gewöhnlich weiß sie, dass ich nicht der Partygänger bin und auch mit Clubs wenig am Hut habe. Sie hat fast eine Woche auf mich eingeredet, bevor ich irgendwann aus absolutem Nervenverlust für die Partynacht nach dem Abitur zugesagt habe.

„Ben, komm schon. Es bringt dich auf andere Gedanken..." Ein weiterer Versuch. Es ist mir ein Rätsel, wie sie darauf kommt, mich mit einem derartigen Vorschlag rauslocken zu können.

„Das bezweifele ich..." Ich drehe mich auf die Seite, schließe meine Augen als ein Zipfel des Kissens gegen meine Nasenspitze stupst. Der Geruch des Portugiesen ummantelt mich.

„Okay, dann lass uns einen ruhigen Abend verbringen. Du und ich. Ein Film. Popcorn. Schoki. Wie in alten Zeiten. Was hältst du davon? Ein Abend ohne den Gedanken an irgendwelche Männer. Nur wir zwei", schlägt sie vor. Wie in alten Zeiten. Es dürstet mich danach und doch galoppiert sofort die Erinnerung an Antonys Einladung durch meinen Kopf. Ich antworte ihr nicht sofort und Anni legt es mir als erneute Ablehnung aus.

„Komm schon, so sauer kannst du doch nicht mehr sein..." Sie klingt fast flehend. Ich rolle mich ein paar Mal im Bett umher, wie ein suhlendes Hündchen. Das Handy an meinem Ohr vibriert und kündigt mir eine weitere Nachricht an. Für einen kurzen Moment nehme ich das Kommunikationsgerät vom Ohr, sehe das muntere Blinken, welches nun wieder an Schnelligkeit zugenommen hat.

„Oh Oh, Schweigen ist bei dir überhaupt kein gutes Zeichen...Was ist los?" Ein hauchzartes Lachen, welche schnell in ein vorsichtiges Raunen übergeht. Auch wenn meine Schweigsamkeit durch Unaufmerksamkeit ausgelöst wurde, denke ich darüber nach ihr von der gestrigen Nacht zu erzählen. Wie wird sie diesmal reagieren? Ich fühle mich gehemmt. Ein feines Seufzen perlt von meinen Lippen, als mir mein Inneres erklärt, dass sie meine beste Freundin ist und ich unbedingt mit jemand reden muss. Die ganze Situation wächst mir über den Kopf und ich brauche dringend eine humane Leiter um an meinen angestauten Gefühlskram heranzureichen.

„Ich habe letzte Nacht mit Antony geschlafen...", murmele ich ohne ein weiteres Mal nachzudenken. Wahrscheinlich wird sie mit einer vernünftigen Reaktion hadern. Aus der Gewohnheit heraus wäre es leiser Vorwurf, mit dem sie antwortet, doch nach unserem Zerwürfnis wird sie es sich ganz genau überlegen.

Nichts. Anni schweigt. Ein eigenartiges Phänomen, was eher selten bei der quirligen Rothaarigen auftritt. Ich kann nicht einmal einschätzen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. im Moment bereitet mir aber auch alles Kopfzerbrechen.

„Er ist in der WG aufgetaucht...und...na ja. Er war sehr überzeugend", setze ich fort. Ich gehe nicht ins Detail.

„Du hast ihn dir also nicht hart genug aus dem Kopf geschlagen", entflieht es Anni leise und ist eine Anlehnung an meinen eigenen Wortlaut. Bei unserem letzten Gespräch habe ich gesagt, dass ich zum Thema Antony nur noch von einem One-Night-Stand sprechen werde und mir den Portugiesen aus dem Kopf schlage. Leichter gesagt, als getan. Vor allem dann, wenn er vor mir steht, wenn er mich küsst und berührt. Ich bin ihm hoffnungslos verfallen.

„Ich denke, ich brauche dir nicht sagen, wie gesundheitsschädigend das ist." Ihre Wortwahl lässt mich schmunzeln. Auch sie hatte schon Erfahrung mit gesundheitsschädlichen Beziehungen gemacht. Sie weiß genau wovon sie spricht.

„My Dear, ich plädiere noch immer für einen gemütlichen DVD- Abend! Ich besorge uns das Essen und einen Film und du bringst einen guten Wein mit." Sie klingt als wäre das die beste Idee aller Zeiten. Ich komme nicht umher über ihren Enthusiasmus zu lachen. Wahrscheinlich ist es wirklich die beste Variante um Abstand zu bekommen und eine gute Möglichkeit, um unsere angekratzte Beziehung zu kitten.

„Okay, okay, du Nervenbomber", sage ich leise.

„Ja? War das ein Ja?"

„Ja, das war ein Ja zum DVD-Abend. Aber bitte, keinen schnulzigen Liebesfilm und keine Komödie. Für alles andere bin ich offen."
 

Ich öffne die Nachrichten, nachdem Anni endlich mit ihren Begeisterungstiraden endet und ich mir eine weitere halbwegs ernst gemeinte Zusage abgerungen habe. Vielleicht ist eine Rückkehr in das Gewohnte, in das Unbedarfte wirklich besser. Noch spüre ich Zweifel.

Ich lese die erste SMS zweimal, weil ich sie durch meine verqueren Gedankengänge nicht richtig erfasse. Sie ist von Natalia. Mama ist wieder zu Hause. Nach dem verstehen fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich nehme mir fest vor sie anzurufen. Ich öffne die zweite Nachricht. Mein Herz flattert. Antony.

-Danke für die schöne Nacht. Ich würde mich freue dich heute Abend zu sehen...- Danach folgt seine Adresse. Nicht weit von der Uni entfernt. Beim letzten Mal bin ich nicht dazugekommen, nach seiner Anschrift zu fragen. Die Erinnerung an den Grund lässt mein Herz schmerzend schneller schlagen. Mateo. Der Name formuliert sich spuckend in meinen Kopf. Voller Verachtung und Wut. Seine kalte Stimme und der Blick sind mir so bewusst, wie lange nichts mehr. Was hat Antony nur an ihm gefunden? Eiskalt und berechnend. Auch jetzt verursacht er mir Gänsehaut.

Unwillkürlich frage ich mich, ob sich Antony jemals vollständig von ihm lösen wird. Ich glaube daran, dass der Portugiese es wirklich versucht, aber bisher sind seine Versuche augenscheinlich fruchtlos geblieben. Er hat es hingenommen. Vielleicht weil er vorher keinen Grund hatte, wirklich etwas daran zu ändern? Aber vielleicht hat er ihn jetzt! Mein Herz hüpft, flattert und rotiert. Oder ist es angst? Er sei gefährlich. Antonys Worte. Sie wirkten aufrichtig und besorgt. Er hat Angst um mich. Auch Lukas Worte kommen mir in den Sinn. Der blonde Draufgänger ist gewiss niemand, der sich schnell einschüchtern lässt, doch auch er wirkte mit seiner Aussage aufrichtig.

Wo bin ich nur hineingeraten? Ich sollte die Reißleine ziehen. Abspringen, solange noch keine tiefgehenden Wunden zurückbleiben. Ein feines Seufzen perlt von meinen Lippen, hallt im stillen Raum laut wieder. Es kehrt zu mir zurück und trifft mich mit so viel Zweifel, dass ich mich missmutig auf den Bauch drehe und mein Gesicht in das duftende Kissen drücke.
 

Zum Mittag schmiere ich mir ein paar Brote und setze mich mit einem warmen Tee an den Küchentisch. Irgendwann beginne ich in einer von Maries Zeitungen zu blättern. Ein Fachmagazin für Biologie. Thema Anthropologie. Die Lehre über den Menschen. Ich blättere zu einem Kapitel über die evolutionäre Entwicklung. Darwin und seine Finken. Ich lächele, als ich mich dunkel daran erinnere, dass wir das auch schon in der Schule thematisierten.

„Hey,..." Ich sehe auf, als Ricks Kopf in der Tür erscheint.

„Hey, du bist schon wach?", frage ich verwundert.

„Mehr oder weniger. Ich wollte nicht so lange pennen, weil ich sonst morgen früh nicht aus dem Tee komme. Wir sind um neun Uhr bei meinen Eltern zum Frühstück geladen..." Er macht genau das Gesicht, welches ich auch machen würde. Frühstück bei den Eltern, da muss alles halbwegs normal wirken, sonst beschwört man sofort Sorge und Ängste.

„Da habt ihr das mit Harry Potter gestern aber schlecht geplant, oder?"

„Frauen. Cora ist tatsächlich der Überzeugung, dass sie mir das bereits vor drei Wochen erzählt hat. Vor drei Wochen! Das ist doch ewig her! Ich habe meinen Eltern zugesagt, weil ich es nicht mehr wusste." Mit einem seltsamen Grinsen beginnt er Kaffee aufzusetzen.

„Ist Cora auch wach?", frage ich und räume bereits meine ausgebreiteten Sachen zur Seite.

„Eher nicht. Sie hat sich eben demonstrativ umgedreht und daraufhin gewiesen, dass sie während der Fahrt pennen kann. Ich sitze schließlich hinterm Lenkrad", murrt er mir zähneknirschend entgegen und entlockt mir ein amüsiertes Lachen. Erst als der Kaffee fertig ist, setzen wir die Unterhaltung fort. Leider nicht so unbedarft, wie ich es mir gewünscht hätte.

„Du warst heute Morgen nicht allein unter der Dusche, oder?", fragt er nach einem ersten Schluck und einem begeisterten Seufzer. Ich sehe überrascht auf und meine Reaktion ist somit Antwort genug. Dass ich im nächsten Moment auch noch rot anlaufe, macht es nicht besser. Hat er uns doch gesehen?

„Falls du dich fragst, woher ich es weiß, kann ich dir sagen, dass ich schlicht weg die fremden Schuhe bemerkt habe. Ich kriege ja sonst nicht viel mit, aber die sind mir aufgefallen, weil sie teuer waren." Die Schuhe. Die rumliegenden Klamotten hatte ich in einer schnellen Aktion zusammengesammelt. Doch an die Fußbekleidung habe ich nicht mehr gedacht.

„Dein Kandidat für den komplizierten Männergeschmack?", fragt er und nippt an seinem Kaffee. Rick ist der Einzige, der mir gesagt hat, dass ich trotz aller Widerstände kämpfen soll. Dabei kennt er nicht mal alle Hintergründe. Ich nicke und lehne mich ermattet zurück.

„Und ist das nicht ein Zeichen dafür, dass es doch noch eine Chance für euch gibt?", merkt er an. Womöglich. Vielleicht. Meine Fingerspitzen beginnen aufgeregt zu kribbeln.

„Ja, irgendwie schon, aber es ist noch so viele ungeklärt und verfahren. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich möchte einmal etwas Unkompliziertes haben. Etwas, das erstmal nur gut und schön ist. Ich meine, kompliziert wird es früh genug, oder?" Rick mustert mich aufmerksam, nippt an seinem Kaffee und wackelt mit dem Kopf.

„Ich klinge, wie ein weißbärtiger alter Sack, wenn ich das jetzt sage, aber: Nichts, was sich lohnt zu haben, ist einfach zu kriegen." Für einen Moment krault er sich den nicht vorhandenen, weißen Bart und seine Professor Dumbledore-Pose ist perfekt. Vielleicht doch etwas zu viel Harry Potter für eine Nacht. Ich schmunzele und starre mich dann grübelnd an einem Teefleck auf der Tischplatte fest.

„Ich kann dir nur raten, darüber zu reden. Vor allem mit ihm. Anders lassen sich Probleme nicht lösen", sagt Rick, setzt seine Tasse ab und greift nach meiner zweiten, unangebissenen Stulle. Reden. Das ist dieses Wort schon wieder. Bisher haben Antony und ich das mit dem Reden nicht allzu gut hinbekommen. Zumal ich nur bei den Gedanken an den anderen Mann spüre, wie sich meine Lendengegend regt. Mein Gehirn setzt aus, sobald er mich berührt. Was das angeht ist unsere Beziehung gut und schön.

„Ha, du hast das Sex-Syndrom...", kommt es lachend von meinem Mitbewohner und ich blicke ihm perplex entgegen.

„Das was?", frage ich lachend.

„Ihr landet miteinander im Bett, sobald ihr euch seht, oder? Dein Gesichtsausdruck sprach gerade Bände..." Rick grinst wissend und beißt dann vom belegten Brot ab.

„Na ja, der Sex ist das, was uns zusammengebracht hat. Er war mein erster und bisher einziger One-Night-Stand und dann bin ich ihm mit einem Mal an der Uni wieder über den Weg gelaufen", gebe ich einen weiteren Teil der Geschichte preis. Es klingt, wie der Anfang eines schlechten Films. Rick lauscht aufmerksam, lässt das Brot in seiner Hand sinken und verlangsamt das Kauen.

„Heftig."

„Was ist heftig?" Rick und ich blicken beide erschrocken zu seiner blonden Freundin. Cora steht mit nackten Füßen und in Schlafshorts im Türrahmen. Ihr hübsches Gesicht wirkt ohne Make up noch einen Tick jugendlicher. Es steht ihr. Auch, wenn sie zusätzlich schrecklich müde aussieht. Ich wechsele einen kurzen Blick mit meinem Mitbewohner.

„Bens Studiengang", gibt er ausweichend von sich. Fast perfekt geschwindelt. Ich bin ihm dankbar, auch wenn ich es nicht von ihm verlangt hätte.

„Hm, musst du auch immer so viel lernen, wie Rick?", fragt sie, scheint die Antwort anstandslos hinzunehmen und tapst auf ihren Freund zu, der sie ohne Widerworte auf seinen Schoss Platz nehmen lässt. Rick lächelt und ich fühle mich schlagartig unwohl. Solch Intimität macht mir jedes Mal aufs Neue bewusst, dass das in meinen Fall nie so einfach sein wird.

„Ja. Ich habe auch viele Verordnungen und Gesetzestexte", gebe ich erklärend von mir und räume meine Sachen zusammen. Cora nickt verstehend und lächelt ihren Freund zu.

„So, ich lass euch dann mal brunchen und gehe wieder an die Arbeit", sage ich und greife nach meinem Kram. Ich verwende absichtlich die amerikanische Mahlzeitenfusion, weil es bereits früher Nachmittag ist.

„Hey Ben, wenn es einen Knopf gäbe, der dich zum Punkt Null zurückbringt, würdest du ihn drücken?" Beide blicken mir entgegen. Rick ernst und Cora unschuldig fragend.

„Gute Frage...", kommentiere ich gedankenverloren und lasse die beiden in der Küche zurück.
 

Bis zum Abend zwinge ich mich dazu für den Vortrag zu recherchieren und mein fehlendes Wissen zu ergänzen. Im Grunde zwinge ich mich einfach nur dazu, nicht mehr an Antony und meine Zwickmühle zu denken. Der Punkt Null. Würde ich die Möglichkeit wahrnehmen, wenn es sie gäbe? Ich weiß es nicht. Ich habe Anni zwar zugesagt. Doch in mir kribbelt das unbändige Verlangen Antonys Einladung nachzugehen. Vielleicht gibt es doch eine Chance für uns. Ich sehne mich danach, auch wenn sich jedes Mal die mahnende Vorsicht aus meinem Inneren erhebt. Ihm habe ich noch nicht geantwortet.

Passend dazu vibriert das Telefon auf meinem Tisch. Es ist eine Nachricht von Anni. Sie hat 'Pan's Labyrinth' ausgeliehen. Ich liebe diesen Film. Guillermo del Toro's Meisterwerk und Popcorn. Sehr verlockend. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es bereits halb sieben Uhr. Ich krame mir ein paar annehmbare Klamotten aus dem Schrank und verlasse die WG. Ein erster Regentropfen trifft mich, als ich vor die Tür trete.
 

Mit jedem Schritt wird die Wassermenge, die vom Himmel auf mich herabtropft, mehr. Ich flüchte in den Supermarkt, wische mir ein paar Regentropfen von der Stirn und sehe auf die Uhr. Ich brauche nicht lange, um genau den Wein zu finden, den ich suche. Mädchentraube. Einen süßen Weißwein mit leichter Säure. Bei mir verursacht er vor allem schnelle und heftige Betrunkenheitssymptome, sowie einen mörderischen Kater. Ich zögere, weil sich die Erinnerungen an die katerreichen Tage, wie ein mahnendes Signal in mir ausbreiten. Mit Annis Lieblingswein in meinen Händen streife ich durch die Gänge des Ladens, bleibe bei Knabbereien und anderem Süßen stehen. Ich greife mir ein Packung Mikrowellen Popcorn und sehe mich weiter um. Ich bin wenig Entscheidungsfreudig und auch kein Freund von salzigem Knabberkram. Mein Blick wandert zu den Gummibärchen. Neugierig fahre ich den Sortenreichtum ab, greife nach einer blauen Packung mit Schlümpfen. Auch eine Erinnerung an meine Kindheit. Damals konnte man diese zähen Gummifiguren nur an Einzelständen oder am Kiosk erstehen. Ich denke augenblicklich daran, wie sie einen förmlich die Zähne zusammengeklebten, wie die Zuckermasse im gesamten Mund fest hing und nur schwer zu entfernen war. Ich habe es geliebt, während meine Eltern nur kopfschüttelnd neben mir standen und darum baten, dass ich nicht ersticke. Keine Unmöglichkeit übrigens. Anni hasst sie. Mit einem Lächeln auf den Lippen entscheide ich mich spontan die Packung mit zu nehmen, komme vor der Kasse noch einmal am Weinregal vorbei und bleibe erneut stehen. Mein Blick streift die unzähligen Rotweine. Ich schaue auf den weißen in meinen Händen. Ich drehe die Flasche umher und verlasse den Laden letztendlich mit einem halbtrockenen Roten. Meinen Liebling.
 

Ein letzter Blick auf mein Handy. Wir haben keine genaue Zeit fest gemacht.

Der Punkt Null. Nur ein einziges Mal sehe ich auf, ansonsten sind meine Schritte zielstrebig. Vor der Tür atme ich kurz ein und betätige dann die Klingel. Es dauert einen Moment bis sie sich öffnet.

„Hey,...", sage ich lächelnd.
 

PS vom Autor: Ich danke euch für eure Geduld! Ich war die letzten Wochen durch einen Lehrgang zeitlich etwas begrenzt und bin zu nichts gekommen. Ich hoffe, dass sich das jetzt wieder bessert^^

Ein dickes Danke an euch tolle Menschen <3

Die Sehnsucht nach Vertrauen

Kapitel 26 Die Sehnsucht nach Vertrauen
 

„Wo hast du deine Gläser?", plappere ich, spüre, wie sich mein Puls beschleunigt und sehe in das verwunderten, aber sanften Augen meines Gegenübers. Ein einzelner Tropfen Wasser löst sich aus meinen Haaren und läuft meinem Hals hinab. Das Kitzeln ist auf meinem vor Aufregung gespannten Körper ganz besonders deutlich zu spüren. Zur Verdeutlichung hebe ich die Weinflasche hoch, merke, wie mich leichte Panik erfasst und mein Inneres zu schleudern beginnt. Die Überraschung in seinem Blick weicht sanfter Freude, die mich augenblicklich beruhigt. Antonys Haare sind ungestylt und glänzen feucht. Er greift die Flasche genau an der Stelle meiner Hand. Seine Finger sind kühl. Genauso wie bei unserer ersten Begegnung.

„Danke", haucht er, statt meine Frage zu beantworten, zieht mich an sich heran und legt dann seinen Mund auf meinen. Diese Berührung lässt augenblicklich jeden Zweifel davon schweben und mich selbst vom Boden abheben. Ich genieße das sanfte Gefühl seiner wohltuenden Lippen, sauge die Wärme in mich hinein und suche Halt an seinem Arm damit ich nicht noch vollkommen wegschwebe. Während des Kusses nimmt er mir die Flasche aus der Hand und umschlingt mich mit der anderen. Die Wärme seines Körpers umschmiegt mich mit einem zufriedenen Zittern.
 

Ich löse den Kuss als ich merke, wie schwer es mir fällt einen klaren Kopf zu behalten. Ich bin nicht wegen des Sex' hier. Dieses Mantra sage ich mir mehrfach still vor. Meine Augen bleiben geschlossen, während ich das feine Erbeben durch meinen Körper gleiten spüre. Die Wirkung, die der Portugiese auf mich hat, scheint wirklich mit einer Droge vergleichbar. Er entflammt meinen Leib. Verbrennt mich mit Frohlocken und unbändigem Verlangen. Ich verfalle ihm mit jeder Berührung seiner süßen Lippen mehr. Antony zieht mich weiter in die Wohnung und damit mehr ins Licht und schließt die Tür. Eine dunkelgraue Stoffhose umschmeichelt seine schlanken Beine und er trägt den marineblauen Pullover, den er schon einmal während einer Übung getragen hat. Er schmiegt sich perfekt an seinen Oberkörper, betont seine Brustmuskeln und die schlanken, aber doch so starken Arme. Mein Puls erklimmt die wenigen Meter zur vollendeten Raserei.

„Komm, ich hol dir ein Handtuch und ich zeig dir dann, wo die Gläser stehen", sagt er lächelnd und macht mir damit den Weg frei in seine Wohnung.

Ich ziehe mir die nasse Jacke über die Schultern, reiche sie Antony und sehe mich dabei unauffällig im Flur um. Vom schmalen Eingangsbereich geht ein weiterer Flur ab, in dem die Türen der anderen Zimmer sternförmig angeordnet sind. Die Wohnung wirkt auf dem ersten Blick groß und geräumig. Ein Altbau mit hohen Decken. Antony lächelt mir zu, stellt den Wein auf einer Kommode ab und verschwindet ins Badezimmer. Ich nutze die Gelegenheit um meinen Körper unter Kontrolle zu bekommen. Einatmen. Ausatmen. Selbst meine Gedanken rasen, peitschen sich förmlich durch meinen Kopf. Das Zauberwort ist langsam! Langsam einatmen. Langsam ausatmen. Erst nach mehrmaligen Wiederholen scheint mein Körper zu verstehen, dass er das eigentlich von allein tun müsste. Langsam ein und dann wieder ausatmen.
 

Es ist das erste Mal, dass ich in der Wohnung eines Anderen bin. Ausgenommen sind natürlich alte Schulfreunde. Es ist ein seltsames Gefühl und ein nervöses Kribbeln breitet sich in meiner Brust aus. Unruhig sehe ich mich um und versuche nicht allzu neugierig zu wirken. Wie verhält man sich in solchen Situationen? Zu viel umsehen wirkt zu neugierig. Gar nicht zeigt Desinteresse. Wie hatte sich Antony in der WG verhalten? Ich kann mich nicht daran erinnern. Abgesehen von der Tatsache, dass unsere Aufeinandertreffen zu meist nicht den konservativen Pfad genommen haben, gibt es in der WG oder in meinem Zimmer nicht viel zu sehen. Antony kommt zurück, reicht mir lächelnd ein Handtuch und verschwindet mit dem Wein in die Küche. Aber nicht ohne mir anzudeuten ihm zu folgen. Mir fällt auf, dass er keine Schuhe und keine Socken trägt. Ihn so zu sehen gefällt mir. Gerade als ich ihm folgen will, beginnt mein Handy zu vibrieren. Es muss Anni sein. Meine Hand zuckt zu meiner Hosentasche und ich bleibe im Flur stehen. Der Anruf ist wirklich von Anni. Sie wird sauer sein. Sie wird es nicht verstehen. Ich tippe ihr eine schnöde Entschuldigung als es endlich aufhört zu vibrieren und schalte alle verräterischen Geräusche ab.

Ich lausche einen Moment danach, wie sich der schlanke Mann in der Küche bewegt und lasse dann meine Augen über die bebilderten Wände wandern. Im Flur hängen etliche Fotografien in Schwarz-Weiß. Ich bleibe vor einer Serie von Industriebrachen stehen. Gigantische Bauwerke. Metallische und grobe Riesen. Auch ohne Farbe lassen sich der Rost und der Verfall erkennen. Ob er sie selbst geschossen hat?

Das bedrückte Gefühl in meiner Brust nimmt zu als mir erneut klar wird, wie wenig ich über Antony weiß. Wenn wir wirklich eine Chance haben wollen, dann müssen wir damit beginnen zu reden. Keine Diskussionen über unsere begangenen Verfehlungen. Kein Streit. Kein Schweigen. Sondern einfach einander kennenlernen. Ein weiterer Tropfen löst sich von meinen Haaren und fließt meinen Nacken hinab. Er schafft es über meinen Rücken, dicht an meiner Wirbelsäule entlang bis zum Bund meiner Hose, wo er verebbt. Nun endlich lasse ich das Handtuch durch meine feuchten Haare rubbeln.

„Ich dachte, du wolltest meine Gläser sehen." Ein Glas Rotwein taucht vor mir auf. Ich nehme das Handtuch runter und dem Portugiesen das Glas aus der Hand. Selbst als ich spüre, wie sich sein warmer Körper an meinen Rücken schmiegt, wie sich eine Hand auf meinen Bauch legt und mich dichter an ihn heran zieht, schwelt das bedrückende Gefühl still. Seine Lippen kosten den Geschmack der Haut meines Halses. Die Stelle in meinem Nacken beginnt zu kribbeln als seine Haare dagegen kitzeln. Ich schließe meine Augen und genieße den Moment, so wie er ist.

„Der Wein ist nur ein Vorwand um dich zu sehen", sage ich ehrlich und spüre etwas Scham, die sich auf meine Wangen legt. Ich nehme einen Schluck Wein zur Ablenkung, lasse die feinherbe Flüssigkeit über meine Zunge kitzeln. Die Aromen tanzen, entfalten sich auf meiner Zunge, wie ein Bouquet frischer Blumen. Es ist eine Weile her, dass ich Wein getrunken habe. Der ist viel besser als das süße Zeug, das Anni so gern trinkt.

„Ich freue mich, dass du hier bist.", flüstert er mir zu und küsst meine Wange. Sanft und zärtlich. Dann legen sich seine Lippen erneut gegen meinen Hals. Kurz unterhalb meines rechten Ohres. Die zärtliche Berührung an dieser Stelle lässt meinen gesamten Körper reagieren. Er pulsiert und bebt. Wieder ist es diese extreme sexuelle Anziehung, die mich fast vergessen lässt. Bevor sich mein Gehirn gänzlich abschaltet, löse ich mich etwas aus seiner Umarmung.

„Hast du die gemacht?", frage ich mit einem Blick auf die gerahmten Fotos an der Wand.

„Ja, Fotografieren ist mein kleines Hobby", erzählt er, „Die Bilder entstanden in einer stillgelegte Mine auf Sardinien."

„Italien, oder?", frage ich mit geografischer Unsicherheit. Antony nickt.

„Nach meinem Schulabschluss bin ich für ein paar Wochen zurück nach Spanien und habe dort Freunde und Familie besucht. Mit zwei Bekannten bin ich dann weiter nach Italien. Wir planten einen Fress- und Fototrip." Ein feines Raunen perlt über Antonys Lippen gefolgt von einem Auflachen. Ich genieße die tiefe Vibration, die sich auf meinen Körper überträgt, wenn er lacht.

„Ein Fresstrip?", frage ich amüsiert und kann mir das bei dem schlanken Mann gar nicht vorstellen.

„Oh ja, massenhaft Eis und Tiramisu. Pasta. Pizza. Cannelloni." Ein Portugiese, der von italienischen Essen schwärmt. Amüsant. Ich spüre das Lächeln auf Antonys Lippen, dann einen Kuss gegen meine Wange. Er wiederholt die sanfte Berührung. Mehrere Male. Ich genieße es.

„Und warum fotografierst du ausgerechnet alte Industriegebäude? Du hättest schließlich massenhaft Desserts fotografieren können...", frage ich neugierig, neige mein Gesicht zu dem anderen Mann. Wenn ich an Italien denke, fallen mir viele verschiedene Motive ein, aber nicht das.

„Ow, das habe ich. Die sind in meinen geheimen Fotoalben unterm Bett...", raunt er scherzend.

„Foodporn statt Normalporn. Interessant.", witzele ich zurück, spüre, wie mein Puls bei dem Gedanken daran nach oben schnellt.

„Erwischt!" Antonys Stimme wird weich. „Und du hast recht. Es gibt so viel mehr, was man sich anschauen kann. Die Toskana, wenn die Olivenbäume in voller Frucht stehen. Zypressen in einem sanften Meer voller rotem Mohn und Grün. Das zarte Gelb der Sonne, welches sich über die Hänge legt und sanft geküsste Zitrusfrüchte." Seine Beschreibungen lassen mich schwärmen und alles genauestens erahnen. Ich schließe die Augen. Seine Stimme projiziert die atemberaubenden Farben und ebenso das Gefühl von intensiver Sonne auf meiner Haut. Ich war noch nie in Italien oder in Spanien. Die weiteste Strecke, die ich je zurückgelegt habe, war die Entfernung zwischen meinem Elternhaus und der Uni.

„Tonverputzte Häuser. Eingebettet in die sanften Wogen der Landschaft", setzt er fort, „Carrara-Marmor und Sandstein. Die verzweigten und engen Gassen Jahrhunderte alter Städte. Die Künste der Gotik in den verwinkelten Ecken Sienas. In Florenz gibt es mehr Motorroller als Menschen, die sie fahren könnten.", bemerkt er lächelnd. Seine Arme schlingen sich noch dichter um mich. Antony ist selig. Die Wärme, die er ausstrahlt, scheint mich zu erfassen und trägt mich tief in seine Erinnerungen. Ich sauge seine Worte in mich ein, genauso, wie seine Berührungen.

„Ich habe mich schon immer für Motive interessiert, die die Vergänglichkeit des menschlichen Schaffens zeigen. Ruinen. Brachen. Abbilder des menschlichen Größenwahns. Verfallen und zerstört." Antonys Hand streicht über meinen Bauch. Etwas höher zu meiner Brust. Sie bleibt direkt über meinem Herzen liegen.

„Erzähl mir mehr...", flüstere ich. Er tut es. Antony hat ganz Italien bereist. Ich denke sofort an Napoleon als er von der Insel Elba spricht und wie dieser es als willkommenstes Exil bezeichnete. Antonys kurze Erzählungen malen ein zauberhaftes Bild. Er berichtet von den vulkanischen Hängen Siziliens. Seine Schilderungen wecken Sehnsüchte in mir, die ich nie für möglich gehalten habe. Er erzählt mir vom Meer und vom feuchten Sand unter seinen Füßen. Es klingt wunderbar. Es klingt so weit entfernt. Die dunkelrote Flüssigkeit in meinem Glas schwappt. Unsicherheit lässt meine Hände leicht zittern. Auch Antony bemerkt es.
 

„Bist du okay?", fragt er mich, nimmt mir das Glas aus der Hand und stellt beide auf die Kommode ab. Vor mir bleibt er stehen und weiche seinem Blick aus. Er lässt seine Finger durch meine Haare gleiten. Unwillkürlich schließen sich meine Augen. Nur für einen Moment, aber es reicht mir, um diese sanfte Berührung tief in mich aufzunehmen und zu bewahren. Ich bin mir nicht sicher, was ich auf seine Frage antworten soll. Ich fühle mich hin und hergerissen. Zum einen fühle ich pures Glück, weil Antony bei mir ist und dass er mich trotz allem, was vorgefallen ist, noch in seiner Nähe habe möchte. Andererseits schwelt in mir diese Unsicherheit. Ich weiß nicht, ob wir es schaffe die Differenzen und vergangenen Lasten wirklich abzulegen. Antony lässt ein weiteres Mal eine Hand durch meine Haare streichen. Ich erwidere diesmal die zärtliche Berührung, in dem ich meine Hand an seine Wange lege und meinen Daumen über den perfekt gestutzten Bart gleiten lasse. Die Form hat sich ein kleinwenig geändert. Der Übergang zum Kiefer ist etwas kantiger. Dafür macht die Linie am Kinn zu beiden Seiten einen sanften Bogen. Meine Finger streichen über genau diese Stelle als er sich zu einem Kuss zu mir neigt. Die Berührung ist nur ein Hauch, denn ich weiche vor ihm aus, blicke beschämt nach unten.

„Entschuldige, aber ich will mich nicht schon wieder verlieren...Können wir diesmal einfach nur reden?" Nicht wirklich meine Stärke, aber der Drang danach, wenigstens ein klein wenig Klarheit in unser Beziehungstohuwabohu zubringen, ist gigantisch. Die kühlen Augen meines Gegenübers gleiten über mein Gesicht. Forschend. Fragend. Dann verstehend.

„Natürlich..." Das Lächeln, welches er mir schenkt ist warm. Ich nicke ihm dankend entgegen, spüre, wie sich seine Arme um mich legen und dann seine warme, ehrliche Umarmung. Das Gefühl ist wunderbar.

„Hast du Hunger? Ich habe da ein paar Kleinigkeiten, die du unbedingt mal kosten solltest." Er haucht einen Kuss an meine Stirn und mein Magen grummelt leise zur Bestätigung.

„Gute Antwort!" Antony grinst, löst sich von mir und reicht mir die Weingläser. „Mach es dir schon mal gemütlich..." Er deutet auf eine der angelehnten Türen und verschwindet dann erneut in der Küche.
 

Ich bleibe im Wohnzimmer stehen, betrachte die moderne und kühlwirkende Einrichtung. Sie ist seltsam passend. Weiß. Dunkles Grau. Metall. Ich stelle die beiden Weingläser auf dem Glastisch ab und sehe mich weiter um. Über dem Fernseher hängen zwei farblich abgestimmte Bilder in Türkis- und Blautönen mit zartgelbe Elemente. Sie tauchen auch in Form von Kerzen und Figurinen in der Schrankwand auf. Zwei Fotografien mit farblich abgestimmten Rahmen. Ich erkenne einen jüngeren Antony ohne Bart mit zwei älteren Personen. Vielleicht seine Eltern? Seine Großeltern. Ich bin mir nicht sicher. Auf dem anderen Bild erkenne ich den Professor.

Ich wende mich ab und sehe direkt auf ein wandeinnehmendes Bücherregal. Ein bequemer Sessel, der sich so gar nicht in das Bild der restlichen Wohnung einfügt. Warmes, braunes Leder. Zerschlissen. Er wirkt viel benutzt. An einigen Stellen kann man bereits das Stoffgitter erkennen, welches unter das Leder gewebt ist. Ich gehe darauf zu, lasse meine Finger über das spröde Leder wandern und gleite mit meinem Blick über die Rücken verschiedener Bücher. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich vorwiegend Titel aus dem Wirtschaftsingenieurswesen erlese. Antony hat seine eigene kleine Bibliothek in der Wohnung. Nicht schlecht. Ich kriege für einen kurzen Moment lang ein schlechtes Gewissen, weil mein erstes Semester an der Uni alles andere als glatt läuft.

Mein Zeigefinger tippt gegen weitere Buchrücken. Ein Bildband der Fotografie. Ich ziehe es heraus und blättere es durch. Ein leises Klacken lässt mich aufblicken. Glas auf Glas. Der Portugiese stellt gerade ein paar Teller auf dem Wohnzimmertisch ab.

„Etwas Spannendes gefunden?"

„Mein Lieblingswerk: Mathematik für Wirtschaftsingenieure. Spannung. Witz und lauter Abenteuer.", kommentiere ich neckisch. Mein gequältes Lächeln verdeutlicht meine wirkliche Meinung zu dem Thema und ich bin nicht gewillt, es zu verstecken. Mathe war noch nie mein Ding, aber es gehört dazu, genauso wie im Abitur. Antony nimmt mir das Buch aus der Hand, schaut auf die aufgeblätterte Seite und erwidert meinen seltsamen Gesichtsausdruck als er erkennt, dass das gar nicht Mathe ist. Trotzdem nimmt er den Scherz auf.

„Ich gestehen, dass ist nicht mein Lieblingsbereich. Obwohl der Kollege Krüger drüber spricht als wäre es besser als Sex. Vielleicht haben wir einfach nicht die richtige Einstellung dazu." Ich stelle mir den relativ jungen Professor vor, wie er beim gemeinsamen Mittagessen über lineare Optimierungen spricht. Er wirkt jedes Mal schrecklich aufgeregt und hat ab und an das Problem, dass sein Kopf schneller arbeitet als er formuliert. Seine Sätze finden oft kein richtiges Ende. Ehrlich gesagt, erweckt er nicht den Eindruck als hätte er jemals Sex gehabt. Vielleicht täusche ich mich.

„Dann sollte ich das Thema doch mal vertiefen", schlage ich vor. Antony lacht. Es ist tief und voller herrlicher Vibration. Ich spüre sie bis ins Mark.

„So lange du nicht anfängst sowas beim Dirty Talk zu säuseln, ist alles gut. Komm mit..." Seine kühlen Fingerbeeren treffen auf meine. Diese winzige Berührung. Sie verursacht mir ein prickelndes Gefühl in der Magengegend. Ich folge der hauchzarten Andeutung Richtung Couch.
 

Auf dem Tisch steht eine Platte mit Kleinigkeiten. Belegte Brote. Weintrauben. Käse und Schinken. Ich vermute, dass es sich dabei um italienische Spezialitäten handelt. Die Mühe, die er sich gemacht hat, ist rührend. Unwillkürlich denke ich an den abgesagten Abend, an dem er für mich kochen wollte. Eine Mischung aus Schuldgefühl und Enttäuschung breitet sich in mir aus. Ich schiebe sie zur Seite, kann aber nicht verhindern, dass sie mich weiter belasten.

„Sieht wirklich gut aus...", sage ich und lächele. Ich lasse mich auf die Couch nieder. Sie ist schrecklich hart. Als sich Antony neben mich setzt, merke ich keine Veränderung und das, obwohl er sich zur Hälfte auf demselben Kissen platziert, wie ich. Ich klaue mir eine Weintraube, schmecke die herrliche Süße. Er rutscht näher, reicht mir einen Teller und dann spüre ich seine Hand auf meinem Knie. Sie soll niemals wieder verschwinden.

„Willst du eine Erläuterung?", fragt er und ich nicke. Serranoschinken. Pecorino. Crescenza. Die meisten Begriffe habe ich so schnell wieder vergessen, wie er sie mir nacheinander sagt. Ich bin nicht sehr gut darin mir solche Dinge zu merke. Aber ich spüre, wie sehr ich es mag, wenn er die italienischen Begriffe benutzt. Der Klang seiner Stimme ist reines Wohlgefühl und Erregung in einem.

„Und das sind ein paar Leckereien meiner Heimatküche." Antony deutet auf einen weißen Käse und kleinen Teigtaschen. Auch hier nennt er mir die Namen und jagt mir kleine Schauer durch den Leib. Ich wähle mir ein paar Sachen aus, lasse mir die fremden Aromen auf der Zunge zergehen und bin überrascht. Antony spricht von weiteren Gerichten, in denen diese Käse ihre Verwendung finden. Vor allem die Empanadas sind für mich ein kleines Highlight.

„Es ist wirklich lecker. Ich muss dir aber gestehen, dass ich nicht unterscheiden kann, was typisch Spanisch oder Portugiesisch ist." Mit dem Weinglas in der Hand lehnt sich der Portugiese zurück. Er schmunzelt.

„Na ja, beide Länder schwören Stein und Bein, dass sich ihre Küche sehr unterscheidet, aber im Grunde gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Olivenöl. Knoblauch. Fisch. Käse. Die spanische Küche ist einen Hauch mediterraner." Auch die Verdeutlichung in diese Richtung hilft mir bei der Unterscheidung nicht weiter. Ich kenne mich einfach nicht aus. Antonys Hand legt sich an meine Hüfte. Sie ist mittlerweile warm. Ich spüre seine Hitze durch meinem Pullover. Sie ist angenehm und wohltuend.

„Oh, doch, Bohnen. Die Portugiesen mögen Bohneneintop, aber ansonsten ist es ziemlich ähnlich. Dass ich das gesagt habe, darfst du bitte niemanden verraten." Er lacht und lässt seine Hand meinen Rücken hinauf gleiten. Unwillkürlich lehne ich mich etwas vor, sodass er noch höher streicheln kann.

„Und wie kommt es, dass du einen kleinen Spezialitätenladen in deiner Küche hast?", frage ich, beiße in eines der Brote mit Schinken und schaffe es nicht, es zu verspeisen, ohne dass mir die Hälfte des Fleisches über den Lippen hängen bleibt. Ästhetisch ist anders, aber was soll's. Salziges Aroma legt sich auf meine Zunge und ich streiche mir kleinere Krümel davon.

„Auf dem Weg zum Campus komme ich an einen Laden für Iberische Spezialitäten vorbei und mir werden viele der Leckereien aus der Heimat mit.. gebracht..." Den letzten Rest sagt er auffällig langsam. Er bricht ab. Ich brauche einen Moment um die Aussage zu verdauen.

„Wie praktisch...", sage ich, schaffe es nicht, die Erregung aus meiner Stimmung zubekommen. Mein Magen vollführt eine Drehung und mir ist fast sofort jeglicher Appetit vergangen. Mir wird klar, dass von den Dingen, die auf dem Tisch stehen einige von Mateo hergebracht wurden. Der Kontakt in die Heimat. Antony hat nicht darüber nachgedacht. Ich sehe es deutlich an dem gequälten Gesichtsausdruck.

