Kiss me hard before you go von Karo_del_Green ================================================================================ Kapitel 22: Der feige Weg in die falsche Richtung ------------------------------------------------- Kapitel 22 Der feige Weg in die falsche Richtung In der WG angekommen, führt mich der erste Gang in mein Zimmer. Direkt in mein Bett. Ich lasse mich auf das zerwühlte Nachtlager fallen, schließe die Augen und spüre sofort, dass ich nicht einschlafen werde. Die Frustration darüber, unendlich müde zu sein und dennoch nicht schlafen zu können, legt sich auf meine Glieder, wie tonnenschwere Steine, die mich tiefer und tiefer in die katatonische Dunkelheit ziehen. Was spricht dagegen für eine Weile einfach still liegen zu bleiben? Ein paar Stunden. Ein paar Tage? Nichts spricht dagegen, außer der Tatsache, dass auch ein temporärer deprimierter Anfall nicht gesund ist und ich es gar nicht erst dazu kommen lassen will. Mit diesen Gedanken richte ich mich wieder auf und sehe auf die Uhr. Es ist noch viel Zeit bis Rick endlich aus der Uni eintrudelt. Wann Marie zurückkommt, weiß ich nicht. Da ich ihr aber Bescheid gegeben haben, nehme ich an, dass sie rechtzeitig eintrudelt. Ein weiteres Mal sehe ich auf die Uhr. Keine Veränderung. Ich beschließe in Ruhe duschen zugehen und meinen Körper etwas auf Vordermann zu bringen. Eine Rasur war dringend notwendig und insgesamt kann mir eine Grundreinigung nicht schaden. Vielleicht schaffte ich es ja, die Geschehnisse der letzten Tage von mir zu waschen. Reines Wunschdenken, aber was schadete es? Als ich mich entkleide und vor der Badewanne stehe, entscheide ich mich um und lasse Wasser in die Keramikschüssel laufen. Ich greife nach einem Badezusatz 'Glückliche Auszeit', der auf dem Wannenrand steht und der eindeutig von Marie ist. Ich erschnuppere den zarten Duft von rotem Mohn und Hanf. Wenn das mal keine Ansage ist. Während die Wanne vollläuft, durchstöbere ich ganz unschicklich das kleine Körbchen, in dem Marie weitere Pflegeprodukte aufbewahrt und finde noch ein paar weitere Zusätze. Kuschelbad. Stressfrei. Tiefenentspannung. Nichts davon würde ich in diesem Moment ablehnen. Ich schnuppere mich durch die umfangreiche Auswahl und kann mich im Endeffekt nicht entscheiden. Kurzerhand kippe ich von jedem ein Bisschen hinein und bin der Überzeugung, dass das die beste Variante gewesen ist. Die Gerüche sind so durcheinander, dass ich nicht mehr heraus riechen kann, was zu was gehört. Stressfreie und kuschelige Tiefenentspannung voller Glück. Was will ich mehr? Sie hält eine viertel Stunde an und dann wandern meine Gedanken langsam wieder zurück zu dem Portugiesen. Antonys Blick. Ein tiefreichender Stich, der sich derartig mit Sehnsucht umhüllt, dass ich unbewusst lautstark aufstöhne. Meine Hand gleitet an die Stelle über meinem Herzen. Wann wird es nicht mehr wehtun? Die allumfassende Wärme des Wassers macht mich noch schläfriger. Als ich meine Augen schließe, denke ich darüber nach, wie sein Haar riecht und wie seine Lippen schmecken. Ich fühle, wie der Geschmack über meine Zunge schleicht, blüht und giert und wie der Duft, so klar erinnert, eine Welle der Zufriedenheit durch meinen Körper jagt. Was musste ich mich auch so sehr in diesen Kerl verlieben? Es ist nicht mal logisch. Wir kennen uns kaum, schreit mein Gehirn und mein Herz antwortet, dass