Kiss me hard before you go von Karo_del_Green ================================================================================ Kapitel 16: Die Wahrheit im spöttischen Lächeln der Ehrlichkeit --------------------------------------------------------------- Kapitel 16 Die Wahrheit im spöttischen Lächeln der Ehrlichkeit „Huch? Ben? Warum sitzt du hinter der Tür?", vernehme ich Ricks Stimme und sehe nicht auf. Das Rascheln von Kleidungsstücken ist zu hören. Das Fallen eines Schlüssels auf Holz. Ich rege mich nicht. Erst jetzt scheint Rick Besorgnis ihn einzuholen, denn er hockt sich vor mich. Ich spüre seine warme Hand an meinem Unterarm und vernehme die Sorge in seiner Stimme nur dumpf. „Hey, ist was passiert? Bist du okay?", fragt er leise. Ich schließe meine Augen und kriege einfach die Bilder von Antony und dem schwarzen gekleideten Mann nicht aus meinen Kopf. „Benedikt." Erst als Rick meinen vollständigen Namen benutzt, sehe ich auf. Ich weiß nicht, wie ich eigentlich aussehe. Doch anscheinend gebe ich keinem guten Anblick ab, denn Ricks Blick wird immer besorgter. „Na komm, ich helfe dir hoch. Hier ist es doch unbequem und kalt", sagt er ruhig und zieht mich hoch, in dem er nach meinem Arm greift. Ich lasse es geschehen. Meine Beine sind taub und ich brauche Rick zu Stabilisierung. In der Küche stellt mir er ein Glas Wasser vor die Nase, doch ich greife nicht danach. „Ich muss dir etwas sagen", sage ich unvermittelt und höre, wie mein Mitbewohner in seinen Bewegungen innehält. Ich fühle mich in diesen Moment so taub, dass ich den Ärger, die Wut oder den Zorn den Rick mir entgegen bringen könnte, einfach hinnehme. Er soll sich nicht um mich kümmern und irgendwann davon überrascht werden. „Ich bin schwul", spreche ich es nun aus ohne ihm die Möglichkeit zu geben etwas im Vorfeld zusagen. „Oh, puh...ich dachte schon, da kommt jetzt etwas Ernstes", kommt es verdattert von dem anderen und meine Fassade beginnt langsam zu bröckeln. „Das erklärt, natürlich warum du vor ein paar Tagen so seltsam reagiert hast." Ich höre, wie er den Wasserkocher anstellt und zwei Tassen aus dem Schrank nimmt. „Das ist alles?", frage ich leise und doch etwas perplex. „Ja, warum?" „Ich dachte, du wirst sauer." „Sauer? Warum sollte ich? Ich bin nur etwas enttäuscht, weil du es mir nicht von Anfang an gesagt hast." Genau, wie es Marie vermutet hat. In mir breiten sich ein wenig Erleichterung und im gleichen Maß Schuld aus. Ich beobachte, wie er Kaffee einfüllt und dann aufgießt. Er stellt die Tasse auf den Tisch und setzt sich mir gegenüber. „Marie weiß es längst, oder?", fragt er und ich nicke. „Ja, sie hat es sich zusammen gereimt." Sie ist auch einfach öfter mit mir zusammen in der WG. Die Punkte, die sie dazu veranlasst haben, erläutere ich nicht. Der Kaffee riecht anregend und ich greife nun doch nach der warmen Tasse. „Tut mir leid, dass ich nicht ehrlich war. Ich bin was Outings angeht ein wenig vorbelastet..." Rick nickt verständnisvoll. „Schon gut, ich verstehe das. Das war bei meinem Bruder nicht anders." Ricks Bruder ist also schwul. Ich komme mir immer dämlicher vor, aber woher hätte ich das wissen sollen? Ich fahre mir mit der Hand kurz über die Stirn und dann über die Lippen. „Erzählst du mir, warum du so tief traurig drein schaust?" Er nippt an seinem Kaffee. Ich denke an Antony und erneut wird das Gefühl der Enttäuschung entflammt. Gänsehaut bildet sich an meinem Hals und meine Hand beginnt zu zittern. Meine Fingerkuppen tippen im rasenden Tempo gegen die kalte Oberfläche des Tisches. Ich bekomme sie nicht beruhigt und ziehe die Hand unter den Tisch. Rick hat es sicher gesehen. Ich will ihn mit meinen Problemen nicht nerven. Ihm aber auch nicht gegen den Kopf stoßen, da ich sehr froh bin, dass er