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Kiss me hard before you go

von

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Zurück zum Punkt Null?

Kapitel 25 Zurück zum Punkt Null?
 

Ärger. Das Wort wiederholt sich in meinem Kopf. Nicht zum ersten Mal, was dazu führt, dass ich mir dessen vollkommen bewusst bin. Im Grunde bedeutete unsere Beziehung schon die ganze Zeit Ärger.

„Ben,..." Ihre Stimme ist eine Mischung aus Verunsicherung und Mahnung. Marie weiß, dass sie kein Recht hat, mich zu belehren, aber es zu müssen, liegt an ihrer konservativen Einstellung. Vielleicht auch an ihrer freundschaftlichen Empfindung mir gegenüber. Scheinbar hat sie sich schon eine längere Zeit darüber Gedanken gemacht. In meinen Kopf schreit es danach, dass sie sich nicht einmischen soll, doch ich sage nichts, weil im selben Augenblick die Vernunft ihre mahnenden Rückschlüsse zieht.

„Es ist nicht so einfach....", setze ich an, doch Marie unterbricht mich.

„Ich weiß, dass es in dem Sinne nicht verboten ist, aber ich weiß auch, dass das nicht gern gesehen wird... Ben, wenn das rauskommt!", spinnt sie ihre Gedanken unbeirrt weiter, blickt dabei auf ihre Finger und nur ab und an schaut sie über ihre Brille hinweg zu mir. Ihr Tonfall ist eine wankende Mischung aus ernst gemeinter Sorge und ein klein wenig Fassungslosigkeit. Diese Art der Beziehung passt vermutlich nicht in ihr heimeliges Weltbild. Ich kämpfe mit meinen Empfindungen und bringe kein Wort zur Verteidigung oder wenigstens zur Erklärung hervor. Sie spricht von zukünftigen Behinderungen und Steinen. Wege und Möglichkeiten, die sich durch eine solche skandalöse Anhaftung versperren. Für mich. Für Antony. Maries Vortrag endet mit einem nervösen Seufzen. Ich streiche mir durch die Haare, spüre die Schwere in meinen Gliedern, die mich schon eine ganze Weile schleichend lähmt und versinke in Gedanken. Marie fasst an den weißlackierten Türrahmen. Sie hat kleine, fast knubbelige Finger mit kurzen Nägeln. Praktisch und uneitel. Etwas Anderes würde auch nicht zu ihr passen. Ihre letzten Worte habe ich schon nicht mehr richtig wahrgenommen.

„Ben?" Noch mehr Verunsicherung. Wahrscheinlich kann sie nicht zu ordnen, wie sie meine wortlose Reaktion auffassen soll. Bevor ich etwas erwidern kann, geht hinter mir die Tür auf. Ein gähnender Rick trabt Richtung Toilette, bleibt dicht hinter mir stehen und legt mir sein Kinn auf die linke Schulter. Er hat beidseitig noch genügend Platz, um frontal um mich herumzugehen.

„Du stehst im Weg", murmelt er und ich merke, wie er kurz an mir schnuppert. Dabei stupst seine Nasenspitze sachte gegen meinen Hals. Sie ist schrecklich kalt, aber wenigstens nicht feucht. Seine unbedarften Berührungen fördern ein sonderbares Kitzeln, welches jedes Mal wieder in völliger Zufriedenheit verebbt. Nur mit einem Auge mustert er mich, als ich ihm Platz mache und er an Marie vorbei ins Badezimmer geht. Ricks Akzeptanz durchströmt mich beruhigend. Ich nutze diesen seltsamen Moment um mich aus der Affäre zu ziehe.

„Schlaf gut. Ich versuche leise zu sein..." Schnell verschwinde ich in mein Zimmer und schließe hinter mir die Tür. Ich bin mir sicher, dass sich Marie nur um mich sorgt.
 