das nun so bleiben wird. Ein Seufzer perlt von meinen Lippen. Ein Abenteuer schallt es durch meinen Kopf. Ein Schmerzhaftes. Ich lasse meine Augen geschlossen. Ein Klopfen und ich schrecke hoch. Wasser spritzt durch die heftige Bewegung über den Wannenrand und benetzt den Boden. Ein weiteres Klopfen. „Ben?" Ricks Stimme. Er klingt besorgt. „Ja,...", sage ich fahrig und benommen. Ich sehe mich um, greife nach meinem Handy und stelle fest, dass ich fast 45 min geschlafen habe. Mittlerweile ist das Wasser nur noch eine lauwarme Brühe. Ich sehe, wie die Tür einen Spalt aufgeht und dann Ricks Profil hervorlugt. Er schaut absichtlich nicht zu mir. „Alles okay?" „Ja, ich bin nur eingeschlafen. Wirklich wirksam diese pure Tiefenentspannung", kommentiere ich Ricks Frage und sehe, wie er wissend grinst. „Hast du dich an Maries Badeölen gütlich getan?", kommentiert er und ich erröte prompt. „Erwischt und jetzt weiß ich, was wir ihr zum Geburtstag schenken können", merke ich an, lasse das kalte Wasser kurz plätschern und ziehe den Stöpsel. Ich sehe auf meinen nackten Körper hinab und bin mit der Körperpflege kein Stück weiter gekommen. Meine Fingerspitzen sind komplett verschrumpelt. Unbewusst lasse ich meine Zunge über die Fingerkuppe des Mittelfingers wandern. Ein witziges Gefühl. „Guter Plan! Cora hat auch eine Menge von diesem Kram auch und ich gestehe, dass ich mich ebenfalls ab und an gern von Kuschelbad benebeln lassen", plaudert er amüsiert und lässt mich grinsen. So so, Rick ist als ein ganz kuschliger. "Ansonsten geht es dir gut, ja?" „Ja, bestens. Wirklich!", versichere ich und fahre mir mit den kalten Händen übers Gesicht. „Gut, es war nämlich etwas besorgt. Zimmer leer. Badezimmertür zu. Kein Geräusch zu hören. Das hat Horrorfilmpotenzial." Fatal. Ich verstehe, warum er sich Sorgen gemacht hat. „Stab 1 lässt grüßen, nur das ich keine Heather Graham bin.", plappere ich und greife über die Wanne hinaus zu dem Handtuch, welches ich vorher sorgfältig in Reichweite gelegt habe. Ich denke an die Scream- Filme und beschließe sie demnächst mal wieder auszuleihen. Sie haben während meiner Schulzeit oft für Lacher bei mir gesorgt. Rick lacht ebenfalls. Wenn er das verstanden hat, dann habe ich einen Verbündeten für den Scream- Marathon. „Wenn du eine Heather Graham wärst, dann dürfte ich hier nicht mehr wohnen...Okay, ich warte in der Küche auf dich", gibt mein Mitbewohner lachend von sich und schließt die Tür. Ich stehe auf und stelle endlich die Dusche an. Als mich das warme Wasser trifft, seufze ich genüsslich auf und bleibe erstmal zwei Minuten einfach stehen. Obwohl ich weiß, dass Rick wartet, ziehe ich im Schnelldurchgang mein gesamtes Programm durch und spüre, wie ich mich gleich besser fühle. Ich werfe mir T-Shirt und Jeans über, gehe zu Rick in der Küche, der Kaffee schlürfend die neue Fernsehzeitung liest. Oder eher durchblättert. „Und kommt etwas Spannendes?", frage ich und blicke über seine Schulter auf das aktuelle Programm. Rick stützt seine Wange auf seine Handfläche und sieht zu mir. „Also, wenn du auf Barbies traumhafte Glitzerwelt stehst, dann haben wir heute viel zu gucken." Er grinst und ich ziehe angewidert die Oberlippe nach oben. „Entschuldige, aber ich stehe mehr auf Ken, wie du weißt. Also wenn Ken, der Baumeister dabei ist, gern", kommentiere ich und ernte ein herzhaftes Lachen von