mir nicht sauer ist. Ich habe nie gedacht, dass ich irgendwann mit ihm am Tisch sitze und so ein Gespräch führe. Ich kann es nicht. Ich bin weniger offen und ehrlich, als ich vorgebe zu sein. Zu dem weiß ich nicht, wie ich ihm erklären soll, dass ich mit meinen Dozenten schlafe und nun mit der Tatsache konfrontiert bin, dass er eigentlich liiert ist. Seine Augen beobachten mich aufmerksam und mir zieht sich nur noch mehr der Brustkorb zusammen. Ich versuche ein paar Worte zu formulieren, doch sie er ergeben bereits in meinem Kopf keinen Sinn mehr. Kurz klappt mein Mund auf. Ohne Effekt. Also mache ich ihn wieder zu. „Scheint kompliziert zu sein!", interpretiert Rick meinen traurigen Versuch. „Ich nehme mal an, dass es nicht um eine schlechte Note geht? Es ist zu früh im Semester für ein Notendrama", mutmaßt er verspielt, ohne, dass ich mich nicht ernstgenommen fühle. Ich sehe meinen Mitbewohner nasekräuselnd an. Rick tippt sich gegen das Kinn. „Hm, dein Lieblingseis kann ich dir auch nicht weggegessen haben, denn wir haben keins. Was ist dein Lieblingseis? Ich könnte welches besorgen?", schlägt er vor und lässt mich tatsächlich schmunzeln. "Du siehst, wie ein Erdbeereis-Fan aus", rät er weiter. "Fast. Himbeere und Zitrone", gestehe ich. Am liebsten in Kombination. Ich mag lieber Sorbets und Mousse. Und wieder sind meine Gedanken bei Antony und unserem geplanten Abend. Ich höre Rick weiterhin locker plappern, aber ich reagiere nicht. Ich hätte vorsichtiger sein soll, mahnt es in mir. Vielleicht hätte ich auf die belehrenden Stimmen hören sollen. Es war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ricks Finger umspielen den Griff der Tasse und ich beobachte sie dabei. Seine Versuche mich aufzumuntern und mir zu helfen, ehren ihn sehr. Aber ich bin noch nicht so weit. „Ich kann einfach nicht darüber reden...noch nicht. Aber danke", flüstere ich und ringe mir ein Lächeln ab. Ich begreife es noch nicht. „Hey, du hast mir bei Cora auch sehr geholfen und wenn du später reden willst. Du weißt, wo du mich findest", sagt er einfühlsam und ich nicke es dankbar ab. Ich richte mich auf, doch Rick hält mich noch kurz zurück. Seine Hand an meinem Handgelenk. „Hey,... ich verspreche dir, dass ich dir dein Lieblingseis in 15 Minuten besorgen kann." Ich nicke und verschwinde in mein Zimmer. In Mitten des Raumes bleibe ich stehen. Mein Blick fällt sofort auf das Bett. Ich spüre, wie sich mein Herz erneut schmerzhaft verkrampft als die Bilder seines schlafenden Körpers durch meinen Kopf geistern. Das ruhige und entspannte Gesicht. Ich habe das Gefühl, dass sein Geruch auf einmal das gesamte Zimmer erfüllt. Es geht vom Bett aus und obwohl meine Glieder noch immer taub sind, lasse ich mich vor das Bett nieder. Ich reiße die Bezüge von Decke und Kissen und verzweifele bei dem Versuch das Laken aus der hinteren Ecke zu zerren. Die Matratze hebt sich an, doch das Betttuch hängt fest. Ich ziehe erneut daran, doch nichts. Mit einem lauten Klappern fällt Matratze zurück auf den Lattenrost. Genau in diesem Moment beginnt mein Telefon zu klingeln und ich erstarre. Die freie Hand tastet nach dem Handy in meiner Hosentaschen. Antonys Name leuchtet mir entgegen. Mit der anderen Hand ziehe ich ein weiteres Mal am Laken. Nichts. Meine Hand krallt sich nur noch fester in den Stoff. Mit Tränen in den Augen lasse ich mein Gesicht endgültig in die vor mir liegende Decke fallen. Selbst diese riecht ohne Bezug nach Antony. Das Klingeln hört nicht auf. Eine ganze Weile bleibe ich so vor meinem Bett sitzen und weine, während ich dabei zusehe, wie das Leuchten meines Displays nicht endet. Ich bette mein Gesicht auf die Seite und starre zu meinem Schreibtisch. Meine Hand streckt sich noch einmal nach dem Laken aus. Ich