Ich bleibe mitten im Raum stehen, blicke zu dem Bett, in dem vor einer Stunde noch unsere warmen Körper gelegen haben, sich gesuhlt und gewälzt haben. Automatisch schließe ich meine Augen als ich das Gefühl seiner Hände zurück auf meinen Körper ersinne. Das feines Kribbeln, wenn seine Haut auf meine trifft. Die Sanftheit seiner Lippen. Liebkosend und so umwerfend süß. Ich erschaudere allein bei der Erinnerung daran. Mir entfährt ein erregtes Brummen. Ich straffe meine Schultern, öffne das Fenster und schwinge mich auf meinen Schreibtischstuhl. Leider mit so viel Elan, dass ich fast wieder herunterfalle. Ich ziehe mich zurück auf das Polster und schalte meinen Rechner an. Ich logge mich in den Universitätsverteiler ein, downloade mir ein paar neue Vorlesungsfolien und checke meine E-Mails. Die Antwort von meinem eventuellen Projektpartner. Er erklärt mir, dass er mittlerweile angefangen hat und bittet darum, dass wir uns bald möglich zusammensetzen. Ich willige ein, schreibe ihm meine Handynummer auf, da wir uns so besser verständigen können und beruhige mein schlechtes Gewissen damit, dass ich mir ein paar erste Informationen des Themas aus dem Internet ziehe. Nach einer Dreiviertelstunde kann ich noch immer nicht einschätzen, ob das Thema wirklich nur langweilig oder versteckt interessant ist. Ich denke an den Vortrag und die kommenden Diskussionen im Seminar. Mein Magen wird flau. Das wird ein Spaß! Für gewöhnlich habe ich nichts gegen eine gute Kontroverse, aber ich muss selbst dafür stehen. Ich schiele auf mein Handy. Ein munteres Blinken. Eine Nachricht. Mein Pulsschlag beschleunigt sich. Noch bevor ich die Nachricht öffnen kann, beginnt das Telefon in meiner Hand zu klingeln und ich lasse es fallen.
 

Das Plastikgerät kommt in meinem Schoss zum Liegen, nachdem ich es fallengelassen habe und vibriert munter gegen meinen Unterbauch. Annis Name schlägt mir entgegen. Ich erhole mich nur schwer von dem Schreck und gehe ran.

„Hey, my Dear...", flötet mir meine Freundin entgegen und ich lehne mich zurück. Meine rechte Hand lege ich beruhigend auf meinen flatternden Bauch. Ich spüre dumpf meinen pulsierenden Herzschlag und schließe meine Augen.

„Hey, Quälgeist...", gebe ich amüsiert zurück und stelle mir vor, wie die Rothaarige am anderen Ende des Telefonhörers eine Schnute macht und wie sie sich dabei ein paar ihrer Locken keck von der Stirn pustet. Ein leises Seufzen. Sie weiß, dass ich es nicht allzu ernst meine und dennoch soll sie merken, dass ich noch immer enttäuscht bin. Ich fühle mich im Recht dazu.

„Wie geht es dir?", fragt sie nach sekundenlangem Zögern. Ihre Stimme nimmt dabei einen eigenartigen Ton an und veranlasst mich, meine lümmelnde Position aufzugeben und mich ordentlich hinzusetzen.

„Gut,...", gebe ich vorsichtig von mir, ziehe dabei das U besonders lang und lasse es selbst unglaublich fragend klingen. Ich spare mir ein dem Umständen entsprechend oder ähnlichem. Anni schweigt erneut, so als würde sie versuchen, anhand meines Tonfalls herauszuhören, wie ernst es mir ist.

„Gut, gut. Ich hatte beim Mittagessen den Eindruck, dass dir noch etwas das Herz beschwert und da du dich die Tage nicht gemeldet hast, da habe ich mir Sorgen gemacht." Sie klingt erleichtert und im selben Moment wieder aufgeregt. Ich denke an unser Essen zurück. Rick hat sich spontan zu uns gesetzt und Annis komplette Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ehrlich gesagt habe ich nicht gedacht, dass sie vor lauter Flirterei noch gemerkt hat, dass ich anwesend war.

