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Kiss me hard before you go

von

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Vorbereitung ist der halbe Weg zur Katastrophe

Kapitel 33 Vorbereitung ist der halbe Weg zur Katastrophe
 

An meinem Wohnhaus angekommen, schicke ich Rick vor der Haustür eine Nachricht und erhalte die Bestätigung, dass Marie noch immer schläft. Beschwingt schleiche ich mich nach oben, verstaue unter enormen Anstrengungen das grüne Ungetüm in meinem Zimmer und lasse mich danach geschafft in der Küche auf einen Stuhl fallen. Rick lehnt am Küchentresen, schnuppert an einer Tasse mit frisch aufgebrühten Kaffee und schürt meinen Neid. Er beobachtet mich dabei, wie ich den vertrauten Geruch erschnüffele und offensichtlich einen bedürftigen Eindruck mache. Ich erwidere seinen Blick und ziehe nach einem Moment Schweigen meine Augenbraue nach oben. Rick spiegelt meine Mimik und zieht dabei eine leichte Fluppe, während er beginnt, mit den Augenbrauen zu wackeln. Ich lasse passend dazu beide Augenbrauen zucken. Und als nächstes brechen wir beide gleichzeitig in Gelächter aus. Ich spüre, wie sich ein warmer Schauer in mir ausbreitet und begreife erst jetzt, wie sehr ich eine solche vertrauensvolle Verbindung brauche. Dieses ganze Durcheinander mit Antony, Anni und Luka hat mich geschafft. Physisch und psychisch. Dieses unbeschwerte Zusammensein mit Rick ist beruhigend und heilend. Wie sagt man so schön? Normal?

„Schönen Abend gehabt?“, fragt Rick amüsiert, nimmt einen Schluck von seinem Kaffee ehe er, ohne konkret nachzuhaken, den Wasserkocher anschaltet und Kaffeekrümel in eine frisch abgewaschene Tasse füllt.

„Jup... war ganz gut...“, erwidere ich zurückhaltend und versuche so ruhig zu klingen, wie ich kann, schaffe es aber nicht, mir das deutliche Grinsen zu verkneifen, welches die euphorischen Erinnerungen an den letzten Abend mit sich bringen. Antonys süße Lippen. Seine tiefen, intensiven Blicke. Das Gefühl von Haut auf Haut. Ich schwelge benebelt und Rick durchschaut es sofort.

„Nur ganz gut, ja?“ Er schenkt mir ein verstehendes Lächeln mit passend tanzenden Augenbrauen. Mimik ist doch etwas Feines.

„Vielleicht war es auch...“, beginne ich und zucke mit der linken Schulter, „... fantastisch.“ Wir grinsen uns beide an.

„Er war also nicht eifersüchtig?“, fragt Rick und schüttelt die Kaffeebrösel in der trockenen Tasse umher.

„Doch, aber nachdem ich ihm erklärte, dass du mein Mitbewohner bist und damit keinerlei Gefahr darstellst, hat er eingesehen, dass Eifersucht nicht nötig ist.“

„Und damit hat er sich zufrieden gegeben?“, fragt er unaufgeregt. Der Wasserkocher klickt und Rick lässt sogleich das heiße Wasser in die vorbereitete Tasse verschwinden.

„Ja, sicher. Du bist immerhin mein Mitbewohner und dazu noch seit Jahren glücklich mit einer Frau liiert. Absolutes Totschlagargument, oder nicht?“ Dass ich so ausführlich gar nicht geworden bin und nicht werden musste, führe ich nicht aus.

„Ja... wohl wahr.“ Die kleine Pause lässt mich aufhorchen. Er wirkt seltsam unglücklich damit, aber ich hake nicht weiter nach, sondern stecke grabschend meine Hände nach dem wachmachenden Heißgetränk aus, welches Rick als Geisel auf dem Tresen behält. Es dauert einen Moment, bis er aus seinen Gedanken zurückkehrt und begreift, was meine Geste zu bedeuten hat.

„Oh, entschuldige.“ Damit händigt er mir den Kaffee aus. Ich winke ab und seufze glücklich, als ich den wohltuenden Geruch tief in meine Nase einsauge. Es ist warm und lecker. Nur beim Riechen. Kaffee ist etwas Feines und jeder, der etwas anderes behauptet, soll mir nicht unter die Augen treten.

„Okay, also wie ist der Plan für heute?“, fragt Rick euphorisch und setzt sich zu mir. Ich lasse meine Finger über den kalten Henkel meine Tasse streichen, während ich darüber nachdenke, wie wir das Ganze am besten angehen. Planlos bedeutet immer Katastrophe. Wobei ich auch mit Plänen zu Desaster neige. Noch ist der Kaffee zu heiß, um auch nur einen Schluck davon trinken zu können, also schnuppere ich den aromatischen Dampf ein.

„Ich würde sagen, wir warten bis Marie aus dem Lernkoma erwacht?“, schlage ich vor, „dann gratulieren wir... und schicken sie in die Bibliothek?“ Ich vervollständige meine Skizze ebenso enthusiastisch und sehe, wie Rick zustimmend nickt.

„Klingt plausibel. Also trinken wir jetzt Kaffee? Warte, schaffen wir das zeitlich?“

„Wie schnell kannst du kochen?“ Rick schiebt die linke Seite seiner Oberlippe nach oben und starrt mich an.