„Tut mir leid. Ich hab nicht...", gesteht er nun genau das. Er streckt seine Hand wieder nach mir aus, doch ich stehe auf.

Ich fühle mich wie getreten. Mache ich mir nur etwas vor? Ich versuche die Gefühle zu unterdrücken, die auf mich einbrechen. Doch es klappt nicht. Ich weiß, dass sie unrationell und zum Teil völlig idiotisch sind, aber die Vorstellung, dass der andere Mann auf dieser Couch gesessen oder in seinem Bett gelegen hat, macht mich in diesem Augenblick fast rasend. Ich möchte diese Gefühle nicht. Die einhergehende Enttäuschung macht es nur noch schlimmer. Sie macht es schier aussichtlos. Ein verzweifeltes Seufzen entflieht seinen Lippen.

„Hör mir zu." Antony ist mittlerweile aufgestanden und fasst nach meiner Hand. „Du hast mich darum gebeten, dass wir reden und wir wollen ehrlich zueinander sein. Dann lass uns ehrlich miteinander reden" Er zieht mich zurück zur Couch, atmet tief durch und sieht mich an.

„Es ist mir ernst mit dir, Benedikt." Seine Hand umfasst meine. Führend zieht er mich neben sich. Die Kissen der Couch scheinen in diesem Augenblick, wie aus Stein zu sein. Ich fühle mich unwohl. Antonys intensiver Blick macht es nicht besser. Ich denke an seine vormaligen Ausflüchte und vor allem an die Machtlosigkeit gegenüber Mateo. Antony hat nicht einmal geleugnet, dass er es mittlerweile aufgegeben hatte, sich zu wehren. Er hat es hingenommen. Schlimmer noch, er hat sich damit arrangiert. Warum also sollte sich jetzt etwas ändern? Und es gibt so vieles mehr, was gegen eine gemeinsame Zukunft spricht. Das Alles ist gerade so deutlich, wie keine Sekunde zu vor.

„Wie kannst du das sagen, wenn so viele Dinge dagegen sprechen?"

„Was spricht dagegen?" Ich stocke einen Moment und werfe meine Gedanken hin und her.

„Der Altersunterschied...", werfe ich ein. Schwach.

„Der ist mir vollkommen egal."

„Die Uni..." Ich steigere mich.

„Nicht einfach, aber das geht... Ich habe mich auch erkundigt und es gibt Möglichkeiten. Neben Professor Stroud." Er führt es nicht weiter aus. Ich beobachte ihn genau und weiche auch seinem Blick nicht aus als er, nachdem er geendet hat zu mir sieht.

„Mateo." Der Name des anderen Mannes ist nur ein Flüstern. Der Höhepunkt. antony atmet merklich ein und schweigt. Anscheinend muss auch er sich sammeln oder sich irgendwelche neuen Ausflüchte überlegen.

„Ich hätte nicht herkommen sollen."

„Was? Nein! Ben! Du musst mir bitte auch eine Chance geben. Ich kann nicht alles an einem Tag lösen, weißt du!"

"Ich weiß."

"Dann gib mir bitte noch etwas Zeit um eine Lösung zu finden", bitte er sanft, aber eindringlich. Ich schüttle unwillkürlich den Kopf, weil ich nicht daran glaube, dass es etwas bringt.

"Ich kann nicht. Es wird nichts ändern."

"Wieso denkst du das?" Unbewusst schüttele ich erneut den Kopf, verdränge damit meine negativen Gedanken und weiche seinem Blick aus, ohne wirklich zu antworten.

„Ben,..." Eine Ermahnung an unsere Abmachung. Ehrlichkeit.

„Ich weiß, dass das hier ein Fehler ist. Das Alles", sage ich und sehe, wie nun er den Kopf schüttelt. Er streckt seine Hände nach mir aus und umfasst beide Seiten meines Gesichts mit beruhigender Wärme.

„Ich habe so viele Fehler gemacht, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Aber das hier... du! Du bist keiner." Er unterstreicht seine Worte mit einer weiteren mimischen Bestätigung. Ich starre auf seine angefeuchteten Lippen und auf die sanfte Linie seines Bartes. Trotzdem schaffe ich es nicht, ihn wirklich anzusehen.

„Woher willst du das wissen?" Im Grunde kennen wir uns nicht. Antonys Daumen streichelt meine Wange und gleitet dann über meine Unterlippe. Die berührten Stellen beginnen zu kribbeln. Ich schließe meine Augen und widerstehe dem Drang, dasselbe bei ihm zu wiederholen.

„Weil ich das erste Mal seit Ewigkeiten wieder etwas empfinde. Bitte, lass es uns versuchen. Ich werde alles tun um es dir zu beweisen." Seine fast verzweifelten Worte verursachen mir Gänsehaut. Ich blicke auf. Die kühlen Iriden sind trüb. Diese Zerrissenheit und Unsicherheit kosten so viel Kraft. Für uns beide.

„Ich will keinen Fehler mehr machen. Und dich einfach gehen zu lassen, wäre ein großer Fehler." Der Portugiese lässt seine Hände sinken. Sie betten sich in meinem Schoss. Ich will ihm glauben. Mein Verstand mahnt. Doch mein Herz ist ihm bereits vollkommen verfallen.

„Hör zu, ich verstehe deine Zweifel und ich weiß, auch, dass ich dich um einen riesigen Vertrauensvorschuss bitte." Vertrauen in etwas noch immer Fremdes. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer, hallt es in meinem Kopf. Vertrauen. Bisher schenkte ich es stets vergeblich.

Nichts, was sich lohnt zu haben, ist einfach zu kriegen, schreit es mir als Antwort entgegen.

„Bitte, gib mir dir Chance, dir zu beweisen, dass ich es kann."

„Du musst es mit ihm klären...endgültig", sage ich, ohne ihm eine direkte Antwort zu geben. Der Schwarzhaarige nickt. Ich verlange viel von ihm. Denn ich weiß, dass im Grunde nicht Antony der Problemfaktor ist, sondern Mateo.

„Das werde ich...so lange bis er es endlich versteht..." Ich glaube ihm. Das seltsame Gefühl, welches ich bereits den ganzen Abend mit mir herumschleppe, bleibt. Antonys Hand streckt sich nach mir aus. Er streicht mir über die Wange und ich schließe meine Augen. Er zieht mich in seine Arme. Die Wärme seines Körpers umfängt mich, wie eine kurierende Hülle. Lasse ich mich nur einlullen? Ich will daran glaube, dass wir es schaffen. So, als hätte er meinen betrübten Gedanken gespürt, drückt er mich fester an sich. In dieser Position verbleiben wir den restlichen Abend. Das Gefühl seiner streichelnden Hände, die wieder und wieder über meinen Rücken gleiten oder meinen Schultern. Hin und wieder ein Kuss. So intensiv und süß. Wir genießen das leise Reden, tauschen kleinere Geschichten aus. Antonys Stimme ist weich und ruhig. Es ist ein deutlicher Unterschied zu der Art und Weise, wie er in der Uni redet. Zwar auch ruhig, aber vor allem distanziert, kühl. Er bittet mich zu bleiben. Ich gehe nicht.
 

Ich erwache durch eine wohltuende Wärme. Antonys Körper drückt sich über die gesamte Länge gegen meinen. Ich spüre seine Brust, die sich sanft bebend gegen meinen Rücken bewegt. Seinen Arm, der um meinen Bauch liegt und die Hand, deren Finger hauchzart meinen Brustkorb berühren. Wohlige Hitze trifft meinem Hintern. Sie jagt mir kleine Schauer der Aufregung durch den Leib. Selbst meine Waden empfangen diese unglaubliche Geborgenheit. Meine Augen schließen sich augenblicklich wieder. Der gestrige Abend hat mich Antony wirklich näher gebracht, hat ihn klarer gezeichnet. Wir haben über Familie gesprochen, aber ohne die Dramen, die einen anderen Abend verlangen. Ein paar meiner kennt er bereits. Der Großteil von Antony Familie lebt in Spanien. Auch seine Eltern sind den Sommer über immer mehrere Monate lang dort. Sie sehen sich nicht oft. Das haben wir also gemeinsam. Er hat keine Geschwister. Ich erzählte ihm von meinen Nichten. Antony kann kochen und das anscheinend richtig gut.

Jetzt am Morgen legt sich sein freudig kribbelndes Lächeln auf meine Lippen, welches sich mit einem Hoffnungsfunken paart. Ich genieße es so lange bis sich der Körper hinter mir regt. Ein leichtes Kitzeln in meinem Nacken als mich Antonys warmer Atem trifft, lässt mich aufhorchen. Es ist erst streichelnd und dann neckend. Ein Kuss, der sich in die sanfte Beuge meines Halses bettet, folgt.

„Bist du wach?", fragt er. Nur ein heiseres Flüstern. Sein Kopf neigt sich über meine Schulter und dann sieht er mir verschlafen an. Nur mit einem Auge und wirrstehenden Haaren. Es sieht unglaublich sexy aus und fast 10 Jahre jünger. Ich schüttele meinen Kopf, verneine somit seine Frage nach meinem Wachsein und ernte das, was ich mir erhoffe. Antony legt sich hinter mich, umfasst mich sofort etwas fester und wir bleiben einfach liegen. Ich döse sogar wieder etwas ein. Das einfache Beieinandersein gibt mir so viel. So seltsam es klingt, aber diese Momente sind viel bindender für mich als Sex.
 

Obwohl es mir schwerfällt, verabschieden wir uns am frühen Nachmittag voneinander. Ein langer ausgiebiger Kuss vor der Tür. Eigentlich sind es viele mehr, aber wer zählt schon mit. Ich fahre Antony ein letztes Mal durch die noch immer ungekämmten Haare. Es lässt die Strenge in seinen Gesichtszügen fast verschwinden. Ich verspreche mich bei ihm zu melden, verschwinde die Treppe runter und sehe dann zum ersten Mal seit gestern Abend auf mein Handy. Das, was ich sehe, jagt mir kalte Schauer durch den Leib.

Trotz meiner Entschuldigung hat Anni fünfzehn Mal versucht mich zu erreichen. Beim der letzten Nachricht trete ich auf die Straße, genieße den kühlen Herbsthauch, der sich auf meine erhitzten Wangen legt. Anni weiß ganz genau, wo ich bin und wen ich ihr vorgezogen habe.

Seufzend schiebe ich das Telefon zurück in meine Hosentasche ohne ihr auf die Mitteilungen zu antworten. Ich werde mich erst in der WG mit ihr auseinandersetzen.

Ein Auto setzt sich in Gang, als ich aufblicke. Ein schwarzer BMW mit getönten Scheiben. Das kurze Kribbeln einer Erinnerung durchfährt mich. Ich habe diesen Wagen schon einmal gesehen. Mein Blick fällt auf das Kennzeichen als es an mir vorbeifährt.

Das mahnende Echo der Normalität

Kapitel 27 Das mahnende Echo der Normalität
 

Im Wohnungsflur der WG bleibe ich stehen und lausche. Weder aus Maries noch aus Ricks Zimmer kommen irgendwelche Geräusche. Ich sehe zum Schuhregal und schätze ein, dass ich anhand der dort stehenden Schuhe nicht einschätzen kann, ob sie da sein müssten oder nicht. Fremde sind jedenfalls nicht dabei. Ich verstaue meine Sachen, in dem ich sie in mein Zimmer schubse und stecke meinen Kopf durch die Tür zur Küche. Nichts. Nur eine einsame Tasse steht auf dem Tisch. Ich trabe hinein, öffne den Kühlschrank und starre in die gähnende Leere, die mir aus allen drei Fächern entgegen springt. Nur im Gemeinschaftsfach liegt eine angeschnittene, traurige Gurke und eine halbe leere Packung Frischkäse. Nur das obligatorische Soßen- und Milchlager in der Tür ist ausreichend bestückt. Ob man aus den Ingredienzien etwas lecker zaubern kann? Ich bezweifele es. Ernüchtert werfe ich einen Blick in den Gefriereschrank und schließe ihn wieder, als ich nichts weiter als Spinat und gefrorenen Joghurt darin finde. Wie auf Bestellung und als mahnendes Omen beginnt mein Magen zu knurren. Unwillkürlich öffne ich das Gefrierfach erneut und nehme den Joghurt heraus.
 

Mit Löffel und einem Schälchen, das ich nicht benutze, lasse ich mich an den Tisch nieder, ziehe mir die Biologiezeitung von Marie ran. Ich teste die Oberfläche des Joghurts. Sie ist steinhart. Ich öffne die Zeitschrift und werfe einen Blick in das Inhaltsverzeichnis. Viele interessante Artikel. Vieles sagt mir gar nichts. Der erste Happen kalte Substanz löst ein kleines interessiertes Freudenfeuer in meinem Mund aus. Die feines Süße und das leicht saure Aroma sind wirklich etwas Wunderbares. Ich entscheide mich beim zweiten Löffel für einen Artikel über Cyberanthropologie. Immer mehr Kommunikation und Gesellschaft verlagert sich in das mediale Cyberspace. Das Magazin spricht von ganzen Online-Gesellschaften. Ich vertiefe mich in den Artikel, erwische mich dabei immer wieder, anerkennend zu nicken und kratze über den weicher werdenen Joghurteis. Mit dem nächsten Löffel sehe ich auf, weil ich höre, wie die Tür geöffnet wird. Ich recke meinen Hals, doch sehen kann ich nichts. Brauche ich auch nicht. Mit einem Mal steht Rick in der Tür.

„Hey, da bist du ja wieder... Wo warst du gestern?", fragt mein Mitbewohner, stellt eine Tüte auf die Arbeitsplatte und wickelt sich den Schal vom Hals.

„Ich war aus.", sage ich, sehe, wie Rick in seiner Bewegung innehält und sich dann zu mir umdreht. Seine Augenbrauen wackeln. Er wirft mir einen neugierigen Blick zu. Erst nachdem er alles an überflüssiger Kleidung losgeworden ist, beginnt er die Frischhaltedosen aus der Tüte auszupacken, die wiederum mein Interesse wecken.

„Mit ihm?", fragt er vorsichtig, reibt sich über die Nase und schnieft. Ich nicke und lehne mich zurück, lege den eisbeschmierten Löffel zur Seite. Ich bin abgelenkt und beäuge die Plastikbehälter auf dem Tisch.

„Und?", bohrt er weiter. Mit einem Knistern landet die leere Tragetasche im Mülleimer.

„Mit ihm und bei ihm.", fahre ich lächelnd fort, „Wir haben aber nur geredet. Unsere Probleme haben sich zwar nicht aufgelöst, aber möglicherweise könnten wir vielleicht... denke ich jedenfalls...." Ich breche ab. Ja, was denke ich? Noch immer ist es Unsicherheit, die sich durch meine Glieder kitzelt, aber auch eine großspurige Portion Glückseligkeit. Antony will mich, das hatte er deutlich gesagt. Das zufriedene Kribbeln wird intensiver.

„Geredet! Das ist fantastisch." Die kleine Spitze gepaart mit einem packenden Zwinkern lässt mich verlegen lächeln. Bisher hatten Antony und ich kaum geredet und das weiß mein Mitbewohner. Ricks aufmerksame Augen mustern mich, während ich aufstehe und mich neugierig neben ihn an die Arbeitsplatte stelle.

„Es ist ein Anfang...", ergänze ich verhalten. Rick weiß nichts von dem mega Problem namens Mateo. Er weiß nichts von Luka. Oder dem Professor und damit Antonys Karriere. Zusammengefasst klingt es, wie der Plot einer schlechten Sitcom. Unsere Probleme sind gewaltig, egal, wie sehr wir uns auch mögen. Ich beuge mich zu einer milchweißen Frischhaltedose mit grünen Deckel und versuche zu erkennen, was sie für einen Inhalt haben könnte. Je mehr ich es betrachte, umso seltsamer finde ich es.

„So wirklich glücklich wirkst du nicht."

"Na ja, es ist noch vieles offen...", sage ich knapp. Rick nickt verstehend, beugt sich ebenfalls runter und gemeinsam blicken wir auf die Dose, bis wir uns ansehen.

„Was ist das alles?", frage ich argwöhnisch. Ein kurzer Blick zu der Dose und wieder zurück zu den blauen Augen meines Mitbewohners.

„Kohlrouladen", sagt er trocken, so als müsste ich erkennen, was es ist und gleichzeitig verstehen, wie es zu der Menge kommt. Auch Rick sieht wieder zu dem Stapel. In meinem Kopf wiederholt sich die Speisenbetitelung und ich ziehe wenig befriedigt meine Augenbraue nach oben. Ich muss nicht lange auf eine Erklärung warten.

„Meine Mutter bekommt einmal im Jahr einen Kohlanfall. Kohlsuppe. Gedünsteter Kohl. Kohl mit Hackfleisch. Krautsalat. Kohlrouladen. Letztes Jahr hat sie Sauerkraut gemacht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es ist ein halbes Jahr lang Sauerkraut zu essen. Dieses Jahr sind es Kohlrouladen. Stell dich schon mal darauf ein, dass ich davon einige an euch verfüttere." Wir sehen wieder auf die Vorratsbehälter. In jedem Behälter sind mindestens vier Stück. Der Stapel besteht aus sechs Dosen. Mir entflieht ein leise Uff, welches von Rick laut gespiegelt wird. Ich habe nichts gegen Kohlrouladen. Im Gegenteil. Bisher habe ich sie immer sehr gemocht. Dazu einen Haufen Kartoffeln und eine leckere Soße. Was will man mehr? Meine Mutter ist auch ein großer Fan von dieser gutbürgerlichen Hausmannskost. Ich sollte sie anrufen. Ein Hauch von Schwermut überfällt mich. Ich schüttele sie davon.

„Sie war sicher auch ein Verfechter der Kohlsuppendiät?", merke ich an und erinnere mich an schreckliche Wochen dank abnehmwütiger Freundin und Schwester. Es war der Horror.

„Genau auf die Wunde. Bist du jetzt zufrieden?", wimmert er theatralisch, lässt sich auf den Stuhl fallen und ich bin immer mehr der Überzeugung, dass er ein vorzüglicher Anwalt wird. Er macht dabei ein schwer traumatisiertes Gesicht und ich kann nicht verhindern, dass ich darüber lache. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Rick damit nicht verschont wurde. Ich helfe ihm dabei, die Rouladen im Kühlschrank und Gefrierfach zu verstauen. Als wir damit fertig sind, zieht sich der Größere den angetauten Joghurt heran. Ich reiche ihm einen Löffel. Zurückstellen können wir es nicht, denn der Gefriereschrank ist bis zum Bersten mit Kohl gefüllt. Wir leeren den Rest des Eises gemeinsam. Wir kommen nicht noch mal auf das Thema Antony zurück. Ich bin ihm dankbar.
 

„Sag mal, ... Marie hat doch Freitag Geburtstag, oder? Planen wir die Party zu Freitag oder Samstag?", werfe ich ein und lehne mich zurück. Aus meiner Position heraus kann ich deutlich sehen, wie Rick in seiner Bewegung innehält. Das Lächeln in seinem Gesicht ist steif und gruselig bevor es vollkommen zusammenfällt.

„Oh Mist, das hab ich ja total verpennt..."

„Es war doch deine Idee!", lege ich nach. Necke ihn mit voller Absicht!

„Ich weiß...", äußert er übertrieben theatralisch und lehnt sich zurück. Sein Kopf neigt sich nach hinten und er seufzt. Ich kann mir nur schwer ein Lachen verkneifen.

„Ich weiß mit dem ganzen Chaos ist es gerade ein wenig auf der Strecke geblieben, aber wir sollten noch mal darüber reden!"

"Unbedingt! Warte!" Rick steht ruckartig auf und verschwindet in sein Zimmer. Er kommt mit einem Stift und Zettel wieder zurück. Wir eruieren, dass ich die Essens- und Getränkeplanung übernehmen wollte und er die Planung für die Dekoration und Geschenke. Schnell legen wir ein paar Grundlagen fest. Wir machen Chili. Es ist relativ günstig und man kann es in großen Mengen produzieren. Und alle mögen Chili. Ansonsten gibt es kleineres Knabberzeug und Gemüsekram. Das größte Problem ist und bleibt die Tatsache, dass wir mit keinen von Maries Freunden in Kontakt stehen. Rick wird versuchen den Physiker anzusprechen, den Marie beim Harry-Potter-Marathon vorgestellt hat. Fürs erste sind wir zufrieden.
 

Ich verschwinde kurz ins Bad und hole auf dem Rückweg zu meinem Zimmer die Packung blauer Weingummi-Figuren aus meiner Jackentasche. Sie ist offen bevor ich im Zimmer bin. Ich verkneife es mir sofort auf dem Weingummi rumzubeißen, sondern lutsche zunächst ein bisschen darauf rum. Ich lege die Packung auf meinem Schreibtisch ab, fahre meinen Rechner hoch und checke meine Emails. Eine Nachricht von meinem Projektpartner. Er schlägt ein Treffen nach Antonys Vorlesung vor. Mir wird für einen Moment ganz kribbelig als ich an den schönen Portugiesen denke. Erst jetzt beginne ich zu kauen.

Auch auf Anni werde ich morgen treffen. Das angenehme Kitzeln in meinen Eingeweiden wird zu einem Unangenehmen. Sicher werden wir wieder streiten. Immerhin habe ich ihr abgesagt und dann auch noch fünf Minuten vor Peng. Immerhin hatte ich einen guten Grund. Für mich war es jedenfalls einer. Die Beschwichtigung ist so schwach, dass sie nicht einmal bei mir wirkt. Ich atme geräuschvoll ein und auch sofort wieder aus. Diesmal gehe ich auf Konfrontation, greife mir das Handy und wähle Annis Nummer. Es klingelt lange und als sie rangeht, herrscht Stille.

„Hey du, können wir reden?" Anni schweigt mich provokativ an. Eine ziemlich seltsame Taktik am Telefon. Vielleicht sollte ich ihr beim nächsten Mal erklären, dass man nicht rangeht, wenn man nicht reden möchte. Zudem ist eine schweigsame Anni etwas sehr eigenartiges. Ich bin also doppelt irritiert. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. Mein Blick wandert über den Bildschirm, während ich darauf warte, von meiner langwierigen Freundin eine Antwort zubekommen. Ich muss mein Postfach ausmisten. Anni schweigt immer noch.

„My Dear, please...", fordere ich sie offensiv in ihrer üblichen Mundart als auch nach einer Minute noch keine Reaktion kommt. Ich ernte ein leises Murren. Immerhin eine Reaktion.

„Komm schon, Anni. Ich weiß, dass du sauer bist und es tut mir leid." Der erste Versuch einer Entschuldigung. Weiteres Schweigen. Dafür kann ich hören, wie sie beginnt an irgendetwas rumzuknippern. Es folgt ein Klicken. Dann wieder Stille.

„Anni...", setze ich an, doch sie unterbricht mich.

„Du warst bei ihm, oder?" Relativ neutral. Ich nicke unwillkürlich und wohlwissend, dass sie es gar nicht sehen kann.

„Er hatte seine Einladung schon vor deiner Idee mit dem Filmeabend ausgesprochen." Es klingt wie eine Rechtfertigung. Eigentlich sollte ich mich vor ihr nicht verteidigen müssen und tue es dennoch jedes Mal.

„Und wieso hast du denn nichts gesagt?" Nun hört sie schon ein wenig vorwurfsvoll an.

„Ich war mir selbst nicht ganz sicher und du hättest versucht, es mir auszureden", gestehe ich. Anni schweigt erneut. Ich höre, aber erneut das Knippern.

„Es tut mir echt leid, dass ich dir so kurzfristig abgesagt habe. Ich war schon fast bei dir und dann..." Wirklich keine Lüge. Schließlich hatte ich sogar schon ihren Lieblingswein in der Hand. Ich starre auf die Schlümpfe. Mein Finger stupst gegen die Tüte. Nur ein kurzes leeres Knistern. Ich nehme mir kein Neues, weil die Reste des vorigen noch in meinen Zahnzwischenräumen kleben.

„Und dann hat er dir einen Auberginenemoji geschickt und du bist umgedreht?" Ihre zynische Bemerkung ärgert mich. Es hätte mindestens eine Gurke sein müssen.

„So war es nicht..."

„Wie dann? Mir kommt es nämlich so vor, dass du jedes Mal sofort angelaufen kommst, sobald er pfeift und Ben, ganz ehrlich, das ist nicht gesund."

„Bist du fertig?", knurre ich ihr entgegen. Ich habe keine Lust erneut mit ihr über dieses Thema zu diskutieren. Ich kenne ihre Einstellung dazu. Ich weiß um ihre Meinung zu meinem Dozenten und mir ist klar, wie sehr meine rothaarige Besserwisserin dagegen ist. Wahrscheinlich habe ich gehofft das Verständnis zu erhalten, das man sich von seiner besten Freundin wünscht. Vielleicht ist Verständnis das falsche Wort. Fakt ist, Freunde sind dazu da, einen nicht blind ins Verderben rennen zu lassen und genau das mache ich in Annis Augen gerade. De Facto macht sie ihrer Ansicht nach alles richtig. Ich habe damals nichts anderes gemacht. Wieder und wieder habe ich sie dazu gedrängt ihren Freund zu verlassen, einzusehen, dass es keine Zukunft hatte. Sie denkt nun mir einen ähnlichen Dienst zu leisten.

„Verdammt Ben, ich will doch nur nicht, dass deine Hoffnungen ständig enttäuscht werden."

„Ich weiß", antworte ich knapp.

„Ich will, dass du glücklich bist..."

„Ich weiß", wiederhole ich erneut. Ich weiß es wirklich, aber es nervt mich einfach dauernd von ihr belehrt zu werden. Sie weiß nichts über Antony, denn jedes Mal, wenn wir auf ihn zu sprechen kommen, höre ich nur ihre Ablehnung.

„Ich will doch nur, dass dir nicht andauernd wehgetan wird..." Diese Worte aus ihrem Mund sind fast verzweifelt.

„Und ich will mich nicht andauernd rechtfertigen müssen. Anni, es tut mir leid, dass ich dich gestern versetzt habe, aber ich musste einfach zu ihm gehen. Wir haben endlich miteinander geredet und einiges klargestellt. Er will mit mir zusammen sein. Er will es wirklich und ich möchte das auch." Anni lässt mich reden, während ich ihr versuche deutlich zu machen, dass es endlich einen Lichtblick gibt. So etwas, wie den ersten Sonnenstrahl nach einem langen harten Winter, der sich belebend über die erwachende Vegetation legt. Ich fühle mich belebt und gestärkt. Trotz der Unsicherheit, die noch immer an der Oberfläche schwimmt. Doch sie ist nur noch ein letzter leichter Dunst. Mein Blick bleibt bei einem kleinen Fleck links neben der Deckenlampe hängen. Ich denke an Ricks Worte und ich bin mir sicher, dass ich kämpfen möchte.

„Bist du dir wirklich sicher?", fragt sie mich vorsichtig. Ich lehne mich im Stuhl zurück und starre einen Moment an die Decke. Ich hasse sie dafür, dass sie mir solche Fragen stellt. Und auch dafür, dass sie damit immer einen wunden Punkt trifft. Ich spüre förmlich, wie sich ein Finger in meine Unsicherheit bohrt. Immer tiefer. Immer weiter. Ich kann nur hoffe, dass sie nicht platzt

„So sicher, wie es im Moment geht." Anni seufzt und gibt sich scheinbar geschlagen. Spiel. Satz und Sieg. Ich lasse meine Faust geräuschlos nach oben schnellen.

„Gehen wir morgen zusammen Mittag essen?", fragt sie nach einem Moment andächtiger Stille.

„Geht nicht, ich treffe mich mit einem Kommilitonen wegen des Projekts. Ich weiß nicht, wie lange wir brauchen werden." Ich beuge mich wieder zum Tisch, lege beide Ellenbogen darauf ab und kann nicht verhindern, dass ich fahrig seufze.

„Was hältst du davon, wenn wir dann wenigstens abends zusammen Essen gehen? Eine Pizza in Wagenradgröße mit frischen Tomaten und Mozzarella. Peperoni und Pilzen", schlage ich vor.

„Du magst gar keine Peperoni", wirft sie protestierend ein. Bei Tomaten und Mozzarella hatte ich sie bereits. Das weiß ich.

„Ich werde sie alle auf deine Hälfte legen." Die stillschweigende Verzögerung, die folgt, ist künstlich herbeigeführt. Anni lässt mich schmoren. Ich warte geduldig.

„Ich möchte auch Rucola..." Fast eine Drohung. Noch mehr Grünzeug auf der Pizza. Ich kann damit leben. Ich nicke.

„Ich hol dich gegen 17 Uhr ab."

„Wehe du versetzt mich..." Nach dieser Mahnung verabschiede ich mich, lehne mich wieder zurück und suche erneut nach dem Punkt an der Decke von eben. Ich starre eine ganze Weile darauf, lasse alles Revue passieren und versuche meine Gedanken zu ordnen. So lange, bis ich beginne, verschiedene Formen im Fleck zu erkennen. Wenn man in einem grauen Klecks Bohnen, Kartoffelchips und dann Gummibärchen sieht, sollte man aufhören. Ich widme mich wieder meinem Rechner, rufe die Universitätsseite auf und lade mir zum wiederholten Male meine Vorlesungsfolien runter. Zum Abend mache ich einen Abstecher zu Rick. Wir einigen uns auf Chinesisch und kratzen die letzten Münzen zusammen, die wir in unseren Geldbeuteln finden. Marie taucht erst mitten in der Nacht auf. Ich höre sie poltern und dann, wie die Scharniere ihres Bettes quietschen, als sie sich hinlegt. Ich kann nicht einschlafen.
 

Die erste Vorlesung am Montag ist relativ ereignislos. Bei der Zweiten sieht es ganz anders aus. Wir steigen mit dem Themenbereich des externen und internen Rechnungswesens ein und ich habe das Gefühl zum ersten Mal bewusst in dieser Vorlesung sitzen. Nicht gut. Gar nicht gut. Buchführung. Bilanzen und eine Unmenge an Zahlen. Nach nur einer halben Stunde habe ich den Faden verloren. Die Vorlesung verlasse ich schlichtweg entmutigt und mit dem schlimmsten Versagensgefühl aller Benzeiten. Ich darf das nicht vermasseln und meine Eltern noch mehr enttäuschen. Unwillkürlich greife ich nach meinem Handy, starre auf das dunkele Display und scrolle dann zu der Nummer meiner Schwester. Natalia hat sich nicht noch einmal gemeldet. Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Ich tippe ihr eine SMS und gehe zur Mensa um mir ein warmes Getränk zu holen. Tee oder Kaffee. Ich bin mir unschlüssig. Anscheinend ist das Entscheiden zurzeit ein Dauerproblem bei mir. Nach gut 10 Minuten habe ich mich für einen Kaffee entschieden und bereue es sofort. Trotz Milch und Zucker ist er schrecklich stark. Ich kriege ihn kaum runter, nippe auf dem Weg zum Hörsaal nur minimal daran und überlege mehrere Male zurück in die Mensa zugehen, um aus meinem Kaffee mit Milch, Milch mit Kaffeearoma zu machen.
 

Ich lasse es sein und bleibe vor der gigantischen Flügeltür stehen. Der weiße Lack ist an einigen Stellen abgeplatzt und ein paar der geschnitzten Verzierungen sind kaum noch zu erkennen.

Mein Puls beschleunigt sich, als ich den Hörsaal betreten. Ich vermeide den direkten Blick zum Pult und doch kann ich aus dem Augenwinkel heraus sehen, dass Antony mit einer Traube anderer Studenten um sich herum daneben lehnt. Sie diskutieren eifrig. Ich kann nicht hören worüber. Ich suche mir einen Platz auf der linken Seite, bleibe in der Mitte und sehe erst wieder auf, nachdem ich eine angenehme Position gefunden habe. Halbwegs. Fast. Meine Knie stoßen gegen die Rückenlehne der vorderen Reihe.

Ich bekomme eine Nachricht. Die Erinnerung daran, dass mein Projektpartner nach der Vorlesung im Flur auf mich wartet. Ich nippe ein weiteres Mal an meiner Koffeinbombe und sehe zum Pult. Die Traube um Antony scheint seit den letzten Vorlesungen noch gewachsen zu sein. In mir regt sich ein Gefühl, dass ich schon sehr lange nicht mehr hatte. Ich mag es nicht. Bevor ich meinen Blick abwende, sieht er zu mir. Das Lächeln auf seinen Lippen ist nur minimal und dennoch lässt es mein Herz höher schlagen. Einfach nur, weil er mich bemerkt hat. Schon ein wenig erbärmlich.

Der Hörsaal füllt sich weiter und erst als Antony den hartnäckigen Dozenten raushängen lässt, verschwinden die Anhänglichen endlich auf ihre Plätze. Schamerfüllt gestehe ich mir ein, dass sich meine Eifersucht legt, nachdem sie alle einen gebührlichen Abstand zu ihm haben. Den Rest der Zeit schwebe ich durch die klare, ruhige Stimme meines heimlichen Freundes getragen wie auf Wolken. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen, ein paar Notizen zu machen und gedanklich nicht dahinzusiechen.
 

Nach der Vorlesung verlasse ich den Hörsaal. Ich bin nicht mal durch die Tür als ein ernstschauender Asiate auf mich zukommt. In seiner Hand befinden sich zwei schmale Aktenordner. Mein Blick bleibt jedoch bei seinen Füßen hängen. Er trägt nur Sandalen und das im Oktober. Noch bevor er bei mir ankommt, höre ich, wie mein Name gerufen wird und wende mich wieder zur Tür.

„Herr Kaufmann, ..." Die angenehme, vertraute Stimme verursacht mir augenblicklich Gänsehaut, die sich über meinen Hals bis zu meinem Bauchnabel ausbreitet. Dort prickelt sie. Erst sanft und aufgeregt. Dann heiß und willig. Ich wende mich nur zögernd zu unserem Dozenten um. Sein Gesicht ist, wie erwartet neutral. In seinen Augen erkenne ich die feine Kühle. Doch ich sehe durch diese hindurch in das warme, liebevolle Innere. Antonys Blick schweift zu dem jungen Mann neben mir. Nur ein kurzes Nicken.

„Ich würde Sie nachher gern in meinem Büro sprechen." Ich verkneife mir ein spontan ausgerufenes Sofort, richte meinen Blick auf den anderen Studenten und dann auf die Uhr um das verräterisch, vorfreudige Lächeln aus meinem Gesicht zubekommen. Ich weiß nicht, wie lange wir an dem Projekt arbeiten werden.

„Natürlich, ähm... Wir wollen erst über das Projekt reden...und..." Ich sehe zu dem Asiaten und dann zu unseren Dozenten.

„Es eilt nicht. Ich werde bis 19 Uhr im Büro anwesend sein..." Antony lächelt mir entgegen, nickt und verschwindet dann wieder zum Rednerpult. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Es beruhigt sich erst, nachdem wir in der Mensa angekommen sind und unsere gegenseitige Vorstellung beendet haben. Mein Projektpartner heißt Kaworu und studiert Wirtschaftsingenieurswissenschaften nur im Nebenfach. Anscheinend gehört er in die klischeehafte Kategorie von besonders fleißigen und stresserprobten Asiaten. Er ist Japaner. Klein, zierlich und mit einem leicht schiefen Lächeln. Wir lassen uns an einen Tisch nieder und so wie ich es immer tue, sehe ich mich einen Moment lang um. Es sind nicht mehr viele Studenten beim Essen. Die Meisten lesen oder reden. Ich sehe sogar ein paar schlafen. An einem weiter entfernten Tisch erkenne ich jemanden wieder. Ein großgewachsener, trainierter Schwarzhaariger. Ihm bin ich vor ein paar Wochen im Fitnessstudio an den Sirupspendern begegnet. Er unterhielt sich damals mit diesem lauten Muskelmonster. Ich rufe mir unwillkürlich das Gespräch ins Gedächtnis und schelte mich innerlich dafür, dass ich sie belauscht habe. Vor ihm sitzt diesmal ein anderer. Ein kleinerer Kerl mit braunen Haaren und ernstem Gesicht. Sie diskutieren lebhaft. Ob er derjenige ist, über den sich der Schwarzhaarige beim Sport so aufgeregt hat?

Kaworu folgt meinem Blick und schüttelt dann den Kopf. Ich sollte mich schämen, andere so zu beobachten.

„Die Beiden diskutieren sich irgendwann in Grund und Boden.", sagt er seufzend. Ein weiteres Mal schüttelt er den Kopf. Das Erste galt wohl doch nicht mir.

„Du kennst sie?", frage ich neugierig und vermeide es mich nochmal umzudrehen. Die Versuchung ist groß. Mein Gegenüber legt seine Aktenordner auf dem Tisch ab.

„Der kleinere grimmige Typ, Robin, ist in meinem Hauptstudiengang. Der Große studiert Biotechnologie. Er heißt Kain." Unwillkürlich geht mein Blick doch wieder zu den beiden Männern. Für mich wirken sie seltsam vertraut. Ob das täuscht?

„Ich habe mit einer Freundin aus der Biologie eine Wette zum Thema Lebensende der Beiden am Laufen. Entweder werden sie sich irgendwann umbringen oder gemeinsam alt werden." Wie nett. Kaworu zwinkert und kramt in seinem Rucksack herum.

„Und auf was wettest du?"

„Ich bin der Überzeugung, dass sie sich irgendwann gegenseitig erwürgen!" Ein kurzes, erheitertes Lachen und dann zieht er seinen Laptop aus der Tasche.

„Kennst du eigentlich Marie Meinhard?", frage ich, nachdem ich gedanklich wieder bei der Biologie angekommen bin. Meine Mitbewohnerin studiert immerhin auch Biologie. Kaworu sieht mich verwundert an.

„Ja, mit ihr läuft die Wette." Er gibt mir noch eine ziemlich passende Beschreibung von ihr, die ich vollkommen abnicke. Ich kann nicht verhindern, dass ich noch einmal zu den Beiden rüber sehe. Ich finde immer noch, dass sie sehr vertraut miteinander wirken. Es ist die Mimik und auch die Art, wie sie sich beim Ansprechen zueinander bewegen. Vor allem die Hände des Größeren liegen offen und nähesuchend auf dem Tisch zum anderen hingestreckt. Nichts davon wirkt abwehrend oder feindselig.

Erst das leise, gleichmäßige Tippen auf der Tastatur zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Projektpartner zurück.

„Okay, ich habe dir ja geschrieben, dass ich schon ein bisschen, was vorbereitet habe." Der Japaner fährt seinen Laptop hoch und kramt einen Block mit allerhand Zetteleinlagen hervor. Ich sehe dabei zu, wie er darin rumblättert und fühle mich schlecht. Ganze drei Blätter hat mir meine plötzlich aufkommende Schuldrecherche am Samstagnachmittag beschert. Soviel, dass ich wenigstens eine Grundidee vom Thema habe. Mehr, aber auch nicht.

„Gut, dann lass uns über wirtschaftspolitische Implikationen reden..."

„Yippie,..." Meine Antwort klingt nicht mal ansatzweise so freudig, wie das Lächeln des Japaners aussieht. Meine Vorahnung bestätigt sich. Kaworu, der schon mehr im Thema drin ist, beginnt mir seine Vorstellungen zu skizzieren und ich habe das Gefühl kaum etwas zu verstehen. Ich versuche mich an die bereits recherchierten Informationen rück zu erinnern, doch wirklich viel ist nicht hängen geblieben. Kaworus Unzufriedenheit mit meiner fachlichen Kompetenz bekomme ich alsbald zu merken. Es gefällt ihm nicht mit einem Anfänger zuarbeiten und ich kann es verstehen. Ich kann es aber nicht ändern. Ich versichere ihm, nachdem wir alles besprochen haben, dass ich mich mehr in die Materie einlese. Akute Vertiefung sozusagen. Ich hoffe nur, dass ich die Zeit und auch die Konzentrationsfähigkeit dafür aufbringen kann. Im Moment bin ich, was Vernunft und Ehrgeiz angeht, nicht gerade gesegnet. Nachdem Kaworu gegangen ist, packe auch ich meine Sache zusammen und mache mich wieder auf den Weg zum Fakultätsgebäude.
 

Ich klopfe an der geschlossenen Tür von Antonys Büro. In meinem Inneren beginnt es zu brodeln. Aufregung. Vorfreude und ein klein wenig Angst. Nur der Gedanke daran, gleich mit ihm allein zu sein, versetzt meinen Leib in Aufruhr. Statt einem einfachen Herein, sehe ich, wie die Tür einen Spalt aufgeht. Die Erinnerungen an die ersten Male meiner Anwesenheit in diesem Raum strömen auf mich ein. Sie sind nicht alle positiv.

Mein Herz macht einen Satz, als sich die Tür endlich vollkommen öffnet und mir die kühlen Iriden des anderen Mannes entgegenblicken.

„Ich habe einen Termin bei Ihnen...", sage ich gespielt geschäftsmäßig, schaffe es aber nicht, den verräterischen Biss auf meine Unterlippe zu verhindern. Der Portugiese grinst und zieht mich in sein Büro, schließt dicht hinter mir die Tür. Antony nimmt mir meine Unterlagen ab, legt seine Hand an meine Hüfte und zieht mich dichter an sich heran. Seine linke Hand greift zum Schlüssel. Ich höre das Verschließen und spüre, wie er mich wieder mit beiden Armen umfasst.