„Okay, seit wann machst du dir bei anderthalb Tagen schon Sorgen?", frage ich verstört. Ich bin mir sicher, dass mehr dahinter steckt als reine Fürsorge. Sie seufzt. Laut und deutlich.

„Zwei Tage und ich habe Angst, dass du dich noch weiter verkriechst, Benedikt." Mein voller Name. Es ist ihr Ernst.

„Mir geht es gut. Wirklich. Du kennst mich doch." Ich bin nicht der Typ, der schnell über seine Gefühle reden kann. Ich brauche meine Zeit und für gewöhnlich ist ihr das auch klar.

„Ich weiß, dass du dich lieber vergräbst, aber genau das ist nicht gut...Rede mit mir. Bitte!", kommentiert sie und schafft es das Ganze nicht vollkommen wie eine Belehrung klingen zu lassen. Reden. Ich kann nicht. Ich will nicht. Zudem ist in den letzten Tagen so viel passiert, dass ich selbst noch keine Chance hatte, intensiv über alles nachzudenken. So durcheinander ist mein Leben schon lange nicht mehr gewesen. Der Unfall meiner Mutter, der mich zutiefst bedrückt. Die Streitereien mit Anni. Luka. Was will er wirklich von mir? Mit ihm habe ich definitiv einen gewaltigen Fehler begangen und ich werde aus ihm nicht schlau. Ich streiche mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht und merke, wie mein Blick zurück zu meinem Bett wandert. Meine Gedanken sind sofort wieder bei meinem Dozenten. Der Stein des Anstoßes. Antony. Mein Herz macht einen Satz und schlägt dann heiß pulsierend in meiner Brust. Es ist ein wunderbares Gefühl gepaart mit einem Schwarm voller freigelassener Schmetterlinge. Allein der Gedanke an ihn bringt meinen ganzen Körper in Aufruhr.

„Anni, du nervst mich...", sage ich ehrlich seufzend, richte mich wieder vollkommen auf und verlasse meinen Schreibtisch um mich aufs Bett zu werfen. Ich spüre, wie die Matratze unter meinem Körper etwas nachgibt. Ein leises Quietschen. Gut, dass es das nicht in der Nacht getan hat. Nichts ist ablenkender als ein quietschendes Bett beim Sex.

„Nein, ich liebe dich. Das ist ein meilenweiter Unterschied!" Und das soll eine Rechtfertigung sein, um mir pausenlosen auf den Geist gehen? Ich weiß ja nicht.

„Es wird Zeit, dass wir mal wieder ausgelassen feiern gehen." Ich spüre, wie mein rechter Mundwinkel ungelenk nach oben wandert. Gut, dass mich in diesem Moment niemand sieht. Ich mache einem halbseitigen Joker Konkurrenz. Anni redet unbeirrt weiter, weil meine mimische Entgleisung zu meinem Leidwesen keine begleitende akustische Äußerung hat.

„Ein paar Kommilitoninnen haben mir von einem beliebten Club erzählt. Gute Drinks. Moderate Preise. Genau das, was wir brauchen um zu vergessen..." Der letzte Diskobesuch hat mein Leben durcheinander gewürfelt, ich glaube kaum, dass ein nächster das Chaos lichtet.

„Anni...", entflieht es mir stoppend. Für gewöhnlich weiß sie, dass ich nicht der Partygänger bin und auch mit Clubs wenig am Hut habe. Sie hat fast eine Woche auf mich eingeredet, bevor ich irgendwann aus absolutem Nervenverlust für die Partynacht nach dem Abitur zugesagt habe.

„Ben, komm schon. Es bringt dich auf andere Gedanken..." Ein weiterer Versuch. Es ist mir ein Rätsel, wie sie darauf kommt, mich mit einem derartigen Vorschlag rauslocken zu können.