meinem Mitbewohner. Das Lachen wandelt sich alsbald in ein äußerst witziges Kichern und Rick legt mir die Hand auf die Schulter, während ich versuche, ein halbwegs ernstes Gesicht zu machen. „Hihi, der war gut, Ben" Auch ich lasse meine Augen über das Fernsehprogramm wandern und festige meinen Plan, demnächst die Horrorfilme auszuleihen. Rick ist der Einzige in unserer WG, der überhaupt einen Fernseher besitzt. Ich bin bereits seit Jahren der Überzeugung, dass es sich nicht mehr lohnt ein derartiges Gerät zu besitzen, weil sich andauernd alles wiederholt und nur noch Mist kommt. Hartz 4-TV und anderer niveauloser Scheiß. Ich richte mich auf und wandere zum Kühlschrank. Ich krame die gekauften Lebensmittel heraus und sehe Rick erwartungsvoll an. „Auf in den Kampf, oder?", kommentiert Rick meinen Blick und richtet sich auf. Er schnappt sich ein Messer und lässt sich von mir instruieren. Wie erkläre ich ihm, dass ich im Grunde keinen Plan habe? Egal, was ich sage es wird so oder so schnell deutlich. Ich stelle das gefrorene Gemüse auf dem Herd und stelle die Platte an. Rick macht die Platte wieder aus und gibt etwas Wasser dazu. Gemüse braucht nicht so lange, wie die Kartoffeln. Wir schälen Kartoffeln und Rick philosophiert eine Weile über die allgegenwärtige Notwendigkeit von Butter beim Kochen. Cora und ihre Mutter würden stets fettfrei kochen. Seine Mutter schwört auf Butter. Sie nimmt immer reichlich. Cora meckert jedes Mal. Als die Kartoffeln still vor sich hin kochen, widmen wir uns dem Gemüse. Gerade als er einen großen Schwung Butter in die gesunde Komponente des Mahls haue, kommt Marie rein und beginnt den Kopf zu schütteln. „Das habe ich jetzt nicht gesehen,...", flötet sie uns entgegen und verschwindet wieder aus der Küche. Rick grinst, schabt noch eine weitere Flocke Butter ab und streicht sie am Rand des Topfes ab. Dann sieht er dabei zu, wie sie durch den heißen Dampf langsam in den Topf rutscht. Perfide. Immerhin darf sich das Gemüse jetzt ernsthaft Buttergemüse schimpfen. Als wir das Braten des Fleisches hinter uns gebracht haben, rufen wir Marie und bestreiten ihren Vorwurf, dass das gesamte Menü verbuttert ist. Wir argumentieren mit garantiertem Geschmack und Ausgewogenheit. Schließlich ist an den Kartoffeln schließlich keine. Ich genieße die heitere Stimmung und kleinen Spitzen, die der Reihe nach umgehen. Es lässt mich für ein paar Augenblicke vergessen. Nur ab und an wirft mir Rick einen prüfenden Blick zu. Ein ebensolcher von Marie. Obwohl ich mit ihr nie explizit darüber gesprochen habe, bin ich mir sicher, dass sie sich durch Antonys Besuch und allem drum herum einiges Zusammenreimen kann. Keine der beiden fragt nach meinem Befinden. Ich bin ihnen dankbar. Mir waren die Probleme, der anderen schon immer lieber als meine eigenen und so vernehme ich mit einem gewissen Grad an Zufriedenheit, wie Marie sich über ihre Dozentin beklagt, die ihren Studenten eine Hausarbeit nach der nächsten vor die Füße wirft und sich dann gefühlte Ewigkeit zum Korrigieren lässt. Sie gibt kaum Vorlesungen, sondern reduziert ihre Lehrmethode auf reines Selbststudium. Marie ist frustriert. Ich kann es nachvollziehen. Rick wettert und präsentiert ein eigenes Beispiel konfuser Lehrarten. Da kann ich mit meinem eingetragenen und kaum anwesenden Professor noch sehr zufrieden sein. Als ich nach einer ausreichenden