„Kommt ihr voran? Ich geh natürlich davon aus, dass eure Gliederung, die Hälfte vom Text und mindestens die Präsentation stehen." Die obligatorische Lehrerbemerkung. Ich verziehe augenblicklich das Gesicht zu einer Grimasse, die deutlich sagt, dass wir nicht mal annähernd so weit voran geschritten sind.

„Mein Projektpartner hat alles im Griff...", sage ich mit bitterer Ironie und bin mir sicher, dass ich ihm tatsächlich keine Hilfe bin oder sein werde. Antonys warmer Körper schmiegt sich an meinen. Ich bette meinen Kopf gegen seine Schulter, erschnuppere die Reste eines am Morgen aufgetragenen Parfüms. Dasselbe trug er an dem Tag unserer ersten Begegnung. Ich weiß selbst nicht, warum mir das derartig im Gedächtnis geblieben ist.

„Habt ihr Probleme? Du hast ziemlich viel verpasst. Hast du dir alle Unterrichtsmaterialien besorgt?" Kein Vorwurf und dennoch sehe ich genervt auf. Im Moment ist er nicht mein Lehrer und ich will auch nicht als sein Schüler behandelt werden.

„Okay, okay. Ich habe nichts gesagt, aber ich kann dir heute Abend trotzdem Nachhilfe geben, wenn du möchtest", kommentiert er. Seine Augenbraue zuckt neckisch nach oben. Meine Augen gleiten über seine verlockenden Lippen, über die feinen Bartlinien, die sein Kinn definieren.

„Ich bin leider schon verplant. Abendessen mit Anni zur Buße und Versöhnung." Der Portugiese streicht mir ein paar verirrte Strähnen von der Stirn und mustert mich aufmerksam.

„Hatte ihr Streit?"

„In der letzten Zeit nur noch", antworte ich schwermütig. Antony streichelt meine Wange, zieht mich in einen Kuss, der mich beruhigt und zugleich neckt. Ich möchte mehr Zeit mit ihm verbringen. Noch mehr über ihn erfahren und so von ihm gehalten werden. Jeden Tag.

„Was hältst du davon, wenn wir Mittwoch zusammen ins Kino gehen?", schlage ich vor, blicke auf und versinke augenblicklich in den schönen kühlen Iriden meines Gegenübers, die für mich so viel Wärme haben. Ich kann sehen, wie er in Gedanken seinen Terminplan durcharbeitet. Doch das Lächeln auf seinen Lippen gibt mir Hoffnung.

„Klingt gut. Ich habe aber eine Bitte."

„Okay." Ich bin sofort neugierig.

„Ich darf den Film aussuchen und dich einladen." Das sind von allen Unwegsamkeiten die kleinsten Übel. Ich ziehe ihn in einen Kuss. Erst ist er sanft und fast nur ein Necken unserer Lippen. Ein liebevolles Kosten. Ich genieße das Gefühl seiner Wärme und sauge den süßen Geschmack in mich ein, um ihn für immer bei mir zu tragen. Es folgt ein zartes Knabbern. Seine Lippen umfassen meine Unterlippe. Ich koste seine obere. Die Intensität unseres Kusses wird mit jeder Berührung stärker, leidenschaftlicher. Es ist wunderbar. Das Spiel unserer Zungen ist gefühlvoll und erregend. Mein ganzer Körper reagiert auf den anderen Mann. Ich spüre dieses heftige Verlangen, welches bisher unsere Beziehung prägte. Doch dieses Mal ist es weniger schuldvoll.
 

Das Klingeln des Telefons bricht die Stimmung. Antony löst sich nur widerwillig von mir. Er starrt zu seinem Schreibtisch, so als würde er es damit bewerkstelligen, dass das nervige Geräusch endet. Es funktioniert nicht.

„Ziemlich hartnäckig", murmele ich. Antony haucht mir einen Kuss auf die feuchten Lippen.

„Akademiker haben es immer eilig. Keine Geduld." Das Telefon schweigt endlich.

„Ein ziemliches Manko, oder?"

„Total sträflich", antwortet Antony und zieht mich in einen neuen Kuss. Ich lasse meine Hände über seinen Rücken gleiten, treffe beim wiederholten Hochstreichen auf die warme, zarte Haut seiner Hüfte. Ich möchte über ihn herfallen. Ihn spüren und ihn verwöhnen. Das Telefon beginnt erneut zu lärmen. Ich lasse meinen Kopf gegen Antonys Schulter kippen.

„Du solltest rangehen. Der Kollege wird sonst ungeduldig."

„Ich denke gerade über einen fiesen Streich nach." Seine Bemerkung lässt mich auflachen. Meint er das ernst? Sein Blick sagt ja.

„Bitte, zahle es dem Anrufer richtig heim..." Ein kurzes Kichern, als Antony verschwörerisch beide Augenbrauen nach oben wandern lässt. Ich löse mich von ihm.

„Okay, ich lass dich lieber arbeiten. Oh, oder hast du etwas Bestimmtes von mir gewollt?"

„Nicht wirklich, ich wollte dich nur sehen." Er zieht mich wieder zu sich. Seine Lippen betten sich gegen meine Schläfe. Ein Kuss auf meine Wange, der zu meinen Lippen wandert. Ich will nicht gehen. Das Klingeln endet ein weiteres Mal und setzt nach 2 Minuten wieder ein. Diesmal geht Antony ran. Er winkt mir zu als ich das Büro verlasse. Mein Körper pulsiert heftig, während ich die Tür hinter mir schließe. Antony ist so liebevoll. Mein Herz macht einen Satz. Hoffnung. Glück. Ich spüre es deutlich in allen Gliedern meines Körpers.

Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch ein wenig Zeit habe vor meinem Treffen mit Anni. Ich kann mir noch etwas anderes anziehen. Der Gedanke verwerfe ich ganz schnell, denn ich rieche so herrlich nach meinem Portugiesen. das mich keine zehn Pferde in ein anderen Outfit bekämen.
 

Auf dem Weg zur Treppe beginnt mein Handy zu vibrieren. Ich zieh es hervor. Ich lächele, als ich sehe, dass die Nachricht von Antony ist. Dann stoße ich gegen etwas Großes, spüre, wie kräftige Hände meinem Arm umfassen. Ich muss mich dringend mehr auf den Weg konzentrieren. Vor allem dann, wenn ich um Ecken gehe. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit jemanden zusammenstoße.

„Verzeihung!", entflieht es mir leise, bevor ich aufsehe und stocke. Nur in einem Moment des ultimativen Zusammenreißens gelingt es mir nicht, versehentlich den Namen des anderen Mannes auszusprechen.

„Na, sieh mal an, der kleine Treppenstürzer. Das wird langsam zur Gewohnheit...." Die kühle Stimme meines Gegenübers geht mir durch Mark und Bein. Ich mache zwei Schritte von Mateo weg. Weiter in den Gang, aus dem ich eben gekommen bin.

„Ben, d..." Mein Name gerufen. Das Personalpronomen wird verschluckt als Antony sieht, wer vor mir steht.

Was wäre wenn…

Kapitel 28 Was wäre wenn…
 

Antony zögert nur für einen Sekundenbruchteil. Dann schließt er zu uns auf und bleibt neben mir stehen.

„Benedikt, Ihre Unterlagen... Sie haben sie in meinem Büro vergessen", presst er hervor, klingt dabei seltsam gestelzt und aber auch irgendwie durcheinander. Er reicht mir den Hefter mit meinen Notizen ohne den Blick von dem anderen Mann zu nehmen. Bevor ich die Unterlagen an mich nehmen kann, greift Mateo danach. Ich ziehe meine Hand, wie verbrannt zurück und sehe auf. Mateos Augen werden von der schwarzen Sonnenbrille verdeckt, doch mir reicht das winzige Grinsen auf seinen Lippen, um zu wissen, dass er sich seinen Teil dazu denkt. Der schwarzgekleidete Mann lässt seinen Blick über die Vorderseite des Hefters wandern.

„So spät noch so fleißig?" Ich nehme ihm diesen aus der Hand, setze zu einem mürrischen Kommentar an, doch Antony nimmt ihn mir ab.

„Entgegen weitläufiger Meinung wird der Universitätsbetrieb nicht um 15 Uhr eingestellt. Es gibt danach noch Vorlesungen, Seminare und Sprechzeiten bei Dozenten und Professoren." Der Portugiese sieht erst zu Mateo und dann zu mir. Die stille Bitte in den kühlen Augen des anderen Mannes, die mir sagt, dass ich schnell das Weite suchen soll, ist deutlich und unbehaglich. Sie verursacht mit Gänsehaut. Er braucht die Konfrontation zwischen uns nicht. Und auch ich habe im Moment nicht das Bedürfnis danach. Abgesehen von dem feinen Kitzeln in meinen Fingerkuppen, welches mir sagt, dass ich dem furchteinflößenden Spanier nur zu gern unter die Nase reiben würde, dass ich der neue Mann an Antonys Seite bin und dass er zur Hölle fahren soll. Es ist nur der kurzzeitige Rückfall in pubertären Leichtsinn. Die darauffolgende Erkenntnis macht mir jedes Mal deutlich klar, dass ich ihm das höchstens mit 50 Meter Abstand zu rufen würde. Am besten mit einer viel befahrenen Autobahn zwischen mir und ihm. Oder einer Schlucht voller Krokodile. Ein Steinbruch voller hungriger Zombies. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Die Stimmung ist so gespannt, dass selbst das Stahlseil über dem imaginären Canyon reißt.

„Immer viel zu tun. Wie könnte man auch nicht, bei so vielen tüchtigen Schüler." Es klingt bedrohlich. So, wie eigentlich alles an dem großen Mann bedrohlich wirkt. Obwohl er die Sonnenbrille trägt, bin ich mir sicher, dass die Augen des Spaniers auf mich gerichtet sind. Ich schluck unmerklich, weil mir die Kälte in der Stimme des anderen schier Erfrierungen verursacht. Trotzdem verschwindet dieser Kitzel nicht.

„Studenten", berichtige ich flapsig. Antony seufzt. Wenn es nicht so auffällig gewesen wäre, dann hätte er sich sicher die Hand vor die Stirn geschlagen.

„Wie bitte?"

„Studenten, nicht Schüler.", wiederhole ich. Mateo beginnt zu grinsen.

„Was tust du hier?", fragt Antony ungeduldig. Fast nervös. Er schiebt sich zwischen mir und dem großen Spanier, nimmt mich damit aus der Schussbahn. Doch das funktioniert nicht.

„Vor allem im Weg stehen...", entflieht es mir wenig galant und bereue es im nächsten Augenblick schon wieder. Dem Spanier von vornherein mit einer negativen Haltung gegenüberzutreten, ist eine unglaublich dumme Idee. Anscheinend sieht es Antony genauso.

„Herr Kaufmann, Sie haben noch einiges an Stoff nachzuholen, nicht wahr?", harscht er mich belehrend an und setzt seinem durchdringenden Blick ein. Der Hinweis ist deutlich. Er will mich hier weg haben. Ich kann es verstehen, auch wenn ich ebenso das Bedürfnis verspüre ihm beizustehen. Ich nicke es nur ab.

„Vielen Dank für die Hilfe und die Unterlagen...", sage ich kurzangebunden, sehe beim Gehen, wie mir die aufmerksamen, kühlen Augen beider Männer folgen. Doch nur einer trifft mich mit völligem Unbehagen.
 

Mit einem seltsamen Gefühl in der Brust fahre ich in die WG, springe unter die Dusche und erwische mich dabei, wie ich bei jedem weiteren Schritt auf das Handydisplay starre. Ein kurzer Blick beim Abtrocknen. Nach dem Anziehen der Hose und auch nach dem Pullover. Nach jedem Socken. Worauf ich eigentlich hoffe, ist mir selbst nicht ganz klar.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die eintrudelnde Nachricht eher von meiner rothaarigen Nervensäge ist, ist um einiges höher, als die, dass sie vom kühlwirkenden Portugiesen kommt. Mateo ist wahrscheinlich noch immer bei ihm. Wenn er wirklich mit ihm spricht, dann wird es sicher noch länger dauernd. Mich durchfährt ein kalter Schauer und das nur bei dem Gedanken an den großen Mann in schwarz. Was hat Antony je an ihm gefunden? Was finde er an mir? Wir sind wirklich extrem unterschiedlich. Vielleicht war er nicht immer so angsteinflößend gewesen.
 

Ein Blick auf die Uhr folgt beim Trockenrubbeln meiner Haare. Ich bin spät dran, unfrisiert und ruhelos. Fast überstürzt zwinge ich mich in die Schuhe, greife Jacke und Schal und verschwinde zum Bus. Der nächste kommt erst in 10 Minuten. Den letzten habe ich um wenige Sekunden verpasst. Ich meide es die Straße entlang zu schauen, da ich mir sicher bin, dass ich den Bus in viel zu naher Ferne noch erkennen kann. Der Ärger kommt trotzdem und breitet sich in kleinen konzentrischen Wellen in mir aus. Obwohl es reichlich unnötig ist. Als das nächste öffentliche Verkehrsungetüm eintrifft, hat die Verspätungsmaschinerie bereits begonnen. Fünf Minuten nach ursprünglichen Zeitplan. Falls der Bus nicht an jeder Haltestelle stoppt und mir die Götter des Ampelgrüns wohlgesonnen sind, könnte ich es schaffen. Ich glaube selbst nicht daran. Ich lasse mich im hinteren Teil des Busses nieder und schließe für die nächsten drei Stationen, an denen wir brav halt machen, die Augen. Ich öffne sie erst als sich ein junger Mann mit gigantischen Kopfhörer neben mir niederlässt. Sein Kopf bewegt sich in einem eher unklaren Rhythmus hin und her. Ich horche eine Weile aufmerksam danach, was er eigentlich hört und gebe auf, als ich innerhalb von wenigen Sekunden glaube Techno, Rock und Heavy Metall zu hören. Auch der Kopf des Jungen scheint sich nicht darüber im Klaren sein, was eigentlich aus seinen Kopfhörerboxen dringt. Erst bewegt er seinen Kopf kreisförmig, dann headbangend und danach wirkt es nur noch, wie ein ruheloser Tick. Er sieht kurz zu mir und ich schaue schnell weg.

Der Bus hält an den nächsten Ampeln. Es ist das typische Klischee. Gerade dann, wenn man keine Zeit hat, wird die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Spießroutenlauf. Murphys Gesetze. Es ist wie das frischbestrichene Brot, was garantiert auf die belegte Seite fällt. Ich ignoriere die physikalischen Gesetze, die hier wirken und lehne mich etwas genervt zurück in den Sitz. Die Musik, die mir aus den Kopfhörern entgegen schreit, wird noch einen Tick lauter. So kommt es mir jedenfalls vor. Noch zwei Stationen. Als der Bus an der nächsten hält, spüre ich die deutlichen Vibrationen meines Telefons. Die Nachricht ist wie erwartet von Anni. Die Enttäuschung in meiner Brust, weil ich noch immer nichts von Antony gehört habe, wird stetig größer. Ebenso wie die schleichende Unsicherheit. Wieso war Mateo eigentlich gekommen? Antony wirkte nicht so als hätte er mit dem anderen Mann gerechnet. Die Vorstellung und die damit einhergehende Angst, dass sich der Portugiese wieder einlullen ließ, brennen heiß in mir. Sie lässt die Narben reißen, die gerade beginnen zu heilen. Ist es zu früh? Ist es ein Fehler zu hoffen? Wird er mich enttäuschen, so wie es bisher jeder getan hat? Wie auch er es bereits mehrmals getan hat und das in der Kürze der Zeit.

Erst die Durchsage der richtigen Station reißt mich endlich aus diesen unschönen Gedanken. Die Luft fühlt sich kühler an, als ich aussteige und den Weg zu Annis Wohnung antrete.
 

Die Tür geht einen Spalt breit auf. Wie beim letzten Mal ist es Annis Mitbewohnerin, die mir öffnet. Mein freundlich gemurmeltes Hallo wird mit Ignoranz gestraft. Ich glaube, sie kann mich nicht leiden. Ihr Blick ist genauso genervt, wie beim letzten Mal. Ich weiß nicht, ob es an mir liegt oder daran, dass sie andauernd Annis Gefühlschwankungen ausgesetzt ist. Sie tritt zur Seite, lässt mich in die Wohnung und ich sehe nur noch, wie sie schnurstracks barfuß in ihr Zimmer zurück tänzelt.

Die Rothaarige lehnt mit einem Glas Wasser in der Hand im Türrahmen zur Küche und sieht mir mit ihrem typischen Anni-Blick entgegen. Einer Mischung aus Naivität, leichter Arroganz und Trotz. Sie trägt ihre besten Jeans, die knalleng sitzt und ihr schlanken Beine umschmeichelt. Zu dem betont sie im gleichen Maß ihre breiteren Hüften. Das wagte ich nur einmal zu erwähnen, danach ließ ich es, weil mir mein junges Leben doch zu kostbar war. Zugegebenermaßen hat sie in dem Ding einen echt tollen Hintern.

Ihre schon wieder neulackierten Fingernägel trommeln gegen ihren Oberarm. Auf in den Kampf.

„Ich weiß, ich bin zu spät...", sage ich und werfe einen vernichtenden Blick auf mein Handy. Unglaubliche 15 Minuten. Sie hat andere schon nach fünf Minuten gehängt. Innerlich packe ich meine Busstory aus, schmücke sie noch etwas aus und schimpfe über rote Ampel und ständig ein- und aussteigendende Passageriere. Der öffentliche Personennahverkehr ist ein Höllenschlund. Ich spreche kein Wort laut aus. Als Ausrede ist es so effektlos wie 'der Hund fraß meine Hausaufgaben'. Anni zieht eine Schnute. Erst ist es eine ernste Gesichtsakrobatik, doch dann kippt sie ins Niedliche. Ich schließe zu ihr auf, umarme sie trotz ersten Widerwillens und spüre, wie sie sich meiner Versöhnungsattacke ergibt.

„Vorsicht, das Wasser.", murmelt sie. Ich knuddele sie noch einmal extra und merke, wie sie weiter nachgibt.

„So ist brav...", kommentiere ich grinsend. Anni murrt, schlingt ihre Arme fest um meine Hüfte.

„Ich will doch nur...", setzt sie an, brabbelt es gegen meine Brust und drückt mich noch ein Stück fester um sie zu unterbrechen.

„Ja, ja, ich weiß...", hebe ich mit gemischten Gefühlen von mir und denke an Antony, der in diesem Moment wahrscheinlich noch immer mit Mateo zusammen ist. Ich hoffe inständig, dass er ihn schnell losgeworden ist. Ich kann auch nicht verhindern, dass sich der depressive Gedanken an die Oberfläche kitzelt, der mir entgegen schreit, dass sie im Büro erneut Sex haben könnten. Das dazugehörende Kopfkino läuft im Hintergrund. Ich kann es einfach nicht abschalten.

„Tust du mir einen Gefallen?", frage ich, nachdem ich einmal tief eingeatmet habe. Ihr Nicken ist zögernd.

„Können wir damit aufhören weiter unsere Wunden aufzureißen und einen netten ruhigen Abend verbringen? Ohne Schuldzuweisungen. Ohne Vorwürfe! So, wie früher. Wir zwei gegen den Rest der Welt?", gebe ich bittend von mir, setze meinen Dackelblick auf und sehe mit Genugtuung, wie Anni sofort einknickt.

„Wie wäre es jetzt mit frischen Tomaten, Mozzarella, Peperoni und Pilzen?" Bei dem Gedanken an die leckere Teigware mit Belag bekomme ich tatsächlich Hunger. Früher haben wir uns oft Pizza liefern lassen und sofort stand Annis kleinen Bruder Nico auf der Matte. Selbst, wenn er schon Stunden vorher ins Bett gebracht wurde. Wir nennen es seinen Pizzasensor. Mal abgesehen davon, dass das sein Geruchssinn durch seine Blindheit sowieso viel besser funktioniert.

„Vergiss den Rucola nicht!"

„Wie könnte ich!", kommentiere ich, verziehe das Gesicht und entlasse sie aus meiner Umarmung.
 

Kichernd schnappt sich Anni ihre Jacke und wir verschwinden in die Trattoria um die Ecke. Ein Schild wirbt mit Pizza aus dem Steinofen und hausgemachtem Tiramisu. Das Lokal war das Erste, was wir ausgekundschaftet haben, als wir hierher gezogen sind.

Wir lassen uns in einer Nische nieder. Meine Augen wandern über die typisch toskanische Vertäfelung der Wände, die rustikalen Möbel und die hunderten Weinflaschen, die in großen leeren Fässern gelagert sind. Sie stehen und liegen praktisch überall. Wir entscheiden uns schnell für zwei gigantische Pizzen, die ebenso fix vor uns stehen. Sie duften herrlich und sehen unglaublich lecker aus. Langsam verstehe ich den Sinn von Foodporn. Während mich Anni unitechnisch auf den neusten Stand bringt, beginnen wir zu essen. Ich speise vorwiegend, nicke und brumme nur hin und wieder, um ihr zu verdeutlichen, dass ich zuhöre. Nach etwa 135 Grad mache ich schlapp. Fast schon erschöpft lehne ich mich zurück, reibe mir den Bauch und flüstere mir wie jedes Mal zu, dass ich nie wieder dieser italienischen Köstlichkeit frönen werde.

„Ich würde meinen, du bist aus der Übung", kichert mir Anni entgegen, während ihr ein Rucolablatt aus den Mundwinkeln hängt. Sie kaut es, wie ein Meerschweinchen weg und greift nach einem weiteren Stück Pizza. Sie hat nur noch zwei Stücke übrig und sieht bei weitem nicht so aus, als hätte sie schon genug. Ich frage mich immer wieder, wo sie das hin isst.

„Sieht so aus. Obwohl ich mich gerade frage, ob ich jemals eine ganze Pizza allein gegessen habe." Annis Mund zieht sich nachdenklich zur Seite. Ich lasse passend dazu meine Augenbrauen fragend nach oben wandern. Für Außenstehende müssen wir ein seltsames Bild abgeben.

„Ich denke, du hast Recht. Nico hat immer bei dir mitgegessen...", stellt sie nach reichlicher Überlegung fest. Sie kichert erneut, greift nach dem vorletzten Stück und sammelt munter das Grünzeug runter, um es sicher vorher in den Mund zuschieben. Ein kompletter Salat wäre effektiver.

„Er musste ja bei mir mitessen. Deine Konstellationen sind ein Armutszeugnis an Esskultur. Peperoni. Rucola. Sardellen? Wer isst den sowas?" Ich stupse symbolisch ihren fast leeren Teller von mir weg.

„Feinschmecker natürlich."

„Leute mit Geschmacksverirrung schon eher", stichele ich weiter.

„Dann müsstest du diese Pizza lieben." Der Seitenhieb sitzt. Wenn ich nicht schon satt war, bin ich es auf jeden Fall jetzt. Es ernüchtert mich.

„Tut mir leid, so war es nicht gemeint", setzt sie nach, lässt ihr belegtes Teigteil sinken. Stattdessen greift sie zu ihrem Glas Cola und seufzt, bevor sie einen Schluck nimmt. Mein Handy vibriert und noch während unseres Schweigemoments hole ich es hervor, lese die Nachricht und spüre, wie mein Puls nach oben schnellt. Sie ist von Antony. Mein Herz pocht. Heiß. Erwartungsfroh. Die Ironie, die diese Nachricht mit sich bringt, ist unaussprechlich. Antony fragt, ob ich vorbeikommen will. In meinem Kopf schreit es augenblicklich ja und im selben Moment weiß ich, dass ich heute nicht mehr möglich ist. Nur zögerlich tippe ich ihm eine Antwort, die ihm mitteilt, dass ich noch beim Essen mit Anni bin und ich nicht einschätzen kann, wie lange wir brauchen werden. Als Emoji schicke ich ein Cocktailglas und einen Kuss. Nach Cocktails ist mir gerade herzlich wenig und auch nicht nach einem langen herauszögern des Abends. Anni und ich laufen nicht rund.

„Dein Dozent?", fragt es von der anderen Seite des Tisches. Ich sehe auf. Anni stützt beide Ellenbogen auf den Tisch ab, sieht für einen kurzen Moment, wie das trotzige kleine Mädchen aus, welches sie manchmal zu gern spielt.

„Ja.", erwidere ich ohne weiter darüber nachzudenken. Sie denkt sicher, er hat mir ein neues eindeutiges Emoji zukommen lassen. Ein leises unbestimmtes Geräusch von der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Sie nippt an der Cola, streicht sich eine lockige Strähne von der Wange und weicht mehrfach meinem Blick aus.

„Hast du etwas von deiner Mama gehört? Wie geht es ihr?", fragt sie ausweichend. Vielleicht liegt ihr wirklich etwas daran, dass der Abend nicht wieder im Streit endet. Allerdings ist nicht über Antony reden, auch keine Lösung. Anni greift zu dem Stück Pizza, knabbert daran rum und sieht mich dabei aufmerksam an.

„Sie ist schon wieder zu Hause. Natalia meint, sie braucht viel Pflege und Unterstützung, aber...Vater und sie sind ja da..." Ich breche ab, weil sich schon wieder dieses ätzende Gefühl befällt und sich in mir ausbreitet wie ein Geschwür. Die letzte Nachricht an meine Schwester blieb bisher unbeantwortet also weiß ich gar nicht genau, wie es läuft.

„Kommen sie damit zurecht? Also vor allem deine Schwester?", fragt Anni weiter und spricht damit etwas aus, was ich mich immer wieder im Stillen selbst frage. Schafft sie es? Wer hilft ihr? Das schlechte Gewissen breitet sich andauernd in mir aus wie ein Buschfeuer. Im Grunde ist es schon jahrelang ein Flächenbrand.

„Na ja, was soll ich sagen. Zwei kleine Kinder. Eine verletzte Mutter. Ein störrischer Vater und ihr Bruder kriegt sein Leben nicht auf die Reihe. Gute Frage, nächste Frage", sage ich und klinge schrecklich mitleidig. Ihren herrischen Ehemann erwähne ich gar nicht erst. Ich möchte nicht in der Haut meiner Schwester stecken. Ich will oft nicht einmal in meiner eigenen stecken.

„Ich weiß es nicht. Ich kann es nur hoffen. Schließlich wäre ich keine Hilfe, selbst, wenn ich könnte", setze ich erklärend nach. Mir sind die Hände gebunden. Anni kennt das Problem.

„Ach Ben, das ist doch aber nicht deine Schuld. Wäre dein Vater nicht so ein Sturkopf, dann wäre vieles anders. Vielleicht wärst du noch zu Hause...", orakelt sie weiter. Ich möchte darüber gar nicht nachdenken. ‚Was wäre wenn' ist schon lange keine Option mehr für mich. Zu oft habe ich mich gefragt, was passiert wäre, wenn ich nicht auf Männer gepolt wäre. Was wäre, wenn ich es einfach weiter verheimlicht hätte? Wie lange hätte ich es wirklich verheimlichen können? Hätte ich es wirklich gewollt? Was wäre, wenn mein Vater irgendwann versteht? Was wäre wenn...
 

Ich breche den Gedanken ab, als Anni nach der Dessertkarte greift und dabei munter weiter orakelt. Nachdem sie sich für Tiramisu entschieden hat, berichtet sie mir, dass ihr Bruder sich in den Kopf gesetzt hat, nach dem Abschluss im nächsten Jahr eine Ausbildung als Synchronsprecher zu machen. Dafür braucht er eine Schauspielausbildung. Ich finde es gar nicht so abwegig. Nico ist ein Entertainer. Meine verfressene rothaarige Freundin verdrückt bis auf einen Löffel, den sie mir gönnt, das Dessert komplett allein. Ich komme nicht umher den Kopf zu schütteln. Unfassbar.

Ich bringe Anni bis zur Haustür. Ihre Einladung, mit nach oben zukommen, lehne ich ab. Wir sehen uns morgen. Diesmal zum Mittag. Sie umarmt mich fest bevor sie nach oben verschwindet. Ich mache mich auf den Weg Richtung Bus und denke an meine Mama. Auch an Natalia. Kurz entschlossen ziehe ich das Handy hervor und wähle die Nummer meiner Eltern.

Es klingelt. Lange und wird immer lauter. Genauso, wie das Pochen meines Herzens.

„Kaufmann. Hallo." Es ist die Stimme meines Vaters. Mein Mut schrumpft augenblicklich in die Bodenlosigkeit. So, wie jedes Mal. Ich zögere bedenklich eher ich antworte.

„Hallo...", wiederhole ich hilflos.

„Benedikt" Mein vollständiger Name. Nicht mehr als eine Feststellung. Die Kühle, mit der er ihn ausspricht, ist jedes Mal wieder ein Stockschlag auf meine Fingerknöchel.

„Ich würde gern mit Mama sprechen."

„Sie schläft", sagt er kurz angebunden.

„Oh okay. Würdest du ihr dann bitte..." Er hat aufgelegt. Ich höre nur noch das dumpfe Piepen. Ein weiterer Schlag, der mich viel tiefer trifft als alles andere.

„...sagen, dass ich an sie denke. Verdammt noch mal..." Den letzten Rest brülle ich förmlich ins Telefon. Die Enttäuschung über die gewohnte Reaktion trifft mich wie immer hart. Jedes Mal härter, weil ich nach einer gewissen Zeit der Wahnvollstellung erliege, dass er seine Meinung über mich vielleicht geändert hat. Dass er mich als das sieht, was ich bin. Sein eigen Fleisch und Blut. Seinen Sohn. Ich fahre zusammen, als mein Handy zu klingeln beginnt. Die eben von mir gewählte Nummer. Mein Herz rast.

„Hallo?", frage ich überrascht.

„Ben?"

„Ja. Natalia. Hi", sage ich schnell. Die Anspannung fällt von mir ab als ich die klare, warme Stimme meiner Schwester vernehme. Sie klingt ein wenig atemlos. Ich höre, wie sie etwas in den Raum ruft. Ich kann nicht verstehen, was es ist. Auch die Antwort, die folgt, ist nicht mehr als ein dumpfes Raunen.

„Unfassbar... Entschuldige. Im Moment geht es hier drunter und drüber. Papa ist ...", murmelt sie ins Telefon, bricht ab und spart sich jegliche weitere Erläuterung zu unserem Vater. Im Hintergrund höre ich ihn erneut, verstehen kann ich nichts. Natalia seufzt. Es war also nichts Nettes.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich wollte nur hören, wie es Mama geht, dir und den Mädchen. Du hast mir auf die letzte Nachricht nicht mehr geantwortet."

„Oh, echt? Bitte entschuldige. Ich habe es wohl vergessen." Sie macht eine unwirsche Pause und ich stelle mir vor, wie sie sich durch die dunkelblonden Haare streicht. „Es geht ihr so weit gut, aber sie hat noch immer Schmerzen. Ich hoffe, dass die Medikamente gut anschlagen und sie bald mit der Physiotherapie beginnen kann. Die Mädchen fressen mir langsam die Haare vom Kopf, ansonsten geht es uns bravourös." Obwohl ich sie nicht sehen kann, weiß ich, dass sie trotz der offensichtlichen Überspitzung lächelt. Ihre Zwillingsmädchen sind ihr größtes Glück.

„Ich habe gehört, dass die Perücken heutzutage sehr gut sein sollen. Kaum zu unterschieden von echtem Haar", gebe ich witzelnd von mir und schaffe es, meine Stimme ruhig und ein bisschen ernst klingen zu lassen.

„Sehr witzig. Soweit lasse ich es nicht kommen. Ich habe beschlossen, mit den Mädchen erstmal wieder zu Hause einzuziehen. Nur so lange bis Mama wieder mobil ist. Papa meint, es sei nicht nötig, aber ich denke, dass er insgeheim ganz froh ist, wenn er nicht die ganze Zeit hier sein muss." Das schlechte Gewissen nimmt ungeahnte Ausmaße an.

„Kann ich irgendwie helfen?", frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.

„Das ist lieb. Pass einfach auf dich auf, das reicht uns." Ich nicke ungesehen ab. Sie will mir mit der Antwort den Kummer nehmen und zeigen, dass ich in ihren Gedanken bin, aber insgeheim ist es nur ein matter Trost.

„Ach Ben, Mama würde sich freuen, wenn du dich öfter meldest. Sie schläft im Moment, aber vielleicht kannst du morgen noch mal anrufen?"

„Ja, sicher. Na ja, ich kann es versuchen.", mildere ich zum Schluss noch ab. Mein heutiger Versuch wäre ja auch beinahe danebengegangen. Ich glaube nicht daran, dass mein Vater es zulässt, wenn er es mitbekommt.

„Klingele mich an, bevor du anrufst und dann gehe ich vor Papa ran. Versprochen." Guter Plan. Im Hintergrund tauchen wieder neue Geräusche auf. Ich höre die Namen meiner Nichten. Kichern und Quieken. Ich denke an ihre niedlichen Löckchen.

„Es wird Zeit ins Bett zu gehen. Ben, Kopf hoch. Wir hören uns morgen."

„Gib Mama einen Kuss von mir und den Mädchen auch." Wir verabschieden uns voneinander und legen auf. Ich schließe meine Augen und neige mein Gesicht gen Himmel. Ich fühle die Unruhe und die Schwermut, die sich jedes Mal ausbreiten, wenn ich Kontakt mit meiner Familie habe. Die kühle Luft ist eine Wohltat. Sie betäubt. Als ich meine Augen wieder öffne, blicke ich in den bereits sternenleuchtenden Himmel. Die Nacht ist klar.
 

Ich habe ein unstillbares Verlangen nach Harmonie und Ruhe. Etwas Beständigem. Etwas von Dauer. Ich denke an meinen Portugiesen und spüre gemischte Gefühle. So sehr ich mir auch wünsche, dass es vielleicht mit ihm zu dieser Ruhe kommen wird, so sehr ist mir bewusst, dass es im Moment einfach nicht danach aussieht. Wieder denke ich an ‚Was wäre wenn'.

Ich trabe zurück zur Bushaltestelle und bin hocherfreut als im nächsten Moment der Bus um die Ecke biegt. Schon wieder kommen mir Murphys Gesetze in den Sinn und dass es manchmal wirklich seltsam ist. Wie abhängig doch die Empfindungen von kleinsten Begebenheiten sind. Diesmal dauert die Fahrt nur halb so lange. Ich bin bis zur Hälfte der Strecke mit einer älteren Dame im modischen Kostüm und einer jungen Frau im überdimensionalen Mantel allein im Bus. Wir halten an nur zwei Stationen und nicht an einer Kreuzung. Sicher liegt es daran, dass kaum Verkehr ist. Die fleißig arbeitende Gesellschaft genießt ihren wohlverdienten Feierabend. Die Dame im eleganten Kostüm steigt an derselben Haltestelle aus, wie ich. Ich sehe ihr nach, wie sie mit erschreckend hohen Schuhen in die Nacht hineinstöckelt.
 

Noch während ich nach meinem Schlüssel für die Haustür suche, höre ich, wie eine Autotür aufgeht und sich mit einem Knall wieder schließt. Nun wende ich mich um. Ich erkenne die große Gestalt, die auf mich zu kommt sofort. Mateo. Ich schlucke unwillkürlich und weiche zurück, als er einen weiteren Schritt auf mich zu macht und etwa 2 Meter vor mir stehen bleibt. Die Straßenlaterne spiegelt sich in den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille. Trotz der tausend Fragen, die sich augenblicklich bilden, ist es vor allem eine, die in meinem Kopf umherhallt. Mit jeder Wiederholung wird die Frage lauter. Bis es schreit. Wie hat er mich gefunden? Ich spreche es nicht aus.

„Du weißt, wer ich bin. Nicht wahr?", fragt Mateo ruhig. Er streicht sich durch die frisierten Haare. Jede Strähne fällt genau in die richtige Position zurück. Ich schweige, doch mein Gesicht verzieht sich trotzig, ohne, dass ich es verhindern kann. Er nimmt die Brille ab. Zum Vorschein kommen eisblaue, graue Augen, die so kalt sind, dass mir blitzartig das Blut in den Adern gefriert. Unwillkürlich beiße ich die Zähne zusammen. Der Schlüssel in meiner Hand wird zentnerschwer. Ich umfasse ihn fester, verhindere damit, dass ein verräterisches Zittern einsetzt.

„Na, na, wo bleibt deine Spitzfindigkeit? Vorhin wirktest du so viel selbstbewusster. Es lag doch nicht etwa nur an der Anwesenheit deines Dozenten?", raunt er mir erst amüsiert entgegen und wird zum Ende hin deutlich aggressiver. Er kommt näher. Ich weiche zurück.

„Jetzt ist er nicht hier...", setzt er nach einer kurzen Pause nach. Ich zucke unwillkürlich zusammen. Der Mut, der sich für einen kurzen Augenblick in mir regte, ist nun gänzlich verschwunden. Auch der jugendliche Leichtsinn. Wie viel weiß er? Hat Antony mit ihm darüber gesprochen und ist er deshalb zu dem Schluss gekommen, dass es der aufmüpfige kleine Schüler sein muss? Ich glaube es nicht.

„Was wollen Sie?", presse ich hervor. Die Frage danach, wie er mich finden konnte, spare ich mir. Er wird es sowieso nicht beantworten.

„Wie lange fickt ihr schon miteinander?" fragt er unverblümt. Mein Herz beginnt so heftig zu flattern, dass ich für einen Moment befürchte, dass es ad hoc stehen bleibt. Ich weiß nicht, ob er absichtlich Antonys Namen meidet oder ob er mich damit reizen will, indem er mir die Unzulänglichkeit unserer Beziehung aufzeigt. Seine Eisaugen wandern mein Gesicht ab. Sie sind intensiv und forschend. Sie gleiten über meinen Körper und wieder nach oben. jede noch so kleine Regung nehmen sie auf und scheinen mich förmlich zu durchdringen. Er versucht nicht einmal die Gedanken zu verstecken, die sich mit jedem abgecheckten Millimeter in seinem Kopf bilden. Sie schreien sich förmlich heraus.

„Ja, ich kann verstehen, warum du ihm gefällst. Du bist niedlich, hübsch und so jung", spricht er nun auch aus.

„Was wollen Sie?", frage ich ein zweites Mal und bemühe mich um Höflichkeit. Mein Herz hämmert gegen sein knöchernes Gefängnis. Heiß und voller Furcht.

„Hat er dich in dem Glauben gelassen, dass ihr irgendwann zusammen sein könnt?" Mateos Mundwinkel zucken nach oben, so, als bereite es ihm Freude, mir zu erklären, dass ich in einer Traumblase lebe. Er kitzelt damit die Schlimmsten aller meiner Fantasien. Die Angst nach der Unmöglichkeit. Die Furcht vor der Enttäuschung. Der Spanier macht einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich spüre bereits die Fassade des Hauses in meinem Rücken.

„Das werde ich nicht zulassen. Niemals." Mateo macht den letzten Schritt auf mich zu. Er beugt sich nach vorn und ist mir so nah, dass ich seinen warmen Atem an meinem Gesicht spüren kann.

„Halt dich von ihm fern, wenn du dein hübsches Gesicht behalten willst." Die deutliche Drohung geht mir durch Mark und Bein. Es ist nicht das erste Mal, dass mir Gewalt angekündigt wird. Doch diesmal erfüllt sie mich mit einem markerschütternden Zittern und ich bin mir sicher, dass er mich umbringen könnte.

Die zweifelhafte Ruhe im Sturm

Kapitel 29 Die zweifelhafte Ruhe im Sturm
 

Ein Ruck und er kommt mir noch etwas näher. Ich kann ein eigenartig vertrautes Aftershave an ihm riechen. Mateos Gesicht fährt meinen Hals entlang. Sein warmer Atem trifft meine Haut und ich erzittere bei jedem Atemzug. Ich fühle mich wie gelähmt. Auch noch als er seine Bewegung wiederholt und an meinem Ohr stoppt.

„Halt dich einfach von ihm fern...vergiss deine glücklichen Beziehungsvorstellungen und das hier bleibt unter uns", sagt er und bohrt mir seine Zähne hart ins Ohrläppchen. Der Schmerz ist auszuhalten und doch wird mein Herzschlag noch eine Schippe heftiger. Als er sich von mir entfernt, greife ich automatisch an mein malträtiertes Ohr. Ich spüre Feuchtigkeit, doch es sind nur Überreste seiner Spucke.

Mateo packt mein Kinn und zwingt mich so, ihn anzusehen. Eine letzte stille Warnung. Ein letzter Blick in seine eiskalten blauen Augen und mit einem Grinsen auf den Lippen setzt er sich die Sonnenbrille wieder auf. Ich beobachte, wie er zurück zu seinem Auto geht, wie er einsteigt und eine weitere unendliche Minute unbeweglich darin sitzen bleibt bis er endlich losfährt. Erst danach habe ich das Gefühl wieder atmen zu können. Nur ein klein wenig. Nur so weit, dass ich nicht zusammenklappe.