„Was machen wir noch mal?“

„Chili?“

„Okay, das ist einfach! Und wenn Marie in der Bibliothek ist, gehen wir schnell einkaufen und fangen danach an zu kochen. Was hältst du von einer Einkaufsliste?“

„Du schreibst!“, kommentiere ich rasch und gönne mir endlich einen Schluck des dunklen Gebräus. Ein fein herbes Aroma tanzt über meine Zunge und erfrischt meinen Gaumen. Der Kaffee ist in seiner Einfachheit erstaunlich gut. Zudem bin ich überrascht, wie perfekt Rick meine Stärke getroffen hat. Ich nehme gleich einen weiteren Schluck und schließe genießerisch die Augen. Auch Rick lehnt sich lachend zurück und nippt an seiner Tasse. Ich komme nicht umher, ihn dabei zu beobachten, sehe, wie sich seine Lippe leicht kräuselt als er beim Trinken ein paar der Kaffeekrümel in den Mund bekommt. Sie haften an seiner Oberlippe und er streicht sie sich mit dem Daumen davon.

„Oh, übrigens, ich habe gestern noch mit meinem Bruder gesprochen. Ich habe ihn zur Party eingeladen. Er ist in der Stadt und sucht nach einer Ablenkung. Und ich dachte, dass wir noch ein paar Gäste brauchen könnten.“ Überrascht blinzele ich meinen Mitbewohner an und lehne mich zurück. Sein Bruder ist in der Stadt. Prompt erinnere ich mich an die wenigen Erzählungen, die er mir bei unserem letzten kleinen Besäufnis preisgegeben hat.

„Dein Bruder. Okay, aber wieso braucht er eine Ablenkung?“, hake ich nach. Wieder zucken seine Schultern ein wenig nach oben.

„Anscheinend hat er im Moment sehr viel Stress auf Arbeit und unsere Eltern gehen ihm auf die Nerven wegen seines Lebensstils. Sein Kerl auch.“ Rick seufzt theatralisch und ein klein wenig übertrieben, sodass ich genau weiß, dass er es überspitzt. Nörgelnde Eltern sind ein Klassiker. Ein Standard, der mich noch im selben Augenblick seltsam ernüchtert, denn meine Familiendynamik hat schon lange keine derartige Normalität mehr hervorgebracht und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht genau, was ich dabei fühlen soll. Ist es etwas Gutes? Etwas Schlechtes? Ich starre in meinen Kaffee und sehe dabei zu, wie eine kleine Blase durch die unscheinbare Bewegung meines Körpers am Tassenrand entlang schwimmt. Sie platzt. Genau in dem Moment, als sie mir am nächsten ist. Blasen platzen, egal, wie sehr wir versuchen, sie zu erhalten. Welch ernüchternde Weisheit. Mein Lächeln wird schnell bitter.

„Er freut sich darauf, dich kennenzulernen.“, sagt Rick und holt mich aus meinen Gedanken zurück.

„Mich?“, frage ich verwirrt.

„Ja klar, ich habe ihm von dir erzählt... von Marie natürlich auch. Aber die Mädchen in meinem Leben interessieren ihn nicht so sehr... Ich habe fast schon damit gerechnet, dass er mich fragt, ob du süß bist“, kommentiert er lachend und streicht sich über den flachen Bauch. Ich lächele nur und frage mich unwillkürlich, was er darauf wohl geantwortet hätte. Ich nehme einen neuen Schluck von meinem Kaffee und versuche meine Gedanken wieder in eine andere Richtung zu lenken.
 

Als wir die Badezimmertür hören, springen wir beide auf. Wir wechseln ein paar hastige Blicke und kramen panisch ein paar Dekoartikel hervor, die wir gestern besorgt haben und bauen auf dem Esstisch einen kleinen Geburtstagsschrein mit Cupcakes, Kerzen und Konfetti. Die Überraschung ist perfekt. Auch für uns. Wir mimen die perfekten Clowns. Rick will es theatralisch, also holt er die Pflanze mit großem Tamtam erst aus meinem Zimmer hervor, während unsere Mitbewohnerin mit strahlenden Augen, zerknittertem Gesicht und Schlafanzug im Türrahmen auftaucht und auf die Cupcakes starrt. Marie quietscht auf, als Rick mit dem Kübel zurückkehrt und stürmt auf die Pflanze zu.

„Ooww, eine Calathea! Oh, sie ist wunderschön. Schaut euch diese Farben an...“, quietscht sie enthusiastisch und ungewöhnlich mädchenhaft, „Danke. Danke. Danke.“ Marie strahlt uns an und ich bin sehr zufrieden, weil meine Pflanzenidee definitiv eingeschlagen ist. Auch Rick klopft mir bestätigend auf die Schulter als er wieder freie Hände hat und wir beide dabei zu sehen, wie sie die Pflanze beäugt, als bestände sie aus Gold.

„Der Händler meinte, dass sie nicht ganz so pflegeleicht ist. Aber immerhin hat sie diese hübschen roten Blätter.“, deute ich an und Marie nickt verstehend.

„Ich mag Herausforderungen. Ich habe gelesen, dass sie einen Tages- und Nachtrhythmus hat und sich ihre Blätter öffnen und schließen.“ Also eine Art Haustier. „Die Farben sind wirklich wunderschön. Grün und Rot. Ich werde sie Robin nennen. Das passt. Sie wird sich gut mit Luisa vertragen.“, fährt sie begeistert fort und kann nicht verhindern, dass ich erstaunt meine Lippen spitze. Luisa? Robin? Für manche Menschen sind Pflanzen wie Haustiere. Wieso also sollte man ihnen keine Namen geben dürfen?

„Robin, wie der Superheldengehilfe von Batman?“, fragt Rick.

„Natürlich!“, erwidert sie bedächtig lächelnd und presst kurz die Lippen aufeinander. Ich sehe fragend zu meinem anderen Mitbewohner und bin mir nicht sicher, ob es Maries Ernst ist oder ob sie einfach nur ein bisschen spinnt. Beides wäre vollkommen okay für mich. Auch Ricks Gesichtsausdruck zeigt mir die gleiche Mischung aus Verwunderung und Amüsement und letztendlich zucken wir beide synchron mit den Schultern. Marie grinst spitzbübisch und ich wüsste gern, was in diesem Moment in ihrem Kopf vorgeht. Doch statt das weiter zu erörtern, sehen wir dabei zu, wie sie die Kerze auspustet und sich weitere Male freudig bei uns für diese kleine Überraschung bedankt.