„Das bezweifele ich..." Ich drehe mich auf die Seite, schließe meine Augen als ein Zipfel des Kissens gegen meine Nasenspitze stupst. Der Geruch des Portugiesen ummantelt mich.

„Okay, dann lass uns einen ruhigen Abend verbringen. Du und ich. Ein Film. Popcorn. Schoki. Wie in alten Zeiten. Was hältst du davon? Ein Abend ohne den Gedanken an irgendwelche Männer. Nur wir zwei", schlägt sie vor. Wie in alten Zeiten. Es dürstet mich danach und doch galoppiert sofort die Erinnerung an Antonys Einladung durch meinen Kopf. Ich antworte ihr nicht sofort und Anni legt es mir als erneute Ablehnung aus.

„Komm schon, so sauer kannst du doch nicht mehr sein..." Sie klingt fast flehend. Ich rolle mich ein paar Mal im Bett umher, wie ein suhlendes Hündchen. Das Handy an meinem Ohr vibriert und kündigt mir eine weitere Nachricht an. Für einen kurzen Moment nehme ich das Kommunikationsgerät vom Ohr, sehe das muntere Blinken, welches nun wieder an Schnelligkeit zugenommen hat.

„Oh Oh, Schweigen ist bei dir überhaupt kein gutes Zeichen...Was ist los?" Ein hauchzartes Lachen, welche schnell in ein vorsichtiges Raunen übergeht. Auch wenn meine Schweigsamkeit durch Unaufmerksamkeit ausgelöst wurde, denke ich darüber nach ihr von der gestrigen Nacht zu erzählen. Wie wird sie diesmal reagieren? Ich fühle mich gehemmt. Ein feines Seufzen perlt von meinen Lippen, als mir mein Inneres erklärt, dass sie meine beste Freundin ist und ich unbedingt mit jemand reden muss. Die ganze Situation wächst mir über den Kopf und ich brauche dringend eine humane Leiter um an meinen angestauten Gefühlskram heranzureichen.

„Ich habe letzte Nacht mit Antony geschlafen...", murmele ich ohne ein weiteres Mal nachzudenken. Wahrscheinlich wird sie mit einer vernünftigen Reaktion hadern. Aus der Gewohnheit heraus wäre es leiser Vorwurf, mit dem sie antwortet, doch nach unserem Zerwürfnis wird sie es sich ganz genau überlegen.

Nichts. Anni schweigt. Ein eigenartiges Phänomen, was eher selten bei der quirligen Rothaarigen auftritt. Ich kann nicht einmal einschätzen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. im Moment bereitet mir aber auch alles Kopfzerbrechen.

„Er ist in der WG aufgetaucht...und...na ja. Er war sehr überzeugend", setze ich fort. Ich gehe nicht ins Detail.

„Du hast ihn dir also nicht hart genug aus dem Kopf geschlagen", entflieht es Anni leise und ist eine Anlehnung an meinen eigenen Wortlaut. Bei unserem letzten Gespräch habe ich gesagt, dass ich zum Thema Antony nur noch von einem One-Night-Stand sprechen werde und mir den Portugiesen aus dem Kopf schlage. Leichter gesagt, als getan. Vor allem dann, wenn er vor mir steht, wenn er mich küsst und berührt. Ich bin ihm hoffnungslos verfallen.

„Ich denke, ich brauche dir nicht sagen, wie gesundheitsschädigend das ist." Ihre Wortwahl lässt mich schmunzeln. Auch sie hatte schon Erfahrung mit gesundheitsschädlichen Beziehungen gemacht. Sie weiß genau wovon sie spricht.

„My Dear, ich plädiere noch immer für einen gemütlichen DVD- Abend! Ich besorge uns das Essen und einen Film und du bringst einen guten Wein mit." Sie klingt als wäre das die beste Idee aller Zeiten. Ich komme nicht umher über ihren Enthusiasmus zu lachen. Wahrscheinlich ist es wirklich die beste Variante um Abstand zu bekommen und eine gute Möglichkeit, um unsere angekratzte Beziehung zu kitten.