Ich zittere noch immer als ich die Tür zur WG öffne. Mich umfängt Stille, so, wie so oft in den letzten Wochen. Meine Mitbewohner treiben sich wieder in der Weltgeschichte rum. Ihr gutes Recht, doch dieses Mal wünschte ich mir, dass jemand da wäre. Das ich nicht allein wäre.
 

Es ist so still, dass ich meinen Herzschlag hören kann und das macht mich nur noch nervöser. Ich verschließe zum ersten Mal seit langem die Haustür und gehe als erstes ins Badezimmer. Ich kippe mir mehrere große Ladungen Wasser ins Gesicht und rubbele so lange an meinem Ohrläppchen rum, bis es rot leuchtet und es sich anfühlt als würde mir das Ohr gleich abfallen. Es ist unangenehm, doch in diesen Moment hilft es mir klarer zu denken. Danach gehe ich in die Küche. Ich sitze einfach nur da und starre auf einen imaginären Punkt im Raum. Mateo weiß von mir. Nun ist es keine Spekulation mehr, sondern eine Tatsache. Und das sorgt gerade für Tabula rasa in meinem Inneren. Alles scheint sich zu verknoten und zu verdrehen. Ich beuge mich vor und wieder zurück, aber keine der Positionen bringt eine Besserung.

Es dauert eine ganze Weile bis ich mich aus meinem chaotischen Zustand befreien kann und zum Kühlschrank laufe. Ich öffne ihn, um ihm im selben Moment wieder zu schließen. Ich wiederhole es. Stumpf und gedanklich vollkommen woanders. Als auch das sechste Mal kein Ergebnis liefert, besinne ich mich und greife mir den Wasserkocher. Ein Tee wird mir bestimmt helfen. Tee beruhigt. So sagt man es doch. Meine Hände zittern. Ich nehme mir etwas von dem Kräuterteevorrat von Marie und warte darauf, dass das Wasser endlich kocht. Entspannung, Entspannung ist gut. Es wiederholt sich mehrere Mal in meinem Kopf.

Danach setze ich mich wieder hin. Ich fühle mich nicht besser. Kein bisschen klarer als vorher. Meine Finger beben und ich sehe deutlich, wie der Tee in meiner Tasse Wellen schlägt. Es klirrt, als ich das Geschirr auf dem Holztisch abstelle. Ich lehne mich zurück und starre auf die hässliche Wachstischdecke, die Marie vor einer Weile besorgt hat. Ein wirklich absurd scheußliches Ungetüm mit gelb, orangem Schottenmuster. Anni hatte mal ein ähnliches Muster auf ihren Fingernägeln. Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach, meine beste Freundin anzurufen, doch dann lege ich das Telefon einfach nur auf dem Tisch ab. Sie wäre keine Hilfe. Nichts ist gerade eine Hilfe.

Woher weiß Mateo, wo ich wohne? Ist er Antony gefolgt? Mir? Egal, was es von beiden ist, er weiß, wo ich wohne. Meine Gedanken rasen und ich schrecke jedes Mal zusammen, wenn aus den Nachbarwohnungen Geräusche dringen. Eine Tür, die zu schlägt oder auch etwas, was einfach zu Boden fällt. Anscheinend sind unsere Nachbarn sehr tollpatschig. Es ist mir vorher nie aufgefallen. Es rumpelt erneut und ich zucke heftig zusammen. Ich höre das Echo meines Herzschlags überall in meinem Körper. Es ist laut und unangenehm. Als ich den ersten Schluck aus der Tasse nehme, ist der Tee bereits kalt. Wie konnte er mich finden? Was soll ich nur tun? Es Antony nicht zu erzählen, würde sich sicher als Fehler herausstellen, aber ich will ihn nicht verlieren und das würde ich. Er würde sofort den Kontakt zu mir abbrechen und das mit dem Schutz meiner Sicherheit argumentieren. Ich hätte kaum Gegenargumente. Vielleicht sollten wir zusammen zur Polizei gehen? Aber sicher wird Antony das nicht wollen, denn dann würde es herauskommen und Stroud würde vielleicht Probleme machen. Die Uni würde es erfahren. Auch von Antony und mir. Es ist also keine Lösung. Jedenfalls keine Gute. Egal, was ich tun werde, es wird nicht gut enden. Ich schließe meine Augen und lehne mich zurück. Das kann alles nicht wahr sein. Wieso ist das alles so schwierig? Wieso kann es nicht einfach sein? Wieder scheint der Pfad in die Zukunft in völlige Dunkelheit gehüllt.
 

Ich horche auf, als ich einen Schlüssel im Schloss höre. Unweigerlich erhöht sich mein Herzschlag und er dröhnt so laut in meinen Ohren, dass ich die letzten Drehungen nicht mal höre.

„Hey Hey." Rick steckt seinen Kopf durch die Tür, flötet mir die Begrüßungsformel förmlich entgegen und schnauft atemlos. Ich beuge mich vor und erwidere den Gruß. Nur etwas weniger fröhlich. Ich höre, wie sich mein Mitbewohner geräuschvoll und hektisch seiner Klamotten entledigt, kann aber nicht so weit in den Flur schauen, um ihn zusehen. Nur noch mit Jeans und T-Shirt bekleidet, gesellt er sich zu mir in die Küche. Er atmet noch immer schwer und lässt sich ebenso schwerfällig neben mir auf die Bank nieder.

„Puh, ist echt frisch draußen." Ricks Haare sind zerzaust und obwohl er sich über das kühle Wetter beschwert, bemerke ich Schweiß an seiner Schläfe. Bevor ich nachhaken kann, klärt er mich auf.

„Ich bin heute Fahrrad gefahren und musste mit erschrecken feststellen, dass ich so fit bin, wie ein 90-Jähriger mit Muskelschwäche", kommentiert er trocken und lacht auf. Sein Lachen wandelt sich zu gequält Stöhnen. Er sieht wirklich erledigt aus, dabei ist der Campus nur ein paar Kilometer entfernt.

„Warum auf einmal?", frage ich und ziehe meine Augenbraue nach oben.

„Ego...", antwortet er kurz und bündig. Ich glaube ihm kein Wort. Und Rick hat nie den Eindruck gemacht, als würde er sich mit solchen Oberflächlichkeiten aufhalten.

„Klar doch! Cora, oder?", hake ich nach und Rick bricht in theatralisch gespieltes Heulen aus.

„Sie hat gesagt, ich wäre schon mal fitter gewesen und hätte länger durchgehalten...", wimmert er herum und nun muss ich doch lachen.

„Also doch dein Ego...", necke ich.

„Japp", seufzt er, "Aber sie hat Recht, ich war wirklich schon mal fitter. Die ganze Lernerei und das Bücherwälzen lässt mir nicht viel Raum für andere Dinge. Das ist also nichts weiter als Lernspeck." Rick lehnt sich zurück, streicht sich über den Bauch und knufft sich dann in eine kleine Falte. Ich finde nicht, dass sie auffällt und im Grunde entsteht sie nur durch seine sitzende Position. Dennoch lächle ich.

„Komm schon, ich wollte jetzt ein 'Ach was, du bist total heiß' hören." Rick stupst mir in die Seite und grinst. Ich komme nicht umher, doch zu schmunzeln.

„Ich glaube nicht, dass ich sowas sagen sollte", kommentiere ich ruhig und bemerke, dass mich Rick ansieht. Es ist dieser forsche Blick. Der, der einen wissen lässt, dass dein Gegenüber dich durchschaut.

„Alles okay?". fragt er gleich darauf und obwohl ich damit gerechnet habe, halte ich kurz die Luft an. Ich greife ausweichend nach der kalten Tasse Tee. Doch ich trinke nicht.

„Ich bin nur etwas müde." Ich verwende die gleiche lausige Lüge, die ich öfter auftische.

„Tatsächlich. Es hat also rein gar nichts mit deinem mysteriösen Liebhaber zu tun?", hakt er nach und kratzt damit genau in der Wunde. Ich nehme einen Schluck Tee und zucke mit den Schultern.

„Du solltest Spion werden und nicht Anwalt."

„Na ja, Anwälte müssen auch gute Spione sein." Rick zwinkert mir übertrieben zu und grinst.

„Also, womit quälst du dich dann momentan?", fragt er und lässt nicht locker.

„Willst du einen Tee? Könnte eine Weile dauern", kommentiere ich witzelnd und verspüre einen dumpfen Schmerz, der sich durch meinen Körper arbeitet.

„Oha, klingt nach Drama." Wenn er nur wüsste. Rick schwingt sich auf und holt sich ein Wasser aus dem Kühlschrank.

„Na dann...", fordert er mich auf, rutscht tiefer in den Sitz und legt die Beine hoch. Er seufzt und irgendein Knochen in seinem Rückgrat knackt verdächtigt. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll und entscheide mich für das harmloseste Thema. Uni.

„Na ja, ich bin im ersten Semester und habe das Gefühl, schon jetzt komplett zu versagen. Ich hinke bei etlichen Modulen hinterher. Und da ist diese Partnerarbeit, bei der ich mich so unendlich nutzlos fühle, weil ich einfach keine Ahnung habe. Das schlägt mir einfach aufs Gemüt." Und zudem ist da noch dieser große, furchteinflößende Kerl, der mir ununterbrochen im Kopf umher spukt. Mateo erwähne ich Rick gegenüber nicht. Ich versuche zu lächeln, doch ich merke selbst, dass ich nicht überzeuge. Mein Mitbewohner mustert mich kritisch. Als dann noch seine Augenbraue nach oben wandert, erstirbt auch der letzte Rest meiner vorgegaukelten positiven Gesichtsmimik.

„Du setzt dich zu sehr unter Druck, Ben. Es ist dein erstes Semester und es gibt genügend Studenten, die ihre ersten Semester dafür benutzen, ihre Alkoholtoleranz zu strapazieren und ein schwarzes Buch anzulegen. Sie machen nicht einen Kurs zu ende. Ich habe Kommilitonen, die jetzt noch Module nach dem Sonnenstand wählen." Ricks Arm winkelt sich in verschiedene Positionen. Ich sehe ihm eine Weile dabei zu und mit jedem Winkel amüsiert es mich mehr. Anscheinend hat er genau das bezweckt. Das angenehme Gefühl, welches das kurze Lachen in mir auslöst, ist wohltuend.

„Im ernst?"

„Ja, er besucht keine Vorlesungen vor 12 Uhr", erklärt er.

„Im Ernst, Ben. Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn du den einen oder anderen Kurs noch nicht beendest oder schiebst. Ich kenne keinen, der nach dem beispielhaften Stundenplan verfährt oder auch nur die Regelstudienzeit einhält. Da wird man ja gaga bei." Er lächelt, greift sich die Wasserflasche und leert sie zur Hälfte.

„Ich würde es gern lockerer sehen, aber es... ist nicht so einfach." Ich fühle mich innerlich gezwungen, ein gutes Ergebnis abzuliefern. Ich will mich schließlich nicht blamieren. Wäre Antony nicht mein Dozent, wäre es vielleicht sogar möglich. Alles verzwickt. Ich streiche mir mutlos übers Gesicht und seufze. Das angenehme Gefühl ist schon wieder verflogen.

Rick legt seine Hand auf meinem linken Knie ab.

„Okay, lenken wir dich ab", sagt er. Eine willkommene Idee. "Wir habe immer noch das Problem, dass wir niemanden weiter kennen mit dem Marie so abhängt..." Ablenkung, ja. Weniger problematisch, nein! Zu blöd, dass wir beide keine anderen Kontakte zur biologischen Fakultät haben.

Plötzlich habe die Erleuchtung. Der Japaner!

„Oh, weißt du was? Ich habe jemanden in einen meiner Kurse, der eigene Biologie studiert und Marie kennt. Ich kann ihn sicher einspannen und er bringt dann auch Leute mit, die Marie kennt!"

„Ben, ich könnte dich knutschen!!!", ruft er laut und greift mir an die Schultern um mich zu schütteln, „...Mach ich nicht, keine Sorge. Cora würde mir die Hölle heiß machen...Aber das ist großartig!" Anscheinend habe ich ihm damit wirklich den Tag gerettet. Immerhin ist das auch ein Glückspunkt auf meiner Tagesrechnung, die heute vor lauter dunkler Nebelpunkte nur so strotzt. Wir klären ab, dass ich ihn kontaktiere und um Hilfe bitte.

„Ich sollte mal duschen gehen. Ich fange an Fliegen anzuziehen", sagt er und wackelt mit den Augenbrauen und dann mit der Hand vor seinem Gesicht. Er rutscht von der Sitzbank runter, streckt sich ausgiebig und wendet sich zu mir um.

„Du weißt, wo du mich findest, wenn du reden möchtest..." Er deutet den Flur entlang und lächelt. Ein wenig schüchterner als sonst.

„Danke...und Rick!", halte ich ihn an der Tür auf, „Du siehst heiß aus. Lass dich also nicht verunsichern." Diesen Egopusher hat er sich einfach verdient. Mein Mitbewohner schaut im ersten Moment verdutzt, doch dann beginnt er zu lachen, klopft grinsend gegen den Türrahmen und verschwindet in sein Zimmer.
 

Ich brauche noch einen Augenblick ehe ich mich aus der Küche verabschiede, räume die benutzte Tasse zur Spüle und verschwinde in meinem Zimmer. Ich sehe mich um und entscheide mich kurz entschlossen dafür, einfach ins Bett zu fallen. Eigentlich müsste ich mir die Unterlagen von Kaworu anschauen und die Folie aus den verpassten Seminaren nachholen. Ich habe noch einige Hausaufgaben zu erledigen, doch ich schaffe es nicht einmal, meinen kleinen Zeh zu bewegen. Zwar ist es keine Entschuldigung, aber Rick beschwichtigende Worte hallen in meinem Kopf umher. Auf dem Bett rolle ich mich zusammen, greife mir mein Kissen und drücke es fest an meine Brust. Ich möchte schreien und weinen. Doch selbst das kann ich gerade nicht.

Die dröhnende Stille wird durch mein Handy zerrissen. Es klingelt und ich ziehe es missmutig aus der Hosentasche. Mit gemischten Gefühlen blicke ich auf das Display. Es ist Antony. Ich zögere, bevor ich rangehe, atme tief ein und ignoriere die ganzen unwirschen Gedanken, die ununterbrochen durch meinen Kopf geistern. Mit dem Telefon am Ohr drehe ich mich auf den Rücken.

„Hey du!", haucht mir Antony lieblich zu. Trotz meiner inneren Zerrissenheit merke ich, wie allein seine angenehme Stimme dafür sorgt, dass ich mich ein bisschen beruhige.

„Hey, hast du endlich Feierabend?", frage ich, lege den ungenutzten Arm auf meinem Bauch ab und schließe die Augen.

„Noch nicht ganz. Ich muss noch zwei Arbeiten korrigieren, meine Tasse spülen und dann kann ich zusammenpacken. In einer Dreiviertelstunde wäre ich zu Hause. Du könntest herkommen." Bis ich bei ihm bin, ist es bereits 22 Uhr. Und damit viel zu spät. Ich lehne ab. Er erneuert sein Nachhilfeangebot und löst damit ein angenehmes Gefühl in mir aus. Jedoch ist meine Reaktion darauf ebenfalls eher verhalten und das merkt auch mein Dozent.

„Ist alles okay bei dir?"

„Ja,....", sage ich ein klein wenig zu schnell und presse sofort die Lippen aufeinander.

„Benedikt."

„Ohh, sag bitte nicht Benedikt...Ich fühle mich jedes Mal, wie ein alter Mann... mit Haarkranz und schwarzer Kutte", murmele ich hinterher. Ich höre, wie Antony zu lachen beginnt. Tief. Ehrlich. Ich mag es, wenn er das macht. Ich schließe meine Augen und genieße es.

„Okay, ... Ben...besser?"

„Ja", hauche ich.

„Was ist los? Fühlst du ich nicht gut?", hakt er ein weiteres Mal nach.

„Nein, es ist wirklich alles okay. Ich bin nur etwas müde..." Obwohl mein Verstand regelrecht danach schreit, dass ich Antony von dem Zusammentreffen mit Mateo berichte, ignoriere ich es. Warum genau ist auch mir ein Rätsel. Ich sollte es ihm sagen. Geheimnisse sind immer schlecht. Aber ich will einfach nicht, dass er sich genötigt fühlt, erneut den Kontakt zu mir abzubrechen. Und das würde geschehen.

„Okay, wie wäre es dann mit einem ruhigen Abend auf der Couch und dem Versprechen, dass ich dich schlafen lasse?" Es klingt verlockend. Sehr verlockend. Das bestätigt auch das stärker werdende Kribbeln in meiner Magengegend. Und trotzdem sage ich ihm ab.

„Es klingt wirklich toll, aber ich muss noch ein paar Fachbücher wälzen und es gibt da diesen Dozenten, der uns immer wieder Hausaufgaben aufgibt", sage ich mit einem leicht amüsierten Unterton.

„Na so ein Blödmann. Gib mir seinen Namen, dann mische ich ihn mal ordentlich auf", kommentiert er ebenso belustigt und wir beginnen beide zu lachen. Danach herrscht einen Moment Schweigen, bevor Antony das Wort ergreift.

„Bleibt es bei unserem Kinoabend?", fragt er und ich höre ein klein wenig Behutsamkeit heraus. Er befürchtet, dass ich auch dieses Treffen absage. Und ich bin mir nicht sicher, ob es womöglich sogar besser wäre. Immerhin hat er mit keinem Ton seine vorige Unterredung mit Mateo erwähnt. Mit keiner Silbe. Ich soll mich von ihm fernhalten, doch wie kann ich das? Ich sehne mich so nach ihm. Nach seiner Nähe. Seinem Geruch und wie sich seine Hände auf meinem Körper anfühlen.

„Antony...", setze ich an, spüre, wie sich mein Hals zu schnürt, bevor ich weiteres preisgeben kann. Ich möchte nicht, dass es endet. Mateo hat kein Recht dazu. Ich gebe ihn nicht auf. Nicht nach all den Kämpfen, die ich bereits durchgestanden habe.

„Ja, es bleibt dabei...", fahre ich gefestigt fort als sich die Anspannung löst. Auch auf der anderen Seite des Telefons vernehme ich Erleichterung.

„Okay, dann sehen wir uns morgen... Schlaf gut", wünscht er mir hinterher. Ich gebe eine kurze Erwiderung und lege dann auf. Ich bleibe im Bett liegen, ohne noch mal in eines der Bücher zu blicken.
 

Meine Nacht ist schlaflos. Jedes Mal, wenn ich meine Lider schließe, taucht Mateos Gesicht vor mir auf. Genau genommen sind es nur seine Augen. Diese Eiseskälte darin verursacht mir Gänsehaut. Auch jetzt noch. Mitten in der Nacht. Ich liege unter der warmen Decke und dennoch friere ich.

Bei meiner letztendlichen Schlafstundenrechnung kommt eine Zahl zusammen, die unterhalb der fünfer Grenze liegt. Ich fühle mich wie gerädert. Nicht einmal der Kaffee hilft, den ich mir unterwegs besorge. Trotz übermäßiger Stärke und dem Aroma von Schuhsohlen, bewirkt er nichts. Ich werfe den Becher mit den letzten Schlucken in einen der Mülleimer vor dem Hauptgebäude der Uni und streiche mir über den Nasenrücken. Ich werde schon während der ersten Vorlesung einschlafen. Was mache ich hier eigentlich? Meine Augen wandern über die verglaste Fassade des modernen Unigebäudes. Das erste Semester ist fast vorüber und ich bin mir immer noch nicht sicher, wo mich das Ganze hinführt. Seit dem Anfang eigentlich nur in Probleme.

Zu dem fällt es mir immer schwerer, dem Stoff zu folgen. Im Grunde bin ich gar nicht richtig rein gekommen. Ich besuche die Vorlesungen und Seminare, doch irgendwie scheint alles einfach an mir vorbei zu fliegen. Nichts bleibt hängen und ich bekomme kein richtiges Gefühl für das Studium. Wahrscheinlich liegt es an der verkorksten Gesamtsituation. Ich seufze trübsinnig.

„Hey kleiner Ecoboy. Heute so schwermütig?" Die leicht raue Stimme des gepiercten Mannes sorgt dafür, dass sich die Haut in meinem Nacken aufstellt. Lukas Arm legt sich an meine Schultern. Der Geruch von Tabak und abgekühlten Rauch strömt mir entgegen und augenblicklich erwacht in mir das starke Bedürfnis nach einer Zigarette. Es durchdringt mich bis in die kleinste Faser meines Körpers. Meine innere Nervosität stülpt sich immer mehr nach außen. Ich spüre die Unruhe in meinen Fingern, die scheinbar nur noch von einem dieser todbringenden Glimmstängel gestillt werden kann.

„Gib mir eine Zigarette!", fordere ich, ohne den Blonden zu begrüßen oder auf seine Floskel einzugehen. Ich sehe auf, direkt in die blauen Augen des anderen Mannes. Lukas linke Augenbraue wandert nach oben. Er mustert mich. Im ersten Moment argwöhnisch. Im nächsten belustigt. Sein Arm bleibt an meiner Schulter, während ich spüre, wie er nach der Packung Zigaretten greift, die sich in seiner Hosentasche befindet. Nur mit einer Hand zieht er sie in unser Blickfeld, schiebt mit dem Daumen die Lasche nach oben, sodass der Inhalt sichtbar wird. Die Packung ist halb leer. Durch die Bewegung kippt eine der Zigaretten zur Seite und scheint förmlich nach mir zu rufen. Ich greife danach, blicke auf den hervorgehobenen Filter und stecke sie zwischen meine Lippen.

„Na, wenn das deine Mama erfährt", gibt er neckend von sich, spielt damit auf den Kommentar während unseres ersten Treffens an. Bereits jetzt schmecke ich das Aroma von Tabak, spüre das Zittern, welches tief aus meinem Inneren heraus bricht. Luka sucht in seinen Taschen nach einem Feuerzeug. Ich lasse den Glimmstängel unruhig wippen. Ich weiß um die Konsequenzen, die das Rauchen mit sich bringen kann, denn ich erinnere mich lebhaft an die schrecklichen Wochen, die der erste Entzug verursacht hatte. Lukas Arm verschwindet von meiner Schulter und ich spüre, wie die zuvor erwärmten Stellen abkühlen. Schnell und seltsam unangenehm. Er bleibt direkt vor mir stehen, während mein Blick ausweichend ins Leere geht. Das Kribbeln in meinem Hals wird stärker, als ich das raue Knirschen des Feuerzeugs höre. Das Rädchen, was die Flamme entzündet, weckt weitere Erinnerungen.

„Du wirkst angespannt. Was ist passiert?", fragt er ruhig. Statt die Zigarette zwischen meinen Lippen endlich zu entzünden, nimmt er sie mir wieder weg. Ich antworte nicht und wehre mich auch nicht dagegen. Luka steckt sich die Zigarette hinters Ohr und beugt sich vor.

„Mateo ist passiert, nicht wahr?" Ich antworte noch immer nicht, spüre nur, wie sich die Härchen auf meinem Armen gegen die Kälte rüsten. Doch nicht nur dort. Sondern auch an meinem Hals und auf meinen Knien.

„Hat er dir etwas getan?", fragt er weiter und der Ton seine Stimme ist anders. Ich schüttele zaghaft den Kopf und sehe danach erst auf. Ich erwarte sein schelmisches Grinsen zu sehen, das wissende Gebären um meine falschen Entscheidungen. Doch der Ausdruck auf Lukas Gesicht ist ein ganz anderer. Ich sehe darin Mitgefühl und Verständnis. Die Tatsache macht es nur noch schlimmer, denn mit diesem Blick wird mir die Brisanz immer klarer. Und als würde er es noch verstärken wollen, legt sich seine Hand an meine Wange.

„Du solltest dringend die Beziehung überdenken, Kleiner...", flüstert er und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. So zart, dass ich es kaum merke und dennoch bis ins Mark spüre.

Er beugt sich weiter zu einem Ohr. Ich spüre seinen warmen Atem, der über meinem Hals streicht.

„Außerdem... wäre ich es gern, der dir deinen hübschen Arsch versohlt... Ich weiß, ich hab nicht diese klassischen Lehrerattribute, aber ich verspreche dir, dass ich mir Mühe gebe", flüstert er mir zu. Ich mache unwillkürlich einen Schritt von ihm weg und sehe ihn entgeistert an. Auf seinen Lippen hat er diesmal einer seiner typischen Grinser. Von dem einfühlsamen Moment ist nichts mehr übrig und ich sehe wieder klar.

„Niemals, verstanden?", sage ich abweisend und versuche einen gewissen Nachdruck mit hinein zubringen. Es gelingt mir nicht. Ich merke es selbst und bekomme es durch Lukas amüsierten Blick zusätzlich bestätigt. Er leckt sich über die Lippen, als er sich erneut zu mir beugt. Ich rieche die Zigaretten.

„Sag das lieber nicht! Du weißt ja, meine Tür steht dir immer offen...", flötet er mir entgegen, bevor er sich auf den Weg zur Campusredaktion macht. Ich bleibe noch einen Augenblick stehen, sehe, wie immer mehr Studenten in das Hauptgebäude strömen und alle scheinen zielstrebig und bestimmt. Etwas, was ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr gespürt habe. Es ist zum Verrücktwerden.
 

Die folgenden Vorlesungen sind einfach nur zäh und meine mangelnde Konzentration tut das Übrige. Während die Dozenten über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns sowie die Dynamik von Märkten berichten, wird mein Kopf immer schwerer. Nach einer Weile bekomme ich Kopfschmerzen und das Lesen der Folien wird schier unerträglich. Die abgedunkelten Räume und das Flackern der Beamer verwandeln mein Hirn zusehends in Brei. Ich bin heil froh als der zweite Block endet und ich schnell auf den Flur verschwinden kann. Endlich wieder Luft und Tageslicht. An einem der großen Fenster des Hauptgebäudes bleibe ich stehen und atme tief durch. Ich hätte im Bett bleiben sollen.

Mit geschlossenen Augen lehne ich mich an das Fenster. Die Scheibe kühlt angenehm meine Schläfe. Ich würde mich gern mit meinem gesamten Körper ranpressen und selig sterben. Als ich mich endlich von dem Gedanken verabschiedet habe, ziehe ich mein Telefon hervor und blicke auf die Uhr. Den nächsten Block habe ich frei. Danach das Seminar bei Antony.

Mein Telefon beginnt zu klingeln. Anni versucht mich zu erreichen. Ich gehe nach kurzem Zögern ran.

„Mensa. Kaffee. Jetzt!", ruft es mir durchs Telefon entgegen, ohne jegliche Begrüßung.

„Dir auch einen guten Morgen, Darling", kommentiere ich, nutze Annis normalerweise verwendeten britischen Sprachgebrauch und gehe absichtlich nicht auf ihre forsche Ansage ein.

„Hase, sorry. Ich wünsche dir auch einen guten Morgen. Kommst du jetzt in die Mensa?"

Ich drehe mich zwei Mal hin und her, um abzuwägen, wo ich lang gehen muss, damit ich wirklich Richtung Mensa laufe.

„Bin unterwegs..." Ich vernehme den quietschenden Dank und lege auf.

Anni zu finden, ist ein leichtes. Ich muss mich nur nach der unruhigsten und hibbeligsten Person umschauen. Und natürlich nach ihrem auffälligen, roten Haar. Anni tigert wild zwischen den Grüppchen an Studenten umher und macht einen kleinen Hüpfer, als sie mich endlich erspäht. Sie ruft meinen Namen und ich täusche kurz an, wie ich mich wieder umdrehe und in die gegengesetzte Richtung verschwinden will. Meine rothaarige Freundin zieht eine deutliche Schnute und verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. Ich lächele und noch bevor ich bei ihr angekommen bin, lässt sie sie wieder sinken.
 

In der Mensa reihen wir uns in der Schlange der Kaffeezombies ein und brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis wir am Automaten ankommen.

„Möchtest du auch?", fragt sie und hält mir einen der leeren Becher hin.

„Nein, ich hatte schon einen..." Eine Argumentation, die für gewöhnlich nicht zählt. Kaffee kann man in Annis Universum nie genug haben. Ich denke nicht, dass weiteres Koffein irgendwas in meinem verwirrten Hirn ändert. Im Gegenteil, wahrscheinlich würde es meinen momentanen Zustand nur verschlimmern.

„Worüber zermarterst du dir deinen hübschen Kopf, Darling?", fragt sie mich direkt. Ich sehe auf, atme tief ein und zucke mit den Schultern.

„Darüber, wie ich es schaffen soll, dieses Semester zu überstehen." Ich lehne mich gegen einen der Tische.

„Läuft es nicht gut?" Sie schüttet sich einen Haufen Zucker in die schwarze Brühe und beginnt den Becher zu schwingen. Es läuft kein einziger Tropfen über.

„Ich weiß nicht. Irgendwie kann ich mir gerade nicht vorstellen, dass ich auch nur eine Klausur schaffe." Anni nimmt einen Schluck Kaffee und kippt danach einen weiteren Schwung Zucker hinein. Sie bezahlt und wir verlassen die Mensa Richtung Ausgang.

„Ach Quatsch. Das hattest du auch beim Abi gesagt und dann hast du doch alles super hinbekommen."

„Ja, mit einer drei in Mathe und einer vier in Englisch. Bravourös", kommentiere ich ihren falschen Enthusiasmus trocken. Auch damals habe ich mich arg hin und her geworfen und an allem gezweifelt. Im Augenblick fühlt es sich noch schlimmer an.

„Ach was, das sind doch nur Momentaufnahmen und zeigen nicht das wahre Bild." Momentaufnahmen? Ich runzele fragend meine Stirn und ernte einen beleidigten Blick von meiner langjährigen Freundin.

„Du packst das schon, will ich damit sagen! Na ja, vielleicht solltest du dich ein bisschen weniger ablenken lassen...", stichelt sie. Galant ist anders. Nun werfe ich ihr einen beleidigten Blick zu. Sie kann es einfach nicht lassen.

„Sagt die, die mich seit Anfang des Semesters ständig in neue Dates gedrängt hat", gebe ich den Vorwurf zurück und sehe dabei zu, wie sich ihre grünen Augen kunstvoll hin und her drehen. Sie nimmt einen großen Schluck Kaffee und bleibt stehen.

„Ich habe dich aber nicht dazu gedrängt, dich auf deinen Dozenten einzulassen." Ein weiterer unnötiger Kommentar, den sie unbedarft von sich gibt. Eine ihrer schlimmsten Eigenschaften. „Geht's noch etwas lauter...", murre ich getroffen, seufze und habe ihre volle Aufmerksamkeit.

„Entschuldige, das war nicht hilfreich..."

„Kein bisschen.", kommentiere ich und drehe mich von ihr weg. Ich lasse meinen Blick über das Gelände der Uni schweifen und fühle mich seltsam verloren. Anni seufzt.

„Tut mir wirklich leid. Ich weiß ja, dass du im Moment viel um die Ohren hast. Das mit deiner Mum und..."

„Wieso hast du angerufen?", unterbreche ich ihre Ausführungen. Ich habe keine besondere Lust, noch weiter über meine Probleme zureden und ich bezweifele, dass sie einfach nur einen Kaffee trinken will. Dafür war ihre dreiteilige Aufforderung vorhin am Telefon zu forsch und bestimmt. Anni bleibt stehen und nimmt einen großen Schluck von ihrem Kaffee.

„Ich hab ein Date...", platzt es aus ihr heraus und etwas von dem eben getrunkenen Kaffee läuft aus ihrem Mund. Sie leckt sich schnell über die Lippen und streicht sich einen Rest mit dem Handrücken vom Kinn.

„Schön. Und wieso bist du so aufgeregt? Es ist doch nicht dein erstes", frage ich verwundert und deute ihr an, dass die Spuren ihres Kaffeeschwalls noch nicht vollständig getilgt sind.

„Aber er hat mich gefragt...", quietscht sie mir entgegen, so als müsste ich verstehen, weshalb es etwas Besonderes ist.

„Wer?"

„Marvin!" Wer? An den Namen kann ich mich nicht erinnern. Anscheinend sehe ich genauso unwissend aus, wie ich mich fühle.

„Marvin. Groß. Muskulös. Geil?" Das Blatt in meinem Kopf bleibt weiß und leer. Ich schüttele meinen Kopf.

„Aus dem Fitnessstudio?", erläutert sie weiter. Ich wiederhole die negierende Geste und sehe, wie sich Annis Blick vor Enttäuschung verfinstert.

„Ernsthaft? Ich wusste ja, dass du abgelenkt bist, aber dass du nicht mal mehr deiner besten Freundin zu hörst." Sie ist beleidigt und ich weiß immer noch nicht, wann sie mir davon erzählt haben will. Vielleicht verwechselt sie mich mit einem anderen Ben, der still ist, keine Probleme hat und kaum Pflege braucht.

„Tut mir echt leid. Wann ist euer Date?", frage ich in der Hoffnung, dass mir deutliches Interesse etwas Gnade bringt.

„Am Samstag", antwortet sie kurz angebunden. Sie schmollt.

„Wo geht es hin? Nett essen? Kino? Museumsbesuch? Galerieeröffnung?" Anni boxt mir gegen die Schulter.

„Museumsbesuch und Galerieeröffnung? Seit wann bist du so erwachsen geworden?"

„Einer von uns beiden muss es ja werden", erwidere ich.

„Sehr witzig." Ihre Verärgerung scheint sich zu lösen und ich entspanne mich. Wir haben unsere Streitereien gerade erst beendet und ich will auf keinen Fall neue.

„Wir gehen tanzen in einem angesagten Club. Du kannst gern mitkommen. Etwas tanzen und abschalten würde dir sicher nicht schaden." Ihr Kopf bewegt sich wackelnd hin und her.

„Nein, danke. Clubs sind, wie du weißt nicht meine Welt und das fünfte Rad am Wagen sein, will ich auch nicht. Oh, wir feiern übrigens am Freitag in der WG. Marie hat Geburtstag." Außerdem hat mir der letzte Clubbesuch den ganzen Schlamassel eingebrockt, den ich jetzt habe. Auch wenn mich ein Teil davon sehr glücklich macht. Ich grinse schief.

„Na gut, aber nur weil ich weiß, dass du wie eine Ente tanzt. Bin ich denn zu eurer WG-Sause eingeladen?"

"Natürlich!"

"Schön, ich komme.", bestätigt sie und nimmt einen weiteren Schluck aus dem Pappbecher, "Bäh, der Zucker hat sich unten gesammelt." Sie verzieht angewidert das Gesicht und lässt den Becher im nächsten Mülleimer verschwinden. Ich sehe kichernd dabei zu und ernte einen weiteren kleinen Boxer, bevor wir uns wieder voneinander trennen und in unsere Seminare verschwinden.
 

Ich bin der Erste im Saal und allein die Vorstellung, dass Antony gleich vor mir stehen wird, lässt meine Fingerspitzen erregt kribbeln. Mit jeder voranschreitenden Minute und jeden weiteren Studenten, der sich im Raum niederlässt, wird mein Herzschlag unruhiger. Als der Hörsaal zur Hälfte gefüllt ist, taucht Antony auf. Er trägt diesen unglaublich figurumschmeichelnden, dunklen Pullover, den er auch bei unseren ersten Treffen in der Uni getragen hat. Er lächelt mir kurz zu und wird dann schon von einigen anderen Studentinnen belagert.

Während des Seminars versucht er, nicht direkt zu mir zu schauen, sondern schweift mit seinen Augen durch den ganzen Hörsaal. Doch jedes Mal scheint er bei mir zu beginnen und zu enden. Im Gegensatz zu den anderen beiden Vorlesungen scheint das Seminar mit Antony nur so zu verfliegen.

„Herr Kaufmann!" Ich wende mich um, suche in der herausströmenden Menge nach dem Rufenden. Die Menge an Köpfen kann ich kaum voneinander unterscheiden. Antony schiebt sich zwischen zwei Gruppen an Studenten hindurch und ich merke, wie mein Herz einen Satz macht. Er hält ein paar Akten und Kopien in seiner Hand. Seine Bewegungen sind geschmeidig und schön. Ich bewundere es immer wieder. Wahrscheinlich ist es nur ein Traum und gar nicht real.

„Ben!", höre ich nun meinen Vornamen, als er vor mir stehen bleibt. Erst jetzt löse ich mich aus meinen Gedanken und spüre mein Herz, welches fast aus meiner Brust springt.

„Hi!", erwidere ich und versuche, unbemerkt meinen Puls unter Kontrolle zu bekommen.

„Können wir eben reden?" Seine freie Hand zuckt nach vorn, doch bevor er mich berührt, stoppt er. Sein Blick geht zur Seite und er deutet in eine ruhigere Ecke. Ich folge ihm. Hier sind zu viele Leute, die uns sehen würden. Wir bleiben einen Moment lange schweigend stehen, während die Gespräche der anderen Studenten leiser werden und verstummen.

„Ich wollte über heute Abend reden."

„Oh. Ja, ich...ich habe mich noch nicht informiert, was im Moment so läuft", gestehe ich.

„Nicht schlimm, ich wollte dir sowieso einen Vorschlag machen. Bei mir in der Nähe gibt es ein kleines Kino. Darin werden hin und wieder alte Filme vorgeführt. Diese Woche zeigen sie ein paar Schwarz-Weiß-Filme mit alten Hollywoodgrößen, wie Toni Curtis und Jack Lemmon." Antony lächelt. Beide Namen sagen mir nichts.

„Heute kommt einer der besten Klassiker überhaupt. 'Manche mögens heiß' mit Marilyn Monroe in Bestform", erzählt er weiter. In seinen Worten steckt so viele Begeisterung, dass ich unwillkürlich mit lächele.

„Klingt gut", sage ich verhalten als in dem Moment eine paar Studenten an uns vorübergehen. Sofort schweigen wir beide und Antony verschränkt locker seine Arme vor der Brust. Antony ist ein guter Dozent und ein attraktiver Mann. Das wird mir jedes Mal wieder klar, wenn ich die Blicke der Anderen sehe. Besonders die der Studentinnen. Erst als wir wieder allein sind, nimmt er unser Gespräch erneut auf.

„Wir können auch in ein normales Kino gehen...", schlägt er vor. Er wirkt verunsichert und das irritiert mich ebenso.

„Nein, nein...es klingt wirklich toll." Antony sieht mich an und wendet seinen Blick kurz ab. Er seufzt.

„Genauso hast du es gestern schon am Telefon formuliert. Ist wirklich alles okay mit uns?"

„Ja, ist es. Wirklich. Ich weiß, nur nicht...wer Toni Lemmon ist", sage ich, stocke und gebe dann meinem begonnenen Satz eine andere Endung. Antony beobachtet mich und beginnt dann zu schmunzeln.

„Toni Curtis und Jack Lemmon."

„Oh,...", gebe ich peinlich berührt von mir und weiche seinem Blick aus. Ich merke, wie er nach meiner Hand greift. Seine Fingerspitzen sind kühl und trotzdem erfasst mich Wärme.

„Du wirst sie bestimmt mögen und wenn nicht, dann ist auch okay. Dann machen wir das nächste Mal etwas anderes zusammen." Ich lächele ihn an und glaube selbst fest daran, dass es mir gefallen wird.

„Also heute Abend?", hakte er noch einmal nach.

„Ja. Ich freue mich drauf", sage ich. Sein Daumen streicht über meinen Handrücken und wir trennen uns erst, als erneut eine Gruppe von Studenten über den Flur strömt. Ich sehe dabei zu, wie er in Richtung seines Büros verschwindet. Ich gehe zur WG, brauche auffällig lange, um mich fertig zu machen und ziehe mich dabei drei Mal komplett um. Ich bin nervös. Sehr sogar, dabei gibt es keinen Grund. Es ist nicht unser erstes Date. Wir haben Sex und ich kenne seinen brutalen Ex. Sofortige Ernüchterung durchströmt mich.
 

Auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt bekomme ich von Antony eine kurze Nachricht. Er verspätet sich um ein paar Minuten. Kein Problem. Der Film beginnt sowieso erst in einer Stunde und dennoch ertappe ich mich dabei, wie ich mich ungewöhnlich oft umschaue. Ständig in der Erwartung, dass plötzlich der angsteinflößende Ex vor mir steht. Was soll ich nur tun? Vielleicht sollten wir mit all dem zur Polizei gehen? Doch, was können die tun? Im Grunde ist ja nichts passiert. Aussage gegen Aussage. Wie so oft. Er hat mir ja nur gedroht. Und das nicht mal konkret.

Ich bin nervös und das legt sich erst, als ich Antony auf mich zukommen sehe. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt, wie er in einer seltsamen Mischung aus Erregung und Anspannung immer deutliche unter meiner Haut zu spüren ist. Unruhig reibe ich mit dem Daumen über die Fingerbeeren meiner Hand. Er sieht unglaublich gut aus. Der elegante dunkelgraue Mantel umschmeichelt seine schlanke Statur.

Als auch er mich erkennt, lächelt er. Er bleibt direkt vor mir stehen, greift mir sanft, aber bestimmt an den Kragen und zieht mich in einen Kuss. Ich spüre seine Wärme und schmecke die Süße seiner Lippen. Sein vertrauter Geruch und das wunderbare Gefühl seiner Nähe beruhigen mich schnell. Wir intensivieren den Kuss, bewegen unsere Münde intensiv aufeinander, während wir uns dichter aneinander schmiegen.

