Sieben Tage von Flordelis (Custos Mortis reminiscentia) ================================================================================ 4 – Mitternacht I: Sinn ----------------------- Alles um ihn herum war in Dunkelheit getaucht. Er erinnerte sich nicht, wann dieser Zustand begonnen hatte, wusste nicht, wie er enden könnte. Es war ihm nicht möglich, sich zu bewegen, fast kam es ihm vor als stünde er in einer zähen Masse, die es ihm unmöglich machte, sich auch nur im Geringsten zu rühren. Selbst die Augen zu öffnen erforderte derart viel Kraft, dass er es einfach sein ließ. Wie auch immer er hierher gelangt war, er glaubte, dass es so sein musste. Bei diesem Ort musste es sich um eine Strafe für ihn handeln. Wie oft hatte er es gewagt, sich über das Schicksal zu erheben? Wie viele Dämonen waren durch seine Hand gefallen? Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er die Strafe dafür erhielt. Sein Tod musste ein Traum gewesen sein. Dass er zurückgeschickt worden war, musste ein Traum gewesen sein. Nichts von dem, woran er sich erinnerte, konnte wirklich geschehen sein. Er war in der Falle eines Dämons gelandet, daran glaubte er ganz fest. „Bist du dir da so sicher?“ Die Stimme eines Mannes durchbrach die Stille, die bis dahin schwer auf seinen Ohren gelastet hatte. Sie nahm ihm etwas von der Einsamkeit, der er sich bis dahin nicht einmal bewusst gewesen war. Am liebsten hätte Kieran sich umgesehen, um herauszufinden, wer da mit ihm sprach, aber noch immer war er nicht in der Lage, seine Augen zu öffnen. „Es war kein Traum“, fuhr die Stimme fort. „Du wurdest getötet. Und jetzt bist du hier, um einen Auftrag zu erfüllen.“ Wovon sprach die Stimme? Wer war das überhaupt? Und wo war er? „Hast du es vergessen?“ Die Stimme klang enttäuscht. „Du musst die Treppe erklimmen. Deswegen solltest du langsam aufwachen. Du hast nicht ewig Zeit.“ Das war leicht gesagt. Es war nicht einfach, in dieser Masse die Augen zu öffnen, die Lider fühlten sich bleischwer an. Ungern ergab er sich seiner Machtlosigkeit, aber er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Die Tage seiner Dämonenjagd waren vorbei. Die Zeit, in der die Dämonen furchtsam seinen Namen gewispert hatten, aus Sorge, dass sie ihn damit aus Versehen beschwören könnten, waren vergangen. Er war tot und das hier war die Hölle. Seine Strafe. Die absolute Machtlosigkeit. „Du willst einfach aufgeben?“ Die Enttäuschung der fremden Stimme ließ sein Herz schmerzen. „Dafür ist es noch zu früh. Du musst weitermachen. Nolan braucht dich. Das weißt du.“ Nolan. Der Gedanke an seinen Pflegesohn, der nun ganz allein war, der jedem Angriff feindlicher Dämonen schutzlos ausgeliefert wäre, gab ihm die Kraft, sich zu bewegen. Nacheinander ließ er jedes einzelne Glied seines Körpers seine Pflicht erfüllen, ließ das Gefühl wieder in jeden Quadratzentimeter zurückkehren. Die zähe Masse um ihn herum lockerte sich auf, wurde flüssig und verschwand langsam, gab ihm damit die Möglichkeit zurück, sich endlich wieder so zu bewegen, wie er wollte – und er nutzte die Möglichkeit auch sofort. Kieran schlug die Augen auf. Schon auf den ersten Blick erkannte er, dass er sich wieder an dem Ort befand, wo er direkt nach seinem Tod hingekommen war: Charons Aufenthaltsort. Er saß auf einer der unteren Treppenstufen, den Oberkörper gegen den mittleren Stützbalken gelehnt. Vorsichtig erhob er sich. Kaum stand er aufrecht, fiel sein Blick auf Charon, der mit verschränkten Armen vor ihm stand. Wie üblich zierte ein Lächeln sein Gesicht. „Willkommen zurück, Kieran.“ „Habe ich schon viel Zeit verschwendet?“ Ein amüsiertes Glitzern war in Charons Augen zu sehen. „Das ist typisch für dich. Aber nein, ich kann dich beruhigen, es waren nur ein paar Minuten, die du geschlafen hast.“ Unter anderen Umständen hätte Kieran nun zu erörtern versucht, ob Tote wirklich schlafen mussten, aber seine Gedanken waren bereits wieder bei der Stimme. Im ersten Moment war er davon ausgegangen, dass es Charon gewesen sein musste, den er gehört hatte, aber dem war nicht so. Es war eine andere Stimme gewesen, eine, die er auch kennen müsste, aber ihm fiel einfach nicht ein, woher und er hatte auch keine Zeit dafür. Ohne jedes weitere Wort fuhr er herum und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Er hatte angenommen, das allein hinter sich bringen zu müssen, aber schon nach wenigen Stufen schloss Charon sich ihm an. Ohne jede Mühe lief der Wächter neben ihm her, obwohl Kieran immer zwei Stufen auf einmal nahm. „Gibt es etwas?“, fragte Kieran. „Ich dachte, wir könnten uns ein bisschen besser kennenlernen.“ Auch wenn seine Stimme bei diesen Worten ein wenig spöttisch klang, meinte er es ernst, dessen war Kieran sich sicher. „Bislang sind wir nie wirklich dazu gekommen, miteinander zu sprechen.“ „Warum sollte ein Totenwächter auch mit mir sprechen wollen?