„Okay, okay, du Nervenbomber", sage ich leise.

„Ja? War das ein Ja?"

„Ja, das war ein Ja zum DVD-Abend. Aber bitte, keinen schnulzigen Liebesfilm und keine Komödie. Für alles andere bin ich offen."
 

Ich öffne die Nachrichten, nachdem Anni endlich mit ihren Begeisterungstiraden endet und ich mir eine weitere halbwegs ernst gemeinte Zusage abgerungen habe. Vielleicht ist eine Rückkehr in das Gewohnte, in das Unbedarfte wirklich besser. Noch spüre ich Zweifel.

Ich lese die erste SMS zweimal, weil ich sie durch meine verqueren Gedankengänge nicht richtig erfasse. Sie ist von Natalia. Mama ist wieder zu Hause. Nach dem verstehen fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich nehme mir fest vor sie anzurufen. Ich öffne die zweite Nachricht. Mein Herz flattert. Antony.

-Danke für die schöne Nacht. Ich würde mich freue dich heute Abend zu sehen...- Danach folgt seine Adresse. Nicht weit von der Uni entfernt. Beim letzten Mal bin ich nicht dazugekommen, nach seiner Anschrift zu fragen. Die Erinnerung an den Grund lässt mein Herz schmerzend schneller schlagen. Mateo. Der Name formuliert sich spuckend in meinen Kopf. Voller Verachtung und Wut. Seine kalte Stimme und der Blick sind mir so bewusst, wie lange nichts mehr. Was hat Antony nur an ihm gefunden? Eiskalt und berechnend. Auch jetzt verursacht er mir Gänsehaut.

Unwillkürlich frage ich mich, ob sich Antony jemals vollständig von ihm lösen wird. Ich glaube daran, dass der Portugiese es wirklich versucht, aber bisher sind seine Versuche augenscheinlich fruchtlos geblieben. Er hat es hingenommen. Vielleicht weil er vorher keinen Grund hatte, wirklich etwas daran zu ändern? Aber vielleicht hat er ihn jetzt! Mein Herz hüpft, flattert und rotiert. Oder ist es angst? Er sei gefährlich. Antonys Worte. Sie wirkten aufrichtig und besorgt. Er hat Angst um mich. Auch Lukas Worte kommen mir in den Sinn. Der blonde Draufgänger ist gewiss niemand, der sich schnell einschüchtern lässt, doch auch er wirkte mit seiner Aussage aufrichtig.

Wo bin ich nur hineingeraten? Ich sollte die Reißleine ziehen. Abspringen, solange noch keine tiefgehenden Wunden zurückbleiben. Ein feines Seufzen perlt von meinen Lippen, hallt im stillen Raum laut wieder. Es kehrt zu mir zurück und trifft mich mit so viel Zweifel, dass ich mich missmutig auf den Bauch drehe und mein Gesicht in das duftende Kissen drücke.
 

Zum Mittag schmiere ich mir ein paar Brote und setze mich mit einem warmen Tee an den Küchentisch. Irgendwann beginne ich in einer von Maries Zeitungen zu blättern. Ein Fachmagazin für Biologie. Thema Anthropologie. Die Lehre über den Menschen. Ich blättere zu einem Kapitel über die evolutionäre Entwicklung. Darwin und seine Finken. Ich lächele, als ich mich dunkel daran erinnere, dass wir das auch schon in der Schule thematisierten.

„Hey,..." Ich sehe auf, als Ricks Kopf in der Tür erscheint.

„Hey, du bist schon wach?", frage ich verwundert.