Wir lösen uns mit geschlossenen Augen voneinander. Ich genieße das Prickeln auf den Lippen, welches meinem gesamten Körper entlang gleitet.

„Ich hatte ein wenig Angst, dass du nicht kommst...", flüstert der Portugiese und haucht gleich darauf einen weiteren Kuss auf meine Lippen.

„Wieso das?", frage ich verwundert und öffne meine Augen. Antonys sind noch immer geschlossen und er atmet tief ein, bevor er sie öffnet. Danach erfassen mich seine blau-grünen Iriden.

„Du hast gestern verunsichert gewirkt und... na ja, ich dachte, du würdest absagen." Ich schließe kurz meine Augen und lächele. Wenn Antony wüsste. Obwohl es in mir kitzelt, beuge ich mich einfach nur für einen weiteren Kuss zu ihm und widerstehe dem Drang, ihm alles zu offenbaren. Ich möchte diesen Moment genießen. Ihn genießen.

„Nein, ich bin nur etwas mit der Uni überfordert... doch das hier mit dir macht mich sehr glücklich..." Ich tippe ihm sanft gegen die Brust und lächele ein weiteres Mal. Antony beginnt ebenfalls zu lächeln und greift nach meinem frechen Finger. Er haucht einen Kuss auf meinen Handrücken.

„Gut! Bist du bereit für Popcorn und ein bisschen Kitsch?", fragt er hoffnungsfroh. Ich lächele, greife mit beiden Händen an den Kragen seiner Jacke und ziehe ihn einen Kuss.

„Ich möchte einen riesigen Eimer Popcorn und eventuell werde ich auch teilen...", erwidere ich, presse kurz die Lippen aufeinander, um nicht sofort zu grinsen und kann es mir dann doch nicht verkneifen.

Wahrheit wird Pflicht

Kapitel 30 Wahrheit wird Pflicht
 

„Nur eventuell?", hakt Antony lachend nach. Ich gebe ihm nur ein leichtes Zucken zur Antwort und bin fast traurig als Antony schönes Lachen verstummt. Er mustert mich mit eine eigenartigen Ruhe. Seine langen schlanken Finger verweben sich in dem Stoff meiner Jacke.

„Was muss ich tun um aus dem Eventuell ein Definitiv zu machen?", fragt mein Gegenüber in einem sanften, flirtenden Tonfall. Es folgt ein leichter Ruck, der mich noch etwas dichter zu ihm positioniert. Er streicht mit dem Daumen meinem Hals entlang, während er meinen Kragen richtet und seinen Blick nicht von meinen Lippen nimmt. Seine schönen Augen wecken mein Verlangen. Es strömt in mich hinein. Durch jede Pore. In jede noch so winzige Zelle meines Körpers. Dabei reden wir nur über das Teilen von Popcorn.

Seine Lippen sind mir so nah. Ich kann ihn förmlich schmecken. Ich denke nicht lange darüber nach, sondern presse alsbald meinen Mund auf seinen. Etwas härter als gewollt, aber mit all der Erregung, die sich in mir aufgebaut hat. Unser Kuss ist intensiv und tief. Ich spüre seine Zunge, die sich zwischen meinen Lippen bewegt. Jedes Stupsen, jede noch so kleine Berührung löst ein heftiges Prickeln in mir aus. Ein Teil davon verebbt in meinen Zehen und den Fingerspitzen, doch der Löwenanteil bündelt sich in meinen Lenden. Ich merke, wie mich Antonys starke Arme dichter an sich heran drücken. Sein Becken schmiegt sich gegen meines. Auch ihn lässt es nicht kalt und ich spüre jedes Mal wieder Freude und Erleichterung. Der Kuss endet nach einer Ewigkeit. So fühlt es sich jedenfalls an und ich möchte nichts lieber, als das es niemals endet. Doch ich warte vergebens darauf, dass sich die wohligen Lippen wieder auf meine senken. Als ich meine Augen öffne, sehe ich, dass auch Antonys geschlossen. Er genießt den Moment, so wie ich.

„Wir sollten langsam reingehen", flüstere ich, versuche den letzten Funken dieses Augenblicks in mich einzusaugen und zu bewahren. Mit einem Lächeln auf den Lippen nickt er, legt seinen Arm um meine Schultern und deutet zum Eingang.
 

Wir treten durch einen schweren Vorhang hindurch und ich habe das Gefühl eine Zeitreise zu machen. Die Innenräume des Kinos sind klein und schummerig. Die Luft ist dicker und es liegt ein süßlicher Geruch darin. Nicht nur nach Popcorn, sondern allerhand anderem. Die Wände sind überzogen von alten, antiquarischen Filmplakaten. Gesichter, die ich nicht kenne. Filmnamen, die ich noch nie gehört habe. Irgendwo erklingt das leise Poppen des klassischen Kinosnacks. Der Geruch von karamellisierten Zucker wird deutlicher. Ein Rascheln und ich sehe zu dem Tresen, an dem eine ältere Frau steht und uns aufmerksam mustert. Sie scheint das jüngste hier zu sein und das obwohl ihre Haare durch und durch weiß sind. Sie trägt eine ausgewaschene Uniform, die mit noch weniger Farbe einem Schwarzweiß Film entsprungen sein könnte. Sie lächelt, als sie meinen Blick bemerkt und ich fühle mich seltsam ertappt. Antony löst sich von mir und geht auf sie zu. Ich kann nicht ausmachen, ob sie sich kennen oder ob sie nur das allgemeine Geplänkel vollführen. Ich bin an Ort und Stelle stehen geblieben. Meine Augen wandern über die vielen Plakate. Ich suche nach den Namen, die mir Antony vorhin genannt hatte, aber ich bringe sie schon wieder durcheinander. Das wenige Licht lässt alles etwas verrucht wirken. Irgendwie aufregend.

„Ben..." Antony ruft mich zu sich heran. Ich komme der Aufforderung nach, bleibe neben ihm stehen. Ich darf die Größe des Popcorns aussuchen und entscheide mich grinsend für die Megaportion. Wohlwissend, dass ich es niemals schaffen werde es aufzuessen und garantiert Hilfe brauche.

Im Kinosaal selbst habe gerade einmal fünfundzwanzig, maximal dreißig Leute Platz. Es riecht nach altem Polsterstoff und ranzigem Öl.

Noch ist niemand anderes hier. Ich wünschte es würde so bleiben. Die Sitzreihen sind aus Holz, die alten Polster zum Teil angesengt und aufgerissen. Es wirkt wenig einladend. Antony zieht mich in eine der vorderen Reihen und sucht uns zwei mittige Plätze aus. Ich drücke vorsichtig die Sitzfläche meines Platzes nach unten und verliere dabei etwas Popcorn.

„Oh...", entflieht es mir und ich drehe mich ruckartig ein paar Mal um meine eigene Achse. Ohne Erfolg. Sie sind so weit unter die Sitze gekullert, dass sie erst hinter uns wieder auftauchen. Erst nachdem ich mich mit dem Knie auf den Sitz stütze und dann nach hinten beuge, erkenne ich die klebrigen aufgepoppten Maiskörner.

„Alles klar?", fragt Antony schmunzelnd, während er mich dabei beobachtet, wie ich über die Lehne gebeugt, versuche die Teile aufzuklauben. Ich versuche die Packung Popcorn nicht noch weiter im Raum zu verteilen und dank Antony gelingt es mir. Er nimmt mir die Süßigkeit aus der Hand und steckt sich ein gepufftes Korn in den Mund. Ich höre, wie er kaut und es knuspert. Nun sehe ich zu ihm und gebe ein empörtes Geräusch von mir. Seine Augenbrauen wandern neckend nach oben, während seine schlanken Finger ein weiteres Popcorn nehmen. Er legt es sich auf die Zunge und seine schönen Augen blicken mich intensiv an.

„Hey, das ist mein Popcorn...", kommentiere ich entrüstet, aber sanft.

„Dann hol es dir zurück", sagt er auffordernd und legt sich die Süßigkeit auf die Zunge. Der Anblick meines älteren Freundes ist so unfassbar verlockend. Ich weiß nicht, was süßer schmecken würde. Er oder das Popcorn. Noch immer auf dem Sitz hockend beuge ich mich zu ihm runter. Antony beobachtet jede meiner Reaktionen und blickt mir erwartungsvoll entgegen.

Ich hauche einen sanften Kuss auf die präsentierten Lippen und schmecke genau das, was ich erwartet habe und so vieles mehr. Es ist eine perfekte Mischung und ich liebe es.

Ich lasse die heruntergefallenen Popcornteile wo sie sind und setze mich neben meinen attraktiven Dozenten, der mir lächelnd und anstandslos die Packung reicht.
 

Kurz bevor der Film beginnt, treffen doch noch ein paar andere Kinobesucher ein. Ein älteres Paar. Ein junger Mann mit ungewöhnlicher Frisur. Ich meine sogar Make up um seinen Augen herum zu erkennen. Zwei Frauen, die sich angeregt unterhalten. Ein wirklich bunt gemischter Haufen. Es wird dunkel und ich identifiziere nur noch hereintretende Schatten. Antony legt seine Hand auf meine, als er merkt, dass ich abgelenkt bin. Ich spüre die Wärme seiner Haut, drehe meine Hand unter seiner herum und verschränke unsere Finger ineinander. Mit der freien gönnen ich mir ein erstes Popcorn teil. Das Karamell schmilzt auf meiner Zunge und die Süße breitete sich in meinen Mund aus. Ich halte auch Antony eines hin, der es dankend entgegen nimmt. Es gibt kaum aktuelle Werbung, sondern viele kleine Clips, die eindeutig aus dem vorigen Jahrhundert sein müssen. Waschmittel. Coke. Dieses nostalgische Flair ist bezaubernd. Der Film beginnt und ich versuche mich bestmöglich darauf zu konzentrieren. Es fällt mir nicht leicht. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich statt auf den Film zu achten auf unsere Hände blicke oder wie ich das berauschende Gefühl seiner Nähe in mich einsauge, wie ein Süchtiger. Genauso, betrachte ich immer wieder Antonys Profil. Bis er mich einmal ertappt.

„Langweilt dich der Film?", flüstert er fürsorglich.

„Nein", erwidere ich lächelnd und reiße mich dann noch etwas zusammen. So oder so, alles an dem Abend lohnt sich. Egal was es ist.

Als der Film endet, hatte ich wirklich spaß daran. Er ist witzig, spritzig und einfach nicht mit den heutigen Sachen zu vergleichen. Wie bei so vielen Dingen. Wir verlassen den Saal als letztes und nachdem wir uns den Abspann angeschaut haben. Die ganze Zeit über hält er meine Hand und erzählt mir Szenen aus anderen Filme, mit denselben Schauspielern. Seine Augen leuchten während er spricht und ich kann einfach nicht aufhören zu lächeln. Auch nicht, als wir aus dem Kino nach draußen treten. Ich atme die frische Luft ein und schließe kurz die Augen. Es fühlt sich gut an. Alles. Antony kommt auf mich zu und bleibt dicht vor mir stehen. Er küsst meine Wange. Meinen Hals. Mich erfasst ein erregter Schauer, als sich sein Kuss hinabarbeitet.

„Hast du Hunger?", fragt er mich und atmet heiß gegen meine Haut. Ich fange fast augenblicklich anzulachen.

„Fragst du mich das wirklich nach der riesigen Portion Popcorn?" Ich halte ihm den fast leeren

Behälter entgegen. Aber es freut mich, dass er unseren gemeinsamen Abend noch nicht enden lassen will. Mir geht es genauso, denn ich genieße jede Sekunden, wenn auch ab und an mit Bauchweh.

„Wir könnten noch etwas trinken gehen...", sagt er lächelnd.

„Ja, unglaublich gern...", sage ich ohne zu zögern. Als ich seinen Vorschlag bejahe, zaubert es wieder dieses angenehme und zärtliche Lächeln auf seine Lippen.

„Gut, dann...", setzt er an und sieht sich um, „...müssen wir nur noch etwas finden..." Auch ich beginne mich umzusehen, doch abgesehen von ein paar geschlossenen Läden ist nichts zu erkennen.

„Das ist nicht gerade eine Partygegend...", kommentiere ich nach den ersten ernüchternden. Eindrücken. Antony lacht auf, streicht sich durch die Haare und greift nach seinem Handy.

„Ich habe irgendwo so eine App. Vielleicht kann die uns helfen?"

„Eine App, ja?"

„Ja, so macht das doch die Jugend von heute, oder?" Nun ist an mir zu lachen. Die einzige App, die ich besitze, ist die, die mir das Wetter vorhersagt und das nur mit einer Genauigkeit von 1: 10000. Schon öfter stand ich mit angesagtem Sonnenschein im Regen. Und einmal auch im Hagel. Auf dem Weg hierher bin ich an einem Späteinkauf vorbei und der erscheint mir gerade, als die bessere Lösung als eine App zu befragen.

„Lass uns einfach in einen Späti gehen und die schöne Nacht genießen", schlage ich vor und greife nach seiner Hand. Sie fühlt sich kühl am, aber umschmeichelt meine, wie es keine andere könnte.

„In einen Späti? Sind das diese winzigen, überteuerten Läden, die 24/7 offen haben und überwiegend von Studenten heimgesucht werden?" Ich schmunzele über seine Beschreibung.

„Ganz richtig!! Nicht schick, aber durchaus nützlich", sage ich und lasse mich nicht von seinem kritischen Tonfall irritieren. Lächelnd ziehe ich ihn hinter mir her. Meine Erinnerung ist richtig. Nach einer Ecke und einem Straßenseitenwechsel können wir bei dem Geschäft ausmachen. Als wir ihn betreten, werden wir für einen kurzen Moment komisch beäugt. Mehr Antony als ich, doch keiner von uns beiden reagiert darauf.

„Ich war noch nie in so einem Laden", gesteht er mir, nachdem wir bei den Kühlschränken mit den Getränken stehen bleiben. Dafür beugt er sich dichter an mein Ohr und ich spüre, wie sein warmer Atem zärtlich über meinen Hals streicht.

„Wirklich noch nie?", flüstere ich und schließe meine Augen um diesen Moment etwas mehr zu genießen.

„Nein!" Er schüttelt seinen Kopf und schmiegt sein Gesicht dann kurz in meine Halsbeuge. Es passt auch nicht zu ihm. Mein werter Dozent ist mehr Cabernet Sauvignon, als Radler. Eben exquisite. Bei dem Gedanken schleicht sich ein amüsiertes Lächeln auf meine Lippen. Wir sind so unterschiedlich, doch stört es mich nicht.

„Worauf hast du Lust?", fragt er mich, schiebt sich hinter mich und schlingt seine Arme um meinen Bauch. Mein Blick wandert über die vielen verschiedenen Flaschen in den Kühlschränken, aber auch in die normalen Regale.

Früher haben Anni und ich immer diese klassische Alkopopzeug gekauft. Hauptsache süß und mit dem Geschmack von Brause. Später waren es die günstigsten Sorten, die man finden konnte, schließlich hat man als Schüler fast so wenig Geld, wie als Student. Ich greife mir ein einfaches Schwarzbier und halte es so, dass Antony es erkennen kann.

„Vollmundig und erfrischend", erkläre ich meine Wahl.

„Wenn du das sagst..." Der Portugiese lässt mich nicht los, während er sich ebenfalls eines der dunklen Biere nimmt und dann die Tür zufallen lässt. Ich drehe mich in seiner Umarmung um, um mir einen Kuss zu stehlen. Danach spaziere ich mit beiden Flaschen zum Kassierer, ignoriere dessen noch immer eigenartigen Blick und bezahle die beiden Getränke.
 

Draußen sehe ich mich kurz um und ziehe Antony in eine Seitenstraße, die nach einer Weile in einen kleinen Park mit Zugang zum Kanal endet. Die Grünanlage ist nicht gut beleuchtet und sehr schlecht gepflegt. Doch gerade ist es mir egal.

Ich lehne mich an das Gelände und sehe meinem gutaussehenden Dozenten dabei zu, wie er langsam auf mich zukommt. Die Bierflasche liegt locker in seiner Hand.

„Hast du auch einen Plan, wie wir die Flaschen aufbekommen?" Dicht vor mir bleibt er stehen. Ich schließe die Augen und atme seinen Duft ein. Er riecht betörend. Trotz meines offensichtlichen Rausches atme ich aus, statt erneut ein und drehe mich um. Den Kronkorken hake ich über das Geländer, mache eine schnelle Bewegung mit der Hand und höre, wie es im Inneren der Flasche zu zischen beginnt. Der metallische Verschluss landet im Grün. Mit meinem offenen Getränk in der Hand, wende ich mich wieder zu Antony um.

„Wow...", kommentiert er erstaunt. Lachend drücke ich ihm meine Flasche in die Hand und nehme ihm seine ab.

„Ja, zur Not macht es auch immer ein Schlüssel..." Ich mache das gleiche noch mal. Diesmal klappt es nicht auf Anhieb und ich höre Antony hinter mir leise lachen.

„Irgendwie beruhigend, dass du kein Bierflaschen-Öffnungsexperten bist."

„Vielleicht bin ich es trotzdem und...das gerade war nur Taktik...", gebe ich ernst von mir und muss sofort unernst kichern. Antony schließt die kleine Lücke zwischen uns und neigt sein Gesicht in meine Halsbeuge. Sein heißer Atem legt sich wohltuend auf mich. Doch erst als ich seinen warmen Lippen auf meiner Haut spüre, endet mein albernes Lachen.

„Du hast also keine schmuddeligen, improvisierten Partynächte erlebt, während des Studiums?", frage ich neugierig und streiche ihm eine dunkle Haarsträhne zurück. Ich weiß ihm Grunde so wenig über ihn. Und ich will alles wissen.

„Was soll ich sagen? Ich war ein ganz braver und sittsamer Student", sagt er auffällig unverdorben und grinst schuldlos.

„Wirklich?" Ich glaube ihm kein Wort.

„Ja, nur hin und wieder gediegene, ganz harmlose Sektabende", erklärt er mit einem verschmitzten Augenbrauenzucken und scheint seine Vergangenheit selbst zu belächeln. Ich nicke verstehend und kann mir ein leises Lachen nicht mehr verkneifen.

„Nichts als Langeweile, also", fährt er fort, „Aber sag doch...woher kennst du denn solche Partynächte?" Seine Augen funkeln mir neckisch entgegen und lassen mir keine Chance für Ausflüchte.

„Na ja, ich kenne eher die abgeschwächte Schülerversion...Ein bisschen Bier...billiger Schaumwein...geschwänzte Schulstunden und heftige Kopfschmerzen inklusive", erläutere ich und versuche die vielen Erinnerungen zu verdrängen. Ich denke nicht gern daran zurück, da es keine schöne Zeit für mich gewesen ist. Sie war einfach nur betäubend und erdrückend. Anni kann von einigen meiner Eskapaden ein Lied singen.

„Wie ungezogen...", murmelt er.

„Nein, nur etwas aufmüpfig", relativiere ich. Auch, wenn das eindeutig untertrieben ist. Antony lächelt mir zu, nimmt einen schnellen Schluck aus der Flasche und verursacht ein Aufschäumen. In letzter Sekunde schafft er es das Überlaufen zu verhindern, indem er seinen Mund auf die Öffnung presst.

„Herrje..." Ein Tropfen, der von seiner Lippe perlt, landet dennoch auf dem Revers seines Mantels. Mein Dozent enttarnt sich damit selbst als definitiver Nichtbiertrinker und fährt sich überfordert übers Kinn.

„Machst du auch das zum ersten Mal?", frage ich fröhlich neckend. Mit dem Daumen entferne ich den schaumigen Rückstand auf seiner Jacke. Der Ältere schaut mir dabei zu und als ich wieder aufsehe, küsst er mich. Er ist ganz sanft und einfühlsam. Ich schmecke das herbe Aroma des Gerstensaftes, welches auf seinen Lippen hängt und schließe meine Augen, als es immer süßer wird. Antony fasst mir an die Hüfte und zieht mich dichter an sich heran. Ich versinke in diesem wunderbaren Gefühl und will nicht, dass es endet. Zärtlich bewegen sich seine Lippen auf meinen. Mit jeder Berührung, mit jedem Ertasten werden sie fordernder, leidenschaftlicher und ich öffne gierig meine Lippen um den Kuss noch intensiver zu gestalten. Seine Zunge bettelt und ich stupse ihr entgegen, spüre das heftige Kribbeln als sich die empfindsamen Oberflächen treffen. Wieder und wieder. Jedes Mal explodiert es mit einem sanften Prickeln in meinem Unterleib. Ich lasse meine eigene spielerisch in seinem Mund gleiten und werde energisch empfangen. Ich koste es vollkommen aus, streiche mit der Zunge sanft über die Innenseite seiner Oberlippe und werde erneut in die verführerische Höhle gelockt.
 

Ich weiß nicht, wie lange wir küssend beieinander stehen. Es ist mir auch egal. Es ist dunkel und wir stehen fern ab jeglichen normalen Lebens. Hier steppt sowieso nicht der Bär. Als Antony den Kuss löst, raune ich enttäuscht auf. Ich bleibe am Geländer gelehnt stehen, stelle meine Bierflasche darauf ab und greife nach dem Saum seines Mantels. Ich schließe den untersten Knopf. Es ist kühl. Ich schließe den zweiten. Dritten. Ich will nicht, dass er friert. Als ich beim letzten ankomme, sehe ich ihm tief in die Augen.

Antony haucht mir einen weiteren Kuss auf die Lippen und nimmt dann lächelnd einen Schluck aus seiner Flasche. Er stellt sich neben mich und lehnt sich mit dem Gesicht zum Kanal vor auf das Geländer. Auch ich trinke einen großzügigen Schluck, genieße das malzige Aroma, welches auf meiner Zunge prickelt und nehme die gleiche Position ein, wie er. Ich beobachte einen Gassigeher samt Pudel auf der gegenüberliegenden Straßenseite bis der Portugiese mir sachte mit seiner Schulter gegen meine stupst.

„Wollen wir weiterlaufen? Es wird langsam ganz schön frisch", merkt er an. In der Nähe von Wasser ist es sowieso immer etwas kälter. Ich nicke, sehe erst nach links und dann nach rechts. Ich entscheide mich für die erste Variante, weil diese uns näher zu unseren Wohnrichtungen führt. Antony scheint das Bier zu schmecken, denn er leert es als erster. Vorbildlich stellt er die Flasche nicht irgendwo ab, sondern sucht einen Müllereimer. Bevor er sie darin entsorgen kann, halte ich ihn zurück und stelle sie daneben. Ich erkläre ihm, dass es immer jemanden gibt, der sie wegen des Pfands einsammelt. Lächelnd nehme auch ich die letzten Schlucke etwas schneller, spüre, wie sich die Scheinwärme des Alkohols in meinem Adern ausbreitet. Ein Kilo Popcorn ist keine wirklich gute Grundlage. Meine Flasche stelle ich neben seine.
 

Als eine Autotür zu knallt, sehe mich erschrocken um und halte unweigerlich Ausschau nach einem dieser schwarzen Luxuskarosserien. Es macht mich jedes Mal wieder kribbelig. Der Gedanke an Mateo und dessen deutliche Warnung geistert unentwegt meinem Kopf umher, auch wenn ich schon den ganzen Abend mit Ablenkung dagegen wirke. Er ist immer da.

Ich sollte es ihm sagen. Aber ich will nicht, dass er es als Anlass nimmt sich wieder zurück zu ziehen. Nicht nach heute. Nicht nach diesen wunderbaren Momenten. Ich möchte nichts sehnlicher, als das er sich mir weiter öffnen kann, ohne den dunklen Schatten in seinem Rücken. Vielleicht sollte ich es nicht tun? Aber es sollte auch nicht zwischen uns stehen. Es ist nie gut Geheimnisse zu haben und das haben wir beide bereits zu spüren bekommen. Antonys Eifersucht. Der Schmerz, als ich erfuhr, dass Mateo zwischen uns steht. Es brennt auch jetzt. So eine Szene möchte ich nicht noch mal erleben. Ohne es wirklich zu bemerken, halte ich ihn zurück eher er sich zu weit von mir entfernt.

„Hey, warte kurz... Du hast mir bisher nicht erzählt, wie es vor ein paar Tagen mit Mateo gelaufen ist. Hast du..." Ich schlucke bevor ich den Satz beende."...Hast du ihm von mir erzählt?" Antony macht die zwei Schritte wieder auf mich zu und bleibt neben mir stehen. Seine Hände vergraben sich vollends in seinen Jackentaschen und wenn er könnte, würde er sie noch tiefer schieben. Die Thematik hätte er gern vermieden. Wahrscheinlich hat er deshalb nicht von allein davon begonnen

„Was hat er von dir gewollt?", frage ich weiter als Antony keine Anstalten macht. Ich muss es einfach wissen und so sehe ich ihn auch an. Kurz leckt er sich über die Lippen und senkt die Lider.

„Es war nur eine seiner Stippvisiten. Seine Art mich daran zu erinnern, wo ich stehe", erzählt er. Seine Antwort befriedigt mich nicht. Also sehe ich ihn weiterhin auffordernd an. Anscheinend so effektiv, dass er augenblicklich einknickt.

„Ich habe ihm nicht von dir erzählt, dass wäre nicht sehr schlau. Und es ist nicht so einfach... Ich sagte ihm schon so oft, dass ich diese Beziehung als beendet erachte. Herrje, ich bin sogar in ein anderes Land geflohen."

„Ich weiß...", flüstere ich. Seine kühlen und doch so sanften Augen sehen mir seltsam bittend entgegen. So als wollte er, dass ich wirklich verstehe, dass es nicht leicht für ihn ist. Das tue ich. Aber es ändert nichts daran, dass es so nicht weitergehen kann. Sein bedachtes Gerede hilft nicht. Mateo wird es so nie verstehen.

„Mateo war bei mir", sage ich nach kurzem Zögern und bereue es sogleich. Antony Mimik ändert sich schlagartig und er bleibt mitten im Schritt stehen.

„Was?", entflieht es ihm ungläubig. „Wann?" Alles an seiner Haltung hat sich gewandelt. Er wirkt angespannt, fast furchterfüllt. Auch er sieht sich kurz um. Sein Blick ist ernst und sorgenvoll.

„Als ich gestern nach Hause gekommen bin...Er wollte... Er hat...", stottere ich verlegen, „Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen." Antony schnauft und sieht mir entrüstete entgegen.

„Was? Wieso nicht?" ich zucke mit dem Schultern, weil ich nicht gestehen will, dass befürchte, dass Antony dann vollends das Weite sucht. „Wieso sollte ich es nicht wissen? Was hat er dir gesagt? Hat er dir irgendwas getan?", hakt er nach, als ich beharrlich auf etwas Uninteressantes am Boden starre. Ich ziehe lautlos viel Luft in meine Lunge und stoße sie aus, als ich wieder aufsehe.

„Ich soll mich einfach von dir fernhalten. Mehr nicht", sage ich gerade heraus, beinahe stur. Ich merke erst im Nachgang, wie absurd es ist, so zu reagieren. Antony fährt sich mit der flachen Hand über den Mund, streicht mit dem Daumen über die Lippen und schließt die Augen.

„Benedikt, das ist wirklich ernst. Mit Mateo ist nicht zu spaßen. Verstehst du das denn nicht? Er ist gefährlich." Eindringlich. Der Ernst in seiner Stimme verursacht mir Gänsehaut.

„Gut, dann lass uns zur Polizei gehen", rufe ich aus und sehe ihn ebenso bedeutungsvoll an, „Er bedroht dich und auch mich." Ich greife nach Antonys Hand. Aus einer Abwehrreaktion heraus versucht er sie mir zu entziehen, doch ich halte ihn eisern fest. Ich will ihn nicht verlieren.

„Das wird nichts bringen." Seufzend streicht er sich wieder mit der flachen Hand übers Gesicht. Ruhelos und zweifelnd.

„Woher willst du das wissen?"

„Weil die Polizei nichts tun kann, Ben."

„Natürlich. Es gibt Kontaktverbote und..."

„Und du denkst er würde sich daran halten? Sowas interessiert ihn nicht."

„Aber du könntest ihn anzeigen."

„Ben, ich... ich kann einfach nicht..."

„Wegen Professor Stroud? Denkst du wirklich, er würde dir schaden wollen, weil du..."

„Er ist es nicht allein, okay. Es ist die ganze verdammte verfahrene Situation", unterbricht er mich schnell und energisch.

„Aber du kannst nicht ewig davor weglaufen. Willst dauernd auf der Hut sein? Willst du jedes Mal wieder..." Ich stoppe mich selbst als ich daran denke, wie ich die beiden in seinem Büro gesehen habe. Wie er mir erzählt hat, dass er Mateo trotz Unwillen seine sexuellen Wünsche erfüllt. Es ist der Schmerz, der mir die Sprache verschlägt und der mich schwer Schlucken lässt. Ich brauche einen Augenblick um die Gedanken abzuschütteln. Auch Antony schweigt.

„Willst du, dass ich dein Geheimnis bleiben muss? Denn ich will das nicht!", äußere ich scharf nachdem ich mich gefasst habe. Ich spüre einen Ruck, der durch den anderen Körper geht und wie seine Hände meine stärker umfassen.

„Nein, natürlich will ich das nicht...Ich will..." Wieder bricht er ab. So als würden ihm einfach nicht die richtigen Worte in den Sinn kommen, um zu beschreiben, was er wirklich will. Seine Hände heben sich in die Lüfte. Resigniert lässt er sie wieder fallen.

„Ich kümmere mich darum...", sagt er plötzlich eigenartig abschließend. Antony streicht mir mit den Fingerknöchel sanft über die Wange.

„Und wie?" Mit der Polizei auf keinen Fall, dass hat er deutlich klar gemacht.

„Ich lass mir etwas einfallen...das verspreche ich dir." Mehr sagt er dazu nicht. „Komm ich bring dich nach Hause", schlägt er mir vor. Doch ich rühre mich nicht vom Fleck. Auch nicht, als er mir an den Ellenbogen greift und versucht mich zum Gehen zu bringen.
 

„Kommst du bitte. Es ist wirklich ziemlich kalt geworden... Ben?"

„Bitte...bitte versprich mir, dass du keinen Rückzieher machst."

„Rückzieher? Wovon?", fragt er irritiert.

„Von uns", erläutere ich zurückhaltend. Er zögert, wendet seinen Blick ab und streicht sich mit der Handinnenfläche über den Mund. Es ist nur ein Augenblick, doch er verunsichert mich unglaublich.

„Glaub mir, ich möchte auf keinen Fall einen Rückzieher machen." Ich soll ihm glauben. Ich soll ihm vertrauen. Nichts anderes verlangt er von mir. Ich versuche es. Aber in meinem Inneren beginnt etwas zu glühen. Ein Funken Zweifel. Ein helles Lodern voller Bedenken. Ich schlucke sie runter und lächele. Er greift wieder nach meinem Arm und diesmal hake ich mich bei ihm ein.

„Kommst du noch mit hoch?", frage ich zurückhaltend und ungewollt flehend, als wie bei der WG ankommen. Die Stimmung ist zwar im Keller, daran kann ich nichts mehr ändern, aber ich möchte ihn einfach nicht so gehen lassen. Nicht einmal für diese Nacht. Ich will die Gewissheit, dass er bei mir bleibt. Auch wenn ich sie niemals in dem Umfang erhalten werden, wie ich sie mir wünsche.

„Und was ist mit deinen Mitbewohnern?"

„Was soll mit ihnen sein?"

„Sie könnten uns hören."

„Na und? Sie schlafen wahrscheinlich schon und bekommen nichts mit." Meine Stimme zittert aufgeregt. Als wäre es das erste Mal, dass ich ihn in mein Zimmer bitte. Antony überbrückt den Abstand zwischen uns. Seine Hände betten sich an meine Wangen und zärtlich hält er mein Gesicht darin. Ein sanfter, zarter Kuss trifft meine Lippen. Danach folgen weitere auf meine Wangen, nahe seiner Daumen. Meiner Stirn. Zum Schluss ein letzter auf den Mund. Ich lasse meine Augen die ganze Zeit über geschlossen. Auch noch, als er mich nur noch ansieht.

„Heute nicht."

Ich unterlasse weitere Versuche ihn davon zu überzeugen mit mir zukommen. Ich trete einfach nur dichter an ihn heran, strecke meine Hände nach seiner Jacke aus, so wie ich es heute schon mehrmals getan habe. Ein einfaches, nicht übermäßig glückliches Lächeln liegt auf meinen Lippen, als ich seinen vertrauten Geruch einatme. Antony greift mir ans Kinn und wir küssen uns. Auch der Kuss ist einfach. Nicht leidenschaftlich. Nicht aufregend. Sondern einfach nur warm und glanzlos liebevoll.
 

Als wir uns voneinander lösen, versichert er mir, dass er mir schreibt, wenn er zu Hause ist. Das er mir schreibt, wenn er am Morgen erwacht. All das, was einem Sicherheit vermitteln soll.

Leise schließe ich die Wohnungstür hinter mir, lehne mich dagegen, während ich mir die Schuhe über den Hacken abstreife. Es war die richtige Entscheidung Antony von dem Zusammentreffen mit Mateo zu erzählen. Ich wiederhole es mehrere Mal und seufze resigniert, als es auch danach nicht überzeugender klingt. Selbst als ich es laut ausspreche und nicht nur denke, wird es nicht besser, sondern eher trauriger. Es fühlt sich seltsam an. Die Unsicherheit frisst mich innerlich auf. Wenn auch langsam. Hoffentlich knickt er nicht ein und hält sein Versprechen.

Mit diesem Gedanken gehe ich duschen. Ich bleibe lange unter dem warmen Wasserstrahl stehen, lasse mir ihn mir direkt ins Gesicht fließen. Auch in den Mund. Einbisschen schlucke ich, den Rest spucke ich wieder aus. Als ich das Badezimmer verlasse, ist genügend Zeit vergangen, so dass Antony mittlerweile zu Hause sein könnte. Vor dem Schrank auf dem ich mein Telefon abgelegt habe, bleibe ich stehen. Mit stetig schneller schlagenden Herzen streiche ich mir mit dem Handtuch durch die feuchten Haare. Bei einer Nachricht würde das kleine Lämpchen blinken. Doch Nichts ist zu sehen.

Lila, das Blinken wäre Lila, geht mir nutzloser Weise durch den Kopf. Ich atme tief ein und schließe die Augen. Es hat gar nichts zusagen. Es gibt tausende Gründe, weshalb er mir noch nicht geschrieben hat. Ich gehen sie alle in meinen Kopf durch. Von einer einfachen roten Ampel-Chaos bis hin zu den schlimmeren Ursachen. Ich ziehe erneut scharf die Luft ein und greife nach dem Telefon. Als ich es berühre, beginnt es im oberen Bereich lila zu blinken. Ich halte die Luft an, aktiviere das Display und sehe in der Vorschau der Nachricht Antonys Namen. Ich lese nicht, was er geschrieben hat, sondern gehe mit dem Handy in mein Zimmer. Erst nachdem ich mich vollständig abgetrocknet und angezogen habe, lese ich den Text. Eine Bestätigung. Ein wenig Honig in Form von Wohlgefallen des vorigen Beieinanderseins. Eine gute Nacht. Es ist genau das, was ich von ihm verlangt habe. Nicht mehr und nicht weniger.
 

Am Morgen weckt mich eine Mail von Kaworu. Er bittet mich um ein Treffen morgen nach dem zweiten Block. Ich willige ein und sinke mit einem bodenlosen schlechten Gewissen zurück ins Kissen. Ich habe immer noch nichts für die Projektarbeit gemacht. Ich zwinge mich hoch, bevor ich noch zu spät komme.

Unkonzentriert bringe ich die Seminare hinter mich und lese nebenbei in den Unterlagen von Kaworu. Ich möchte nicht, dass er erneut den Eindruck bekommt, dass ich mich gar nicht für unser Projekt interessiere. Ich schaffe es mit hängen und würgen alles durchzuarbeiten und wenigstens mal darüber gelesen zu haben. Eine richtige Vorstellung von der Bedeutung von wirtschaftspolitischen Implikationen habe ich allerdings immer noch nicht.

Nach der Uni verschwinde ich in den nahegelegenen Supermarkt. Es wandern überraschender Weise fast nur gesunde Sachen in meinem Einkaufskorb. Tomaten. Salat. Äpfel. Haferflocken und Milch. Anscheinend schreit mein Körper nach Vitaminen und Ballaststoffen. Bei meinem momentanen Schrottessverhalten ist das kein Wunder. Wenn ich in der WG bin, werde ich meinen Körper dahingehend richtig schocken.

Mein Handy klingelt, während ich die Treppen zur Wohnung hochlaufe. Ich gehe ran ohne auf das Display zu schauen. Während ich es mir zwischen Schulter und Wange schiebe, verliere ich die Hälfte meines Einkaufs. Zum Glück ist nichts davon aus Glas oder spröder Plastik.

„Hallo?", frage ich abgelenkt und bücke mich zu den rumkullernden Lebensmitteln. Wieso sind Äpfel so rund? Ich sehe dabei zu, wie einer der beiden Kernobste Richtung Treppenstufe rollt. Daraufhin höre ich mit geschlossenen Lidern dabei zu, wie er sich über die Stufen nach unten verabschiedet.

„Ben, ich bins." Ich vernehme die Stimme meiner Schwester. Ich hätte nicht so schnell wieder mit einen Anruf von ihr gerechnet.

„Ist mit Mama alles okay?", sprudelt es besorgt aus mir heraus ohne sie angemessen zu begrüßen. Ich bin vor Schreck stehen geblieben und atme erst wieder aus, als mir Natalia beschwichtigend zu reden.

„Ja, mit Mama ist alles in Ordnung. Beruhig dich! Sie ist zu Hause. Müde und etwas wehleidig." Ich seufze erleichtert aus und streiche mir die Haare zurück. Ich mache mich auf die Suche nach dem Apfel, während mir meine Schwester berichtet, wie gut oder schlecht sich unsere Mutter wirklich schlägt. Danach schließe ich die Tür zur Wohnung auf.

„Sie ist bestimmt hell auf begeistert, dass sie nichts allein machen kann." In der WG ist es wie immer ruhig. Niemand scheint da zu sein. In der Küche angekommen, stelle die Einkaufstüte auf dem Tisch ab.

„Ja, sie ist überaus erfreut. Sie hat mir schon eine Liste mit Erledigungen gegeben." Neben dem Fenster bleibe ich stehen und mir fällt ein schwarzes Auto auf. Kann es Mateos sein? Meine Gedanken beginnen zu rasen, als ich mich einfach nicht mehr daran erinnern kann, was für einen Wagen er fährt. Er war groß. Aber so groß? Ich weiß es einfach nicht mehr. Das Vorderlicht geht aus und ich halte die Luft an. Ein älterer Herr mit grauen Haaren steigt aus.

„Benedikt!", formuliert sie meinen vollen Namen und holt mich zurück. Mein Herz schlägt hart und heftig.

„Ja, entschuldige...ich dachte nur gerade...", beginne ich und verstumme wieder. Ich spreche es lieber nicht aus. Wie sollte ich auch? Ich kann ihr schließlich nicht sagen, dass das verrückte Ex meines Freundes mir auflauert und Prügel androht. In der Liste der Seltsamkeiten, die sie mit mir schon erlebt hat, steht das nicht mal ganz oben. Vermutlich würde sie nur den Kopfschütteln und sich wiederholt fragen, was es ist, was bei mir schief läuft.

„Alles okay? Du klingst abgelenkt. Schlaflose Nacht gehabt?", fragt sie nach einem Moment seltsam scharf. Ich bekomme Gänsehaut und merke, wie mein Kopf automatisch ein paar Ausreden bereitstellt.

„Nur viel zu tun. Ich habe da so eine wirklich aufwendige Gruppenarbeit." Ich entscheide mich für die simple Variante. Schule und nun Uni war schon immer eine effektive Ausrede. Irgendwas gibt es schließlich immer. Eine Hausarbeit. Eine Klausur. Ein dämlicher Dozent. Bei dem Gedanken beginne ich unwillkürlich zu schmunzeln. Meiner ist nicht dämlich, sondern heiß und unglaublich sexy. Trotzdem beschert es mir nicht nur positive Reaktion.

„Was verheimlichst du? Macht dir die Uni Probleme? Kommst du nicht klar?" Murrend setze ich mich auf die Sitzbank und lasse die Einkaufstüten unbeachtet stehen.

„Keine Probleme. Es ist nur anders und viel."

„Okay, also ist das nicht das Problem? Also ist es jemand neues?" Sie sagt bewusst nicht 'neuer Mann'.

„Vielleicht."

„Ist es etwas Ernstes?"

„Vielleicht...", entflieht mir und ich stocke über meine eigene Wortwahl. „Ich hoffe es zumindest."

„Ich sag es dir, Ben, überlege dir gut wem du dein Herz schenkst und vor allem deinen Verstand."

„Macht das einen Unterschied?"