Mit allerhand Charme und vor Witz sprühenden Anmerkungen sorgen wir oder eher Rick dafür, dass Marie auch wirklich am späten Nachmittag aus der Bibliothek zurückkommt. Was wäre eine Geburtstagsparty ohne das Geburtstagskind? Marie ist es definitiv zuzutrauen, dass sie es vollkommen vergisst und in ihren Büchern versumpft. Ich nehme mir trotzdem vor, ihr zur rechten Zeit eine Nachricht zu schicken, hoffend, dass sie ihr Handy angeschaltet lässt. Auch das lasse ich mir noch mal von ihr versichern. Als Marie die Wohnung verlässt, greife ich mir ein paar der Stoffbeutel, die sie seit neusten sorgsam neben der Tür aufbewahrt, damit wir ja nicht auf die Idee kommen, eine Plastiktüte zu benutzen und wir gehen gemeinsam einkaufen. Diesmal sind wir sogar halbwegs effizient, was neben dem Zeitdruck vor allem unserer sorgsam verfassten Liste zu verdanken ist.
 

Neben den geplanten Zutaten besorgen wir alibihalber für die Grünzeugfraktion etliche Gemüsesorten, die man mit einem Dip anbieten kann und fühlen uns äußerst weitsichtig in Anbetracht unseres finanziell notdürftigen Studentendaseins. Zusätzlich besorgen wir etliches an Knabberzeug und natürlich Alkohol. Die Zutaten sind schnell verpackt und wir schleppen alles zur Wohnung. Einkaufen erledigt. Tägliche Sporteinheit abgehakt. Zurück in der Küche krempele ich die Ärmel hoch, werfe einen Blick auf die Uhr, um abzuschätzen, wann ich los muss und warte dann auf Anweisungen. Rick übernimmt die Führung und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Da sich meine Küchenfähigkeiten arg in Grenzen halten, habe ich die leise Hoffnung, ein bisschen was von Rick zu lernen. Die Vorstellung, dass mein durchaus kochaffiner Freund miterleben könnte, wie ich bei der Zubereitung von Rührei versage, verursacht mir ein klein wenig Magenschmerzen.

Als erstes öffne ich die Dosen mit den verschiedenartigen Bohnen. Rote, Weiße und welche mit Chilisoße. Wir machen es uns wirklich einfach, aber Rick schwört darauf. Ich kenne Chili nur mit den klassischen Kidneybohnen und Mais. Allerdings entbrannte bereits auf dem Weg zur Kasse eine hitzige Diskussion über den Mais und auch noch auf dem Weg zurück zur WG. Letztendlich setzte ich mich durch und das lasse ich Rick nochmals wissen, während ich die Dose öffne und ihm direkt danach vor die Nase halte. Wieder berichtete er mir, dass Mais kein Bestanteil des Originalrezepts sei. Laut Ricks Bruder ist das ursprüngliche Chili con carne-Rezept sogar ohne Bohnen und besteht nur aus Fleisch, Tomatenmark und Gewürzen. Danach faselt er irgendwas von Arizona und Mexiko, Nonnen und amerikanischen Ureinwohnern. Ich werfe resigniert eines der Maiskörner in den Hackfleisch-Tomaten-Mix und sehe lachend dabei zu, wie es Rick pikiert wieder aus dem Topf fischt. Danach droht er mir gestisch mit den Holzlöffeln und ich drehe ihm spielerisch meine Kehrseite zu.

„Meine Mutter mag, genauso wie ich, auch keinen Mais im Chili. Deswegen stand es früher bei uns in der Familie auch immer zwei gegen zwei und wir diskutieren heute noch darüber. Aber im Sinne des WG-Friedens gestatte ich es dir...“

„Du gestattest?“, echoe ich amüsiert nach.

„Ja, wohl! Ich gestatte, dass du den Mais hinzufügst... aber erst zum Schluss!“

„Ein wahrer Gönner... ist die Reihenfolge denn ausschlaggebend?“ Rick schenkt mir ein selbstgefälliges Grinsen und gießt einen halben Liter Gemüsebrühe in den Topf.

„Natürlich!“, entgegnet er im Brustton der Überzeugung und ich bin tatsächlich nicht sicher, ob er mich aufzieht oder ob es wirklich wahr ist. Beides ist möglich. Rick blickt kurz zu mir, als er weitere Zutaten in den Topf schmeißt und lächelt. „Mais ist sehr stärkehaltig und das kann verdickend wirken. Außerdem ist er weichgekocht noch ekelhafter“, erklärt er. Es klingt erstaunlich logisch, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es vertrauenswürdig ist. Auch sein Gesicht ist erstaunlich wenig aussagefreundlich und ich schiebe es auf sein anwaltliches Pokerface. Ich schaue zurück auf das Sieb mit roten Kidneybohnen, die langsam abtropfen und nur darauf warten, in den Tomatenpamps zu wandern.

Gedanklich schweife ich zurück zu Ricks Erzählung und kann mir rege vorstellen, wie es bei ihm zu Hause abgelaufen ist. Vermutlich hat er bei einer dieser Gelegenheiten sein Talent für das Debattieren entdeckt und als Jurist ist das Gold wert. Mein Vater hätte derartige Diskussionen schnell unterbunden und meine Mutter hätte nie versucht, dieses Gericht erneut zu kochen. So sah unsere Familiendynamik aus.

„Darf ich dich mal was fragen?“, erkundige er sich und widmet sich unbeirrt dem köchelnden Topfinhalt.