Verdauungspause vorschlage als Nachtisch das gekaufte Vanilleeis zu verspeisen, beichtet mir Marie, dass sie gestern Nacht in einem Frustanfall die halbe Packung geleert hat. Rick und ich beschließen, dass sie dafür nur einen Happs bekommt und sie gibt sich erstaunlich schnell damit zufrieden. Den Rest vertilgen Rick und ich, während wir lachend darüber philosophieren, dass Menschen die kein Eis mögen Aliens sein müssen. Erst weit nach Mitternacht lösen wir unsere heitere Runde auf. Als ich noch einmal kurz im Bad verschwinde, kann ich höre, wie Rick eine telefonische Diskussion führt. Anscheinend hat er vor lauter heiterer Quatscherei vergessen sich bei Cora zu melden. Die Eifersucht schlägt wieder zu. Ein definitiver Minuspunkt für Beziehungen. Zum Glück sind alle Menschen gleich. In Maries Zimmer ist das Licht bereits aus. Ich kehre in mein ruhiges Zimmer zurück und sehe, dass auch mein Handy munter vor sich hin blinkt. Anni. Sie fragt nach meinem Befinden und ich entscheide mich dafür, ihr morgen erst zu antworten. Als ich beim Schließen der Nachricht im Telefonbuch lande, ist es Antonys Name, der mich stocken lässt. Er befindet sich direkt hinter dem meiner problematischen Tagesabschnittsfreundin. Ich sollte seine Nummer löschen. Nicht, dass ich jemand bin, der bei Trennung mit Telefonterror antwortet oder dergleichen, aber allein der Anblick seines Namens hat bereits dafür gesorgt, dass mich dieses beklemmende Gefühl überschwemmt. Ich spüre, wie sich mein Herz gegen meinen Brustkorb rammt. Sein Name ausgesprochen, geflüstert, nur gedacht und mein Körper randaliert. Mir wird in diesem Augenblick klar, dass ich morgen im Seminar auf ihn treffen werde. Eineinhalb Stunden. Im Moment klingt es nach einem unmöglichen Unterfangen. Mein Daumen schwebt geschlagene 5 Minuten über den 6 Buchstaben und dann lasse ich das Telefon unter meinem Kopfkissen verschwinden. Ich drehe mich auf die Seite, ziehe meine Beine nach oben und bleibe in dieser erbärmlichen Fötusstellung liegen. Ich drücke meine Nase in das frischgewaschene Kopfkissen, seufze unentwegt und starre an die Wand. So lange bis ich einschlafe. Wann weiß ich nicht. Als ich am Morgen erwache, habe ich das Gefühl nicht einen Moment lang wirklich geschlafen zu haben. Ich ziehe das Kopfkissen in meine Arme, drücke es fest und bleibe noch eine Weile liegen. Die Vorlesungen am Vormittag stehe ich durch. Doch mit jeder Minute, in der das Seminar näher rückt, werde ich unruhiger. Ich spüre es, dieses bedrückende Gefühl, welches danach schreit, dass ich mich ihm nicht aussetzen will. Dass ich seinen Blick nicht auf mir spüren will und dass ich nicht bei jedem Wort darüber nachdenken möchte, was passiert wäre, wenn. Meine Fingerspitzen tippen abwechselnd von Daumen zu kleinem Finger gegen meinen Oberschenkel. Eine stille Melodie der Feigheit, die mir bald einen gedankenverlorenen Ausweg bietet. Vor der Tür zum Seminarraum bleibe ich stehe. Unwillkürlich und wie aus Geisterhand. Es ist wie eine unsichtbare Sperre, die mich daran hindert den Raum zu betreten. Sie ist nur in meinem Kopf. Ich höre die Stimmen. Leises Getuschel. Lautes Lachen. Als die Tür auf geht und mir ein Kommilitone entgegen kommt, schrecke ich zurück. Ich werfe nur einen kurzen Blick in den Raum und natürlich sehe ich Antony, der lässig an einen der vorderen Tische lehnt und sich mit