„Natürlich", sagt sie ohne es weiter auszuführen. Ich höre, wie Natalia am anderen Ende der Leitung seufzt. Anscheinend hat sie sich gerade auf die Couch niedergelassen. So resigniert und schwarzmalerisch habe ich sie schon lange nicht mehr erlebt. Aber ich verstehe was sie meint. Allerdings bin ich mir nicht sicher, was von beiden schwieriger wieder zurückzuerlangen ist.

„Ich denke nicht, dass wir uns das immer aussuchen können", sage ich ermattet. Ein feines Klagen perlt als Antwort über ihre Lippen. Sie weiß wovon ich spreche. Nur zu gut. Sie liebt ihren Mann, auch wenn er nicht gut für sie ist.

„Die Mädchen und ich wollen morgen den Garten auf Vordermann bringen..." Sie atmet tief durch. „Möchtest du nicht auch kommen?"

„Es ist mitten in der Woche. Ich hab Uni und ...", beginne ich meinen typischen Ausredenmarathon.

„Du hast die Mädchen schon so lange nicht mehr gesehen, Ben. Sie sind mittlerweile bestimmt schneller als du und du würdest sie beim Fangen spielen nicht mehr..." Ihre Stimme wird mit dem letzten Teil immer leiser bis sie verstummt. Ich höre sie tief einatmen danach spricht sie gefasst weiter.

„Gut. Ben pass auf dich auf, hörst du!"

„Ich geb mein Bestes", murmele ich und überzeuge mich selbst nicht.

„Und melde dich, bitte.", redet sie mir ins Gewissen.

„Sicher. Grüß deine Mädchen und Mama."
 

Als ich auflege, höre ich, wie ein Schlüssel im Schloss dreht. Neugierig beuge ich mich zum Flur und sehe, wie Ricks dunkler Haarschopf durch die Wohnungstür wuselt. Er schubst seine Schuhe jeweils mit dem anderen Fuß von seinen Füßen und achtet nicht darauf, wo sie im Flur landen.

„Dir ist schon klar, dass dir Marie dafür eine Standpauke halten wird", rufe ich ihm von der Küche aus zu und sehe mit Erheiterung dabei zu, wie er zusammenschrickt.

„Himmel, Ben, wieso schleichst du hier so sitzend rum?", entflieht ihm und er greift sich theatralisch an die Brust, so als hätte er gleich einen Herzinfarkt. Ich hebe bei diesem eigenartigen Satz fragend meine Augenbraue und sehe an mir hinab und dann wieder zu meinem Mitbewohner.

„Hattest du dir den Satz wirklich durchdacht?"

„Kurz." Er streift sich die Jacke ab, hängt sie an die Garderobe und kommt zu mir in die Küche. Ich blicke ihn immer noch verwirrt an. Auch, wenn ich im nächsten Moment zu grinsen beginne.

„Okay okay...im ersten Moment wollte ich anschleichen sagen, aber dann sah ich, dass du sitzt...und dann war es vorbei", gesteht er grinsend und holt sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Ich kann mir ein leises Kichern nicht verkneifen. Danach bleibt er neben mir stehen und sieht verstohlen in meine Einkaufstüte, die noch immer auf dem Küchentisch steht.

„Du warst einkaufen?", fragt er neugierig und scheint sich zu verkneifen in der Tüte herum zu kramen. Das, was er sieht, findet er anscheinend eigenartig. Sein Gesichtsausdruck ist skeptisch, als er mich ansieht, um danach mit hochgezogener Augenbraue zurück in den Beutel zu schauen.

„Bist du jetzt auf dem Gesundheitstrip?"

„Ja, mein Körper hat mich vorhin fast angeschrien und ich dachte, ich sollte ihn nicht dauernd ignorieren."

„Vitaminmangel?", mutmaßt mein Mitbewohner ganz richtig.

„Kompletter Defizit." Ich setze noch eine Schippe drauf und lächele Rick an. Er lacht und setzt sich mir gegenüber. Draußen schlägt eine Autotür zu und ich schrecke augenblicklich zusammen.

„Bist du okay?", fragt er und ich nicke. Sicherer und fester, als ich es mir selbst zugetraut hätte.

„Ja, und selbst? Wie geht es Cora?", pariere ich mit Gegenfragen. Ganz der Anwalt scheint Rick meinen Versuch zu durchschauen, aber beantwortet brav meine Frage, um mich in Sicherheit zu wiegen. Cora ist auf eine mehrtägige Kursfahrt. Irgendwo an der Küste. Er führt es nicht genauer aus und mir fehlt auch das Interesse, es wirklich wissen zu wollen. Ich nicke brav und spüre ein verräterisches Ziehen in meine Brust, als eine weitere Autotür zugeschlagen wird. Diesmal bin ich nicht auffällig zusammen gezuckt, allerdings werfe ich einen kurzen Blick zum Fenster.

„Okay, was ist los?"
 

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PS: Auch hier geht es mal wieder weiter!!! Asche auf mein Haupt!
 

das del

Des Zufalls delikater Spielplatz

Kapitel 31 Des Zufalls delikater Spielplatz
 

Nur langsam drehe ich mein Gesicht so, dass ich Rick ansehen kann. Seinen Augen beobachten mich aufmerksam, dann weicht sein Blick zum Fenster aus und wieder zu mir zurück. Die zweite Aufforderung ist stiller Natur.

„Eigentlich nichts“, sage ich und seufze. Ich widerlege mein Nichts also zweifach selbst. Grandios. Genauso sieht mich mein Mitbewohner auch an. Zweifelnd und kritisch. Bestimmt ist das auch sein angehender Anwaltsblick. Er wirkt, denn ich rutsche mit einem Mal unruhig auf meinem Sitz hin und her.

„Mir dünkt, als nähme die Komplexität deines komplizierten Männergeschmacks stetig zu“, stelzt er hochtrabend mit aufgeblähter Stimme und sieht mich danach an, wie ein treudoofes Hundebaby, dem man eine dieser klassischen englischen Richterperücken aufgesetzt hat. Diese Kombination lässt mich zur selben Zeit zweifeln, frohlocken und beschämt zur Seite blicken. Im Endeffekt auch nur laut lachen und das trotz der Gesamtsituation. Rick scheint zufrieden mit meiner Reaktion und steht wieder auf, um den Wasserkocher anzumachen. Er holt wie selbstverständlich zwei Tassen aus dem Schrank und sieht mich an.

„Tee oder Kaffee?“ Nach der Frage bin ich mir sicher, dass ich nicht ohne weitere Erklärungen oder triftigen Grund aus der Küche entkomme. Also ergebe ich mich meinem Schicksal. Wieso auch nicht.

„Tee.“ Rick benennt mir die Fülle an Auswahlmöglichkeiten und ich entscheide mich für einen einfachen Pfefferminztee. Die skurrilen Sorten klingen zwar auch spannend, aber ich will mich nicht auch noch an Maries Teevorrat gütlich tun. Wobei mir der Entspannung in Kombination mit Innerer Ruhe sicher helfen würde. Klarer Kopf klingt auch gut. Ein Hoch auf die Kanne voll Tee.

Während das Wasser kocht, bleibt Rick an der Küchenzeile gelehnt stehen und scheint in Gedanken vertieft. Ich beobachte ihn dabei, wie sein Finger über irgendwelchen Dreck streicht, den wir nicht richtig weggewischt haben. Er gießt seinen Kaffee und meinen Tee auf und bringt beides zum Tisch.

„Langsam ergibt sich ein Muster mit unseren Küchengesprächen.“, witzele ich und lasse meine Hand einmal durch den feinen Dunst meiner Teetasse fahren. Hin und einmal zurück. Ich mag die feuchte Wärme, die auf meine Handfläche trifft. Rick grinst und rührt in seinem Kaffee, ehe er einen Schluck nimmt und sich über seinen nicht vorhandenen Bart streicht.

„Du wirkst gerade so, als wirst du von Todessern verfolgt.“ Große, schwarz gekleidete Schrecken? Kommt hin. Ich kann nicht verhindern, dass ich schief grinse. Bisher habe ich Rick noch nichts von der Mateoproblematik erzählt. Geschweige denn von dem Dozentendilemma. Ich habe so viele Probleme, dass meine Probleme schon Probleme kriegen. Es ist so bitter.

„Ich bin heute nur ein bisschen schreckhaft, das ist alles. Ich glaube, das ist der Vitaminmangel“, sage ich und versuche, bewusst amüsiert zu klingen. „Bestimmt das Vitamin-D.“ Rick schaut mich fragend an und lässt dann seinen Kopf hin und her wippen.

„Aber dann solltest du mehr Sonnenbaden zelebrieren und das wird ohne Balkon schwierig.“, gibt er mir zu bedenken und ich nicke abwiegend.

„Lohnt sich eh nur FKK!“, sage ich keck und ein wenig verschmitzt.

„Wusste ich doch, dass du so einer bist...“, gibt er lachend retour und klopft mir mit der Hand auf dem Unterarm. Ich genieße die oberflächlichen Blödeleien. Auch wenn sie mir nicht bei meinen Problemen helfen. Dennoch beruhigen sie mich. Rick beruhigt mich. Mit ihm zu reden, ist wirklich einfach für mich und ich habe nicht das Gefühl, dass er mich in irgendeiner Form verurteilt. Es ist lange her, dass ich das Gefühl hatte, jemanden außer Anni meinen Freund nennen zu können.

„Kommen wir zum Ernst des Lebens zurück...“, beginnt er plötzlich, nimmt einen Schluck Kaffee und ich halte unwillkürlich die Luft an. „Wie läuft dein Teil der Geburtstagsplanung?“, fragt er vorsichtig und rührt auffällig in der Tasse rum. Er sagt es so bedachtsam, dass er jedes Wort langsam und sorgfältig formuliert. Kurz gesagt, er druckst rum.

„Wie läuft es mit deinen?“, frage ich retour und sehe sofort, wie Ricks Schultern nach vorn fallen und er leicht in sich zusammensackt. Ich habe immerhin schon Kaworu kontaktiert und damit ein paar Gäste zusammenbekommen.

„Wie bin ich nur auf diese verrückte Idee gekommen? Und jetzt ist nicht mal Cora da, die uns mit dem ganzen Deko- und Planungskram helfen kann.“ Ich kann mir ein Lachen nur noch schwer verkneifen.

„Ach komm, wir kriegen das schon hin und es ist eine wirklich nette Idee. Nicht ganz ausgereift, aber gut gemeint.“

„Danke für die Blume, wenn du jetzt nicht so klingen würdest, als wäre ich ein getretener Hund, wäre es fast noch besser“, bekundet er, lehnt sich nach vorn und legt seinen Kopf auf die Tischplatte ab. Ich widerstehe dem Drang, ihm beruhigend den Kopf zu tätscheln und grinse.

„Hast du jetzt noch dringende Dinge zu tun, oder hast du Zeit?“, frage ich.

„Zeit. Wieso?“ Rick leert seinen Kaffee und sieht mich aufmerksam an.

„Was hältst du davon, wenn wir zwei gemeinsam losgehen und ein Geschenk kaufen? Geteiltes Leid ist halbes Leid?“, teile ich ihm meine Gedanken mit und sehe, wie Rick eifrig zur Bestätigung nickt. Noch einmal setzt er die Tasse an und als er sie absetzt, hat er kleine Kaffeekrümel an der Lippe. Die auch erst verschwinden, als ich ihm beim Verlassen der Wohnung darauf hinweise. Rick wuselt noch mal ins Badezimmer und ich bleibe an der Tür stehen. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und fühle eine eigenartige Frustration, als ich keinerlei neuen Nachricht sehe. Wieso ich eine erwarte, ist mir selbst gar nicht so klar. Immerhin arbeitet Antony. Führt Gespräche. Korrigiert Arbeiten, oder macht sonst was. Noch dazu hat er sich sowieso eher immer abends bei mir gemeldet und nicht vorher. In meinem Magen beginnt es unangenehm zu rumoren. Ich hasse mich dafür, dass gleich mein Gedankenkarussell anspringt, aber wer kann es mir verübeln? Mateo ist noch hier. Der Spanier kann jeder Zeit wieder bei Antony aufschlagen und er könnte einknicken. In meinem Kopf geht sofort die Alarmleuchte an und ich kann froh sein, dass das rote Leuchtsignal nicht durch meine Augen nach außen dringt. Vertrauensvoll ist wirklich anders. Er hat es mir versprochen. Er hat mir zugesichert, dass er keinen Rückzieher macht und dass er alles dafür tut, dass es sich klärt. Ich muss darauf vertrauen. Trotzdem schreibe ich ihm eine unverfängliche Nachricht, in der ich mich nach seinem Tag erkundige und hoffe inständig, dass er sich schnell meldet. Rick kommt aus dem Badezimmer, als ich das Telefon in meine Tasche zurück schiebe und gemeinsam machen wir uns Richtung Bus auf.
 

Die Götter des ÖPNV scheinen uns diesmal wohlgesonnen. Während der Fahrt unterhalten wir uns über unsere Klassenfahrterfahrungen. Rick war ein wilder Zeitgenosse. Er berichtet mir von diversen Fehltritten und Eskapaden. Alles in Rahmen und mehr chaotisch als frivol. Immerhin war da immer Cora. Seine Freundin ist mit ihrer Klasse Muscheln und Steinchen sammeln. Irgendein geologisches Seminar. Ich hätte auch nichts gegen ein paar ruhige Tage am Strand. Allerdings wären mir sommerliche Temperaturen lieber. Jetzt muss es an der Küste reichlich windig und kalt sein. Meine letzte Kursfahrt ging nach England. Ganz zu Annis Freuden. Sie fühlte sich wie im Himmel und wir hatten wirklich viel Spaß. Zumal der Umstand, dass in England das Datum verkehrtherum gelesen wird, dazu führte, dass einige von uns wirklich Bier kaufen konnten, da sie mit einem Mal volljährig waren.

Bis zum Einkaufszentrum brauchen wir nur knappe 20 Minuten und halten direkt bei der belebten Shoppingmeile. Es ist viel los. Geschäftige Leute überall. Fleißige Shoppingwiesel. Ich hab es nicht so mit Shopping, lasse mich aber trotzdem immer wieder von Anni dazu breitschlagen und dann macht es mir auch Spaß. Mit einem anderen Mann war ich hingegen noch nie shoppen. Noch während ich meinen Mitbewohner beobachte, vibriert mein Handy. Es ist eine Nachricht von Antony. Mein Herz beginnt sanft zu pulsieren und ich bin mir sicher, dass sich eine feine Röte auf meine Wangen legt, die ich zum Glück bei Bedarf auf die Kälte schieben kann. Antony ist noch im Büro. Er freut sich auf den Feierabend und überlegt zu kochen. Ich frage mich, ob das eine stille Einladung ist. Ich sehe dabei zu, wie sich mein Mitbewohner mehrmals grübelnd im Kreis dreht und tippe Antony eine Nachricht, in der ich ihm mitteile, dass ich brav an der Projektarbeit arbeite und lerne. Danach gehen wir in das Center.

„Gut, dann kommen wir jetzt zu der spannendsten Frage von allen. Was wollen wir ihr eigentlich schenken?“, fragt er und lockert seinen Schal.

„Spontan habe ich an das klassische D.P.N. gedacht oder ein Buch“, schlage ich vor. Bei der Variante Buch ist mir allerdings schleierhaft, was sie neben Fachbüchern eigentlich liest. Ich kenne Marie leider noch nicht lange genug, um da präzise Annahmen zu treffen.

„DP-was?“

„Duft. Pflege. Naschen. Das Geschenkeeinmaleins bei Frauen. Jedenfalls bei denen, die ich kenne.“ Bei Anni und auch Natalia funktioniert das immer prächtig. Rick zieht eine Augenbraue nach oben, denkt kurz darüber nach und nickt, während er sich den Schal vollkommen vom Hals zieht und ihn in seine Jackentasche stopft. Nun stehen wir hier beide als zwei nickende Deppen und wissen noch immer nicht so richtig, wo uns das Ganze hinführt. Wir sind extrem planlos. Mein momentanes Lebensstatement.

„Gut, dann würde ich sagen: Auf ins Süßwarengeschäft! Wir brauchen erstmal ein bisschen Zucker“, kommentiert er, dreht sich in eine Superman-Pose und grinst. Ich fange unwillkürlich an zu lachen, weil das Bild einfach herrlich ist und sein Ausruf mehr als absurd. Erst letztens sprachen wir über Fitness und eben noch über meinen Vitaminmangel. Dennoch habe ich nichts gegen Vitamin Z. Ich sehe mich um und muss mich erst mal orientieren. Mit Anni zusammen sind andere Geschäfte auf meiner Route. Wir laufen prompt erstmal in die falsche Richtung, entdecken aber einen Laden, der aussieht, als würde man dort Dekorationsartikel bekommen. Noch etwas, was uns fehlt. Ich mache mir im Kopf eine Liste, die wir dann nach und nach abarbeiten können.
 

Es riecht zuckrig und dennoch leicht herb, als wir den gesuchten Laden betreten. Schokolade in allen Formen und Farben. Ich unterliege für einen kurzen Moment der Vorstellung, dass uns gleich ein Oompa Loompa begrüßt, aber es ist nur eine freundliche junge Frau mit leicht schiefen Zähnen. Sie lächelt weiter, auch nachdem wie ihr mitteilen, dass wir erst einmal allein schauen wollen. Wir schwärmen beide aus und lassen die Naschereien auf uns wirken. In einem besonders exquisiten Regal entdecke ich feinste Kreationen und Pralinen aus karamelliger und hellroter Schokolade. Die enthusiastische Verkäuferin steht mit einem Mal neben mir und erklärt mir, dass die Rosarote aus einer besonderen Schokolade namens Ruby-Schokolade bestehen. Eine Sorte mit fruchtiger Säure. Es ist eine eigene Kakaobohnesorte. Das andere sei eine “blonde” Schokolade, auch ´Dulcey´ genannt. Es ist eine weiße Schokolade, die ihre besondere Tönung und den Geschmack durch das Karamellisieren erhält. Ich versuche mir den Geschmack beider Varianten vorzustellen, doch ich kann es nicht. Fruchtig saure Schokolade? Ich bin immer noch von der Farbe fasziniert, während die Verkäuferin mir mehrere Pralinenschachteln mit den verschiedensten Kombinationen präsentiert. Es gibt eine Variante mit den drei Klassikern und den beiden neuen. Hübsch verpackt in einer herzförmigen Schachtel. Irgendwie kitschig und doch zieht es mich förmlich an. Ich deute auf genau die Packung und die Verkäuferin zieht fröhlich lachend ab.

„Bist du die Naschkatze oder sind die für wen bestimmtes?“, fragt Rick neckend und taucht plötzlich neben mir auf. Ich werde augenblicklich rot und Rick nimmt das als Anlass, mir sachte gegen den Oberarm zu stupsen. Er weiß ganz genau, für wen ich diese Pralinen kaufe.

„Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht mal sicher, ob er Schokolade mag...“, gestehe ich verlegen. Es gibt so viele Dinge, die ich noch immer nicht von Antony weiß.

„Na ja, nimm dir einfach die Zeit, es herauszufinden. Pralinen sind ja perfekt zum Füttern“, sagt er und betrachtet ebenfalls die ungewöhnlichen roten Pralinen. Ich kläre ihn gelehrsam auf und er nickt. Danach greift auch er eine Packung mit den Rubyvariationen und ist felsenfest davon überzeugt, dass Cora sie schon wegen der Farbe lieben wird. Rosa. Ein wahres Frauenklischee. Nun widmen wir uns wieder unserem Mitbewohnerinnenproblem.

„Marie hat letztes Jahr zu Weihnachten von ihrer Familie Nougatpralinen mitgebracht... Ursprünglich wollte ich mir welche mopsen, aber ich fand die Packung zwei Tage später schon leer im Mülleimer.“

„Das nenne ich mal ein stichhaltiges Indiz.“ Wohlwissend, dass Marie sich sicher darüber beschwert, dass wir ihr Süßes schenken, kaufen wir ihr eine mittelgroße Packung verschiedener Nougatsorten mit der Option, uns einfach jeweils ein Drittel abzugeben, was ihre Kalorienzufuhr reduziert.

Danach ziehe ich ihn in den Laden, in dem ich Dekorationen vermute und behalte Recht. Ein wahres Partyparadies. Wir einigen uns schnell auf die Grundfarben Grün und Türkis und sammeln allerhand Pappbecher, Wimpel und Luftballons ein. Rick findet lustige Partyhüte und ich stelle fest, dass er das perfekte Hutgesicht hat. Auch die nehmen wir mit. Als Rick plötzlich mit Peniseiswürfelformen vor mir steht, schiebe ich ihn nur noch lachend zur Kasse und lege vorher schnell die Formen beiseite. Ich beschwichtige ihn damit, dass auch er demnächst Geburtstag hat und das ganz und gar nicht zu Marie passen würde. Er gibt mir Recht. An der Kasse bekommen wir noch hübsche Servietten mit einem Pflanzenblattmotiv und ich bin mir sicher, dass Marie mir später sogar erzählen kann, was das für eine Pflanze ist. Ich finde sie einfach nur hübsch. Gleichzeitig formt sich in mir der Gedanke, dass wir ihr genauso gut auch eine echte Pflanze schenken könnten. Ein Ficus vielleicht. So einen mit grünweißen Blättern. Trotzdem gehen wir danach noch in den Buchladen und stöbern dort eine Weile rum. Ich fange mit den Angeboten an und arbeite mich systematisch zu den Krimis durch. Früher habe ich viel gelesen. In der letzten Zeit ist das etwas eingeschlafen. Ich habe wirklich keine Ahnung, was Marie lesen könnte. Ich gebe es auf und widme mich meinen eigenen Interessen. Ich stöbere mich durch das Krimi und Thrillerangebot und finde ein paar, die spannend klingen.

„Hey, hast du was gefunden?“ Rick taucht neben mir auf und hält selbst mehrere Bücher in der Hand.

„Ja, ich kann mich nur nicht entscheiden, welches ich nehmen soll. Eher Thriller oder Krimi?“ ich halte beide Bücher hoch und hebe zu gleich meine Augenbraue an.

„Da gibt es Unterschiede? Ich dachte immer, dass das miteinander einhergeht.“ Mein Mitbewohner zieht eine überlegende Schnute und deutet dann auf den Thriller.

„Ja, es gibt immer Mischungen, aber die reinen Genres unterscheiden sich schon voneinander. Was hast du da?... Potenzierte Versüßung. Quincey Bird?“ Er hebt das Buch an und nickt.

„Für Cora. Irgendso ein Liebesschnulzending. Sie hat schon ein paar davon. Irgendeine Idee für Marie?“

„Nein.“

„Gut, dann gehen wir jetzt Eis essen.“ Es ist amtlich. Ich mag Rick.
 

Wir bezahlen die Bücher und gehen in die Mitte des Centers, wo sich der kleine italienische Eisstand befindet. Rick weiß sofort, was er will. Nuss und Heidelbeere. Ich schwanke noch zwischen etwas Fruchtigem und dem klassischen Schokoeis und bin keineswegs so kombinierfreudig, wie mein Mitbewohner. Also entscheide ich mich für meinen Favoriten. Zitrone und Himbeere. Ich beginne mit Zitrone und genieße die kleinen Explosionen, die die Säure auf meiner Zunge entzündet. Der nächste Happ bildet den perfekten Übergang zwischen der Erfrischung und der Fruchtkomponente, die sich in meinem Mund ausbreitet, wie ein Sommertraum. Selbst die Kälte, die sonst nicht zu meinen Favoriten zählt, nehme ich mit einem jauchzenden Willkommensgruß. Shopping ist anstrengend. Selbst, wenn man keine Klamotten kauft.

„Herr Kaufmann. Ich hoffe, das ist die Belohnung für das tüchtige Nacharbeiten der versäumten Vorlesungen.“ Ertönt es plötzlich neben mir und ich wende mich der vertrauten Stimme zu. Das Erkennen durchfegt meinen Körper, wie ein Orkan. Er trägt denselben schicken Mantel, wie an unserem Dateabend und sieht damit verboten gut aus.

„Herr Rochas!“, erwidere ich überrascht und lasse den kleinen Pappbecher mit den Eiskugeln sinken. Wie ich es geistesgewärtig schaffe, nicht seinen Vornamen zu nennen, ist mir selbst ein Rätsel, denn er brennt mir auf der Zunge. Ich kann nicht verhindern, dass sich eine feine Schamesröte auf meine Wange legt, als ich meinen Dozenten mustere. Mit ihm habe ich nicht gerechnet. Sein Blick richtet sich auf Rick, der mit einem leicht schmunzelnden Mund neben mir steht. Als er das merkt, lässt er sofort einen großen Löffel Eis darin verschwinden und dreht sich zur Seite weg.

„Mein Angebot für zusätzliche Literatur besteht. Ich kann Ihnen gern für die verpassten Themen noch ein paar Kapitel benennen, die die Vorlesungsfolien ergänzen. Für ein erfolgreiches Lernen.“ Sein Blick ist eindringlich und intensiv. Mein Gehirn tritt gerade auf der Stelle. Doch als er das Lernen erwähnt, merke ich, wie mich augenblicklich das schlechte Gewissen erfasst. Und ich bin mir sicher, dass er es mir ansieht. In seiner Hand hält er einen diese klassischen beigen Stoffbeutel. Er war einkaufen. Ausgerechnet hier.

„Oh,.. ähm... ja. Nur eine kurze Pause“, stammele ich zusammen und komme mir reichlich blöd vor.

„Pausen sind wichtig.“ Auch er macht eine kurze Pause, die mir einen weiteren beschämten Schauer über die Wangen jagt. „Ich hoffe, Sie und ihr Projektpartner können die verlorene Zeit gut aufarbeiten? Auf Bitten ihres Kommilitonen bin ich gewillt, Ihnen beiden einen der späteren Termine für die Präsentation anzubieten.“

„Das ist sehr freundlichen von Ihnen. Wir kommen ganz gut voran, denk ich.“ Kaworu jedenfalls.

„Das höre ich gern. Sie wissen ja, falls Sie Fragen haben, können Sie mich während der Sprechzeiten in meinem Büro kontaktieren.“ Bei der Erwähnung seines Büros wird mir heiß und kalt. Alles gleichzeitig. Antony lächelt. Es wirkt nett und freundlich, aber ich erkenne deutlich, dass seine Augen nicht mit Lächeln.

„Einen schönen Abend noch.“

„Ebenfalls“, presse ich hervor. Er bedenkt Rick erneut mit einem musternden Blick, hebt seine Hand zum Gruß und verschwindet Richtung Ausgang.
 

Mein Mitbewohner sieht mich von der Seite an und wie schon so oft habe ich das Gefühl, dass er mehr erblickt, als er sollte.

„Ziemlich aufmerksam dein Dozent und so besorgt, was deine Leistung angeht. Meine Dozenten merken stets an, dass ihnen eine E-Mail vollkommen reicht“, lässt er fallen. Ich höre diesen feinen skeptischen Unterton ganz genau raus. Auch wenn Rick es schafft, ihn wirklich dezent zu halten. Antonys Auftritt mag oberflächlich gesehen unauffällig gewesen sein, aber das war er nicht. Seine Blicke. Das leichte erregte Zittern in seiner Stimme, was man nur hört, wenn man ihn kennt. Er hat mich ertappt und ich frage mich, wieso er es für nötig hielt, auf sich aufmerksam zu machen. Vermutlich um mir sofort zu zeigen, dass meine kleine Lügennachricht unnötig gewesen ist und weil er wissen will mit wem ich mich eigentlich so rumtreibe.

„Er ist ein wirklich guter Dozent“, sage ich neutral und weiß schon jetzt, dass es keinen Zweck hat, etwas abzustreiten.

Gerade als ich mir nach dieser eigenartigen Vorstellungen einen Löffel Eis gönne, vibriert mein Telefon. Auch Rick wird darauf aufmerksam und das lässt mich zögern, direkt nach zu sehen. Allerdings schleicht sich ein verlegenes Lächeln auf meine Lippen und lässt auch den Rest Zweifel an die Bedeutung des vorigen Auftritts bei meinem Mitbewohner verschwinden. Ich seufze, ziehe das Handy hervor. Natürlich ist die Nachricht von Antony. Er teilt mir mit, dass er die Zutaten für Tagliatelle mit Scampis und Knoblauch gekauft hat. Ich könne noch vorbeikommen, wenn ich mit dem Lernen und meinem Freund fertig bin. Das Lernen schreibt er komplett groß. Ich atme schwerfällig aus. Gut, ich habe geschwindelt, aber Antony hat es definitiv falsch verstanden. Vor allem das mit meinem Mitbewohner. Bisher hat er auch nur Marie mehrmals gesehen.

„Oh man, ich ahnte gar nicht, wie kompliziert es wirklich ist. Na hoffentlich schmecken ihm die Pralinen“, kommentiert er. Ich seufze laut als Antwort und will keine weitere Predigt hören müssen. „Das muss Liebe auf dem ersten Blick gewesen sein“, stellt er fest und spielt darauf an, dass das Semester gerade erst begonnen hat und ich schon derart verzweifelt bin. Heuldrama inclusive.

„Es ist nicht so klischeehaft, wie du denkst“, kommentiere ich. Ist es wirklich nicht. Es ist sogar noch schlimmer.

„Ach ja? Kein ´Er trat vor das Pult und es war wow´-Moment?“, bemerkt er belustigt, aber nicht wertend und auch nicht verhöhnend.

„Oh doch, genauso war es...na ja, nicht ganz...“, beginne ich und lasse mich auf eine der Bänke fallen, die zwischen den einzelnen Geschäften aufgestellt sind. Ich schlage die Beine übereinander und stelle meinen Eisbecher auf dem Knie ab. Er wackelt leicht vor sich hin, während ich mehrere Mal tief einatme. Rick setzt sich zu mir und löffelt fröhlich sein Eis weiter. Da er keine Frage stellt, ergebe ich mich meinem Schicksal und beginne zu erzählen.

„Ich habe ihn im Sommer kennengelernt. Ganz klassisch an der Bar. Wir hatten gerade das Abitur bestanden und es schrie förmlich nach einem Abenteuer. Na ja, jedenfalls schrie die penetrante Stimme von Anni dauernd Abenteuer.“ Ich versuche zu lächeln. Rick lacht leise auf. „Und dann drei Monate später...Er trat hinter´s Pult und WOW.“ Ich ziehe das begeisterungsschreiende Wort extra in die Länge und sehe Rick schmunzeln, während er seinen Eisbecher auskratzt und sich den letzten Rest seines Eis in den Mund steckt. Seine Zunge streicht dabei in die flache Kuhle des blauen Eislöffels und scheint lilafarben.

„Weißt du, es ist nicht verboten.“, sage ich, so als müsste ich mich doch etwas rechtfertigen.

„Ich weiß. Ich habe eine Kommilitonin, die führt seit Jahren eine Beziehung zu unserem Professor für Verwaltungsrecht.“ Mein Mitbewohner lehnt sich zurück, schlägt ebenfalls die Beine übereinander und breitet seinen Arm aus, sodass er hinter mir auf der Lehne zum Liegen kommt. Ich sehe auf sein nun erhobenes Knie. An der Seite erkenne ich einen kleinen weißen Fussel. Auf seine dunkelblauen Jeans ist er besonders gut zu erkennen und ich starre mich daran fest. Ich entlasse ihn erst wieder aus meinem Blick, als Rick seine Position erneut ändert und sich mit dem Oberkörper nach vorn beugt. Mit beiden Beinen am Boden.

„Ihr solltest es nicht öffentlich machen“, sagt er und ich sehe ihn verwirrt an. „Noch nicht, meine ich. Sondern erst, wenn ihr euch wirklich sicher seid. Es ist ein umfangreiches Prozedere und stößt immer noch auf Ablehnung. Es wird nicht gern gesehen.“ Nichts, was mich wirklich wundert. „Weißt du das von deiner Kommilitonin?“, frage ich, stochere in meinem Eisbrei rum und sehe dabei zu, wie es langsam immer weiter schmilzt.

„Unter anderen. So als Langzeitstudent kriegt man auch irgendwann eine Menge Tratsch mit. Affären... na ja, und auch Beziehungen sind nicht selten.“ Ricks Augenbrauen zucken nach oben. Das klingt alles wahnsinnig klischeehaft. Affären, wiederholt sich in meinem Kopf. Nach Ricks Korrektur scheinen Beziehungen doch weniger vorzukommen.

„Im Moment habe wir ganz andere Probleme...“, bemerke ich seufzend. Ich denke an Mateo. Das größte unserer Übel. Antony meinte, er würde sich darum kümmern, aber was bedeutet das genau? Mit dem Spanier darüber zu reden, hat jahrelang nicht gefruchtet, wieso sollte es jetzt funktionieren? Meine Gedankengänge deprimieren mich zusehends. Hoffnungsvoll ist wirklich anders.

„Inwiefern?“, fragt Rick nüchtern.

„Es gibt da noch seinen aufdringlichen Ex...“, gebe ich abgemildert preis. Rick beißt auffällig die Zähne zusammen und kann sich ein ziemlich eindeutiges Geräusch nicht verkneifen. Eine Mischung aus scharfem Lufteinziehen, prusten und wissenden Raunen. Eigentlich ist es eine Abfolge.

„Es ist wirklich alles sehr kompliziert...“

„... und semioptimal“, ergänzt er und lehnt sich zurück. Er hat so Recht. Ich seufze gequält auf und starre auf den Becher mit Eis, der die Stelle auf meinem Oberschenkel langsam, aber sicher einfriert.

„Musstest du ihn auch schon kennenlernen?“

„Ja. War wie du dir denken kannst, nicht so schön...“ Den Umfang dieses Aufeinandertreffens berichte ich nicht.

„Bist du deshalb so nervös?“ Ich rühre mein Eis um und nehme dann noch einen neuen Happs, der diesmal beide Sorten miteinander vereint. Eine für mich perfekte Kombination. Ich lasse sie mir auf der Zunge zergehen und denke über Ricks Frage nach. Ich spüre seinen Blick auf mir und sehe ihn direkt an.

„Ja, schon. Weißt du, ich hätte gern eine ganz langweilige, harmlose Beziehung. Jemanden treffen, sich verlieben und kennenlernen, in den Urlaub fahren. Streiten“, sage ich. Rick nickt. „Gut, ich gestehe, unser Kennenlernen schreit nicht gerade nach Beziehungspotenzial und das ganze bisherige Chaos ist einfach abschreckend. Aber ich...“

„..du magst ihn wirklich“, beendet er meinen Satz.

„Ja.“ Ich starre auf die geschmolzene Eismasse in meinem Becher und ziehe einen Flunsch. Dann spüre ich, wie mich Ricks Schulter anstupst. Erst einmal leicht. Ich reagiere nicht. Dann wiederholt er das Stupsen. Beim dritten Mal ist er so energisch, dass ich fast meine Eissuppe fallen lasse und anfange zu lachen. Wieder muntert er mich auf.

„Weißt du, ich denke, dass die Tatsache, dass er eben das Bedürfnis verspürte, auf sich aufmerksam zu machen...ein guter...Indikator dafür ist, dass er es möglicherweise genauso sieht, wie du“, fasst er sehr diplomatisch zusammen und lächelt.

„Denkst du?“

„Nun ja, unsere Dozenten würden eher ins brennende Haus zurück rennen, als uns in einem Shoppingcenter anzusprechen...und der eifersüchtige Blick war auch nicht ohne.“

„Das Wirtschaftsingenieurswesen ist eben wesentlich sozialer als deine Rechtsverdreherei“, gebe ich frech von mir und werde diesmal von dem Jurastudenten geknufft.

„Ich nehme mal an, er weiß nicht, dass ich dein Mitbewohner bin?“

„Nein, dir ist er beim Rausschleichen noch nicht begegnet.“ Ich grinse schief, wackele mit den Augenbrauen und fühle mich nicht halb so witzig, wie ich es gern würde. Seufzend ziehe ich meinen Eisbecher heran und esse die letzten eisartigen Bereiche heraus, ehe ich den Pappbecher zusammen mit Ricks in den Mülleimer wandern lasse.

„Wir sollten Marie eine Pflanzen kaufen“, eröffne ich Rick nun meinen Gedanken von vorhin, stütze meine Hände auf den Schenkeln ab und stehe auf. Erst als ich keine Antwort bekommen, sehe ich zu meinem Mitbewohner, der mich unaufgeregt mustert.

„Was?“

„Ich wiederhole mich ungern, aber ich könnte dich küssen! Eine Pflanze! Das gefällt ihr bestimmt.“ Rick hüpft regelrecht in die Senkrechte und klatscht einmal in die Hand. Er berichtet mir davon, dass er einen Laden kennt, wo es eventuell ein paar besondere Pflanzen geben könnte. Allerdings ist er sich nicht sicher, ob das Geschäft heute noch geöffnet ist. Gemeinsam gehen wir Richtung Ausgang, während wir noch einmal eruieren, ob wir alles für die Party haben, was wir schon haben können. Da Rick und ich morgen erst ab Nachmittag Vorlesungen besuchen müssen, können wir vormittags in Ruhe einkaufen gehen. Ich bin seit der Pflanzengeschichte nicht mehr ganz bei der Sache. Ich denke an Antony und habe das dringende Bedürfnis, zu ihm zu fahren und seine Einladung anzunehmen. Während Rick darüber philosophiert, dass wir vielleicht auch etwas Kuchenartiges benötigen, beschließe ich meinem Drang nachzugeben.

„Hey, ich...ähm...“ Ich halte ihn zurück als er wie selbstverständlich Richtung Bus trabt. „Ich würde noch woanders hinwollen.“

„Ja, klar!“, erwidert er lächelnd, „Bis heute Abend oder eher morgen früh?“ So genau habe ich es mir nicht überlegt und schaue dementsprechend verlegen drein. Rick nimmt es als Anlass, kurz aufzulachen. Doch es ist so mitreißend ehrlich, dass ich es ihm nicht mal übelnehmen kann.

„Ich bin rechtzeitig zum Helfen wieder da, versprochen“, versichere ich ihm und drücke ihm noch meinen Beutel mit dem Dekokram in die Hand. Als einziges stecke mir die kleine Pralinenschachtel in die Jackeninnentasche. Ich verabschiede mich von meinem Mitbewohner und steige statt in den Bus in die U-Bahn.
 

Ich zögere, ehe ich in die Straße einbiege, in der sich Antonys Wohnung befindet. Fast sofort beginnen meine Fingerspitzen zu pulsieren, was mir zeigt, dass sich mein Herzschlag extrem beschleunigt. Zum Glück ist es schon dunkel. Ich sehe mich unruhig um, während ich auf die Haustür zugehe. Nirgendwo ist eines dieser SUV-Wagen zu sehen. Erstaunlicherweise nicht mal ein einziges schwarzes Auto. Es beruhigt mich augenblicklich. Die Haustür ist diesmal nicht verschlossen und so drücke ich sie einfach auf.

Bevor ich klopfe, atme ich tief durch und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Als ich klingele, bereue ich, dass ich mir nicht noch mehr Zeit zum Sammeln genommen habe. Meine Gedanken rasen und mit jeder vergehenden Sekunde werde ich nervöser. Vielleicht hätte ich mich doch ankündigen sollen. Allerdings hat er mich ja mehr oder weniger eingeladen. Die Tür öffnet sich und ich halte unwillkürlich den Atem an, als dazu auch noch das Licht im Flur ausgeht. Im ersten Moment erkenne ich nur seine schlanke Silhouette, die sich leger an die Tür lehnt.

„Hi“, entflieht mir atemlos und ich strecke ihm ohne abzuwarten die herzförmige Schachtel mit den Pralinen entgegen. Antony ändert seine augenscheinlich unbeeindruckt wirkende Position und tritt näher an mich heran. Seine Hände legen sich an meine, die ihm die Süßigkeit hinhält.

„Was ist das?“, fragt er verwundert, aber lächelnd und führt mich mit einem sanften Griff weiter in die Wohnung hinein. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.

„Nur was kleines...etwas Süßes“, sage ich und sehe auf. Antony Blick haftet sich weiterhin auf die kleine herzförmige Schachtel und für einem Moment befürchte ich, dass es zu kitschig ist. Doch das Lächeln auf seinen Lippen wird noch liebevoller.

„Aber ich hab doch schon dich...“, flüstert er mir zu und zieht mich am Kragen der Jacke näher zu sich heran. Er beugt sich nach vorn und stoppt nur Millimeter von meinen Lippen entfernt den so ersehnten Kuss. Ich spüre die ersten Schauer des elektrisierenden Kribbelns schon jetzt und giere danach. Ich will seine Lippen schmecken und lehne mich ihm weiter entgegen, sodass ich sie tatsächlich minimal berühre. Alles in mir steht sofort unter Strom. Antony schmunzelt. Dann fühle ich seinen Mund vollständig auf meinem und beginne zu schweben. Hinauf in meinen eigenen kleinen Horizont des Glücks.

Unser Kuss ist sanft und so wundervoll zärtlich, dass ich ihn nicht enden lassen will und wieder und wieder seine Lippen berühre. Tausende kleine Küsse, wie Regentropfen, die ein nachmittäglicher Schauer zur Erde schickt. Es fühlt sich wunderbar an. Warm und kribbelnd.

Ich spüre sein Lächeln mit meinem ganzen Körper, als mich seine Arme noch weiter empfangen und der Kuss leidenschaftlicher wird. Seine Zunge neckt meine, umkreist die Spitze zärtlich, während ich genießerisch aufkeuche und meine Hände in seinen Nacken lege.