„Mehr oder weniger. Ich wollte nicht so lange pennen, weil ich sonst morgen früh nicht aus dem Tee komme. Wir sind um neun Uhr bei meinen Eltern zum Frühstück geladen..." Er macht genau das Gesicht, welches ich auch machen würde. Frühstück bei den Eltern, da muss alles halbwegs normal wirken, sonst beschwört man sofort Sorge und Ängste.

„Da habt ihr das mit Harry Potter gestern aber schlecht geplant, oder?"

„Frauen. Cora ist tatsächlich der Überzeugung, dass sie mir das bereits vor drei Wochen erzählt hat. Vor drei Wochen! Das ist doch ewig her! Ich habe meinen Eltern zugesagt, weil ich es nicht mehr wusste." Mit einem seltsamen Grinsen beginnt er Kaffee aufzusetzen.

„Ist Cora auch wach?", frage ich und räume bereits meine ausgebreiteten Sachen zur Seite.

„Eher nicht. Sie hat sich eben demonstrativ umgedreht und daraufhin gewiesen, dass sie während der Fahrt pennen kann. Ich sitze schließlich hinterm Lenkrad", murrt er mir zähneknirschend entgegen und entlockt mir ein amüsiertes Lachen. Erst als der Kaffee fertig ist, setzen wir die Unterhaltung fort. Leider nicht so unbedarft, wie ich es mir gewünscht hätte.

„Du warst heute Morgen nicht allein unter der Dusche, oder?", fragt er nach einem ersten Schluck und einem begeisterten Seufzer. Ich sehe überrascht auf und meine Reaktion ist somit Antwort genug. Dass ich im nächsten Moment auch noch rot anlaufe, macht es nicht besser. Hat er uns doch gesehen?

„Falls du dich fragst, woher ich es weiß, kann ich dir sagen, dass ich schlicht weg die fremden Schuhe bemerkt habe. Ich kriege ja sonst nicht viel mit, aber die sind mir aufgefallen, weil sie teuer waren." Die Schuhe. Die rumliegenden Klamotten hatte ich in einer schnellen Aktion zusammengesammelt. Doch an die Fußbekleidung habe ich nicht mehr gedacht.

„Dein Kandidat für den komplizierten Männergeschmack?", fragt er und nippt an seinem Kaffee. Rick ist der Einzige, der mir gesagt hat, dass ich trotz aller Widerstände kämpfen soll. Dabei kennt er nicht mal alle Hintergründe. Ich nicke und lehne mich ermattet zurück.

„Und ist das nicht ein Zeichen dafür, dass es doch noch eine Chance für euch gibt?", merkt er an. Womöglich. Vielleicht. Meine Fingerspitzen beginnen aufgeregt zu kribbeln.

„Ja, irgendwie schon, aber es ist noch so viele ungeklärt und verfahren. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich möchte einmal etwas Unkompliziertes haben. Etwas, das erstmal nur gut und schön ist. Ich meine, kompliziert wird es früh genug, oder?" Rick mustert mich aufmerksam, nippt an seinem Kaffee und wackelt mit dem Kopf.

„Ich klinge, wie ein weißbärtiger alter Sack, wenn ich das jetzt sage, aber: Nichts, was sich lohnt zu haben, ist einfach zu kriegen." Für einen Moment krault er sich den nicht vorhandenen, weißen Bart und seine Professor Dumbledore-Pose ist perfekt. Vielleicht doch etwas zu viel Harry Potter für eine Nacht. Ich schmunzele und starre mich dann grübelnd an einem Teefleck auf der Tischplatte fest.

„Ich kann dir nur raten, darüber zu reden. Vor allem mit ihm. Anders lassen sich Probleme nicht lösen", sagt Rick, setzt seine Tasse ab und greift nach meiner zweiten, unangebissenen Stulle. Reden. Das ist dieses Wort schon wieder. Bisher haben Antony und ich das mit dem Reden nicht allzu gut hinbekommen. Zumal ich nur bei den Gedanken an den anderen Mann spüre, wie sich meine Lendengegend regt. Mein Gehirn setzt aus, sobald er mich berührt. Was das angeht ist unsere Beziehung gut und schön.