zwei Studentinnen unterhält. Sein Lächeln wirkt seltsam müde und das Bedürfnis mich in seine Arme zu werfen und darum zu betteln, dass er mir verzeiht, wird so stark, dass ich mich langsam, aber sicher darin verliere. Ich kann das nicht. Ich kann nicht in seiner Nähe sein. Also wende ich meinen Blick ab und gehe. Erst als ich draußen vor der Uni stehe, habe ich das Gefühl, wieder atmen zu können. Ich höre, wie sich eine Autotür öffnet und schließt. Der gestartete Motor röhrt und ich kann der schwarzen Limousine nachsehen, als sie an mir vorbeifährt. Getönte Scheiben und ein fremdes Kennzeichen. Solche Wagen sieht man hier an der Universität nicht so oft. Ich sehe ihm nach. Die nächsten Unitage verbringe ich, mehr schlecht als recht, hinter mich. Ich bin unkonzentriert und abgelenkt. Sobald ich das Universitätsgebäude betrete, spüre ich, wie sich mein Puls beschleunigt und ich ständig hin und her schaue, in Furcht und quälenden Hoffnung, den anderen Mann zu sehen. Es macht mich fertig. Als Selbstbestrafung zwinge ich mich das gesamte Wochenende dazu, alle Skripte und Vorlesungsfolien durchzuarbeiten. Ich habe das Gefühl schon ein halbes Semester verpasst zu haben. Dabei waren es nur ein paar unkonzentrierte Wochen. Mir graut es bereits vor den Prüfungen. Am Sonntagabend bin ich mir sicher, dass ich den Einführungskurs von Professor Stroud im dritten Semester nachholen werde. Allein die Vorstellung jede Woche auf Antony zu treffen und am Ende bei ihm eine Prüfung abzulegen, mündlich und im direkten Kontakt, häutet mich bei lebendigem Leib. Es gerät alles durcheinander. Familie. Uni. Alles. Ich bin frustriert und langsam verzweifelt. Am Sonntag lasse ich meinen Kopf gerade mitleidig auf die harte Tischplatte meines Schreibtischs klopfen als zwei Mails auf meinem Laptop eingehen. Die eine informiert mich darüber, dass die kommende Montagsvorlesung der Einführungskurses von Professor Stroud abgehalten wird und die andere ist von einem Kommilitonen, der für eine Hausaufgabe nach langem hin und her mich als Partner zugewiesen bekommen hat. Mir bleibt auch nichts erspart. Ich werde ihm sagen müssen, dass ich den Kurs dieses Semester nicht zu Ende bringe. Ich hadere mit mir. Es ist im Grunde schrecklich albern und im höchsten Maß unreif. Ich sollte besser damit umgehen können. Warum kann ich mich nicht einfach durchbeißen? Ich müsste mich erwachsen und meinem Alter entsprechend verhalten, aber ich schaffe es einfach nicht. Nach einer Weile apathischem auf den Bildschirm starren, schreibe ich dem Kommilitonen eine Absage und verfluchen selben Moment meine Feigheit. Nach den ersten Vorlesungen am Montag verlasse ich gemeinsam mit einem meiner Kommilitonen den Hörsaal. Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Vielleicht hat er ihn mir auch nie genannt. Bei den vielen neuen Gesichtern wird er es mir hoffentlich nachsehen. Sehr wahrscheinlich sogar, denn es fällt ihm seit Minuten nicht auf, dass ich nicht zu höre. Er schwadroniert überschwänglich über die allzu offensichtliche Unfähigkeit des Dozenten den Stoff auch nur im Geringsten spannend zu gestalten. Ich kann nicht mehr als ihm beipflichten. Ökonomie ist trocken und zusammen mit diesem Dozenten wird es zur Wüste Gobi. Interessanter Weise und wie ich erst letztens gelesen habe, ist der trockenste Ort der Welt jedoch ein Tal in der Antarktis. Maries