„Entschuldige meine Schwindelei“, bringe ich es gleich auf dem Punkt.

„Deshalb die kleine Aufmerksamkeit?“, hakt er nach.

„Nein, das hatte ich schon vorher.“

„Wer war das da mit dir im Einkaufszentrum?“

„Mein Mitbewohner. Wir haben gemeinsam ein Geschenk für unser drittes WG-Mitglied gesucht. Sie hat morgen Geburtstag und wir schmeißen eine kleine Party“, berichten ich ohne Umschweife und sehe dabei zu, wie sich Antony leicht auf die Unterlippen beißt. Vermutlich begreift er gerade, dass seine Eifersucht vollkommen unnötig war. Ich sehe ihn aufmerksam an, nehme jede Regung in mir auf. Erneut schabt er sich mit den Zähnen zaghaft über die Unterlippe. Seine Wangen ziert eine feine Röte, die sich bis zu seiner Nasenspitze zieht. Sein Blick weicht meinem einen Moment lang aus, ehe er sich wieder fasst und mir die volle Bandbreite seiner Scham präsentiert. Er stößt verlegen lachend die Luft aus. Es ist vor allem die Ehrlichkeit, die diese Reaktion mit sich bringt, die mich sanft lächeln lässt.

„Du musst langsam glauben, dass ich ein totaler Depp bin...“, sagt er lächelnd und ich versinke in den sanften Glanz seiner wunderschönen, klaren Iriden. Mein Depp, geht mir schmunzelnd durch den Kopf, ehe ich mein Amüsement auch geräuschvoll äußere. Antony schließt eingeschnappt seine Augen, während ich leise lache und hält trotzdem weiterhin meine Hand. Noch immer schmunzelnd ziehe ich ihn in einen sanften, entschuldigenden Kuss.

„Hast du Hunger?“

Der Geschmack der Glückseligkeit

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Vorbereitung ist der halbe Weg zur Katastrophe

Kapitel 33 Vorbereitung ist der halbe Weg zur Katastrophe
 

An meinem Wohnhaus angekommen, schicke ich Rick vor der Haustür eine Nachricht und erhalte die Bestätigung, dass Marie noch immer schläft. Beschwingt schleiche ich mich nach oben, verstaue unter enormen Anstrengungen das grüne Ungetüm in meinem Zimmer und lasse mich danach geschafft in der Küche auf einen Stuhl fallen. Rick lehnt am Küchentresen, schnuppert an einer Tasse mit frisch aufgebrühten Kaffee und schürt meinen Neid. Er beobachtet mich dabei, wie ich den vertrauten Geruch erschnüffele und offensichtlich einen bedürftigen Eindruck mache. Ich erwidere seinen Blick und ziehe nach einem Moment Schweigen meine Augenbraue nach oben. Rick spiegelt meine Mimik und zieht dabei eine leichte Fluppe, während er beginnt, mit den Augenbrauen zu wackeln. Ich lasse passend dazu beide Augenbrauen zucken. Und als nächstes brechen wir beide gleichzeitig in Gelächter aus. Ich spüre, wie sich ein warmer Schauer in mir ausbreitet und begreife erst jetzt, wie sehr ich eine solche vertrauensvolle Verbindung brauche. Dieses ganze Durcheinander mit Antony, Anni und Luka hat mich geschafft. Physisch und psychisch. Dieses unbeschwerte Zusammensein mit Rick ist beruhigend und heilend. Wie sagt man so schön? Normal?

„Schönen Abend gehabt?“, fragt Rick amüsiert, nimmt einen Schluck von seinem Kaffee ehe er, ohne konkret nachzuhaken, den Wasserkocher anschaltet und Kaffeekrümel in eine frisch abgewaschene Tasse füllt.

„Jup... war ganz gut...“, erwidere ich zurückhaltend und versuche so ruhig zu klingen, wie ich kann, schaffe es aber nicht, mir das deutliche Grinsen zu verkneifen, welches die euphorischen Erinnerungen an den letzten Abend mit sich bringen. Antonys süße Lippen. Seine tiefen, intensiven Blicke. Das Gefühl von Haut auf Haut. Ich schwelge benebelt und Rick durchschaut es sofort.

„Nur ganz gut, ja?“ Er schenkt mir ein verstehendes Lächeln mit passend tanzenden Augenbrauen. Mimik ist doch etwas Feines.

„Vielleicht war es auch...“, beginne ich und zucke mit der linken Schulter, „... fantastisch.“ Wir grinsen uns beide an.

„Er war also nicht eifersüchtig?“, fragt Rick und schüttelt die Kaffeebrösel in der trockenen Tasse umher.

„Doch, aber nachdem ich ihm erklärte, dass du mein Mitbewohner bist und damit keinerlei Gefahr darstellst, hat er eingesehen, dass Eifersucht nicht nötig ist.“

„Und damit hat er sich zufrieden gegeben?“, fragt er unaufgeregt. Der Wasserkocher klickt und Rick lässt sogleich das heiße Wasser in die vorbereitete Tasse verschwinden.

„Ja, sicher. Du bist immerhin mein Mitbewohner und dazu noch seit Jahren glücklich mit einer Frau liiert. Absolutes Totschlagargument, oder nicht?“ Dass ich so ausführlich gar nicht geworden bin und nicht werden musste, führe ich nicht aus.

„Ja... wohl wahr.“ Die kleine Pause lässt mich aufhorchen. Er wirkt seltsam unglücklich damit, aber ich hake nicht weiter nach, sondern stecke grabschend meine Hände nach dem wachmachenden Heißgetränk aus, welches Rick als Geisel auf dem Tresen behält. Es dauert einen Moment, bis er aus seinen Gedanken zurückkehrt und begreift, was meine Geste zu bedeuten hat.

„Oh, entschuldige.“ Damit händigt er mir den Kaffee aus. Ich winke ab und seufze glücklich, als ich den wohltuenden Geruch tief in meine Nase einsauge. Es ist warm und lecker. Nur beim Riechen. Kaffee ist etwas Feines und jeder, der etwas anderes behauptet, soll mir nicht unter die Augen treten.

„Okay, also wie ist der Plan für heute?“, fragt Rick euphorisch und setzt sich zu mir. Ich lasse meine Finger über den kalten Henkel meine Tasse streichen, während ich darüber nachdenke, wie wir das Ganze am besten angehen. Planlos bedeutet immer Katastrophe. Wobei ich auch mit Plänen zu Desaster neige. Noch ist der Kaffee zu heiß, um auch nur einen Schluck davon trinken zu können, also schnuppere ich den aromatischen Dampf ein.

„Ich würde sagen, wir warten bis Marie aus dem Lernkoma erwacht?“, schlage ich vor, „dann gratulieren wir... und schicken sie in die Bibliothek?“ Ich vervollständige meine Skizze ebenso enthusiastisch und sehe, wie Rick zustimmend nickt.

„Klingt plausibel. Also trinken wir jetzt Kaffee? Warte, schaffen wir das zeitlich?“

„Wie schnell kannst du kochen?“ Rick schiebt die linke Seite seiner Oberlippe nach oben und starrt mich an.

„Was machen wir noch mal?“

„Chili?“

„Okay, das ist einfach! Und wenn Marie in der Bibliothek ist, gehen wir schnell einkaufen und fangen danach an zu kochen. Was hältst du von einer Einkaufsliste?“

„Du schreibst!“, kommentiere ich rasch und gönne mir endlich einen Schluck des dunklen Gebräus. Ein fein herbes Aroma tanzt über meine Zunge und erfrischt meinen Gaumen. Der Kaffee ist in seiner Einfachheit erstaunlich gut. Zudem bin ich überrascht, wie perfekt Rick meine Stärke getroffen hat. Ich nehme gleich einen weiteren Schluck und schließe genießerisch die Augen. Auch Rick lehnt sich lachend zurück und nippt an seiner Tasse. Ich komme nicht umher, ihn dabei zu beobachten, sehe, wie sich seine Lippe leicht kräuselt als er beim Trinken ein paar der Kaffeekrümel in den Mund bekommt. Sie haften an seiner Oberlippe und er streicht sie sich mit dem Daumen davon.

„Oh, übrigens, ich habe gestern noch mit meinem Bruder gesprochen. Ich habe ihn zur Party eingeladen. Er ist in der Stadt und sucht nach einer Ablenkung. Und ich dachte, dass wir noch ein paar Gäste brauchen könnten.“ Überrascht blinzele ich meinen Mitbewohner an und lehne mich zurück. Sein Bruder ist in der Stadt. Prompt erinnere ich mich an die wenigen Erzählungen, die er mir bei unserem letzten kleinen Besäufnis preisgegeben hat.

„Dein Bruder. Okay, aber wieso braucht er eine Ablenkung?“, hake ich nach. Wieder zucken seine Schultern ein wenig nach oben.

„Anscheinend hat er im Moment sehr viel Stress auf Arbeit und unsere Eltern gehen ihm auf die Nerven wegen seines Lebensstils. Sein Kerl auch.“ Rick seufzt theatralisch und ein klein wenig übertrieben, sodass ich genau weiß, dass er es überspitzt. Nörgelnde Eltern sind ein Klassiker. Ein Standard, der mich noch im selben Augenblick seltsam ernüchtert, denn meine Familiendynamik hat schon lange keine derartige Normalität mehr hervorgebracht und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht genau, was ich dabei fühlen soll. Ist es etwas Gutes? Etwas Schlechtes? Ich starre in meinen Kaffee und sehe dabei zu, wie eine kleine Blase durch die unscheinbare Bewegung meines Körpers am Tassenrand entlang schwimmt. Sie platzt. Genau in dem Moment, als sie mir am nächsten ist. Blasen platzen, egal, wie sehr wir versuchen, sie zu erhalten. Welch ernüchternde Weisheit. Mein Lächeln wird schnell bitter.

„Er freut sich darauf, dich kennenzulernen.“, sagt Rick und holt mich aus meinen Gedanken zurück.

„Mich?“, frage ich verwirrt.

„Ja klar, ich habe ihm von dir erzählt... von Marie natürlich auch. Aber die Mädchen in meinem Leben interessieren ihn nicht so sehr... Ich habe fast schon damit gerechnet, dass er mich fragt, ob du süß bist“, kommentiert er lachend und streicht sich über den flachen Bauch. Ich lächele nur und frage mich unwillkürlich, was er darauf wohl geantwortet hätte. Ich nehme einen neuen Schluck von meinem Kaffee und versuche meine Gedanken wieder in eine andere Richtung zu lenken.
 

Als wir die Badezimmertür hören, springen wir beide auf. Wir wechseln ein paar hastige Blicke und kramen panisch ein paar Dekoartikel hervor, die wir gestern besorgt haben und bauen auf dem Esstisch einen kleinen Geburtstagsschrein mit Cupcakes, Kerzen und Konfetti. Die Überraschung ist perfekt. Auch für uns. Wir mimen die perfekten Clowns. Rick will es theatralisch, also holt er die Pflanze mit großem Tamtam erst aus meinem Zimmer hervor, während unsere Mitbewohnerin mit strahlenden Augen, zerknittertem Gesicht und Schlafanzug im Türrahmen auftaucht und auf die Cupcakes starrt. Marie quietscht auf, als Rick mit dem Kübel zurückkehrt und stürmt auf die Pflanze zu.

„Ooww, eine Calathea! Oh, sie ist wunderschön. Schaut euch diese Farben an...“, quietscht sie enthusiastisch und ungewöhnlich mädchenhaft, „Danke. Danke. Danke.“ Marie strahlt uns an und ich bin sehr zufrieden, weil meine Pflanzenidee definitiv eingeschlagen ist. Auch Rick klopft mir bestätigend auf die Schulter als er wieder freie Hände hat und wir beide dabei zu sehen, wie sie die Pflanze beäugt, als bestände sie aus Gold.

„Der Händler meinte, dass sie nicht ganz so pflegeleicht ist. Aber immerhin hat sie diese hübschen roten Blätter.“, deute ich an und Marie nickt verstehend.

„Ich mag Herausforderungen. Ich habe gelesen, dass sie einen Tages- und Nachtrhythmus hat und sich ihre Blätter öffnen und schließen.“ Also eine Art Haustier. „Die Farben sind wirklich wunderschön. Grün und Rot. Ich werde sie Robin nennen. Das passt. Sie wird sich gut mit Luisa vertragen.“, fährt sie begeistert fort und kann nicht verhindern, dass ich erstaunt meine Lippen spitze. Luisa? Robin? Für manche Menschen sind Pflanzen wie Haustiere. Wieso also sollte man ihnen keine Namen geben dürfen?

„Robin, wie der Superheldengehilfe von Batman?“, fragt Rick.

„Natürlich!“, erwidert sie bedächtig lächelnd und presst kurz die Lippen aufeinander. Ich sehe fragend zu meinem anderen Mitbewohner und bin mir nicht sicher, ob es Maries Ernst ist oder ob sie einfach nur ein bisschen spinnt. Beides wäre vollkommen okay für mich. Auch Ricks Gesichtsausdruck zeigt mir die gleiche Mischung aus Verwunderung und Amüsement und letztendlich zucken wir beide synchron mit den Schultern. Marie grinst spitzbübisch und ich wüsste gern, was in diesem Moment in ihrem Kopf vorgeht. Doch statt das weiter zu erörtern, sehen wir dabei zu, wie sie die Kerze auspustet und sich weitere Male freudig bei uns für diese kleine Überraschung bedankt.

Mit allerhand Charme und vor Witz sprühenden Anmerkungen sorgen wir oder eher Rick dafür, dass Marie auch wirklich am späten Nachmittag aus der Bibliothek zurückkommt. Was wäre eine Geburtstagsparty ohne das Geburtstagskind? Marie ist es definitiv zuzutrauen, dass sie es vollkommen vergisst und in ihren Büchern versumpft. Ich nehme mir trotzdem vor, ihr zur rechten Zeit eine Nachricht zu schicken, hoffend, dass sie ihr Handy angeschaltet lässt. Auch das lasse ich mir noch mal von ihr versichern. Als Marie die Wohnung verlässt, greife ich mir ein paar der Stoffbeutel, die sie seit neusten sorgsam neben der Tür aufbewahrt, damit wir ja nicht auf die Idee kommen, eine Plastiktüte zu benutzen und wir gehen gemeinsam einkaufen. Diesmal sind wir sogar halbwegs effizient, was neben dem Zeitdruck vor allem unserer sorgsam verfassten Liste zu verdanken ist.
 

Neben den geplanten Zutaten besorgen wir alibihalber für die Grünzeugfraktion etliche Gemüsesorten, die man mit einem Dip anbieten kann und fühlen uns äußerst weitsichtig in Anbetracht unseres finanziell notdürftigen Studentendaseins. Zusätzlich besorgen wir etliches an Knabberzeug und natürlich Alkohol. Die Zutaten sind schnell verpackt und wir schleppen alles zur Wohnung. Einkaufen erledigt. Tägliche Sporteinheit abgehakt. Zurück in der Küche krempele ich die Ärmel hoch, werfe einen Blick auf die Uhr, um abzuschätzen, wann ich los muss und warte dann auf Anweisungen. Rick übernimmt die Führung und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Da sich meine Küchenfähigkeiten arg in Grenzen halten, habe ich die leise Hoffnung, ein bisschen was von Rick zu lernen. Die Vorstellung, dass mein durchaus kochaffiner Freund miterleben könnte, wie ich bei der Zubereitung von Rührei versage, verursacht mir ein klein wenig Magenschmerzen.

Als erstes öffne ich die Dosen mit den verschiedenartigen Bohnen. Rote, Weiße und welche mit Chilisoße. Wir machen es uns wirklich einfach, aber Rick schwört darauf. Ich kenne Chili nur mit den klassischen Kidneybohnen und Mais. Allerdings entbrannte bereits auf dem Weg zur Kasse eine hitzige Diskussion über den Mais und auch noch auf dem Weg zurück zur WG. Letztendlich setzte ich mich durch und das lasse ich Rick nochmals wissen, während ich die Dose öffne und ihm direkt danach vor die Nase halte. Wieder berichtete er mir, dass Mais kein Bestanteil des Originalrezepts sei. Laut Ricks Bruder ist das ursprüngliche Chili con carne-Rezept sogar ohne Bohnen und besteht nur aus Fleisch, Tomatenmark und Gewürzen. Danach faselt er irgendwas von Arizona und Mexiko, Nonnen und amerikanischen Ureinwohnern. Ich werfe resigniert eines der Maiskörner in den Hackfleisch-Tomaten-Mix und sehe lachend dabei zu, wie es Rick pikiert wieder aus dem Topf fischt. Danach droht er mir gestisch mit den Holzlöffeln und ich drehe ihm spielerisch meine Kehrseite zu.

„Meine Mutter mag, genauso wie ich, auch keinen Mais im Chili. Deswegen stand es früher bei uns in der Familie auch immer zwei gegen zwei und wir diskutieren heute noch darüber. Aber im Sinne des WG-Friedens gestatte ich es dir...“

„Du gestattest?“, echoe ich amüsiert nach.

„Ja, wohl! Ich gestatte, dass du den Mais hinzufügst... aber erst zum Schluss!“

„Ein wahrer Gönner... ist die Reihenfolge denn ausschlaggebend?“ Rick schenkt mir ein selbstgefälliges Grinsen und gießt einen halben Liter Gemüsebrühe in den Topf.

„Natürlich!“, entgegnet er im Brustton der Überzeugung und ich bin tatsächlich nicht sicher, ob er mich aufzieht oder ob es wirklich wahr ist. Beides ist möglich. Rick blickt kurz zu mir, als er weitere Zutaten in den Topf schmeißt und lächelt. „Mais ist sehr stärkehaltig und das kann verdickend wirken. Außerdem ist er weichgekocht noch ekelhafter“, erklärt er. Es klingt erstaunlich logisch, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es vertrauenswürdig ist. Auch sein Gesicht ist erstaunlich wenig aussagefreundlich und ich schiebe es auf sein anwaltliches Pokerface. Ich schaue zurück auf das Sieb mit roten Kidneybohnen, die langsam abtropfen und nur darauf warten, in den Tomatenpamps zu wandern.

Gedanklich schweife ich zurück zu Ricks Erzählung und kann mir rege vorstellen, wie es bei ihm zu Hause abgelaufen ist. Vermutlich hat er bei einer dieser Gelegenheiten sein Talent für das Debattieren entdeckt und als Jurist ist das Gold wert. Mein Vater hätte derartige Diskussionen schnell unterbunden und meine Mutter hätte nie versucht, dieses Gericht erneut zu kochen. So sah unsere Familiendynamik aus.

„Darf ich dich mal was fragen?“, erkundige er sich und widmet sich unbeirrt dem köchelnden Topfinhalt.

„Sicher“, erwidere ich locker und schubse eine der Bohnen um. Es riecht schon wunderbar nach Tomate, Zwiebeln und Hackfleisch. Eine perfekte Mischung, wenn man mich fragt. Dazu Nudeln oder auch Kartoffeln und ich bin glücklich.

„Du hast nicht mehr viel Kontakt zu deinen Eltern, oder? Du hast bei unserem Essen vor allem von deiner Schwester und deinen Nichten gesprochen.“ Meine erste Reaktion auf das Thema ist stets ein schiefes Grinsen, welches bei genauerem Hinsehen auch jedes Mal die Verzweiflung zeigt. Dann perlt ein ersticktes Lachen über meine Lippen, was hin und wieder wie ein Husten klingt. Auch jetzt. Rick wartet geduldig, bis ich mich gesammelt habe und ich erzähle ihm von dem Streit, von den gefallenen Vorwürfen und von dem Rauswurf. Nichts, aber auch wirklich nichts war in diesem Augenblick gutgelaufen und wir sind als Familie nie darüber hinweggekommen, was schwer auf mir lastet. Doch mir gegenüber ist es nicht fair, denn es ist nicht meine Schuld. Nicht ich handele falsch und nicht ich habe die falschen Entscheidungen getroffen, sondern sie. Allen voran mein Vater. Aber auch wenn ich das weiß, ist es nicht einfach. Es ist nicht einfach, es hinzunehmen und es ist nicht einfach zu verstehen. Ich bin ihr Sohn. Ihr Kind und kein Fehler. Familie ist so wichtig und sie nicht zu haben, schmerzt. Darüber zu reden schmerzt. Nicht darüber reden schmerzt aber genauso.

„Bei deinem Bruder... wie haben es...“, erkundige ich mich, stottere, weil ich nicht weiß, ob ich ihn sowas überhaupt fragen kann. Rick nickt mir nur aufmerksam zu. „...was haben...haben eure Eltern gesagt... als er sich ...“

„... als er sich geoutet hat?“, nimmt er mir den letzten Rest des Satzes ab und ich nicke nur noch zur Bestätigung. Statt ihn weiter anzusehen, beginne ich wieder im Chili zu rühren. Erst ordentlich, dann eher schlampig. Im Grunde streiche ich nur mit dem Holzlöffel über die Oberfläche und drücke die entstehenden Hubbel platt. Der Herd läuft nur auf niedrigster Stufe, also besteht keine Gefahr.

„Na ja, am Anfang waren sie schon irritiert, würde ich sagen...“, beginnt er ruhig und bedacht, „Ich denke, sie habe es geahnt. Mein Bruder ist ein echt extrovertierter Typ, der schon immer sehr aufgeschlossen und offen war. Er hat viele Freunde und kommt gut an. Bei jedem. Nur eine Freundin hatte er nie und das haben sie sicherlich irgendwann hinterfragt.“

„Aber sowas kann doch tausende Gründe haben...“, merke ich an. Allerdings schneller, als mein Kopf wirklich dazu bereit ist, was dazu führt, dass ich mir danach unsicher auf die Unterlippe beiße.

„Sicher.“

„Wusstest du es vor ihnen? Hat er es dir gesagt?“

„Gesagt nicht, aber es gab diese äußerst exhibitionistischen Momente...“, referiert er erneut. Ich erinnere mich an seine Erzählungen während unseres kleinen Biergelages und lächele ebenfalls. Mein Mitbewohner lässt die Bohnen in den Topf wandern, lässt mich rühren und lehnt sich danach mit der Kehrseite gegen die Küchenzeile. Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich an. Ich bin gerade dabei, die Oberfläche des Chilis zu glätten und drücke ein paar der dicken Bohnen mit dem Holzlöffel in die rote Soße.

„Tut mir leid, dass dein Vater so unsensibel und uneinsichtig ist...“, sagt Rick, während ich geschäftig auf meine ruhelosen Finger starre.

„Mir auch...“ Wieder legt sich ein eher halbseitiges Lächeln auf meine Lippen, von dem ich nicht mal weiß, ob es Rick überhaupt sehen kann. Ich sehe auf, als er mich mit der Schulter anstupst und schaue beschämt wieder weg, weil er mich so ehrlich und freundlich anlächelt, dass es in meiner Nase zu zwiebeln beginnt.

„Du bist toll, wie du bist. Lass dir niemals etwas anderes einreden“, sagt er zusätzlich, nimmt mir den Holzlöffel aus der Hand und rührt das blubbernde Chili kräftig um. Ich stupse ihm als Dank lediglich mit der Schulter an. Rick versteht es auch so und greift lächelnd nach der Gewürzdöse mit den Chiliflocken. Er zwinkert mir zu, bevor er eine große Ladung davon im Topf verschwinden lässt. Unsere Gäste werden es lieben oder hassen. Vielleicht sollte ich nachher etwas mehr Brot mitbringen und Milch kaufen.

Die Vibrationen meines Handys lassen mich zusammen fahren. Es weist mich daraufhin, dass es Zeit wird, loszugehen, weil ich sonst die Vorlesung verpasse. Nach den letzten Wochen muss ich das Schwänzen unbedingt vermeiden. Rick weiß bereits Bescheid und deutet mir mit einem Daumen nach oben an, dass er alles im Griff hat. Ich verschwinde in mein Zimmer und suche schnellstmöglich alle Sachen zusammen, die ich brauchen könnte. Federmäppchen. Block. Terminkalender. Alles verschwindet in meine Umhängetasche, dann bin ich schon an der Tür und rufe eine Verabschiedung zur Küche. Ich laufe zur Straße und ignoriere das klingelnde Telefon in meiner Tasche. Trotzdem sehe ich den Bus nur noch davonfahren. Mit diesem wäre ich pünktlich gewesen. Mit dem nächsten wird es eng. Die Öffis und ich sind ein eigenes Kapitel. Frustriert laufe ich bereits zur nächsten Station und habe so das Gefühl, wenigstens nicht vollständig auf der Stelle zu treten.
 

Gerade, als ich wieder aus dem Bus steige, regt sich mein Telefon erneut und ich ziehe es hektisch aus der Jackentasche. Der angezeigte Name verursacht mir sofort ein freudiges Flattern in der Brust und dennoch zögere ich, ranzugehen. Ich muss noch ein Stück laufen und bin wirklich spät dran. Aber ich will auch seine Stimme hören. Deshalb bestätige ich den grünen Hörer und setze meinen Weg dabei fort.

„Hey...“, begrüße ich Antony atemlos und schiebe mich an einer kleinen Gruppe wartender Studenten vorbei.

„Hey du, alles okay? Du klingst etwas gehetzt. Müsstest du nicht schon entspannt in der Vorlesung sitzen?“

„Dahin bin ich gerade unterwegs. Ich habe etwas zu lange mit Rick rumgetrödelt und bin jetzt spät dran.“

„Was habt ihr gemacht?“

„Wir haben Vorbereitungen für die Geburtstagsparty getroffen... Chili gekocht! Ich weiß, dass das nicht gerade kulinarisches Hochniveau ist, aber für Studenten reicht es absolut...“, plappere ich schmunzelnd und wechsele das Ohr, um die Eingangstür zum Hauptgebäude zu öffnen.

„Ah, die Party... sie ist schon heute Abend?“

„Ja, hab ich das nicht erzählt?“, frage ich irritiert. Ich bin der Überzeugung, dass wir darüber gerade gesprochen haben, bin mir aber dank des zuckersüßen Verlaufs des Abends nicht mehr ganz sicher.

„Doch, doch, das hast du wahrscheinlich“, entgegnet Antony schnell und klingt dabei eigenartig hart. „Ich habe nur nicht mehr daran gedacht.“ Für einen Gedankenblitz lang bin ich gewillt, ihn einfach einzuladen. Ich würde ihn gern sehen. Ich will ihn immer sehen. Doch der Einfall ist so schnell verschwunden, wie er gekommen ist. Es wäre keine gute Idee und Antony würde es sicher auch nicht wollen. Es wäre ihm bestimmt unangenehm, auf Studenten zu treffen, die ihn eventuell kennen könnten. Noch dazu würde es Marie nicht wollen und sie ist heute nun mal die Hauptfigur. Ich stoppe vor dem Hörsaal, weiche erschrocken zurück, als die Tür aufgeht und fast meine Nase trifft.

„Es ist nur... ich dachte, dass wir uns heute Abend sehen könnten.“ Antony atmet geräuschvoll ein und schürt damit das schwelende Gefühl in mir.

„Tut mir leid, aber die Party ist schon lange geplant...“

„Schon gut, Ben, ich weiß...“ Er klingt enttäuscht und ich bin es im selben Moment auch.

„Es kommen vor allem Leute aus der Fakultät 3“, plaudere ich plötzlich aufgeregt drauflos. Die seltsame Unruhe in meiner Brust macht mich zunehmend kribbeliger und das ist meine Art, sie zu lösen. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht mal, warum mich das Gespräch mit ihm derartig nervös macht.

„Also lauter Naturwissenschaftler.“

„Genau, die ganzen verrückten Biologen und Chemiker... Die wissen, wie man feiert“, sage ich, ohne groß darüber nachzudenken, wie es klingt. „Habe ich mir sagen lassen.“ Gerettet. Denke ich jedenfalls.

„Na, das klingt doch nach einer Menge Spaß“, sagt er und dann bleibt es einen Moment still, „Deine Vorlesung beginnt gleich. Wir sollten...“

„Vielleicht sehen wir uns dafür Samstag? Oder Sonntag? Wir könnten Brunchen gehen. Ich kenne einen tollen Laden, der...“

„Vielleicht...“, unterbricht er mein erneutes Geplappere, „Übersteh erstmal die Party und dann sprechen wir nochmal...“

„Okay...“, erwidere ich schwach.

„Viel Spaß heute Abend.“

„Danke“, entgegne ich und bleibe noch etwas länger dran, obwohl er bereits aufgelegt hat. Es hinterlässt ein komisches Gefühl in meiner Brust und es ist nicht nur Antony seltsamer Stimmung geschuldet. Es ist die ganze Situation. Sie hinterlässt seit Tagen einen fahlen Beigeschmack bei allem, was mit ihm zu tun hat. Ich versuche es zu unterdrücken und nicht daran zu denken, doch das schaffe ich nicht. Es ist immer da.
 

Ich schleiche mich behutsam in den Hörsaal und lasse mich auf einen der hinteren Plätze nieder. Der Saal ist gut gefüllt und wie erwartet hat die Vorlesung bereits begonnen, aber die Dozentin beantwortet zu Beginn erst ein paar Fragen aus der vorigen Veranstaltung. Ich habe nichts verpasst. Abgesehen vom essenziellen Anschluss an mein Studium, echot es in meinem Kopf, während ich meinen Notizblock hervorhole und nach einem Stift krame. Trotz besseren Wissens hänge ich schnell gedanklich dem eben geführten Telefonat nach. Antony klang enttäuscht, dabei bin ich mir sicher, dass ich ihm von der Party erzählt habe und er währenddessen verständnisvoll aussah. Vielleicht habe ich vergessen, ihm das genaue Datum zu nennen. Ich bin verunsichert und merke, wie sich mehr und mehr das schlechte Gewissen in mir ausbreitet, welches ich nicht empfinden sollte. Unwillkürlich greife ich nach meinem Handy und öffne unseren Chatverlauf, jedoch ohne irgendwas zu schreiben. Ich starre einfach nur auf das Display und lasse den aufkommenden Sturm der Gefühle in mir verweilen. Zu versuchen, es zu verdrängen, hätte keinen Effekt, so gut kenne ich mich.

Die Dozentin beendet die Fragerunde und leitet ins neue Thema über. Ich versuche mich zu sammeln, atme tief ein und halte den Stift auf Anschlag. Es sind nur noch 70 Minuten. Die überstehe ich.
 

Meine Aufmerksamkeitsfähigkeit bessert sich nicht. Letztendlich mache ich nur wenige Stichpunkte und am Ende bin ich mir nicht mal sicher, worum es in der Vorlesung ging. Eine der Aufzählungen in meinen Notizen endet sogar mit Bla. Mal wieder keine Glanzleistung von mir und wenn ich ehrlich bin, habe ich dieses Semester mittlerweile sowieso als danebengegangenes Einstiegssemester abgehakt. Was andere Studenten durch Partys verlieren, versaubeutle ich durch mein kompliziertes Liebesleben. Und Dummheit. Ganz klar. Mit Sicherheit werde ich einige der Kurse im übernächsten Semester wiederholen müssen oder das ein oder andere Buch in den Semesterferien extra lesen.

Auch das nachfolgende Seminar absolviere ich eher semiaufmerksam und bin vollkommen raus, als mir Rick noch eine kleine Einkaufsliste schickt mit Dingen, die wir noch brauchen könnten. Als artiger Mitbewohner bestätige ich und bin froh, als der Dozent den Unterricht vorzeitig aber mit einer kleinen Hausaufgabe beendet. Ich bin mit mir selbst und meinen ständig kreisenden Gedanken vollkommen überfordert, also bleibe ich noch einen Moment länger im sich leerenden Raum sitzen. Auch Annis plötzliche überschwängliche Nachrichten machen es nicht wirklich besser. Sie schickt mir einen ganzen Batzen an Bildern vor ihrem Spiegelbild mit unterschiedlichen Outfits und mir fällt wieder ein, dass sie am Samstag ein Date hat. Ich habe schon wieder vergessen mit wem. Ich bin ein schlechter Freund. Doch was soll ich machen? Meine Gedanken kreisen um den gutaussehenden Portugiesen. Vielleicht sollte ich kurz bei Antonys Büro vorbeigehen? Mein Herz macht einem flatternden Sprung, der mir eine leichte Gänsehaut verursacht und schlägt schneller. Einfach bei ihm aufzutauchen ist sicher keine Lösung.

Statt mir weiter das Gehirn zu zermartern, antworte ich Anni, rate ihr zu dem hübschen sonnengelben Kleid, welches sie noch gar nicht in Betracht gezogen hat und erkundige mich direkt danach, wann sie heute Abend auftauchen wird. Ihre Rückmeldung kommt sofort und hinterlässt weitere Unzufriedenheit. Sie weiß es nicht. Das mit dem Kleid überlegt sie sich. Ich erinnere sie noch an die tolle schwarze Lederjacke, die sie schon lange nicht mehr getragen hat und die hervorragend dazu passen würde. Danach packe ich alles zusammen und verschwinde auf dem Rückweg zur WG noch mal in den Supermarkt.
 

Ich stelle den zusätzlichen Einkauf bei Rick in der Küche ab und hüpfe schnell unter die Dusche, ehe wir die restlichen Vorbereitungen angehen. Dekorieren und schnippeln. Ich versuche mich nicht einzusauen. Ein Fehlschlag. Aber nach etwas Rubbeln ist der Fleck auf der Jeans kaum zu erkennen. Die ersten Gäste treffen wie erwartet vor Marie ein. Nach dem dritten Läuten und einer sich langsam füllenden Küche, schreibe ich der Bibliotheksbewohnerin eine Nachricht, die gelesen, aber nicht beantwortet wird. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie sie aufschreckt, panisch alles zu schlägt und hoffentlich hier her sprintet. Immerhin scheinen die Studenten der dritten Fakultät wirklich gut erzogen zu sein, denn wirklich jeder hat bisher etwas zu trinken oder auch zu knabbern mitgebracht. Ich bestaune den wachsenden Fresschenberg auf der Anrichte und frage mich gleichzeitig, weshalb wir einen derartigen Aufriss ums Essen gemacht haben. Mittlerweile hat Rick Musik angemacht und nach einer kurzen Debatte entscheidet die Mehrheit, dass ein Mix-Radiosender besser ist. Mein Mitbewohner versucht seine Enttäuschung und die Entrüstung über die Ablehnung seines Musikgeschmacks zu verstecken, aber die wobbelige Unterlippe, während er eine Fluppe zieht, spricht eindeutige Bände. Ich patte ihm bemitleidend die Schulter, drücke ihm wenig später eines der mitgebrachten Biere in die Hand und stoße kurz mit ihm an. Das malzige Aroma des Gerstensaftes hat eine eigenartige Wirkung auf mich. Ich lecke es mir von den Lippen und seufze. Es ist die gleiche Marke, die ich auch damals im Club getrunken habe. Fein herb. Erfrischend. Es weckt Erinnerungen an die verschiedensten Augenblicke und Momente. Aber einer davon ist besonders präsent. Ich erinnere mich gut an unseren ersten Blickkontakt. Das kühle Blaugrün seiner Augen hatte mich sofort eingefangen und ich weiß noch, dass ich es kaum glauben konnte, dass er meinen Blick erwiderte. Doch er hat es. Er hat mich gewollt und er will mich auch noch immer. Antony. Der Gedanke daran setzt ein kleines Feuerwerk der Freude in mir in Gang. Es prickelt und kitzelt sich durch meinen Leib und lässt mich fast automatisch lächeln. Irgendwie ist es ja verrückt. Die Liebe ist verrückt.

Auch Anni lässt noch auf sich warten und hat es bisher nicht geschafft, auf meine Nachrichten zu antworten. Als endlich auch Marie eintrudelt, bin ich schon bei meinem zweiten Bier und langsam fällt die Anspannung von mir ab. Mit einer Schüssel Chili in der Hand tänzele ich an den vielen verstreuten Grüppchen vorbei. Ich stoße mit dem Hintern gegen einen anderen Körper und als ich mich überschwänglich umdrehe, schwankt die rote Masse in meiner Schüssel bedenklich. Sie trifft meinen Daumen, kleckert leicht über den Rand und ich bin mehr als erleichtert, dass es eine moderate Temperatur hat.

„Na hoppla.“

„Entschuldige, hab ich dich getroffen?“, frage ich besorgt und versuche das runtergelaufene Chili in die Schüssel zurückzuschieben, „Uff, zum Glück nicht heiß.“

„Was? Bin ich dir nicht scharf genug?“, erwidert er selbstbewusst, aber von mir unerwartet und nun sehe ich verdattert auf. Mein Gegenüber grinst breit und beginnt im nächsten Moment dank meines dümmlichen Gesichtsausdrucks heftig zu lachen.

„War ein Witz! Nur ein Witz wirklich.“ Noch immer starre ich den anderen Mann überrumpelt an, der nun abwehrend, aber weiterhin lachend seine Hände hebt. Ich nutze den Moment und sehe ihn mir nun richtig an. Er ist etwas kleiner als ich, aber deutlich definierter und trainierter. Er ist etwas älter, aber noch in seinen Zwanzigern. Sein Stil ist modisch und mit seinem legeren Sportsakko wirkt er fast etwas overdressed. Vermutlich würde Antony unter uns chaotischen Studenten ebenfalls so hervorstechen, mit seinen eleganten, schicken Pullovern und ordentlichen Hosen. Mir gefällt es. Bei beiden. Ich lächele verlegen als ich merke, wie mein Gegenüber neckend zu posen beginnt.

„Entschuldige den dummen Spruch, aber du hast die perfekte Vorlage geliefert und das musste ich nutzen.“ Meine Schale mit Chili habe ich schon fast wieder vergessen.

„Klar doch, Lachen ist gesund, nicht wahr?“

„Richtig, aber dann schulde ich dir jetzt einen Lacher. So zum Ausgleich.“

„Deal“, nehme ich ihn beim Wort, „Du gehst nicht hier zur Uni, oder?“ Er sieht definitiv nicht aus wie ein Biologe oder einer von Maries anderen Bibliotheksmaulwürfen.

„Falls du es noch nicht gemerkt hast, ich bin Absolvent des Clownscollege“, plaudert er und klopft sich mit der flachen Hand gegen die Brust.

„Und dort warst du der Klassenclown, stimmts?“, erwidere ich diesmal ohne zu zögern und wieder ertönt sein herzerfüllendes Lachen. „2 zu 0.“

„Jetzt muss ich mich langsam richtig ins Zeug legen“, antwortet er lächelnd, „Entschuldige, ich halte dich vom Essen ab.“ Ich schaue auf die Schüssel in meiner Hand und schüttele den Kopf.

„Tust du nicht. Und das Gute an Chili ist, dass es auch kalt schmeckt.“ Als ich daraufhin wieder auf schaue, sehe ich, wie Ricks Wuschelkopf hinter seiner Schulter auftaucht und unbeirrt auf uns zu steuert.

„Hey, du bist ja schon da! Wieso hast du nichts gesagt?“, plaudert Rick direkt los. Er legt seinen Arm um des anderen Manns Schultern und drückt ihn energisch an sich. Die Bierflasche in seiner Hand klopft ein paar Mal gegen dessen Oberarm und der Rest des Inhalts macht platschende Geräusche.

„Tja, ich weiß eben, wie man sich auf eine Party schmuggelt. Ich habe Übung“, erwidert er breit grinsend, umfasst den Größeren und drückt ihn an sich. Rick keucht und ächzt theatralisch und fängt an zu lachen, als er ihn wieder loslässt.

„Ja, du bist ein waschechter Ninja“, witzelt Rick sarkastisch.

„Ich weiß.“ Seine Augenbrauen zucken neckend nach oben. Beide lachen und ich komme nicht umher, zu schmunzeln.

„Schön, ihr habt euch also schon kennengelernt“, sagt Rick daraufhin und sieht mich lächelnd an.

„Ich hab ihn eher verstört. Ach, übrigens, bin ich sein Bruder. Konrad, freut mich“, berichtet der Ältere der beiden Grant Brüder und hält mir seine Hand hin.

„Sein Bruder...“, wiederhole ich. Nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich erkenne prompt die fast brüllenden Hinweise. Konrad ist mehr oder weniger eine kleinere, aber trainierte Version meines schlaksigen Mitbewohners. Augen. Nase. Mund. Selbst seine Augenbrauen. Alles weist daraufhin, dass sie zu einer Familie gehören. Doch ich habe es nicht erkannt. Ich lasse, während ich seine Hand ergreife, kurz den Kopf hängen und schelte mich stillschweigend für meine Unaufmerksamkeit. Rick schaut uns verwirrt dabei zu, wie wir uns die Hände schütteln.

„Hi, ich bin Ben. Sein Mitbewohner.“ Auch Konrads Mund formt sich zu einem authentischen O und dann fängt er erneut an, heiter zu lachen. Es ist wirklich ansteckend und so giggle ich einfach mit, was meinen Mitbewohner nur noch verdatterter dreinschauen lässt.

„Wie jetzt?“, hakt Rick nach einem Moment doch nach.

