Kiss me hard before you go von Karo_del_Green ================================================================================ Kapitel 2: Beißende Ignoranz ---------------------------- Kapitel 2 Beißende Ignoranz Wie erwartet war meine Nacht ausgesprochen unruhig und relativ schlaflos. Jedes Mal wenn ich meine Augen schloss, sah ich ihn. Sein verklärter, erregter Blick, während er vor mir stand und dann seine Lippen auf meine legte. Und jedes Mal folgte der undurchsichtige, abweisende Blick vom Rednerpult. Eine grausame Mischung aus heiß und kalt. Im stetigen Hin und Her. Ich fühle mich beim Aufstehen, wie nach einem Wechselbad. Mit gemischten Gefühle denke ich ununterbrochen darüber nach ihn direkt darauf anzusprechen oder alles brav herunterzuschlucken. Doch ich weiß, dass ich mit jedem Aufeinandertreffen auch wieder an diese Nacht denken würde. Bereits jetzt jagen unaufhörlich Schauer von Wonne und Erregung durch meinen Leib. Allein der Gedanke an ihn, sorgt dafür. Antony. Seit mein Abenteuer einen Namen hat, ist es sogar noch schlimmer geworden. Ich lasse meinen Kopf auf den Küchentisch fallen, seufze laut und dramatisch und bin froh, dass niemand da ist, der mich darauf ansprechen kann. Nachdem sich meine Stimmung nicht bessert, wende ich meinen Kopf zur Seite und starre auf den Kalender an der Wand. Für einen kurzen Moment habe ich gehofft, dass ich den Tag einfach überspringen könnte oder das ich mich zu mindestens irre, doch nun ist es die zweite Bestätigung, die ich bekomme. Mein Handydisplay zeigt mir das gleiche Datum. Ich habe es lange angestarrt, mich in eine andere Dimension gewünscht oder einen Zeitsprung herbeigesehnt. Doch es änderte alles nichts daran, dass heute der Geburtstag meines Vaters ist und ich nicht weiß, was ich tun soll. Seit meinem Outing ist er nicht mehr gut auf mich zu sprechen. Seine Enttäuschung überspielt er mit Wut, die dazu führt, dass er mich ignoriert. Es ist das perfekte Familienklischee. Meine Mutter akzeptiert es, manchmal widerwillig, aber mein Vater hatte sofort diesen Ausdruck im Gesicht, der mir innerlich das Genick brach. Doch ich hatte mit keinen weiteren Lügen leben können. Ich wollte es nicht. Ich bin, wie ich bin. Ich bin gut so, wie ich bin. Abneigung, Ekel und Abscheu. All das habe ich bereits kennengelernt und doch immer wieder eine helfende Hand gefunden, die mich auffängt. Der Gedanke bestärkt mich. Ich hole das Telefon aus meiner Hosentasche und tippe die Nummer meines Elternhauses ein. Sie ist die einzige Nummer, die ich auswendig kann und das wird sich auch niemals ändern. Es klingelt. „Kaufmann" Die Stimme meines Vaters. „Papa! Leg bitte nicht auf!!", setze ich aufgeregt an und merke, wie sich meine Stimme ein wenig überschlägt. Er tut es nicht, aber nach ein paar Sekunden höre ich die Stimme meiner Mutter. Ich murmele ein 'Happy Birthday' und schließe die Augen. „Hey, Mama." „Ben, Liebling. Es ist schön von dir zu hören. Du, es tut mir leid, aber wir haben deine Schwester und die Kinder hier und dein Vater ist sehr aufgeregt." Sie nimmt meinen Vater, wie immer in Schutz. Aber nicht nur das. Auch sie versucht so wenig, wie möglich mit mir im Kontakt zu sein um keine Diskussionen zu beschwören. „Schon okay. Ich verstehe es." „Wie geht es dir?", fragt sie dennoch. „Gut. Viel zu tun! Die Uni hat angefangen." Wir schweigen einen Moment. Als ich den Entschluss gefasst habe wieder aufzulegen, beginnt sie zu sprechen. „Und gefällt es dir?" „Bisher schon..." Ich führe nicht aus, dass es erst ein Tag gewesen ist und ich noch nicht mal alle Kurse kennengelernt habe. „Das ist sehr schön...", sagt sie und ich höre, wie sie von meinem Vater unterbrochen wird. Ich höre nicht, was er sagt. „Mama, ihr habt zu tun. Ich wünsche euch viel Spaß. Richtest du Natalia