National Geographic sind immer wieder spannend. Außerdem ist es selten so, wie es scheint, schallt es durch meinen Kopf und nur schwer kann ich mir ein resigniertes Seufzen verkneifen. Mein Gesprächspartner ist mittlerweile bei der mäßigen Präsentation unserer Dozenten angekommen. Oder schon wieder. Seine Beschwerde gleicht einer Dauerschleife. Ich persönlich bin über jede Art von Folie erfreut. Alles, was man während der Vorlesungen nicht versteht und nicht schafft mitzuschreiben, kann man später gut nach lesen. Ohne Folien ist das jedoch unmöglich. Mein Kommilitone bringt in ad hoc genau dieses Argument und ich komme nicht umher zu grienen. Ich lasse meinen Blick schweifen und sehe Antony im Gang stehen. Er unterhält sich mit einem anderen Dozenten. Unbewusst verlangsamen sich meine Schritte. Es nützt nichts, denn in diesem Moment sieht er auf. Seine kühlen blaugrünen Augen erfassen mich und ich widerstehe dem Drang mich sofort umzudrehen und wegzulaufen. Er richtet noch ein paar Worte an seinen Gegenüber. Ein Nicken und er sieht wieder zu mir. Als ich an ihm vorübergehe, halte ich unbewusst die Luft an, schließe meine Augen und spüre auf einmal seine Hand an meinem Oberarm. Er hält mich zurück. Mein Herz setzt aus und schlägt erst in dem Moment weiter, in dem ich ausatme. Natürlich bleibe ich stehen. „Herr Kaufmann, darf ich Sie einen Moment sprechen?", fragt er ruhig und ich spüre einen feinen Schauer, den seine Stimme in mir auslöst. Ich will, dass er meinen Namen sagt und hasse mich im nächsten Moment dafür. Mein Gesprächspartner merkt erst ein paar Meter weiter, dass ich nicht mehr neben ihm laufe und wendet sich um. Mein Name dringt gerufen durch den Flur und zur gleichen Zeit von Antony geflüstert an mein Ohr. Unwillkürlich schließe ich meine Augen, spüre das intensive Kribbeln in all meinen Gliedern und atme schwer. Ich wende mich zu dem Mann, der in diesem Moment direkt neben mir steht. Sein Blick verrät mir nicht, weswegen er mich sprechen will. Da wir aber mitten auf dem Flur stehen, wird es um die Uni gehen. Ich verdeutliche meinen Kommilitonen, dass ich ihn nicht weiter begleiten werde und bleibe versucht ungerührt bei Antony stehen. Auch er lässt seinen Blick kurz schweifen, sieht zu meinem vorigen Gesprächspartner und dann zu dem anderen Dozenten, der nur ein paar Meter von uns entfernt steht und sich mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin austauscht. „Lass uns in mein Büro gehen, bitte." Mein Blick sagt deutlich, dass ich das nicht für notwendig erachte, doch Antony wiederholt die Bitte und ich knicke ein. Er lässt mich vorgehen. Seine Hand berührt für diesen Moment meine Schulter, während er mich scheinbar durch eine Masse Studenten führt. Mein Puls steigt mit jedem Schritt, den wir auf die Tür seines Büros zu machen. Ich muss nicht lange darüber nachdenken, worüber er mit mir sprechen will. Sicher hat man ihm von meiner Absage gegenüber dem anderen Studenten erzählt. Leise schließt er die Tür. „Mir wurde zugetragen, dass du die Zusammenarbeit für das Projekt abgelehnt hast. Wieso? Hast du ein Problem mit dem Kommilitonen?" „Nein." „Was dann? Es ist eine Partnerarbeit, die kannst du nicht allein machen." Nicht allein ist die Definition von Partnerarbeit. Ich schweige ihn an und weiche einfach nur seinem Blick aus. „Benedikt, was soll das?" Mein ausgesprochener Name