„Bis zu den Namen sind wir noch nicht gekommen“, klärt Konrad auf und grinst. Ich nicke bestätigend und umfasse meine nun mehr lauwarme Schüssel mit Chili mit beiden Händen. „Und noch dazu halte ich ihn vom Essen ab. Entschuldige bitte! Ich hole mir auch was davon, brauchst du noch Brot?“

„Nicht nötig, aber danke.“ Ich ziehe grinsend zwei Scheiben Baguette aus meiner Hosentasche und tunke eine davon gleich in die rote Masse. Beide Grant Brüder sehen mich erstaunt an und beginnen gleichzeitig zu kichern, während ich das leckere, weiche Brot in meinem Mund verschwinden lasse. Mein Magen vollführt ein freudiges Hüpfen und kommentiert meine verspätete Nahrungsaufnahme mit einem vielsagenden Knurren. Sofort spüre ich die Schärfe auf meiner Zunge, das Brennen an meinem Gaumen. Unwillkürlich ziehe ich hektisch etwas Luft ein und entfache das Feuer in meinem Mund noch etwas mehr. Konrad macht sich auf dem Weg in die Küche, während mich Rick aufmerksam mustert.

„Fantastisch, oder?“, fragt Rick und schaut mich mit erwartungsvollen Augen an. Ich nicke nur und kneife, als er nicht mehr hinsieht, das linke Auge zusammen. Definitiv chili-tastisch. Ich nehme einen vollen Löffel und schaffe es diesmal nicht, das pfeifende Geräusch zu unterdrücken, was Rick wieder zu mir sehen lässt.

„Ich bin aus der Übung“, gestehe ich grinsend und schiebe gleich einen weiteren Happen hinterher. Wenn man die Schärfe außer Acht lässt, ist es wirklich köstlich. Tomatig. Bohnig. Aromatisch. Die Zutaten zergehen auf der Zunge. Es dauert nicht lange und Konrad ist zurück. Auch er hält eine volle Schüssel in der Hand, aus der zusätzlich ein paar der Gemüsesticks herausragen, die Rick und ich vorhin noch geschnitten haben. Die beiden Brüder verfallen in einen unverkennbaren Trott. Witz folgt Witz. Eine Anekdote jagt die nächste. Es ist lange her, dass ich so ausgiebig lachen konnte. Beide sind wirklich gute Redner und gehen unglaublich geschickt mit der Sprache um. Es ist beneidenswert. Ich war nie gut darin, mich auszudrücken und rede mich eher um Kopf und Kragen, wenn es drauf ankommt. Nun weiß ich, dass Rick nicht umsonst Anwalt wird. Konrad arbeitet im Bereich des Kommunikationsmanagements, wie sich nach einer Weile herausstellt. Auch das ist unumwunden passend. Ich werfe einen erneuten Blick auf mein Handy, doch von meiner besten Freundin keine Reaktion. Sie verspätet sich weiter und irgendwann fällt es mir nicht mehr auf. Ich vergesse die Zeit vollkommen, nachdem Rick aufgeregt nach meinem Arm greift und allen mit bunten, lautmalerischen Worten von unserem ersten gemeinsamen Kochevent berichtet. Man könnte meinen, wir hätten die Erfindung des Jahrhunderts gemacht, dabei haben wir lediglich Kohlrouladen aufgewärmt. Unser amüsanter Kreis wird zwischendurch mal größer und wieder kleiner. Marie taucht auf und stellt uns ein paar ihrer Kommilitonen vor. Darunter ist auch der Physiker, der damals mit im Kino war und nicht ihr Freund ist. Als sie es betont, geht ein Raunen durch die Reihen, was sie dazu veranlasst, es erneut zu wiederholen. Mit demselben Ergebnis. Eine Endlosschleife, die lediglich mehr Gelächter hervorbringt. Während ich mit Konrad und Marie über das Für und Wider von Hauselfen debattiere, macht sich Rick auf die Pirsch nach etwas zu knabbern. Seine Meinung ist sowieso klar. Schon zweimal machte er uns den Gandalf und antwortete im Oxymoron. Mittlerweile bin ich bei meinem vierten Bier und merke den angenehmen Rausch des Alkohols durch meine Venen strömen. Ich bin entspannt und habe Spaß. Die Feier zu veranstalten war eine gute Scheidung.
 

„Ben. Ben. Ben. Ben. Ben...“ Rick wiederholt aufgeregt mehrere Male meinen Namen, während er auf mich zu kommt und scheint sich bei der letzten Wiederholung kurz zu überschlagen. Die Packung Erdnussflips in seiner Hand knistert begleitend. Ich blicke ihm verdattert entgegen und versuche seine Kopfbewegung zu interpretieren, was mir unsagbar schwerfällt. Dank meines Alkoholpegels verschwimmen seine Bewegungen sogar ein bisschen. Mein Mitbewohner seufzt, versucht es ein weiteres Mal und gibt auf. Er packt mich an beiden Schultern und dreht mich zur Haustür. Ich versteife mich sofort als ich begreife, wer dort steht und mich direkt ansieht. Es ist Antony, dessen Blick von mir zu Konrad wechselt und wieder zurück.

Der Erinnerung feinste Komposition

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Falscher Tango auf dem Asphalt

Kapitel 35 Falscher Tango auf dem Asphalt
 

„Nein, nein, nein, nein, nein... hey Luka, warte gefälligst...“, rufe ich aufgebracht durch das Treppenhaus und schaffe es aus unerfindlichen Gründen, den anderen Mann einzuholen, ehe er die Wohnungstür erreicht. Scheinbar ist mein Vermögen Treppen rauf zu sprinten weniger beeinträchtigt, als das gleiche Prozedere abwärts oder Luka hat getrödelt. Mein hektischer Atem und der Schmerz in meinen Lungenflügeln widersprechen vehement und der Drehwurm in meinem Kopf spricht plötzlich spanisch. Olá. Ich greife nach Lukas Arm und ziehe ihn zurück, noch bevor sein Finger den Klingelknopf erreicht. Das Lächeln in seinem Gesicht ist nicht mehr ganz so entspannt wie zuvor, als er sich mir zuwendet und dazu noch leise seufzt, so als würde ich mich unmöglich verhalten. Ein guter Gastgeber bin ich wirklich nicht, aber er sollte nicht hier sein und das hätte er wissen müssen.

Da ich noch auf der Treppe stehe, bin ich wesentlich kleiner als er und dadurch schaut Luka leicht auf mich hinab. Plötzlich fühlt es sich an, als fehlte mir der Mut, ihn weiter mit meinem Groll zu konfrontieren. Lukas Blick ist forsch und wechselt schnell zu amüsiert, als er über das Klingelschild flackert. Er hat meinen Namen darauf erkannt. Der andere Mann ist also wirklich nicht hier, um mich zu ärgern. Er hat es nicht gewusst.

„Sieh mal an. Nun weiß ich endlich, wo du wohnst, Eco-Boy und zu deiner Information, ich bin nur hier, um ein bisschen Spaß zu haben, was nicht impliziert, dass dieser Spaß dich beinhaltet. Ihr und euer verqueres Was-auch-immer interessieren mich herzlich wenig“, wiederholt er und zieht ein paar Kreise über unsere Köpfe hinweg. Es wirkt resolut und doch glaube ich ihm kein Wort. Dennoch bin ich mir in diesem Augenblick nicht sicher, ob ich vor Scham im Boden versinken oder vor Wut an die Decke gehen soll. Dank der Schwerkraft bleibe ich an Ort und Stelle.

„Sicher“, raunt es hinter mir. Natürlich muss sich auch Antony einmischen. „Du hast deine Nase ja noch nie in die Angelegenheiten anderer Leute gesteckt.“ Jedes seiner Worte ist spottend und schnippisch. Ich lasse seufzend den Kopf sinken. Eigentlich sollte es ein schöner und lustiger Abend werden. Er hat auch so gut angefangen. Und jetzt? Es ist frustrierend und anstrengend. Antony schiebt mich zur Seite, um dem blonden Mann entgegen zu treten. Ich merke sofort, wie sich die Luft um uns herum weiter auflädt und das ist kein gutes Zeichen.

„Tja, wenn ich es nicht mache, macht es jemand anderes.“

„Na klar, da ist auch gar kein Eigennutz bei“, erwidert Antony und sein Blick flackert kurz zu mir, als er es sagt. Auch Luca schaut zu mir.

„Wenigstens war ich zu jeder Zeit ehrlich zu ihm, kannst du das auch behaupten Herr Dozent?“, kontert Luca und kommt Antony etwas entgegen, jedoch ohne eine Stufe zu ihm runterzugehen, sodass er immer noch über ihm steht.

„Von wegen.“

„Von wegen was? Ich habe ihm immerhin nicht verheimlicht, dass ich einen absurden, verrückten Ex habe, der mir regelmäßig auflauert.“ Luka hat nicht unrecht, aber trotzdem geht es ihn nichts an. Es fühlt sich an, als befände ich mich in meinem schlechten Film. Er begann am Anfang des Semesters und scheint nun seinen Höhepunkt zu erreichen.

„Ich habe keine Ahnung, woher du dir das Recht herausnimmst, dich einzumischen.“ Nun ist es Antony, der eine Stufe nach oben nimmt, sodass er dem angehenden Journalisten näherkommt. Luka lässt ein abschätziges Schnauben hören und beugt sich seinerseits dem Portugiesen entgegen.

„Du bist das allerletzte, weißt du das? Wie kannst du das nur zulassen und ihn dieser Gefahr aussetzen.“ Er stößt Antony seine flache Hand gegen seine Schulter. Nicht so stark, dass der Portugiese ins Wanken gerät, aber so heftig, dass er einen Schritt auf der Treppe nach unten machen muss. „Du bist ein elender Heuchler, Rochas“

„Hey, Luka, lass das bitte...“, flehe ich. Die Anspannung in der Luft lässt meine Glieder kribbeln und in keiner guten Art. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll und wenn wir jetzt auch noch den Notarzt rufen müssen, weil sich die beiden auf der Treppe prügeln, wäre es eine Katastrophe. Luka dreht sich augenblicklich zu mir und die Wut in seinem Gesicht lässt mich erzittern.

„Hör auf, ihn in Schutz zu nehmen!“, fährt er mich an, „Schnallst du es nicht oder willst du es einfach nicht sehen? Ben, das ist kein Spaß mehr und er macht nichts dagegen. Er sieht nur dabei zu.“

„Was ist denn hier los?“ Eine bekannte Stimme echot durch den Treppenflur und lässt alle verstummen. „Ist das so eine Treppenparty? Die kommen wohl nie aus der Mode“, witzelt sie weiter. Als ich mich umdrehe, erkenne ich Anni, die hinter Antony auf der Treppe aufgetaucht ist und an ihrem Gesicht sehe ich, dass ihr die prekäre Mischung der Anwesenden durchaus aufgefallen ist. Sie schenkt mir einen vielsagenden Blick, der mehr aufgeregtes Mitleid bekundet als Beistand. Deswegen auch ihr schlechter Versuch eines Witzes.

Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken und ich verspüre das dringende Bedürfnis, der Szenerie zu entkommen. Nur wo sollte ich hinlaufen? Mein Zimmer befindet sich im Zentrum des Partykraters und der Weg nach draußen ist versperrt. Es würde auch nichts bringen. Weglaufen ist niemals die Lösung, das haben mir die wiederholten Male in meiner Vergangenheit deutlich aufgezeigt.

„Also?“ Weil niemand etwas sagt, ist es erneut Anni, die mit übertrieben heller Stimme ein Echo im Flur erzeugt.

„Ich brauche frische Luft“, erklärt Antony und macht auf dem Absatz kehrt.

„Antony…“, rufe ich ihm hinterher und rühre mich aber erst, als sein Haarschopf nicht mehr zu erkennen ist. „Verdammt… sag nichts…“, mahne ich den Journalisten an, da ich kurz vorher höre, wie er auffällig laut Luft holt. Ich schaue ihn streng an und ersticke damit alles weitere im Keim. Luka hebt abwehrend die Hände in die Luft und betätigt die Klingel, was ich geschehen lasse. Besser da drin, als in Antonys Nähe. Ich schaue zu Anni und schüttele den Kopf, als sie erneut mimisch versucht zu erfragen, was genau gerade passiert ist. Ich habe weder die Nerven noch die Zeit, ihr alles zu erklären. Es ist zu kompliziert und ich begreife es selbst noch nicht. Ich will nur eins, zu Antony. Anni nickt und folgt dem blonden Journalisten in die Wohnung. Danach mache auch ich mich auf den Weg nach unten, in der Hoffnung, dass Antony nicht abgehauen ist.
 

Ich finde den Portugiesen ein paar Meter von der Haustür entfernt. Auf und abgehend. Gehetzt. Auch ich fühle eine Unruhe, die sich bei mir jedoch aus den Befürchtungen nährt, dass mich mein geliebter Dozent wieder vertrösten könnte, dass er mich erneut ausklammert. So, wie er es bereits mehrere Mal getan hat. Dennoch atme ich erleichtert aus und schreite auf ihn zu. Er ist noch hier, das ist gerade das Wichtige für mich. Ich will keine unausgesprochenen Dinge mehr zwischen uns stehen sehen. Antony bemerkt mich nicht sofort, denn er ist tief in seinen eigenen Gedanken gefangen. Er erschreckt sich, als ich nach dem Saum seiner geöffneten Jacke greife und verhindere, dass er sich weiter fortbewegt. Seine Hand fasst nach meiner und die Berührung unserer Finger erzeugt einen kleinen Strudel aus Schmetterlingen in meinen Inneren.

„Hey“, flüstere ich ihm entgegen, kann nicht verhindern, dass meine Stimme am Ende etwas hüpft. Wie ein Schluckauf vor Nervosität.

„Hey“, echot er ruhig.

„Ich wusste nicht, dass er kommen würde“, presche ich hervor, ehe er zu etwas anderem ansetzen kann. Die Rechtfertigung folgt wie ein Reflex. Ebenso wenig wie ich wusste, dass Antony herkommen würde. Nichts von beidem lag in meiner Hand und doch musste beides scheinbar so kommen.

„Das weiß ich“, sagt er knapp und schweigt erneut. Luka macht, was er will und das wissen wir beide, dennoch habe ich das Gefühl, dass Antony mir die Schuld dafür gibt, dass er hier aufgetaucht ist. Ich weiß nicht mal warum. Es ist ein nagendes Gefühl in meinen Knochen, in meinem Schädel und tief in meinen Gedärmen.

„Hör nicht auf das, was er sagt… Er will nur provozieren und dich verletzten“, fahre ich unsicher fort.

„Ben, bitte. Du musst ihn nicht entschuldigen und ihn auch nicht erklären. Ich bin mir seiner Methoden durchaus bewusst, denn ich kenne ihn wesentlich länger als du. Es ist nur…“

„Er hätte es trotzdem nicht sagen dürfen“, werfe ich dazwischen. Antony schnaubt und schüttelt den Kopf.

„Selbst wenn… er hat Recht“, setzt er seine vorangegangenen Worte fort und lässt mich augenblicklich verstummen, „So ungern ich es zu gebe. Er hat Recht. Mateo ist gefährlich. Er ist ein Pulverfass und ich lasse zu, dass du der bevorstehenden Explosion zu Nahe kommst. Das ist nicht richtig.“ Der Ernst in diesen Worten lässt mich erschaudern und obwohl ich die Wahrheit darin erkenne, schüttele ich den Kopf, weil ich es dennoch nicht wahrhaben will.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll, Ben. Ich weiß nicht, wie ich es verhindern kann“, gesteht Antony flüsternd. Er schafft es nicht, mich dabei anzusehen und allein das erzeugt ein unangenehmes Kitzeln in meiner Brust.

„Lass uns zur Polizei gehen, versuch ein Kontaktverbot zu erwirken“, schlage ich vor.

„Und was soll das bringen? Es macht ihn nur wütend und provoziert ihn weitaus mehr, als nötig.“

„Aber du kannst nicht ewig so tun, als wäre es okay, was er macht und dass er in der Uni auftaucht oder bei dir zu Hause. Hast du eine bessere Idee?“

„Nein, ich…“ Er unterbricht seinen Ausbruch selbst und holt tief Luft ehe er fortfährt. „Okay, also ein Kontaktverbot, gut, dann haut er nach Portugal oder Spanien ab und kommt wieder, sobald es ausgelaufen ist. Die gelten nur sechs Monate lang, Ben.“

„Sechs Monate sind ein Anfang. Er wäre immerhin weg und du müsstest nicht jedes Mal damit rechnen, dass er plötzlich wieder bei dir auftaucht oder bei mir.“

„Es ist doch auch nur das Schöpfen falscher Hoffnung und das kann ebenso böse enden.“

„Aber es ist besser als nichts tun. Du würdest ein Zeichen setzen.“

„Und was bringt das?“ Dieses ewige Vor und Zurück. Hin und her. Wie ein Tanz auf barem Fuß.

„Was es bringt? Du zeigst ihm, dass du dir nicht alles gefallen lässt. Du würdest es für uns tun!“, schmettere ich ihm an den Kopf und mir wird erst jetzt bewusst, wie schwer mich seine anhaltende Zurückhaltung trifft. Falsche Hoffnung. Das ist, was er denkt. Ich bin wieder nüchtern. Schlagartig und so desillusioniert, dass es fast schmerzt. Antony sieht mich an, mit diesen atemberaubenden kühlen Iriden. Es spiegelt sich Frustration darin, ebenso Resignation. Alles aufgrund dieser Ungewissheit und der Hilflosigkeit, die uns quasi die Füße fesselt. Alles aufgrund diesen einen Mannes, der Antony nicht loslassen will. Ich bin mir sicher, dass der Portugiese all die Überlegungen selbst schon hunderte Male durchdachte, dass er seine Möglichkeiten und das Für und Wider abwog, wieder und wieder, aber ich weiß nicht, wieso es noch kein Ergebnis brachte. Wieso es nicht schon längst ein Kontaktverbot gab. Wieso er sich nicht traute. Doch, was weiß ich schon. Ich weiß nicht, was ihm wirklich durch den Kopf geht und er ist nicht willig, es mir Preis zugeben.

„Ich wünschte es wäre so einfach“, gibt er seufzend von sich.

„Aber es könnte einfach sein“, entflieht es mir, bevor ich es wirklich durchdenken oder zurückhalten kann. Bin ich naiv, weil ich hoffe?

„Kann es nicht, du versteht nicht, was alles daran hängt“, gibt er energisch zurück. Ich weiß sehr wohl, welche Verbindungen Mateo hat und das auch Antonys Karriere ein Faktor ist, der nicht ausgeschlossen werden darf. Aber steht das wirklich vor der eigenen Sicherheit?

„Dann erkläre es mir.“

„Ich will dich aber nicht noch weiter darin verwickeln, verstehst du das nicht?“, begründet er ehrlich und meint es endgültig. Ich will es nicht hören. Ich möchte nicht, dass er mich ausschließt, denn nicht zu wissen, was passiert, ist ein noch wesentlich schlimmeres Gefühl.

„Aber ich bin doch schon mittendrin und wenn du sagst, dass du mich nicht weiter mit hineinziehen willst, heißt das, du schließt mich aus und das heißt dass unsere Beziehung nicht weitergeht“, plappere ich laut und aufgebracht all die Gedanken aus, die sich in meinem Kopf tummeln und die mir seit Wochen mein Gemüt beschweren. Ich versuche das Wirrwarr in meinem Kopf halbwegs in Worte zu fassen und doch fühlt es sich an, als könnte ich es nicht richtig machen. Als könnte ich nichts richtig machen. Dieses Gefühl ist mir nicht fremd. Ich fühle es jedes Mal, wenn ich mit meiner Familie zusammentreffe und es schreit nach Unvermögen und Bedeutungslosigkeit. Antonys Blick ist getrübt.

„Ben… mach es nicht…“, setzt er an und bricht ab. Stattdessen schließt er seine Augen für einen Moment und es scheint, als würde er meinen Wunsch nach Vertrauen und sein Bestreben ungehört wegsperren.
 

„Ich sollte… Ich muss jetzt fahren. Im Moment treten wir auf der Stelle und… Ich weiß nicht... ich…“, stammelt mein Dozent auffällig und als er nicht die richtigen Worte findet, lächelt er mich unsicher an. Ich wünschte es wäre nicht so. Ich wünschte wir würden noch hier und jetzt eine Lösung finden. Gemeinsam. Doch ein Wunsch bleibt ein Wunsch, ohne den Eifer ihn zu erfüllen.

„Du musst nicht, bleib einfach… Antony, bitte bleib hier und lern meine Freunde kennen. Verbring den Abend mit mir“, flehe ich und unternehme einen letzten Versuch, den Abend nicht gen Jordan gehen zu lassen. Es fühlt sich zunehmend danach an, als müsste ich die Welt umrunden, um ihn wiederzusehen. Sollte es nicht einfacher sein? Ich fasse nach seiner Hand, doch er zieht sie weg und mein Herz stottert. So arg, dass es schmerzt.

„Es tut mir leid, es wäre keine gute Idee. Schon her zu kommen, war ein Fehler. Ich muss einen klaren Kopf bekommen und über ein paar Dinge nachdenken. Du solltest zurück zur Party. Sei unbeschwert. Genieße es… sie warten sicher schon auf dich.“ Seine Stimme ist sanft und er streckt seine Hand nach mir, streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich lehne mich automatisch in die Berührung, sauge sie ihn mich auf, wie ein wüstentrockener Schwamm.

Ich folge ihm bis zum Wagen. Ich bin fast überrascht, als er sich noch einmal umdreht, mich in den Arm nimmt und küsst. Es ist nur eine kurze Beruhigung unserer Lippen, die trotz ihrer Sanftheit eine brutale Enttäuschung mit sich bringt.

„Ich melde mich morgen. Versprochen“, flüstert er gegen meine Lippen, ehe er sie erneut küsst. Ich nicke und sehe dabei zu, wie er in seinen Wagen steigt. Ich starre noch auf die Stelle, als er längst weggefahren ist.
 

„Sag, wie ist es, einen Feigling zu daten? Macht es Spaß? Bist du glücklich?“, höre ich jemanden hinter mir sagen. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer mir diese Pein erfüllten und fast spottenden Fragen stellt. Ich erkenne die Stimme. Ich erkenne den Tonfall im Schlaf.

„Was willst du?“, murre ich Luka zu, ohne mich zu ihm umzudrehen und spüre, wie das Herz in meiner Brust so heftig schmerzt, dass ich mich unbewusst ein wenig krümme.

„Ich dachte, die brauchst du vielleicht“, sagt er schlicht und hält mir die Jacke hin, die er in der Hand hält. Erst jetzt erkenne ich, dass es meine eigene ist.

„Was interessiert es dich?“, murmele ich und sehe dabei zu, wie Luka eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche zieht und mir weiterhin mit der anderen Hand die Jacke hinhält. Ich nehme sie ihm schnell aus der Hand und ziehe sie aus Trotz heraus nicht gleich über. Erst als eine Böe wie ein eiskalter Schatten über uns hinwegfegt, rolle ich mich förmlich in die Klamotte ein. Ich verhindere gerade so, dass meine Zähne klappern und beiße mir stattdessen auf die Unterlippe.

„Du hältst mich für ein totales Arschloch, oder?“, fährt er fort. Es ist eine rhetorische Frage, die ich ihm dennoch nur zu gern beantworten möchte.

„Bist du das nicht?“

„Es gibt Feinheiten zu beachten…“

„Ach wirklich?“

„Verdammt, Ben, ich weiß, ich bin nicht gerade der Edelmütigste und ja, ich bin ein ziemlicher Arsch, wenn es mir nützt und weil ich nun mal so bin, aber ich bin mit meinen Absichten immer ehrlich und offen. Ich möchte nicht dabei zusehen, wie du in dein Verderben rennst, weil dieser Möchtegernheilige hofft, dass Mateo irgendwann von allein aufgibt. Das wird nämlich nicht passieren“, sagt er und steckt sich, während er monologisiert, einen Glimmstängel zwischen die Lippen, sodass der letzte Teil etwas vernuschelt klingt. Für die bittere Deutlichkeit reicht es dennoch. „Ben, ernsthaft, da draußen rennen so viele hinnehmbare Kerle rum. Wieso er? Was ist es, was dich die Sinne verlieren lässt? Ich meine damit nicht mich, glaub mir, aber du findest doch ohne Probleme jemand, der es wirklich...“

„Der es wert ist? Antony ist es wert“, entgegne ich ohne zu zögern und nehme ihm die Zigarette aus dem Mund. Ich bin zu langsam, denn er klaubt sie sich sofort zurück.

„Wow, das ist…“ Luka seufzt. „… wie in einer dieser lächerlichen RomComs aus den 2000er Jahren. Wahrscheinlich war es Liebe auf dem ersten Blick, ist es das, was du mir sagen willst?“ Der Spott trifft mich hart und ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Dabei ist sein Tonfall sogar ruhig und bedacht und ich glaube nicht, dass er mich per se damit verletzen will. Doch so ist es. Ist es lächerlich, daran zu glauben? Es sich zu wünschen? Ist an diese Liebe zu glauben wirklich etwas aus dem vergangenen Jahrhundert? Mein Schweigen liest er als genau das, was es ist. Die stupide Gefühlsansammlung, die seit Anfang des Semesters dafür sorgt, dass ich meinem Dozenten date und mich zwischen Himmel und Hölle wandern lässt, als wäre ich ein bemitleidenswerter Zirkusclown auf dem Trapez. Mein Sicherheitsnetz bekommt langsam Risse und ich bin mir dessen absolut bewusst. Deswegen fehlt mir jegliche Kraft weiter zu argumentieren.

„Herrje Ben.“

„Ich nehme ihn nicht in Schutz…“, erkläre ich verspätet den Vorwurf, den er mir bei der Diskussion auf der Treppe machte.

„Wie bitte?“

„Ich nehme Antony nicht in Schutz.“, wiederhole ich, „Ich war schockiert und wütend, als ich von all dem erfahren habe. Und verletzt, aber…“ Ich führe den Satz nicht aus, weil ich mir nicht sicher bin, was ich genau sagen möchte. Was genau erklärt, wieso ich danach die Schritte gegangen bin, die mich hierhin brachten. Vielleicht ist unsere Beziehung einzig geborgte Zeit.

„Aber was?“, hakt er nach, „Dachtest du dir, dass das schon klappen wird und Mateo schon aufhört, wenn ihm langweilig wird? Er gehört nicht zu der Sorte Mensch, die einfach aufgeben und dein lieber Dozent macht nichts anderes als ständig davor wegzulaufen. Ich habe Mateo damals angezeigt, wusstest du das?“ Ich schüttele den Kopf. Woher auch sollte ich das wissen. „Und weißt du, was Antony gemacht hat?“ Es folgt eine dramatische Pause, so wie man es von jemanden wie Luka erwartet. „Nichts. Seine Aussage lautet wie folgt: Ich kann keine dieser schwerwiegenden Anschuldigung bestätigen.“ Die Wut, die er noch immer empfindet, äußert sich darin, dass die Zigarette in seiner Hand gerade zerbröselt zu Boden segelt. Ich sehe dabei zu, wie trockene Tabakfusseln kurzzeitig in der Luft segeln und das weiße, zarte Papier auf dem feuchten Steinen verschwindet. Diese Dinge über Antony zu hören, treffen mich mehr als gedacht. Ich glaube Luka mehr als ich will und das Gefühl der Enttäuschung, die all das mit sich bringt, breitet sich in mir aus wie unerbittliche Flammen.

„Er wollte sicher nicht…“

„Jetzt fängst du doch an, ihn zu verteidigen?“, fährt er mir prompt dazwischen und er hat recht. Ich wollte etwas sagen, um ihm zu entschuldigen. Aus reinem Reflex. Das Wissen darum lässt mich schwer schlucken. Lukas Grinsen ist wissend und weniger überheblich als erwartet.

„Hey, Ben“, setzt er an und macht einen Schritt auf mich zu. Ich halte seinen Blick stand und schaue dabei zu, wie er seine Hand nach mit ausstreckt und nach dem Reißverschluss meiner Jacke greift. Er zieht ihn höher, schließt die Jacke sorgsam und richtet meinen Kragen. Seine Hände riechen nach getrocknetem Tabak und einem Desinfektionsmittel mit blumiger Note. „Pass bitte auf dich auf, Eco-Boy. Ich möchte deinen Namen ungern in der Verbrechensseite der Unizeitung lesen.“

„Du bist verdammt dramatisch.“, erwidere ich ruhig. Luka lacht.

„Ich weiß, du willst es nicht hören und gewiss ist es meine eigene Meinung, aber du hast etwas Besseres verdient. Jemand, der mit dir zusammen dort oben wäre ohne Ausreden und Zurückhaltung. Das ist alles.“ Diesmal zündet er die Zigarette zwischen seinen Lippen wirklich an. Ich sehe, wie der Tabak glüht, als er einen tiefen Zug nimmt und merke augenblicklich, wie die Haut meiner Arme am Stoff meines Pullovers reibt, obwohl ich mich keinen Millimeter bewege. Ich ertappe mich dabei, wie ich im Rhythmus seiner Züge mitatme und letztendlich den entweichenden Rauch sehnsüchtig hinterher blicke. Luka bietet mir keine Zigarette an, sondern legt seine Hand kurz an meine Wange, wendet sich ab und geht.
 

Ich bleibe einen Moment vor der Wohnungstür stehen, lausche den dumpfen Klängen der Musik und dem mehrstimmigen Gelächter. Es kommt mir unwirklich vor, sogar etwas falsch und ich fühle mich seltsam fehl am Platz. Doch wo sollte ich hin? Mein Zimmer ist da drin. Meine Freunde auch. Aber Antony nicht.

Unbeschwert. Genießen. Diese beiden Worte hat Antony verwendet. Sie sind selbsterklärend, klar und logisch und doch wirken sie im Augenblick wie der Teil einer fremden Sprache, dessen Übersetzung wir noch nicht finden konnten. Es gibt noch so viel mehr, was ich nicht entziffern kann. Antony ist ein großer Teil davon. Ich ziehe mit einem übertrieben lauten Seufzen den Schlüssel aus meiner Tasche und schaffe es nicht, ihn ins Schloss zu befördert, da geht schon die Tür. Konrad lächelt mir entgegen und im nächsten Moment taucht hinter ihm auch schon Anni auf. Sie greift nach meiner Hand und zerrt mich zurück in die überfüllte Wohnung. Sie ruft Ricks verdutzten Bruder ein ‚Gleich wieder da‘ zu und befördert mich ins Badezimmer. Hinter uns schließt sie die Tür und schaut mich mit großen, runden Augen an.

„Was zur Holle ist hier los?“

„Wenn ich das wüsste“, gestehe ich und merke, wie ich noch im selben Augenblick in mich zusammensinke. Ich lasse mich nach hinten fallen und lehne mich gegen die Tür in eine Ansammlung von Handtüchern, die mit kleinen Haken dort befestigt sind. Ich fahre mir mit beiden Händen über das Gesicht.

„Wieso war dein Dozent eigentlich hier?“, fragt meine beste Freundin und greift mir zur Beruhigung an den Ellenbogen. Es hilft. Immerhin ein kleines bisschen. Dennoch entgeht mir nicht, wie sie Antonys Beschäftigung ausspricht. Kühl und leicht bitter. Ich atme mehrfach tief durch und automatisch spielen sich die letzten Stunden vor meinem geistigen Auge ab. Der Tag hat doch gut begonnen. Ich spüre das Echo seiner Berührungen auf meiner Haut und in meinen Blutbahnen simmert das Glück, welches der Morgen und das kleine Intermezzo ausgelöst hat, ehe wir auf Luka trafen. Nichtdestotrotz ist mein einziger Gedanke, dass Antony nicht geblieben ist.



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Von:  chaos-kao
2022-02-23T08:20:50+00:00 23.02.2022 09:20
Na, wenn das mal keine kalte Dusche zum Ende hin ist. Ich hoffe ja sehr, dass das kein böses Nachspiel haben wird - oder Videoaufnahmen. Ansonsten mal wieder ein sehr schön geschriebenes Kapitel! Hat Spaß gemacht zu lesen :)
Antwort von:  Karo_del_Green
23.02.2022 09:34
Videoaufnahmen 😱 stimmt heutzutage weiß man ja echt nie, wer da so sein Überwachungszeug aufbaut. Es ist aber auf jeden Fall ungewöhnlich, dass sie zwei aus dem Keller kommen, direkt gesehen oder nicht.
Ich danke dir sehr fürs Lesen!
Von:  chaos-kao
2021-11-11T15:52:10+00:00 11.11.2021 16:52
Nachdem ich ziemlich aus der Story raus war, habe ich sie gerade nochmal komplett durchgelesen. Ich muss sagen, dass sich dein Schreibstil seit 2014 deutlich verbessert hat. Ich bin mir ja mittlerweile nicht mehr sicher, ob ich ihn nicht lieber mit Rick verkuppelt wüsste. Der klingt deutlich gesünder als Antony - das Kapitelende lässt ja auch wieder brodelnde Eifersucht erwarten. Und ich hoffe Anni geht es gut ... Ich finde es übrigens schön, dass man andere Charaktere wie Kain und Robin auch immer wieder randlich in der Geschichte entdecken kann. Hat auf alle Fälle Spaß gemacht alles nochmal durch zu lesen :)
Von:  Kyoto_Shirakawa
2020-06-01T10:39:36+00:00 01.06.2020 12:39
Du hast mir absolut den Tag gerettet ^^ ich freu mich riesig, dass es weitergeht. Und ich liebe die Anspielungen zu Between the lines xD ick hoffe die Muse knutscht dich weiter ab, damit es weitergeht ^^
Von:  Morphia
2019-10-26T06:45:16+00:00 26.10.2019 08:45
🥰 es geht weiter!
Schönes Date. Aber Mateo macht mich auch schon ganz mürbe.
Von:  chaos-kao
2019-04-30T19:18:43+00:00 30.04.2019 21:18
So, endlich dazu gekommen das neue Kapitel zu lesen. Nachdem ich echt keine Ahnung mehr hatte um was es überhaupt ging, hab ich gleich die ganze FF nochmal gelesen. Das hat etwas gedauert, bis ich genug Zeit dafür hatte ^^°

Ben sollte wegen Mateo unbedingt mit Tony sprechen. So kann das doch einfach nur schief gehen... Außerdem hatten die sich ja versprochen ehrlich zueinander zu sein... Ich bin ja mal gespannt ob Mateo wirklich ernst machen wird und wenn ja, was er vor hat. Ich hoffe es für Ben nicht, aber so wie es im Moment aussieht, wird es ja vermutlich darauf hinaus laufen... Ich bin gespannt :)
Von:  Morphia
2019-04-19T12:21:12+00:00 19.04.2019 14:21
😍 es geht weiter! 😍
Mateo muss weg... der stört mein Chi. 😅
Kayara hat recht, ungesagtes macht nur Probleme
Von:  Kayara
2019-04-15T05:02:08+00:00 15.04.2019 07:02
Ich habe mich heute morgen sehr über das Kapitel gefreut. Aber es war nicht genug Kapitel für den Arbeitsweg. :'D

Ben kann man schon verstehen, trotzdem macht es mich wahnsinnig wenn die Hauptfigur den Mund nicht aufmachen, gerade wenn sie wissen, dass das Ungesagte meist noch mehr Probleme bringt als das Gesagte. Vielleicht überrascht Tony ihn ja. Ich für meinen Teil bin gespannt wie es weiter geht! :)
Von:  -Chiba-
2018-06-03T13:11:11+00:00 03.06.2018 15:11
Da will ich mich mit einer anderen deiner Geschichten von meinem Ficus-Trauma ablenken und was passiert? Ich suche mir ausgerechnet die Geschichte mit Ben heraus...mein Ficus hat menschliche Gestalt angenommen...sehr schön.
Und zur Krönung tauchen im Laufe der Story auch noch Kain und Co. auf...Ablenkung ade XD

Auch eine schöne Geschichte, aber ich finde sie nicht so fesselnd wie die andere. Die FF über Robin wirkt irgendwie frischer, erheiternder...wenn ich die beiden Geschichten miteinander vergleiche bekomme ich irgendwie das Gefühl, dass zwei unterschiedliche Personen sie geschrieben haben. Keine Ahnung woran das liegt. Vielleicht liegt es an der Art wie du Robin beschreibst. Die ganzen Fachbegriffe, mit denen er um sich wirft und mich damit immer wieder zum Lachen bringt...irgendwie ein ganz anderer Schreibstil als hier...schwer zu beschreiben >_<
Aber trotzdem finde ich die Story über Ben gut geschrieben und durchdacht. Nur an manchen Stellen bin ich etwas ins Grübeln bekommen.

Rick ist mit seiner Freundin 7 Jahre zusammen. Sie ist 18...also war sie 11 als sie zusammengekommen sind? oO
Warum haben sich Ben und Anni nicht eine gemeinsame Wohnung gesucht? Wäre doch naheliegend gewesen.
Als Ben einmal mt seiner Schwester telefoniert hat meinte sie, dass ihre Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde und zum Glück nicht operiert werden muss (kann nicht mehr sagen in welchem Kapitel das stand >_<) und in einem der letzten Kapitel wurde sie nun doch operiert.

Schreibst du die Geschichte irgendwann zu Ende? Mateo macht mir Angst und ich hoffe, dass er Ben nichts antun wird >_<
Antwort von:  Karo_del_Green
03.06.2018 17:06
Huhuuuuu :) Da musste ich doch gerade herzhaft lachen. Ja, du hast dir tatsächlich die Geschichte mit einem Ben rausgesucht.
Und du hast dir eine der ersten Geschichten herausgesucht. Seit ich mit der Geschichten begonnen habe, ist wirklich schon viel Zeit vergangen, deswegen wundert es mich gar nicht, wenn es dir so vorkommt, als wäre sie von jemand anderen geschrieben. Mein Schreiben hat sich verändert. Zum Glück würde ich mal sagen. ^^ Zu dem, habe ich zu Robin, selbst eine viel tiefere Verbindung. Wahrscheinlich funktioniert der Charakter deshalb besser.

Hm, ich habe mir sicher etwas dabei Gedacht, als ich bestimmte Sachen geschrieben haben Ô.o, aber nagele mich nicht darauf fest. Rick war 15 als er seine Freundin kennengelernt hat. Ich hoffe, dass das jetzt nicht mehr ganz so schrecklich aussieht. Ich werde mir die Passage noch mal angucken <__<
Und, ich bin mir ziemlich sicher, dass Ben am Anfang irgendwann mal darüber grübelt, weshalb er nicht mit Anni in eine WG gezogen ist. Er hatte das Gefühl, dass es für ihre Freundschaft keine Vorteile bringen würde.
An die Sache mit der Operation kann ich mich nicht merh erinnern.
Ich muss auch gestehen, dass ich erst vor kurzem wieder begonnen habe die Kapitel nach zulesen, weil ich durch die vergangene Zeit einfach rausgekommen bin. Als ich mit der Storie begann, habe ich noch nicht so akribisch alles geplant und vermerkkt, wie ich es jetzt bei den neueren Geschichten machen. Leider ist es mittlerweile soviel, dass ich es machen muss, damit ich nicht vollkommen versumpfe. Bei KISS muss ich jetzt nacharbeiten und ich verspreche, dass ich auch diese Geschichte zu ende bringen. Zu mal mir meine Beta geschworen hat mich mit Mistgabeln zu jagen, wenn ich es nicht mache.

Ich danke dir, dass du so viel Interesse an meinen Geschichten zeigst <3 das macht mich sehr glücklich.
Besten Dank für die lieben Worte und die ganzen Hinweise! :D
Antwort von:  -Chiba-
05.06.2018 09:27
Ja, man merkt, dass sich dein Schreibstil verändert hat ^.~
Ich mag deinen Stil, ich selbst könnte das nicht. Ich bin immer wieder überrascht was man alles aus Worte machen kann XD

Ich finde es toll, dass die Geschichte irgendwann weiter geht.
Und wehe Ben passiert etwas...dann jage ich dich mit der Mistgabel durch die Gegend!
Wenn Mateo jemanden die Knochen brechen will, dann kann er sich Luka vornehmen >_<
Von:  Onlyknow3
2018-05-14T15:21:14+00:00 14.05.2018 17:21
Dachte ich mir schon das er Ben und Toni beobachtet hat, wie sonst konnte er wissen wo esterer wohnt.
Mateo wird sich jetzt noch mit einer Drohung begnügen, wird es aber auch dabei bleiben?
Was wohl Antoni sagt solllte ihm Ben da durch nun aus dem Weg gehen.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2018-05-13T08:50:53+00:00 13.05.2018 10:50
Das war doch so was von vorher seh bar, das Anni ihm nur Vorwürfe macht.
Vielleicht sollte er sich doch lieber an Luka wenden, oder sonst jemanden.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Karo_del_Green
13.05.2018 12:35
Wow :)
Hallo,
schön, dass du zu meinen Geschichten zurückgefunden hast. Darüber freue ich mich sehr :D
Und auch vielen lieben Dank für die ganzen Kommies <3 ich bin ganz überrascht, was du in der kurzen Zeit alles schon gelesen hast. Wow :) und danke!
Ich hoffe, dass ich es weiterhin schaffe dich mit meinen Geschichten gut zu unterhalten :)

lieben Grüße und ein schönes Wochenende!
del


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