„Sicher“, erwidere ich locker und schubse eine der Bohnen um. Es riecht schon wunderbar nach Tomate, Zwiebeln und Hackfleisch. Eine perfekte Mischung, wenn man mich fragt. Dazu Nudeln oder auch Kartoffeln und ich bin glücklich.

„Du hast nicht mehr viel Kontakt zu deinen Eltern, oder? Du hast bei unserem Essen vor allem von deiner Schwester und deinen Nichten gesprochen.“ Meine erste Reaktion auf das Thema ist stets ein schiefes Grinsen, welches bei genauerem Hinsehen auch jedes Mal die Verzweiflung zeigt. Dann perlt ein ersticktes Lachen über meine Lippen, was hin und wieder wie ein Husten klingt. Auch jetzt. Rick wartet geduldig, bis ich mich gesammelt habe und ich erzähle ihm von dem Streit, von den gefallenen Vorwürfen und von dem Rauswurf. Nichts, aber auch wirklich nichts war in diesem Augenblick gutgelaufen und wir sind als Familie nie darüber hinweggekommen, was schwer auf mir lastet. Doch mir gegenüber ist es nicht fair, denn es ist nicht meine Schuld. Nicht ich handele falsch und nicht ich habe die falschen Entscheidungen getroffen, sondern sie. Allen voran mein Vater. Aber auch wenn ich das weiß, ist es nicht einfach. Es ist nicht einfach, es hinzunehmen und es ist nicht einfach zu verstehen. Ich bin ihr Sohn. Ihr Kind und kein Fehler. Familie ist so wichtig und sie nicht zu haben, schmerzt. Darüber zu reden schmerzt. Nicht darüber reden schmerzt aber genauso.

„Bei deinem Bruder... wie haben es...“, erkundige ich mich, stottere, weil ich nicht weiß, ob ich ihn sowas überhaupt fragen kann. Rick nickt mir nur aufmerksam zu. „...was haben...haben eure Eltern gesagt... als er sich ...“

„... als er sich geoutet hat?“, nimmt er mir den letzten Rest des Satzes ab und ich nicke nur noch zur Bestätigung. Statt ihn weiter anzusehen, beginne ich wieder im Chili zu rühren. Erst ordentlich, dann eher schlampig. Im Grunde streiche ich nur mit dem Holzlöffel über die Oberfläche und drücke die entstehenden Hubbel platt. Der Herd läuft nur auf niedrigster Stufe, also besteht keine Gefahr.

„Na ja, am Anfang waren sie schon irritiert, würde ich sagen...“, beginnt er ruhig und bedacht, „Ich denke, sie habe es geahnt. Mein Bruder ist ein echt extrovertierter Typ, der schon immer sehr aufgeschlossen und offen war. Er hat viele Freunde und kommt gut an. Bei jedem. Nur eine Freundin hatte er nie und das haben sie sicherlich irgendwann hinterfragt.“

„Aber sowas kann doch tausende Gründe haben...“, merke ich an. Allerdings schneller, als mein Kopf wirklich dazu bereit ist, was dazu führt, dass ich mir danach unsicher auf die Unterlippe beiße.

„Sicher.“

„Wusstest du es vor ihnen? Hat er es dir gesagt?“

„Gesagt nicht, aber es gab diese äußerst exhibitionistischen Momente...“, referiert er erneut. Ich erinnere mich an seine Erzählungen während unseres kleinen Biergelages und lächele ebenfalls. Mein Mitbewohner lässt die Bohnen in den Topf wandern, lässt mich rühren und lehnt sich danach mit der Kehrseite gegen die Küchenzeile. Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich an. Ich bin gerade dabei, die Oberfläche des Chilis zu glätten und drücke ein paar der dicken Bohnen mit dem Holzlöffel in die rote Soße.

„Tut mir leid, dass dein Vater so unsensibel und uneinsichtig ist...“, sagt Rick, während ich geschäftig auf meine ruhelosen Finger starre.

„Mir auch...“ Wieder legt sich ein eher halbseitiges Lächeln auf meine Lippen, von dem ich nicht mal weiß, ob es Rick überhaupt sehen kann. Ich sehe auf, als er mich mit der Schulter anstupst und schaue beschämt wieder weg, weil er mich so ehrlich und freundlich anlächelt, dass es in meiner Nase zu zwiebeln beginnt.

„Du bist toll, wie du bist. Lass dir niemals etwas anderes einreden“, sagt er zusätzlich, nimmt mir den Holzlöffel aus der Hand und rührt das blubbernde Chili kräftig um. Ich stupse ihm als Dank lediglich mit der Schulter an. Rick versteht es auch so und greift lächelnd nach der Gewürzdöse mit den Chiliflocken. Er zwinkert mir zu, bevor er eine große Ladung davon im Topf verschwinden lässt. Unsere Gäste werden es lieben oder hassen. Vielleicht sollte ich nachher etwas mehr Brot mitbringen und Milch kaufen.

Die Vibrationen meines Handys lassen mich zusammen fahren. Es weist mich daraufhin, dass es Zeit wird, loszugehen, weil ich sonst die Vorlesung verpasse. Nach den letzten Wochen muss ich das Schwänzen unbedingt vermeiden. Rick weiß bereits Bescheid und deutet mir mit einem Daumen nach oben an, dass er alles im Griff hat. Ich verschwinde in mein Zimmer und suche schnellstmöglich alle Sachen zusammen, die ich brauchen könnte. Federmäppchen. Block. Terminkalender. Alles verschwindet in meine Umhängetasche, dann bin ich schon an der Tür und rufe eine Verabschiedung zur Küche. Ich laufe zur Straße und ignoriere das klingelnde Telefon in meiner Tasche. Trotzdem sehe ich den Bus nur noch davonfahren. Mit diesem wäre ich pünktlich gewesen. Mit dem nächsten wird es eng. Die Öffis und ich sind ein eigenes Kapitel. Frustriert laufe ich bereits zur nächsten Station und habe so das Gefühl, wenigstens nicht vollständig auf der Stelle zu treten.
 