erzeugt einen heftigen Schauder, der meinen gesamten Körper beansprucht. Ich mag es nicht einfach, wenn jemand meinen vollständigen Namen ausspricht, doch wenn er ihn sagt, ist das Gefühl ein anderes und es ist viel intensiver. Heiß und sehnsüchtig. „Du hast bereits unentschuldigte Fehlstunden und du weißt, dass das Seminar eine Anwesenheitspflicht hat. Also, was soll das?", fragt er mich und klingt schrecklich pädagogisch. Es nervt mich. „Na ja, einmal noch und die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns sehen müssen minimiert weiter. Das ist doch das, was du willst." Noch einmal Fehlen und er kann mir das Seminar als nicht bestanden listen. Antony seufzt deutlich entgeistert. „Was geht es dir darum? Du setzt deine Ausbildung aufs Spiel!" „Ich hole den Kurs im dritten Semester nach", schmettere ich sein Kommentar ab. „Dann werde ich das Seminar noch immer leiten. Die Vorlesungen übernimmt der Professor, aber für den Rest bin ich zuständig. Diese Taktik funktioniert also nicht", erläutert er mir aufgeregt und greift nach meinem Handgelenk. Unbewusst zieht er mich näher an sich heran. Mein Herz beginnt zu pulsieren. Unrhythmisch und nervös. Ein Stechen erfasst mich als mir die wohlige Wärme bewusst wird, die sich augenblicklich von meinem Arm über meinen ganzen Körper ausbreitet. „Es ist keine Lösung", sagt er noch etwas deutlicher hinterher. „Vielleicht nicht, aber... vielleicht schaffe ich es dann in deiner Nähe zu sein ohne das Gefühl zu haben keine Luft zu bekommen...es tut einfach zu sehr weh", sage ich ehrlich. Sein Griff wird fester. Für einen Moment wird die Kühle seiner Augen weich und warm. „Ben, ich bitte dich...", setzt er an, doch die Tür, die aufschwingt, unterbricht ihn. Ich löse meine Hand aus seinem Griff. „Antony hast du, eventuell.... Oh, verzeihen Sie." Als Professor Stroud den Raum betritt, weiche ich automatisch noch ein Stück weiter zurück. Antony Augen schließen sich für einen Moment und er atmet angestrengt aus. Erst danach wendet er sich dem Professor zu. „Wenn das alles ist, dann werde ich jetzt gehen", komme ich beiden zu vor, sehe keinen von beiden an und wende mich zur Tür. „Wir sind noch nicht fertig, Herr Kaufmann. Einen Augenblick. Was brauchen Sie, Professor?" Obwohl mich seine bestimmenden Worte maßlos ärgern, bleibe ich stehen. „Kaufmann? Sie sind einer der Studenten aus dem Einführungskurs. Oh, ich glaube, ich habe eine ihrer Hausaufgaben gelesen", beginnt Professor Stroud zu erzählen und ich sehe ihn verwundert an. Er erinnert sich an meinen Namen? Bei der Masse an Studenten ist das reichlich eigenartig. Ich ertappe mich erneut dabei, dass ich mich wundere, wie adrett und jung er wirkt. Seine graumelierten Haare sind modisch zurück gekämmt und auch sein legerer Look überrascht mich. Jeans und ein einfach dunkelblaues Hemd. Antony nickt an meiner Stelle bestätigend und sieht zu mir. „Oh, ich erinnere mich. Sie haben in der ersten Hausaufgabe ein paar interessante Aspekte angesprochen. Sie haben sie aber nicht weiter ausgeführt. Sehr schade! Antony, Sie haben mich darauf aufmerksam gemacht, oder?", säuselt er weiter und sieht immer wieder überlegend nach oben. „Wir hatten eine Wortzahlbegrenzung", kommentiere ich lapidar. Der Professor lacht auf, während Antony seufzt. „Ja, Herr Rochas macht das gern." „Bei 40 Arbeiten pro Seminar muss ich es begrenzen, damit