schöne Grüße aus?", komme ich meiner Mutter zuvor. Natalia ist meine ältere Schwester. Sie ist Mutter von zwei wunderschönen kleinen Zwillingsmädchen und verheiratet. Ihr Mann hat die gleichen Probleme mit mir, wie mein Vater. Meine Nichten sehe ich selten. „Das mache ich. Natürlich." Wir schweigen und ich weiß, dass sie mit dem Telefonhörer im Flur steht und sanft nickt. Das macht sie immer. „Komm doch mal wieder vorbei, Benedikt. Bitte!" Ein erneuter und erfolgloser Versuch. So wie jedes Mal. Ich schweige und denke an meine beiden kleinen Nichten. Sie wissen wahrscheinlich nicht einmal mehr, wer ich bin. „Mach es gut, Mum." Damit lege ich auf, koche mir einen Kaffee und nehme mir ein Knäckebrot. Ich verschwinde in mein Zimmer und schalte meinen Laptop ein. Meine Vorlesungen beginnen erst am Nachmittag und bis dahin habe ich mir vorgenommen für die ominöse Hausaufgabe zu recherchieren, die wir bekommen haben. Ich öffne die Seite der Universitätsbibliothek und suche nach passenden Büchern. Ich werde fündig, doch jedes Einzelne ist bereits entliehen. Ich lasse mich verwundert zurückfallen und tippe jeden Titel noch einmal an. Entliehen. Ohne Ausnahme. Das Letzte befindet sich im Handapparat, doch die Bücher darin müssen im Haus verbleiben. Bei den anderen Bücher dasselbe Spiel. Meine Kommilitonen waren alles schneller. Ich fahre mir genervt durch die Haare und gebe ein knurrendes Geräusch von mir. Erschrocken falle ich fast vom Stuhl als Marie ihren Kopf durch meine Tür steckt. „Hey du. Alles okay bei dir?" Ihre kurzen Haare sind vollkommen verwuschelt und scheint gerade erst aus dem Bett gefallen zu sein. Ein verwundertes Lächeln auf ihren Lippen und ich nicke. „Ja, ich stelle nur gerade fest, dass Student sein, sehr anstrengend ist. Die erste Woche und schon scheitere ich an der Bibliothek." „Wieso das?" Sie kommt in mein Zimmer. Marie trägt noch immer ihre Schlafshorts und ein violettes Tanktop, was perfekt das Grün ihrer unbebrillten Augen unterstreicht. Ohne Brille beugt sie sich dicht an meinen Bildschirm. „Oh, der Handapparat. Schau doch, ob du noch ein Exemplar ausleihen kannst." „Habe ich schon. Alle weg. Anscheinend sind in meinem Studiengang viele fleißige Studenten. Erschreckend, oder?" Sie lacht. „Jetzt am Anfang seid ihr einfach noch zu viele. Das wird sich noch lichten. Spätestens nach den ersten Klausuren, damit sieben sie für gewöhnlich aus.", plaudert sie. Aussieben? Lichten? Ich ziehe meine Braue nach oben. Bei dem Gedanken wird mir angst und bange. „Keine Panik, dass schaffst du schon." Leicht klopft sie mir auf die Schulter und wendet sich dann zum Gehen. „Ach so, weißt du wo du die Handapparate findest?", fragt sie mich und bleibt im Türrahmen stehen. „Ich weiß noch nicht mal, wo ich die Bibliothek finde", gestehe ich ihr ehrlich und sie lacht erneut. „Okay. Hast du Zeit? Ich will sowieso hin, weil ich meine Hausarbeit aus dem letzten Semester fertig schreiben muss. Dann zeige ich dir alles." „Ja, sehr gern." Ich danke ihr für das Angebot und sie geht sich etwas anziehen. Bevor wir die Wohnung verlassen, drücke ich ihr einen Kaffee in die Hand und sie bedankt sich ein weiteres Mal. Diesmal überschwänglich. Als wir durch den Eingang der Bibliothek treten, bleibe ich erstaunt stehen. Vor uns erstreckt sich eine gigantische Halle, gekrönt mit einem Kuppeldach, welche von vier Marmorsaulen getragen wird. Mein Blick wandert über die Säulen hinauf zum Runddach. Warme cremefarbene Töne schmeicheln der Weite und harmonieren mit den farbigen Malereien, die sich über die gesamte Kuppel erstrecken. Anmutig und Ausdrucksstark. Ich bin fasziniert. Fein ausgearbeitete Stuckverzierungen rahmen die gesamten Wände. Wunderschön. Marie deutet zu einer Vitrine in der eine exakte Nachbildung des Gebäudes