Gerade, als ich wieder aus dem Bus steige, regt sich mein Telefon erneut und ich ziehe es hektisch aus der Jackentasche. Der angezeigte Name verursacht mir sofort ein freudiges Flattern in der Brust und dennoch zögere ich, ranzugehen. Ich muss noch ein Stück laufen und bin wirklich spät dran. Aber ich will auch seine Stimme hören. Deshalb bestätige ich den grünen Hörer und setze meinen Weg dabei fort.

„Hey...“, begrüße ich Antony atemlos und schiebe mich an einer kleinen Gruppe wartender Studenten vorbei.

„Hey du, alles okay? Du klingst etwas gehetzt. Müsstest du nicht schon entspannt in der Vorlesung sitzen?“

„Dahin bin ich gerade unterwegs. Ich habe etwas zu lange mit Rick rumgetrödelt und bin jetzt spät dran.“

„Was habt ihr gemacht?“

„Wir haben Vorbereitungen für die Geburtstagsparty getroffen... Chili gekocht! Ich weiß, dass das nicht gerade kulinarisches Hochniveau ist, aber für Studenten reicht es absolut...“, plappere ich schmunzelnd und wechsele das Ohr, um die Eingangstür zum Hauptgebäude zu öffnen.

„Ah, die Party... sie ist schon heute Abend?“

„Ja, hab ich das nicht erzählt?“, frage ich irritiert. Ich bin der Überzeugung, dass wir darüber gerade gesprochen haben, bin mir aber dank des zuckersüßen Verlaufs des Abends nicht mehr ganz sicher.

„Doch, doch, das hast du wahrscheinlich“, entgegnet Antony schnell und klingt dabei eigenartig hart. „Ich habe nur nicht mehr daran gedacht.“ Für einen Gedankenblitz lang bin ich gewillt, ihn einfach einzuladen. Ich würde ihn gern sehen. Ich will ihn immer sehen. Doch der Einfall ist so schnell verschwunden, wie er gekommen ist. Es wäre keine gute Idee und Antony würde es sicher auch nicht wollen. Es wäre ihm bestimmt unangenehm, auf Studenten zu treffen, die ihn eventuell kennen könnten. Noch dazu würde es Marie nicht wollen und sie ist heute nun mal die Hauptfigur. Ich stoppe vor dem Hörsaal, weiche erschrocken zurück, als die Tür aufgeht und fast meine Nase trifft.

„Es ist nur... ich dachte, dass wir uns heute Abend sehen könnten.“ Antony atmet geräuschvoll ein und schürt damit das schwelende Gefühl in mir.

„Tut mir leid, aber die Party ist schon lange geplant...“

„Schon gut, Ben, ich weiß...“ Er klingt enttäuscht und ich bin es im selben Moment auch.

„Es kommen vor allem Leute aus der Fakultät 3“, plaudere ich plötzlich aufgeregt drauflos. Die seltsame Unruhe in meiner Brust macht mich zunehmend kribbeliger und das ist meine Art, sie zu lösen. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht mal, warum mich das Gespräch mit ihm derartig nervös macht.

„Also lauter Naturwissenschaftler.“

„Genau, die ganzen verrückten Biologen und Chemiker... Die wissen, wie man feiert“, sage ich, ohne groß darüber nachzudenken, wie es klingt. „Habe ich mir sagen lassen.“ Gerettet. Denke ich jedenfalls.

„Na, das klingt doch nach einer Menge Spaß“, sagt er und dann bleibt es einen Moment still, „Deine Vorlesung beginnt gleich. Wir sollten...“

„Vielleicht sehen wir uns dafür Samstag? Oder Sonntag? Wir könnten Brunchen gehen. Ich kenne einen tollen Laden, der...“

„Vielleicht...“, unterbricht er mein erneutes Geplappere, „Übersteh erstmal die Party und dann sprechen wir nochmal...“

„Okay...“, erwidere ich schwach.

„Viel Spaß heute Abend.“

„Danke“, entgegne ich und bleibe noch etwas länger dran, obwohl er bereits aufgelegt hat. Es hinterlässt ein komisches Gefühl in meiner Brust und es ist nicht nur Antony seltsamer Stimmung geschuldet. Es ist die ganze Situation. Sie hinterlässt seit Tagen einen fahlen Beigeschmack bei allem, was mit ihm zu tun hat. Ich versuche es zu unterdrücken und nicht daran zu denken, doch das schaffe ich nicht. Es ist immer da.
 

Ich schleiche mich behutsam in den Hörsaal und lasse mich auf einen der hinteren Plätze nieder. Der Saal ist gut gefüllt und wie erwartet hat die Vorlesung bereits begonnen, aber die Dozentin beantwortet zu Beginn erst ein paar Fragen aus der vorigen Veranstaltung. Ich habe nichts verpasst. Abgesehen vom essenziellen Anschluss an mein Studium, echot es in meinem Kopf, während ich meinen Notizblock hervorhole und nach einem Stift krame. Trotz besseren Wissens hänge ich schnell gedanklich dem eben geführten Telefonat nach. Antony klang enttäuscht, dabei bin ich mir sicher, dass ich ihm von der Party erzählt habe und er währenddessen verständnisvoll aussah. Vielleicht habe ich vergessen, ihm das genaue Datum zu nennen. Ich bin verunsichert und merke, wie sich mehr und mehr das schlechte Gewissen in mir ausbreitet, welches ich nicht empfinden sollte. Unwillkürlich greife ich nach meinem Handy und öffne unseren Chatverlauf, jedoch ohne irgendwas zu schreiben. Ich starre einfach nur auf das Display und lasse den aufkommenden Sturm der Gefühle in mir verweilen. Zu versuchen, es zu verdrängen, hätte keinen Effekt, so gut kenne ich mich.