ziehe nur minimal an dem Stoff und sofort löst sich die Ecke und ich richte mich wieder auf. Das Handy lege ich einfach zur Seite. Die Tatsache, dass er nach alledem noch immer unbekümmert unseren gemeinsamen Abend plant, verletzt mich, auch wenn ich weiß, dass er nicht ahnen kann, dass ich von ihm und dem Mann in Schwarz weiß. So sehr es mich auch verletzt, so sehr beginnt die Wut in mir zu brodeln, weil er mit vollem Bewusstsein zweigleisig fährt. Wie kann er das tun? Wie habe ich mich nur so täuschen lassen können? Wie hat er mich derartig einlullen können? Wieso glaubte ich, dass ich ihm etwas bedeuten könnte? Er hat es gesagt! Er sagte es mir direkt ins Gesicht. Bisher bin es immer nur ich gewesen, der eifersüchtig war. Ich denke an Antony. Wie ehrlich war dessen Eifersucht, wegen des Zigarettenschachtelirrtums von Luka wirklich gewesen? Vielleicht hatte er nur Angst gehabt, dass ihm jemand ein Spielzeug wegnimmt. Der Gedanke daran zieht mich immer tiefer in ein dunkles Loch. Ich lege meinen Kopf noch einmal zurück auf die Matratze und schließe die Augen. Vielleicht wäre es besser gewesen ihn sofort mit meinem Wissen zu konfrontieren. Doch ein Aufeinandertreffen mit ihm und seinem Partner hätte ich nicht überstanden. Was hätte ich ihnen entgegensetzen können? Antony würde alles abstreiten und zum Schluss stände ich, als dummer, kleiner Student da, der sich in seinen Dozenten verliebt hat und die Signale völlig falsch interpretierte. Niemand würde mir in diesem Moment Glauben schenken. Doch nun geht Antony davon aus, dass ich morgen zu ihm komme und wenn ich nicht auftauche, wird er versuchen mich zu erreichen. So wie eben. Ich weiß schon jetzt, dass ich es nicht schaffe an das Telefon zu gehen. Ich werde es anstarren und im schlimmsten Fall einfach anfangen zu weinen, ohne dass sich damit irgendetwas klärt. Ich höre, wie sich die Haustür öffnet und schließt. Marie. Ich bleibe unbeweglich sitzen. Auch als es nach einer Weile an meine Tür klopf und sie danach fragt, ob ich mit essen will. Ich verneine dankend und ziehe nur die Decke dichter an meinen Kopf. Irgendwann schlingen sich meine Arme um den glatten Stoff und schließe die Augen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Mir fehlt der Mut um Antony zu Rede zu stellen, aber ebenso schwindet meine Kraft das Ganze still zu ertragen, da sich so keines der Probleme löst. Erneut herrscht absolute Leere in meinem Kopf. Irgendwann schlafe ich in der sitzenden Position ein und erwache am Morgen mit schmerzenden Knochen und steifem Rücken. Zurück ist mein knackiges Alter. Kälte zieht sich durch meinen Körper und sie verschwindet auch nach einer langen, warmen Dusche nicht. Ich stehe im Türrahmen meines Zimmers und sehe auf die abgezogenen Betthüllen. Ich atme tief ein und bleibe dennoch stillstehen. Ich atme wieder aus und schaffe es noch immer nicht meine Füße zu bewegen. Die ganze Nacht über benebelte mich Antony imaginärer Geruch und der Gedanke ihn nun wieder zu riechen, verursacht mir nahezu Angstzustände. Ein weiteres Mal atme ich geräuschvoll ein, mache die fehlenden Schritte, klaube den Stoff zusammen und stopfe ihn ungesehen in die Wäschetrommel der Maschine. Ich mache mir keine Gedanken über weitere Wäschestücke, sondern schalte die Maschine sofort ein. Erst jetzt atme ich heftig wieder aus. Mein Puls rast. Für den Rest des Tages verkrieche ich mich in mein Zimmer und versuche einige Vorlesungsfolien durchzugehen. Ich zwinge mich dazu, doch mit jeder herannahenden Stunde unseres eigentlichen Treffens fällt es mir schwerer. Irgendwann sitze ich mit dem Stift in der Hand einfach da und starre an die Wand. Nach dem ersten Klingeln meines Telefons schalte ich es ab und lege mich ins neubezogene Bett. Ich rieche Waschmittel