eingeschlossen ist. Ein Prachtbau erster Güte. Erst vor ein paar Jahren haben sie die alte Fassade und die letzten vorhanden Bestandteile im Inneren restauriert. Edle Historie gepaart mit modernen Spielereien. Die Bibliothek ist ein Meisterwerk der Kombination. Hell und einladend. Marie schreitet durch den Flur und wir schließen unsere Sache weg. Der Lesesaal befindet sich in den modernen Anbau. Ein rechteckiges gläsernes Gebilde, was rundum mit Bücherregalen gerahmt ist. Dicke alte Wälzer strömen diesen typischen Geruch aus. Ich mag es. Wir schlängeln uns durch die halbe Bibliothek. Zeigt mir die Abholungsbereiche für bestellte Bücher und dann die Handapparate. Regale über Regale. Ich brauche eine Weile bis ich meinen Studiengang gefunden habe und genauso lange um das Buch zu finden, welches ich brauche. Natürlich habe ich mir keine Signatur aufgeschrieben. Wieder etwas gelernt. „Hast du es gefunden?" Marie steht hinter mir und flüstert. In ihren Händen befindet sich ein Stapel Bücher, den sie sich ausgeliehen hat. Ich wackele mit dem Buch und lächele. „Sehr gut. Ihr habt einen gut bestückten Handapparat. Du kannst dich glücklich schätzen. Einige andere Studiengänge sind oft verzweifelt am Rumsuchen, bis sie etwas finden, womit sie arbeiten können." Ich sehe in das Regal. Sofort fallen mir Professor Strouds Bücher auf. Vorsichtig lasse ich einen Finger über die Buchrücken gleiten und denke an Antony. „Hey, wenn du bestimmte Bücher brauchst und diese hier nicht mehr findest, musst du den Professor oder die Dozenten ansprechen. Meistens haben sie ein paar Exemplare in ihren Büros, die sie den Studenten geben können", rät sie mir. Damit verabschiedet sie sich und verschwindet hinter drei Ecken zu einem der Sitzplätze. Ich schaue auf das Buch in meiner Hand und schlucke. Das würde bedeuten, dass ich die Taktik Aussitzen definitiv vergessen kann. Ich lasse mich auf einen der nahegelegenen Plätze nieder und seufze leise. Welche Wahl habe ich? Ich kann schlecht schon die erste Hausaufgabe versauen, nur weil ich keinen Mumm in den Knochen habe. Außerdem ist es utopisch zu glauben, dass ich ihm das gesamte Semester aus dem Weg gehen kann. Zu dem bin ich mir sicher, dass er mich erkannt hat und mich interessiert sehr, was er sagen und wie er reagieren wird. Ein unbestimmtes Kribbeln durchzuckt meinen Körper. Okay, vielleicht macht mir seine mögliche Reaktion schon mehr Angst, als ich zugeben möchte. Es ist immerhin nur ein gigantischer Zufall, dass ich genau an der Uni studiere, an der er Dozent ist. Ein mächtiger, gigantischer Zufall, dass ich auch noch den Studiengang belege, den er lehrt. Schicksal. Ich schreibe das Wort auf meinen Block. Glaube ich an Schicksal? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau das so passiert, wie es passiert? Es ist schon ein verdammt großer Zufall. Ich schlage das Buch auf und lasse meinen Finger über die Gliederung gleiten. An der für mich wichtigen Stelle tippe ich zweimal auf die Seitenzahl und beuge mich nach vorn. Vielleicht reicht mir dieses Buch und ich würde kein weiteres brauchen. Fast zwei Stunde verbringe ich in der Bibliothek. Lese das vorige und das folgende Kapitel. Doch egal, wie ich es drehe und wende es fehlt etwas. Zu viel als, dass mein Text jemals eine homogene Einheit bilden konnte. Er ist zu löchrig und verdient den Beinahmen Schweizer Käse. Müde lasse ich meinen Kopf nach hinten fallen und schließe die Augen. Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach die Aufgabe einfach unvollständig abzuschließen und eine schlechtere Note zu riskieren. Doch mein innerer Widerstand ist zu groß. Die Blöße kann ich mir nicht geben. Nicht in der ersten Woche. Nicht vor ihm. Ich brauche die anderen Bücher. Es führte kein Weg daran vorbei. Ich hole meine Sachen aus dem Schrank und schaue auf die Uhr. Ich habe noch ein Stunde, dann beginnt meine erste Vorlesung. Ich habe zwei Möglichkeiten. Nach Hause gehen oder meinem Fachbereich einen Besuch abstatten. Unschlüssig stehe ich einen Augenblick in der Vorhalle der Bibliothek, lasse meinen Blick erneut über die Säulen wandern, folge den fein marmorierten Strukturen zur Kuppel. Eine Schlachtszene. Verstörende Gesichter. Eine solche Abbildung in einer Bibliothek. Verwunderlich. Ich seufze leicht und laufe einfach los. Die Studenten, die an mir vorbei gehen, nehme ich kaum wahr. Ich bin zu sehr in Gedankenversunken und stehe plötzlich vor Professor Strouds Büro. Das Schild zeigt deutlich seinen Namen. Darunter befindet sich ein weiteres Schild mit einem anderen, doch bekannten Namen. Antony Rochas. Ich spüre, wie mein Puls nach oben schnellt. Mein Blick fällt auf die Zeiten seiner Sprechstunde. Mittwoch und Freitag. Nicht heute. Er wird gar nicht da sein. Mit jedem heftigen Schlag meines Herzens verschwindet mein Mut immer weiter. Hinter der Tür höre ich eine Bewegung und ich mache einen Schritt zurück. Gerade rechtzeitig, als die Tür aufgeht und er direkt vor mir steht. Seine kühlen Augen sehen mich überrascht an. Ich vergesse zu atmen und vor allem zu reagieren. Ein Blitzen erhellt seinen Blick. Einen Moment lang. Doch dann drücken sie nichts anderes mehr als Neutralität aus. „Wollen Sie zu mir?", fragt er mich und ich nicke. „Ja, bitte entschuldigen Sie." Warum entschuldige ich mich? „Was kann ich für Sie tun?" Sein sachlicher Tonfall, ohne jegliches Erkennen bohrt sich eiskalt in meinen Leib. „Ich habe Probleme die Literatur für die Hausaufgabe zu finden. Die Exemplare der Bibliothek sind bereits alle entliehen", erkläre ich zurückhaltend. Ich versuche meinen Ton ebenso sachlich zu halten, wie er. Seine kühlen Augen sehen mich kurz an. „Wirklich?", entgegnet er fast ungläubig. Ich nicke. Antony schaut auf die Uhr und hält die Tür zu seinem Büro auf. Ich trete ein und nehme beim Vorbeigehen seinen Duft wahr. Mir wird heiß. Er legt die Unterlagen in seinen Händen auf dem Tisch ab und greift ohne nachzuschauen ins Bücherregal. Zwei Bücher reicht er mir. Es sind genau die beiden, die mir fehlen. „Hier, diese beiden sollten reichen. Notieren Sie mir ihren Namen und dann bringen Sie sie mir, wenn Sie fertig sind zurück." Er schiebt mir einen Zettel zu und durchblättert mit gesenktem Kopf die Unterlagen, die er eben noch in den Händen hielt. Kein weiterer Blick. Völlige Ignoranz. Sie ist wohl mein Schicksal. Nachdem morgigen Telefonat mit meinem Vater trifft sie mich besonders schwer. Ein Knoten bildet sich in meiner Brust. Es schmerzt, auch wenn ich damit rechnen musste. Ich schreibe meinen Namen und das Datum auf den blanken Zettel und lasse ihn am Rand des Tisches liegen. Kurz bleibe ich stehen, doch er sieht nicht noch mal auf oder bewegt sich erneut zur Tür. Er bleibt, geschäftig blätternd stehen. „Vielen Dank", flüstere ich, schließe hinter mir die Tür und sehe auf die Bücher in meiner Hand. Ich schlage sie mir beim Laufen gegen den Kopf. Überwältigende Dummheit erfasst mich. In zweierlei Hinsicht. Überwältigt von dem plötzlichen, direkten Aufeinandertreffen und das Eingestehen der Dummheit, weil ich doch tatsächlich von seiner Ignoranz überrascht bin. Was habe ich mir vorgestellt? Dass er sich freut? Das er dieselben Fantasien hat, wie ich? Lächerlich. Er ist mein Dozent. Der Schmerz in meiner Brust brodelt weiter. Ich blicke kurz zurück, bevor ich um die Ecke biege. Antony steht an der Tür und sieht mir nach. Hinter der Ecke bleibe ich stehen. Die Finger meiner linken Hand ballen sich zur Faust. Ich mache drei Schritte zurück und sehe in den Gang. Er ist fort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)