Die Dozentin beendet die Fragerunde und leitet ins neue Thema über. Ich versuche mich zu sammeln, atme tief ein und halte den Stift auf Anschlag. Es sind nur noch 70 Minuten. Die überstehe ich.
 

Meine Aufmerksamkeitsfähigkeit bessert sich nicht. Letztendlich mache ich nur wenige Stichpunkte und am Ende bin ich mir nicht mal sicher, worum es in der Vorlesung ging. Eine der Aufzählungen in meinen Notizen endet sogar mit Bla. Mal wieder keine Glanzleistung von mir und wenn ich ehrlich bin, habe ich dieses Semester mittlerweile sowieso als danebengegangenes Einstiegssemester abgehakt. Was andere Studenten durch Partys verlieren, versaubeutle ich durch mein kompliziertes Liebesleben. Und Dummheit. Ganz klar. Mit Sicherheit werde ich einige der Kurse im übernächsten Semester wiederholen müssen oder das ein oder andere Buch in den Semesterferien extra lesen.

Auch das nachfolgende Seminar absolviere ich eher semiaufmerksam und bin vollkommen raus, als mir Rick noch eine kleine Einkaufsliste schickt mit Dingen, die wir noch brauchen könnten. Als artiger Mitbewohner bestätige ich und bin froh, als der Dozent den Unterricht vorzeitig aber mit einer kleinen Hausaufgabe beendet. Ich bin mit mir selbst und meinen ständig kreisenden Gedanken vollkommen überfordert, also bleibe ich noch einen Moment länger im sich leerenden Raum sitzen. Auch Annis plötzliche überschwängliche Nachrichten machen es nicht wirklich besser. Sie schickt mir einen ganzen Batzen an Bildern vor ihrem Spiegelbild mit unterschiedlichen Outfits und mir fällt wieder ein, dass sie am Samstag ein Date hat. Ich habe schon wieder vergessen mit wem. Ich bin ein schlechter Freund. Doch was soll ich machen? Meine Gedanken kreisen um den gutaussehenden Portugiesen. Vielleicht sollte ich kurz bei Antonys Büro vorbeigehen? Mein Herz macht einem flatternden Sprung, der mir eine leichte Gänsehaut verursacht und schlägt schneller. Einfach bei ihm aufzutauchen ist sicher keine Lösung.

Statt mir weiter das Gehirn zu zermartern, antworte ich Anni, rate ihr zu dem hübschen sonnengelben Kleid, welches sie noch gar nicht in Betracht gezogen hat und erkundige mich direkt danach, wann sie heute Abend auftauchen wird. Ihre Rückmeldung kommt sofort und hinterlässt weitere Unzufriedenheit. Sie weiß es nicht. Das mit dem Kleid überlegt sie sich. Ich erinnere sie noch an die tolle schwarze Lederjacke, die sie schon lange nicht mehr getragen hat und die hervorragend dazu passen würde. Danach packe ich alles zusammen und verschwinde auf dem Rückweg zur WG noch mal in den Supermarkt.
 

Ich stelle den zusätzlichen Einkauf bei Rick in der Küche ab und hüpfe schnell unter die Dusche, ehe wir die restlichen Vorbereitungen angehen. Dekorieren und schnippeln. Ich versuche mich nicht einzusauen. Ein Fehlschlag. Aber nach etwas Rubbeln ist der Fleck auf der Jeans kaum zu erkennen. Die ersten Gäste treffen wie erwartet vor Marie ein. Nach dem dritten Läuten und einer sich langsam füllenden Küche, schreibe ich der Bibliotheksbewohnerin eine Nachricht, die gelesen, aber nicht beantwortet wird. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie sie aufschreckt, panisch alles zu schlägt und hoffentlich hier her sprintet. Immerhin scheinen die Studenten der dritten Fakultät wirklich gut erzogen zu sein, denn wirklich jeder hat bisher etwas zu trinken oder auch zu knabbern mitgebracht. Ich bestaune den wachsenden Fresschenberg auf der Anrichte und frage mich gleichzeitig, weshalb wir einen derartigen Aufriss ums Essen gemacht haben. Mittlerweile hat Rick Musik angemacht und nach einer kurzen Debatte entscheidet die Mehrheit, dass ein Mix-Radiosender besser ist. Mein Mitbewohner versucht seine Enttäuschung und die Entrüstung über die Ablehnung seines Musikgeschmacks zu verstecken, aber die wobbelige Unterlippe, während er eine Fluppe zieht, spricht eindeutige Bände. Ich patte ihm bemitleidend die Schulter, drücke ihm wenig später eines der mitgebrachten Biere in die Hand und stoße kurz mit ihm an. Das malzige Aroma des Gerstensaftes hat eine eigenartige Wirkung auf mich. Ich lecke es mir von den Lippen und seufze. Es ist die gleiche Marke, die ich auch damals im Club getrunken habe. Fein herb. Erfrischend. Es weckt Erinnerungen an die verschiedensten Augenblicke und Momente. Aber einer davon ist besonders präsent. Ich erinnere mich gut an unseren ersten Blickkontakt. Das kühle Blaugrün seiner Augen hatte mich sofort eingefangen und ich weiß noch, dass ich es kaum glauben konnte, dass er meinen Blick erwiderte. Doch er hat es. Er hat mich gewollt und er will mich auch noch immer. Antony. Der Gedanke daran setzt ein kleines Feuerwerk der Freude in mir in Gang. Es prickelt und kitzelt sich durch meinen Leib und lässt mich fast automatisch lächeln. Irgendwie ist es ja verrückt. Die Liebe ist verrückt.