und Weichspüler. Meine Finger streichen über das glatten Stoff des Kissenbezugs und ich brauche ewig um wirklich einzuschlafen. Irgendwann mischen sich die Worte meines Vaters dazu, wie schlechte Kommentare zu dem Best of's meiner Unzulänglichkeiten. Mein Vater ist der Überzeugung, dass meine Neigung blanker Hohn und reiner Selbstbetrug ist. Eine Strafe seiner eigenen Unzulänglichkeiten und ein deutliches Zeichen meiner fehlenden Liebe zu ihm. Warum sonst sollte ich so was tun? Doch, das stimmte nicht, aber mein Vater versteht es nicht. Es hat nichts mit ihm zu tun und es lag gewiss nicht daran, dass ich ihm damit verdeutlichen will, wie wenig mir meine Familie bedeutet. Ich habe trotz aller Strenge meine Eltern immer geliebt und ich werde auch nie damit aufhören. Dennoch hallen nun wieder seine Worte durch meinen Kopf, die mir die Schuld dafür geben und mir verdeutlichen, dass es selbstverständlich sei, dass ich nicht glücklich werden würde. Im Moment zweifele ich selbst daran, dass eine erfüllende und langwierige Liebe für mich möglich ist. Im Badezimmer sehe ich, dass Marie meine Bettwäsche auf den Wandständer über der Badewanne gehangen hat. Still danke ich ihr, nehme mir vor mich zu revanchieren und verlasse leise das Haus. Einen weiteren Tag trübsinnig in meinem Zimmer zu sitzen, bringt keine Punkte. Ich ziehe meine Jacke enger und gehe spazieren. Die kühle Luft ist angenehm und beruhigend. Mein Weg führt mich an typischer Zeilenbebauung vorbei. Haus für Haus reiht sich aneinander. Sie sehen alle gleich aus, doch dafür sind die Gebäude alle gut erhalten und scheinbar frisch renoviert und glänzen mit beige Fassaden und weiße, neue Fenstern. Die Zeit verrinnt, doch ist es mir egal. Mein Körper und meine Gedanken sind schwer. Seele und Leib sehnen sich nach Stillstand, doch gehorchen mir meine Beine nicht mehr. Sie setzen ihren Weg fort und bringen mich zum Bahnhof. Warum hierher? Vielleicht weil ich hier einen so schönen Moment mit Antony verleben durfte? Ich denke an die Sicherheit, die ich verspürte, als ich in seinen Armen lag. Seine kräftigen, haltenden Arme, die jede trüben Gedanken fortspülten. Wie kann es sein, dass er das gespielt hat? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand solche Gefühle vermitteln kann, obwohl einem die anderen Person nicht wichtig ist. Im Grunde macht mich der Gedanke nur noch wütender. In meiner Brust und in meinem Kopf tobt ein Sturm. Jede noch so kleine Gefühlsregung vermischt sich mit den beißen Spott meines wissenden Verstandes. Die pure Enttäuschung als Selbstgeißelung. Wie hatte ich nur glauben können, dass ihm wirklich etwas an mir liegt? Ich bin eine zufällige Bekanntschaft aus einer Bar. Zufällig. Alles nur ein Zufall. Unserer Treffen. Unsere erste Nacht und auch unserer Wiedersehen. Nichts als Zufall. Ich laufe zu einem der Bahnsteige und lasse mich auf eine Bank nieder. Schon oft, wenn ich hier saß, fiel mir auf das dieser Ort, ein Ort der Gefühle ist. Wahre Gefühle, die man in der heutigen Zeit oft zu verstecken versucht. Trauer, die man empfindet, wenn man einen geliebten Menschen auf Wiedersehen sagt. Reine Tränen voller Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr. Manchmal wissend. Manchmal ungewiss. Ehrliche Worte der Zuneigung fallen hier, wie Laub von den Bäumen im Herbst. In den schönsten Formen. Mit den schönsten Bedeutungen. Reich an Farbe und Gefühl. Weit trägt sie der Wind und lässt sie neue Orte sehen. Immer im Herzen. Am wundervollsten sind die Gesichter beim Wiedersehen. Sie strahlen mit so viel Ausdruck der Freude. Feste und doch zärtliche Umarmungen. Küsse, die alle Gefühle der vergangenen Zeit widerspiegeln. Freude, Glück, unendliche Liebe. Für einen Moment frei von Sorgen und Angst. Nichts