„Ha, du hast das Sex-Syndrom...", kommt es lachend von meinem Mitbewohner und ich blicke ihm perplex entgegen.

„Das was?", frage ich lachend.

„Ihr landet miteinander im Bett, sobald ihr euch seht, oder? Dein Gesichtsausdruck sprach gerade Bände..." Rick grinst wissend und beißt dann vom belegten Brot ab.

„Na ja, der Sex ist das, was uns zusammengebracht hat. Er war mein erster und bisher einziger One-Night-Stand und dann bin ich ihm mit einem Mal an der Uni wieder über den Weg gelaufen", gebe ich einen weiteren Teil der Geschichte preis. Es klingt, wie der Anfang eines schlechten Films. Rick lauscht aufmerksam, lässt das Brot in seiner Hand sinken und verlangsamt das Kauen.

„Heftig."

„Was ist heftig?" Rick und ich blicken beide erschrocken zu seiner blonden Freundin. Cora steht mit nackten Füßen und in Schlafshorts im Türrahmen. Ihr hübsches Gesicht wirkt ohne Make up noch einen Tick jugendlicher. Es steht ihr. Auch, wenn sie zusätzlich schrecklich müde aussieht. Ich wechsele einen kurzen Blick mit meinem Mitbewohner.

„Bens Studiengang", gibt er ausweichend von sich. Fast perfekt geschwindelt. Ich bin ihm dankbar, auch wenn ich es nicht von ihm verlangt hätte.

„Hm, musst du auch immer so viel lernen, wie Rick?", fragt sie, scheint die Antwort anstandslos hinzunehmen und tapst auf ihren Freund zu, der sie ohne Widerworte auf seinen Schoss Platz nehmen lässt. Rick lächelt und ich fühle mich schlagartig unwohl. Solch Intimität macht mir jedes Mal aufs Neue bewusst, dass das in meinen Fall nie so einfach sein wird.

„Ja. Ich habe auch viele Verordnungen und Gesetzestexte", gebe ich erklärend von mir und räume meine Sachen zusammen. Cora nickt verstehend und lächelt ihren Freund zu.

„So, ich lass euch dann mal brunchen und gehe wieder an die Arbeit", sage ich und greife nach meinem Kram. Ich verwende absichtlich die amerikanische Mahlzeitenfusion, weil es bereits früher Nachmittag ist.

„Hey Ben, wenn es einen Knopf gäbe, der dich zum Punkt Null zurückbringt, würdest du ihn drücken?" Beide blicken mir entgegen. Rick ernst und Cora unschuldig fragend.

„Gute Frage...", kommentiere ich gedankenverloren und lasse die beiden in der Küche zurück.
 

Bis zum Abend zwinge ich mich dazu für den Vortrag zu recherchieren und mein fehlendes Wissen zu ergänzen. Im Grunde zwinge ich mich einfach nur dazu, nicht mehr an Antony und meine Zwickmühle zu denken. Der Punkt Null. Würde ich die Möglichkeit wahrnehmen, wenn es sie gäbe? Ich weiß es nicht. Ich habe Anni zwar zugesagt. Doch in mir kribbelt das unbändige Verlangen Antonys Einladung nachzugehen. Vielleicht gibt es doch eine Chance für uns. Ich sehne mich danach, auch wenn sich jedes Mal die mahnende Vorsicht aus meinem Inneren erhebt. Ihm habe ich noch nicht geantwortet.

Passend dazu vibriert das Telefon auf meinem Tisch. Es ist eine Nachricht von Anni. Sie hat 'Pan's Labyrinth' ausgeliehen. Ich liebe diesen Film. Guillermo del Toro's Meisterwerk und Popcorn. Sehr verlockend. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es bereits halb sieben Uhr. Ich krame mir ein paar annehmbare Klamotten aus dem Schrank und verlasse die WG. Ein erster Regentropfen trifft mich, als ich vor die Tür trete.
 