Auch Anni lässt noch auf sich warten und hat es bisher nicht geschafft, auf meine Nachrichten zu antworten. Als endlich auch Marie eintrudelt, bin ich schon bei meinem zweiten Bier und langsam fällt die Anspannung von mir ab. Mit einer Schüssel Chili in der Hand tänzele ich an den vielen verstreuten Grüppchen vorbei. Ich stoße mit dem Hintern gegen einen anderen Körper und als ich mich überschwänglich umdrehe, schwankt die rote Masse in meiner Schüssel bedenklich. Sie trifft meinen Daumen, kleckert leicht über den Rand und ich bin mehr als erleichtert, dass es eine moderate Temperatur hat.

„Na hoppla.“

„Entschuldige, hab ich dich getroffen?“, frage ich besorgt und versuche das runtergelaufene Chili in die Schüssel zurückzuschieben, „Uff, zum Glück nicht heiß.“

„Was? Bin ich dir nicht scharf genug?“, erwidert er selbstbewusst, aber von mir unerwartet und nun sehe ich verdattert auf. Mein Gegenüber grinst breit und beginnt im nächsten Moment dank meines dümmlichen Gesichtsausdrucks heftig zu lachen.

„War ein Witz! Nur ein Witz wirklich.“ Noch immer starre ich den anderen Mann überrumpelt an, der nun abwehrend, aber weiterhin lachend seine Hände hebt. Ich nutze den Moment und sehe ihn mir nun richtig an. Er ist etwas kleiner als ich, aber deutlich definierter und trainierter. Er ist etwas älter, aber noch in seinen Zwanzigern. Sein Stil ist modisch und mit seinem legeren Sportsakko wirkt er fast etwas overdressed. Vermutlich würde Antony unter uns chaotischen Studenten ebenfalls so hervorstechen, mit seinen eleganten, schicken Pullovern und ordentlichen Hosen. Mir gefällt es. Bei beiden. Ich lächele verlegen als ich merke, wie mein Gegenüber neckend zu posen beginnt.

„Entschuldige den dummen Spruch, aber du hast die perfekte Vorlage geliefert und das musste ich nutzen.“ Meine Schale mit Chili habe ich schon fast wieder vergessen.

„Klar doch, Lachen ist gesund, nicht wahr?“

„Richtig, aber dann schulde ich dir jetzt einen Lacher. So zum Ausgleich.“

„Deal“, nehme ich ihn beim Wort, „Du gehst nicht hier zur Uni, oder?“ Er sieht definitiv nicht aus wie ein Biologe oder einer von Maries anderen Bibliotheksmaulwürfen.

„Falls du es noch nicht gemerkt hast, ich bin Absolvent des Clownscollege“, plaudert er und klopft sich mit der flachen Hand gegen die Brust.

„Und dort warst du der Klassenclown, stimmts?“, erwidere ich diesmal ohne zu zögern und wieder ertönt sein herzerfüllendes Lachen. „2 zu 0.“

„Jetzt muss ich mich langsam richtig ins Zeug legen“, antwortet er lächelnd, „Entschuldige, ich halte dich vom Essen ab.“ Ich schaue auf die Schüssel in meiner Hand und schüttele den Kopf.

„Tust du nicht. Und das Gute an Chili ist, dass es auch kalt schmeckt.“ Als ich daraufhin wieder auf schaue, sehe ich, wie Ricks Wuschelkopf hinter seiner Schulter auftaucht und unbeirrt auf uns zu steuert.

„Hey, du bist ja schon da! Wieso hast du nichts gesagt?“, plaudert Rick direkt los. Er legt seinen Arm um des anderen Manns Schultern und drückt ihn energisch an sich. Die Bierflasche in seiner Hand klopft ein paar Mal gegen dessen Oberarm und der Rest des Inhalts macht platschende Geräusche.

„Tja, ich weiß eben, wie man sich auf eine Party schmuggelt. Ich habe Übung“, erwidert er breit grinsend, umfasst den Größeren und drückt ihn an sich. Rick keucht und ächzt theatralisch und fängt an zu lachen, als er ihn wieder loslässt.

„Ja, du bist ein waschechter Ninja“, witzelt Rick sarkastisch.

„Ich weiß.“ Seine Augenbrauen zucken neckend nach oben. Beide lachen und ich komme nicht umher, zu schmunzeln.

„Schön, ihr habt euch also schon kennengelernt“, sagt Rick daraufhin und sieht mich lächelnd an.

„Ich hab ihn eher verstört. Ach, übrigens, bin ich sein Bruder. Konrad, freut mich“, berichtet der Ältere der beiden Grant Brüder und hält mir seine Hand hin.

„Sein Bruder...“, wiederhole ich. Nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich erkenne prompt die fast brüllenden Hinweise. Konrad ist mehr oder weniger eine kleinere, aber trainierte Version meines schlaksigen Mitbewohners. Augen. Nase. Mund. Selbst seine Augenbrauen. Alles weist daraufhin, dass sie zu einer Familie gehören. Doch ich habe es nicht erkannt. Ich lasse, während ich seine Hand ergreife, kurz den Kopf hängen und schelte mich stillschweigend für meine Unaufmerksamkeit. Rick schaut uns verwirrt dabei zu, wie wir uns die Hände schütteln.

„Hi, ich bin Ben. Sein Mitbewohner.“ Auch Konrads Mund formt sich zu einem authentischen O und dann fängt er erneut an, heiter zu lachen. Es ist wirklich ansteckend und so giggle ich einfach mit, was meinen Mitbewohner nur noch verdatterter dreinschauen lässt.

„Wie jetzt?“, hakt Rick nach einem Moment doch nach.