zählt außer der so geliebten Person in den eigenen Armen. Die Wärme. Der Geruch. Die Emotionen. Alles Gefühle, nach denen sich jeder Mensch sehnt. Heute ist es ungewöhnlich leer und nachdem einer der Züge gehalten hat, mische ich mich in den Strom der ankommenden Menschen. Irgendwann stehe ich vor Annis Wohnhaus. An der Wohnungstür bleibe ich zögernd stehen. Annis Bedenken kommen mir in den Sinn. Obwohl sie meine beste Freundin ist, habe ich das Bedürfnis wieder umzudrehen, die Treppe hinab zu stürmen und nie hier gewesen zu sein. Auch vor ihr will ich mir die Blöße nicht geben müssen. Mein Handy vibriert. Es wird erneut Antony sein. Augenblicklich bilden sich Tränen in meinen Augen und plötzlich geht die Tür auf. Annis Mitbewohnerin sieht mir entgegen. Ihren Namen habe ich vergessen. Sie ist erschrocken. Doch dann ruft sie direkt nach Anni. Nun kann ich nicht mehr fliehen und als ich sie um die Ecke biegen sehe, wird mir leicht mulmig. Ein kurzer Blick und sofort erkennt sie, dass etwas passiert ist. Ich brauche nicht einmal etwas sagen und schon nimmt sie mich sanft an die Hand, so wie sie es mit ihrem Bruder macht. Ihre langen roten Haare sind zusammen gesteckt. Ein paar einzelne Strähnen ringeln sich an ihrem Hals und an ihren Schläfen hinab. Kein Make up. Ein wirklich seltener Anblick, denn nur ich erleben darf. Obwohl sie ein blasserer Hauttyp ist, wirkt sie trotzdem frisch und munter. Auch diesmal. Sie führt mich durch den Flur und schließt leise die Tür. Ihre Mitbewohnerinnen steht mittlerweile in der Tür zu ihrem Zimmer und sieht mich an. Ohne ein Wort schiebt sie mich in ihr Zimmer, ignoriert die fragenden Blicke ihrer WG-Bewohnerin. Ich kämpfe mit meinen Gefühlen und jeder weitere ihrer Blicke sorgt dafür, dass ich den Tränen immer näher komme. „Was ist los?", fragt sie mich ohne zu zögern. Ich schließe die Augen und sehe den Mann, der mich so sehr verletzt hat. Ich denke an seine Finger auf meiner Haut. Wohltuend und glücklich machend und mit einem Mal ist da der Kuss, den er diesem kaltherzigen Kerl gegeben hat. Bilder meiner Fantasie mischen sich mit den realen Momenten meiner Beobachtungen. In meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich beginne schon wieder zu weinen und merke, wie sich Annis sanfte Arme um mich legen. Sie drückt mich fest und nach einer Weile merke ich, wie ihr Hände in einem gleichmäßigen Takt über meinen Rücken streichen. „Bitte, sag nicht, dass er dir jetzt schon das Herz gebrochen hat?", höre ich sie sagen und versteife mich. Ihre unverblümte Ausdrucksweise zieht mich noch weiter runter. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie von vornherein gewusst hat, dass das mit Antony schiefgehen wird. Ich habe gehofft, dass sie wenigstens ein paar Minuten so tut, als wäre sie überrascht, entsetzt oder wenigstens bemüht. „Musst du, das so sagen?", kommentiere ich geknickt und lasse meine Hände zur Seite fallen. „Ich habe also Recht? Was ist passiert?" Sie löst sich von mir und sieht mich an. Bevor ich antworten kann, nimmt sie meine Hand und zieht mich zu Bett. Ich lasse mich ermattet darauf fallen und spüre, wie mich eine Nagelfeile in die Seite piekst. Murrend ziehe ich sie hervor und beginne ihr von meinen Beobachtungen und auch die Bruchstücke der Gespräche zu erzählen. Anni atmet schwermütig ein und setzt sich dann aufrecht in den Schneidersitz. Meine Finger streichen einige Falten ihres gemachten Bettes glatt. Sie schweigt, was ankündigt, dass sie gerade überlegt, wie sie mir ihre Meinung am besten präsentiert. Das macht alles nur noch schlimmer. Ich kenne ihre Meinung zum Thema Antony und ich bin mir jetzt bereits sicher, dass ich es nicht hören will. „Hast du wirklich geglaubt, dass das funktioniert?" „Ich hab's gehofft.", gestehe ich ehrlich ein. „Aber er ist dein Dozent und er ist viel älter. Wundert es dich denn wirklich so sehr, dass da plötzlich ein Partner auftaucht?" Ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich atme getroffen ein. Was Beziehung angeht ist sie etwas abgestumpft. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie selbst so viele schlechte Erfahrungen gemacht hat oder ob das in gewisser Weise ihr direktes Naturell ist. In diesem Augenblick überforderte es mich. "Ich habe ihn gefragt und er hat es verneint." „Herrje, natürlich hat er es verneint. Sein Partner ist bestimmt ein wichtiger Geschäftsmann, der viel unterwegs ist und der gute Antony langweilt sich jedes Mal so sehr, dass er einmal im Monat in einer Bar geht um jemanden aufzureißen. Tammtammtamm, diesmal warst du es. Natürlich hat niemand damit gerechnet, dass du plötzlich an seinem Arbeitsplatz auftauchst und deshalb war er am Anfang auch so abweisend." Annis fantasievolles Klischee ist beeindruckend und erdrückend zugleich. Ich seufze getroffen und weiche ihrem Blick aus. Gerade in diesen Momenten, wo ich am liebsten nur in den Arm genommen werden will und man mir beruhigende und tröste Dinge sagen müsste, haut sie raus, wie dumm und voraussehbar das Ganze war. Es ist nicht so, als sei sie nicht fürsorglich, aber es fehlt ihr etwas an Empathie. In diesem Augenblick fehlt ihr jegliche Einfühlsamkeit und es ermattet mich. „Kann sein...", erwidere ich. „Ich hab es dir, doch gesagt." Damit setzt sie noch einen drauf. Das ist genau das, was ich nicht hören will. Es ist keine Hilfe und es verärgerte mich mehr als das es beschwichtigend wirkt. Ich stehe auf und laufe in ihrem Zimmer umher, während sie mir vom Bett aus zuschaut. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich atme ein und lasse meine Hände wieder locker. Ich wiederhole das Spiel. „Könntest du nicht einfach damit aufhören, mir zu sagen, wie dumm ich bin?", sage ich verbittert. „Aber ich hab es dir, doch wirklich gesagt", macht sie beharrlich weiter und ich werde langsam wirklich sauer. Ich weiß nicht mehr, wie oft sie zu mir gekommen ist als ihr Freund sie wieder geschlagen hatte. Ich weiß nicht, wie oft ich ihr gesagt haben, dass er sich nicht ändern wird und sie sich trotzdem nicht hat helfen lassen. Doch jedes Mal aufs Neue habe ich sie in den Arm genommen, habe beruhigend auf sie eingeredet und ihr deutlich gemacht, dass alles besser werden würde. Warum kann sie, das nicht bei mir? Ich weiß selbst, dass ich naiv und leichtgläubig gewesen bin. Doch Annis kalte Bekundung, dass ich selbst daran schuld bin, macht es nur noch schlimmer. „Ja, ich weiß und ich weiß auch, dass es dich freut wieder einmal Recht zu behalten. Fühlst du dich jetzt besser?", belle ich ihr verärgert entgegen und sehe, wie sie getroffen zusammen zuckt. „Das ist nicht wahr!" Sie springt vom Bett auf und sieht mich eindringlich an. „Warum sagst du es mir dann andauernd so, als würde es dich freuen, dass auch mir so ein Scheiß passiert?" Sie zuckt ein weiteres Mal zusammen und sieht mich sauer und verletzt an. „Ben, du bist unfair. Ich habe nie gewollt, dass er dich so verletzt. Ich bin nur ehrlich und sage dir die Wahrheit. Es hätte bei der einen Nacht bleiben sollen und das weißt du!" Ja, ich weiß es, aber ich will es mir nicht eingestehen. Anni ist ehrlich und das schätzte ich sehr an ihr, aber in diesen Moment hätte ich mir Zurückhaltung gewünscht. Wieder ist es Traurigkeit und Wut, die mich überfällt. Traurigkeit, dass selbst meine beste Freundin kein Halt für mich ist und Wut, darüber dass sie auch noch glaubt mir damit zu helfen. Ehrlichkeit und Wahrheit. Wie viel verträgt man davon wirklich? Ich weiß es nicht. 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