Mit jedem Schritt wird die Wassermenge, die vom Himmel auf mich herabtropft, mehr. Ich flüchte in den Supermarkt, wische mir ein paar Regentropfen von der Stirn und sehe auf die Uhr. Ich brauche nicht lange, um genau den Wein zu finden, den ich suche. Mädchentraube. Einen süßen Weißwein mit leichter Säure. Bei mir verursacht er vor allem schnelle und heftige Betrunkenheitssymptome, sowie einen mörderischen Kater. Ich zögere, weil sich die Erinnerungen an die katerreichen Tage, wie ein mahnendes Signal in mir ausbreiten. Mit Annis Lieblingswein in meinen Händen streife ich durch die Gänge des Ladens, bleibe bei Knabbereien und anderem Süßen stehen. Ich greife mir ein Packung Mikrowellen Popcorn und sehe mich weiter um. Ich bin wenig Entscheidungsfreudig und auch kein Freund von salzigem Knabberkram. Mein Blick wandert zu den Gummibärchen. Neugierig fahre ich den Sortenreichtum ab, greife nach einer blauen Packung mit Schlümpfen. Auch eine Erinnerung an meine Kindheit. Damals konnte man diese zähen Gummifiguren nur an Einzelständen oder am Kiosk erstehen. Ich denke augenblicklich daran, wie sie einen förmlich die Zähne zusammengeklebten, wie die Zuckermasse im gesamten Mund fest hing und nur schwer zu entfernen war. Ich habe es geliebt, während meine Eltern nur kopfschüttelnd neben mir standen und darum baten, dass ich nicht ersticke. Keine Unmöglichkeit übrigens. Anni hasst sie. Mit einem Lächeln auf den Lippen entscheide ich mich spontan die Packung mit zu nehmen, komme vor der Kasse noch einmal am Weinregal vorbei und bleibe erneut stehen. Mein Blick streift die unzähligen Rotweine. Ich schaue auf den weißen in meinen Händen. Ich drehe die Flasche umher und verlasse den Laden letztendlich mit einem halbtrockenen Roten. Meinen Liebling.
 

Ein letzter Blick auf mein Handy. Wir haben keine genaue Zeit fest gemacht.

Der Punkt Null. Nur ein einziges Mal sehe ich auf, ansonsten sind meine Schritte zielstrebig. Vor der Tür atme ich kurz ein und betätige dann die Klingel. Es dauert einen Moment bis sie sich öffnet.

„Hey,...", sage ich lächelnd.
 

PS vom Autor: Ich danke euch für eure Geduld! Ich war die letzten Wochen durch einen Lehrgang zeitlich etwas begrenzt und bin zu nichts gekommen. Ich hoffe, dass sich das jetzt wieder bessert^^

Ein dickes Danke an euch tolle Menschen <3



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Scorbion1984
2015-09-06T08:35:08+00:00 06.09.2015 10:35
Bin gespannt wie sich Ben entscheidet ,ist für ihn bestimmt nicht einfach !
Von:  Shigo
2015-09-05T19:10:32+00:00 05.09.2015 21:10
Schönes Kapitel :)
Ich hab Geduld :D.. Du hast ja paar ff's am Start. Also bloß keine Hektik :D

Tja Gefühl sind schon so ein Ding..
Entscheidung? Welche bloß?
Tony ist schon so ein süßer, netter aber er hat denn anderen im Rücken..hm. Schwer.. :(

Mach was weiter so :)
Freu mich immer wieder wenn es weiter geht, egal wo :D

Mfg Shigo 🌸

Von:  tenshi_90
2015-09-05T18:46:32+00:00 05.09.2015 20:46
Und das Kraussell des Gefühlschaos dreht sich weiter ... Ich hoffe, Ben trifft die richtige Entscheidung.

Das war mal wieder ein sehr gutes Kapitel =) Mach weiter so


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