„Bis zu den Namen sind wir noch nicht gekommen“, klärt Konrad auf und grinst. Ich nicke bestätigend und umfasse meine nun mehr lauwarme Schüssel mit Chili mit beiden Händen. „Und noch dazu halte ich ihn vom Essen ab. Entschuldige bitte! Ich hole mir auch was davon, brauchst du noch Brot?“

„Nicht nötig, aber danke.“ Ich ziehe grinsend zwei Scheiben Baguette aus meiner Hosentasche und tunke eine davon gleich in die rote Masse. Beide Grant Brüder sehen mich erstaunt an und beginnen gleichzeitig zu kichern, während ich das leckere, weiche Brot in meinem Mund verschwinden lasse. Mein Magen vollführt ein freudiges Hüpfen und kommentiert meine verspätete Nahrungsaufnahme mit einem vielsagenden Knurren. Sofort spüre ich die Schärfe auf meiner Zunge, das Brennen an meinem Gaumen. Unwillkürlich ziehe ich hektisch etwas Luft ein und entfache das Feuer in meinem Mund noch etwas mehr. Konrad macht sich auf dem Weg in die Küche, während mich Rick aufmerksam mustert.

„Fantastisch, oder?“, fragt Rick und schaut mich mit erwartungsvollen Augen an. Ich nicke nur und kneife, als er nicht mehr hinsieht, das linke Auge zusammen. Definitiv chili-tastisch. Ich nehme einen vollen Löffel und schaffe es diesmal nicht, das pfeifende Geräusch zu unterdrücken, was Rick wieder zu mir sehen lässt.

„Ich bin aus der Übung“, gestehe ich grinsend und schiebe gleich einen weiteren Happen hinterher. Wenn man die Schärfe außer Acht lässt, ist es wirklich köstlich. Tomatig. Bohnig. Aromatisch. Die Zutaten zergehen auf der Zunge. Es dauert nicht lange und Konrad ist zurück. Auch er hält eine volle Schüssel in der Hand, aus der zusätzlich ein paar der Gemüsesticks herausragen, die Rick und ich vorhin noch geschnitten haben. Die beiden Brüder verfallen in einen unverkennbaren Trott. Witz folgt Witz. Eine Anekdote jagt die nächste. Es ist lange her, dass ich so ausgiebig lachen konnte. Beide sind wirklich gute Redner und gehen unglaublich geschickt mit der Sprache um. Es ist beneidenswert. Ich war nie gut darin, mich auszudrücken und rede mich eher um Kopf und Kragen, wenn es drauf ankommt. Nun weiß ich, dass Rick nicht umsonst Anwalt wird. Konrad arbeitet im Bereich des Kommunikationsmanagements, wie sich nach einer Weile herausstellt. Auch das ist unumwunden passend. Ich werfe einen erneuten Blick auf mein Handy, doch von meiner besten Freundin keine Reaktion. Sie verspätet sich weiter und irgendwann fällt es mir nicht mehr auf. Ich vergesse die Zeit vollkommen, nachdem Rick aufgeregt nach meinem Arm greift und allen mit bunten, lautmalerischen Worten von unserem ersten gemeinsamen Kochevent berichtet. Man könnte meinen, wir hätten die Erfindung des Jahrhunderts gemacht, dabei haben wir lediglich Kohlrouladen aufgewärmt. Unser amüsanter Kreis wird zwischendurch mal größer und wieder kleiner. Marie taucht auf und stellt uns ein paar ihrer Kommilitonen vor. Darunter ist auch der Physiker, der damals mit im Kino war und nicht ihr Freund ist. Als sie es betont, geht ein Raunen durch die Reihen, was sie dazu veranlasst, es erneut zu wiederholen. Mit demselben Ergebnis. Eine Endlosschleife, die lediglich mehr Gelächter hervorbringt. Während ich mit Konrad und Marie über das Für und Wider von Hauselfen debattiere, macht sich Rick auf die Pirsch nach etwas zu knabbern. Seine Meinung ist sowieso klar. Schon zweimal machte er uns den Gandalf und antwortete im Oxymoron. Mittlerweile bin ich bei meinem vierten Bier und merke den angenehmen Rausch des Alkohols durch meine Venen strömen. Ich bin entspannt und habe Spaß. Die Feier zu veranstalten war eine gute Scheidung.
 

„Ben. Ben. Ben. Ben. Ben...“ Rick wiederholt aufgeregt mehrere Male meinen Namen, während er auf mich zu kommt und scheint sich bei der letzten Wiederholung kurz zu überschlagen. Die Packung Erdnussflips in seiner Hand knistert begleitend. Ich blicke ihm verdattert entgegen und versuche seine Kopfbewegung zu interpretieren, was mir unsagbar schwerfällt. Dank meines Alkoholpegels verschwimmen seine Bewegungen sogar ein bisschen. Mein Mitbewohner seufzt, versucht es ein weiteres Mal und gibt auf. Er packt mich an beiden Schultern und dreht mich zur Haustür. Ich versteife mich sofort als ich begreife, wer dort steht und mich direkt ansieht. Es ist Antony, dessen Blick von mir zu Konrad wechselt und wieder zurück.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2021-11-11T15:52:10+00:00 11.11.2021 16:52
Nachdem ich ziemlich aus der Story raus war, habe ich sie gerade nochmal komplett durchgelesen. Ich muss sagen, dass sich dein Schreibstil seit 2014 deutlich verbessert hat. Ich bin mir ja mittlerweile nicht mehr sicher, ob ich ihn nicht lieber mit Rick verkuppelt wüsste. Der klingt deutlich gesünder als Antony - das Kapitelende lässt ja auch wieder brodelnde Eifersucht erwarten. Und ich hoffe Anni geht es gut ... Ich finde es übrigens schön, dass man andere Charaktere wie Kain und Robin auch immer wieder randlich in der Geschichte entdecken kann. Hat auf alle Fälle Spaß gemacht alles nochmal durch zu lesen :)


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