mir nicht einige Studenten zweistellige Seiten Beiträge abliefern", erklärt Antony und klingt für einen Moment, wie trotziges Kind. Sein Blick wandert unauffällig zu mir. Stroud hat gut reden, denn er muss diese ganzen Arbeiten nicht lesen und nicht korrigieren. „Das ist vollkommen legitim." Er lacht ein weiteres Mal auf und macht dann eine beschwichtigende Geste. Es ist offensichtlich, dass sie ein mehr als arbeitsbezogenes Verhältnis haben. Ich fühle mich unwohl und fehl am Platz. Ich wende meinen Blick ein weiteres Mal ab und merke erst, als Antony erneut das Gespräch auf Strouds Anliegen lenkt, dass ich mir abwehrend die Arme vor den Bauch gelegt habe. „Was kann ich für Sie tun, Professor?", hakt Antonys nach um das Ganze zu beschleunigen. Sein Blick liegt auf mir und er wandert nur zögernd zu dem älteren Mann zurück. Auch seine Arme verschränken sich vor seiner Brust. „Ich suche ein paar Unterlagen und das aktuelle Vorlesungsverzeichnis, aber das kann warten." „Ich werde es Ihnen gleich vorbeibringen", schlägt Antony vor, während sich der Professor bereits zur Tür begibt. Er winkt es nur ab und verschwindet. Die Tür schließt sich mit einem leisen Klicken und unwillkürlich lausche ich den Schritten, die irgendwann verstummen. Stille. Keiner von uns beiden sagt etwas. Es ist noch unangenehmer als vorher. Mit ihm allein in diesem Raum zu stehen, packt mich bei den vielfältigen Emotionen, die ich seit Tagen empfinde und vor denen ich andauernd davon laufe. Nichts würde ich in diesem Moment lieber tun als wegrennen, doch meine Füße bewegen sich nicht. Er hat mir, bevor wir unterbrochen wurden, etwas sagen wollen. Ich fürchte mich vor seinen Worten und dennoch sehne ich sie mir herbei in der blinden Hoffnung, dass sie etwas Positives hinterlassen. So absurd es auch ist. Mein Herz schlägt noch immer schmerzend für ihn und das wird es auch noch lange tun. Das weiß ich. So ist es immer bei mir. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Antony seine Arme sinken lässt. Im Grunde fallen sie fast resignierend nach unten und auch seine Körperhaltung krümmt sich. Der Stolz und auch die innere Stärke scheinen für einen Augenblick vollkommen verschwunden. Es geht ihm nicht gut und obwohl ein klein wenig Genugtuung in mir kitzelt, überwiegt die lähmende Traurigkeit darüber, wie es mit uns geendet hat. Seine Finger durchfahren sein Haar, bringen es durcheinander und wecken in mir den Wunsch, es für ihn zu tun. Er atmet tief und langsam sehe ich, wie sich seine Schultern wieder straffen. Doch Stolz und Stärke sind nur ein schattenhaftes Flackern. „Ich bitte dich inständig darüber nachzudenken, ob du den Kurs wirklich abbrechen willst. Ich habe deine Fehltage noch nicht eingetragen. Falls du dich für den Kurs entscheidest, bleiben sie vergessen, aber wenn du nächste Woche auch nicht kommst, dann werde ich deine Entscheidung akzeptieren und den Abbruch vermerken." Erst nachdem er fertig ist, sieht er mich an. Ich nicke nur knapp und er tritt seufzend hinter seinen Schreibtisch. Das Gespräch ist beendet und das, was er vorhin sagen wollte, bleibt unausgesprochen. Ich trete aus seinem Büro. Meine Hand verweilt einen Moment an der geschlossen Tür und als ich mich umwende, sehe ich den Professor im Türrahmen seines Büros stehen. Er sieht mich direkt an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)