“, fragte Kieran ratlos. Bislang hatte er sich immer vorgestellt, dass der entsprechende Wächter in einem Buch alles über jeden Verstorbenen lesen könnte, also auch über ihn. In diesem Fall wäre es überflüssig, Charon etwas über sich zu erzählen. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass der Wächter einfach nur sinnlose Konversation betreiben wollte. „Es gibt Dinge, die ich nicht über dich weiß.“ Charon neigte den Kopf ein wenig. „Und Dinge, die du nicht weißt. Vielleicht nicht über mich, da gibt es nicht viel, aber über anderes, das dich interessieren sollte.“ „Und worum handelt es sich dabei?“ Kieran konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas Interessantes gab, das Charon ihm erzählen könnte. Jedenfalls nicht, solange es nicht etwas mit Nolan oder Aydeen zu tun hatte. Ersterer war sehr lebendig und trauerte um ihn, letztere war vor mehreren Jahren verstorben und vermutlich schon längst als eine von vielen Seelen untergegangen, so sehr ihn dieser Gedanke auch schmerzte. Deswegen ließ er auch nicht zu, dass er auch nur im Geringsten aufgeregt sein könnte. „Worin siehst du eigentlich den Sinn des Lebens?“, fragte Charon sofort. Darüber musste Kieran nicht lange nachdenken, denn er hatte schon vor einigen Jahren über diese Frage nachgedacht und war zu einem Ergebnis gekommen, mit dem er zumindest gut leben konnte: „Jemanden zu beschützen.“ Diese Antwort genügte Charon wohl nicht, deswegen erzählte er direkt noch mehr: „Ich denke, jeder hat in seinem Leben irgendjemanden, der beschützt werden muss. Körperlich oder mental. Ein Schild für diese Person zu sein, ist die Erfüllung eines Lebenszwecks.“ Er war Nolans Beschützer, selbst jetzt noch. Niemals würde er zulassen, dass diesem Jungen, den er als Erlöser der Lazari auserkoren hatte, etwas zustieß. Selbst wenn seine Seele bei diesem Versuch unwiederbringlich zersplitterte, würde er Nolan beschützen, um den Fluch der Lazari endgültig zu durchbrechen. Dann könnte er in Frieden ruhen. „Mental, hm?“ Erstmals schwand Charons Lächeln, aber nur für einen kurzen Augenblick. „Kieran, glaubst du eigentlich, dass es da draußen noch andere Welten wie diese gibt?“ Wenn er das so fragte, musste das bedeuten, dass es wirklich andere Welten gab. Bei Charon geschah nichts ohne einen Grund, davon ging Kieran jedenfalls aus. Jedes seiner Worte musste gut durchdacht sein. „Ich habe nie darüber nachgedacht“, antwortete Kieran. „Aber ich weiß zumindest, dass es eine andere Welt noch gibt, aus dieser kommen immerhin die Dämonen.“ Es sei denn, sie waren Lazarus-Dämonen. Aber Charons Worte ließen auf noch mehr Welten schließen, möglicherweise sogar unendlich viele. Aber was sollte das mit ihm zu tun haben? „Was, wenn ich dir sage, dass es dort draußen eine bestimmte Welt gibt, in der eine Person lebt, die du nicht kennst, die aber deinen Schutz benötigt?“ Kieran hielt inne und sah Charon an, der ebenfalls stehengeblieben war. Er wartete darauf, dass der Wächter ihm erklärte, nur einen Scherz gemacht zu haben, aber stattdessen lächelte er vielsagend. „Wie soll ich jemanden beschützen, den ich nicht einmal kenne und der sogar in einer ganz anderen Welt lebt?“ „Es geht um einen mentalen Schutz“, sagte Charon. „Die Dämonen, die du bekämpfst, sind für diese Person gleichbedeutend mit jenen, die sie in ihrem Geist verfolgen.“ Unwillkürlich musste er an Allegra denken, an die Dämonen von denen sie sich verfolgt fühlte. War es bei dieser ihm unbekannten Person das gleiche? „Je mehr von ihnen du besiegst, je mehr du allen Leiden widerstehst, desto besser fühlt sich diese Person“, fuhr Charon, den Blick in die Entfernung gerichtet, fort. Inzwischen war der Boden nicht mehr zu sehen, jenseits der Kerzen, mit denen die Treppe beleuchtet wurde, versank alles in Dunkelheit. Aber Kieran hatte das Gefühl, dass Charon wesentlich mehr sehen konnte als er. „Ist das so?“, hakte Kieran nach. Charon nickte bestätigend. „Das ist ein Fakt.“ „Dann finde ich das gut. Es gibt meiner Existenz einen weiteren Sinn.“ Auch wenn er diese Person nicht kannte, ihr niemals begegnen würde, war es angenehm zu hören, dass es jemanden gab, dem er helfen konnte, indem er tat, was er am besten konnte. Wie auch immer diese Person gerade auf ihn gekommen sein mochte, er würde sich noch mehr Mühe geben, damit sie auch ein gutes Leben führen könnte. Über diese Worte zufrieden, lächelte Charon wieder. „Das ist schön zu hören. Deine Entschlossenheit ist wirklich zu beneiden.“ War das wirklich so? Für Kieran war es ganz normal, deswegen konnte er nichts weiter dazu sagen. Charon sah ihn wieder direkt an. „Deine Zeit ist jetzt leider vorbei.“ „Schon?“ Es war ihm nicht wie eine Stunde vorgekommen, das Gespräch hatte doch kaum ein paar Minuten in Anspruch genommen. Oder spielte ihm seine Wahrnehmung an diesem Ort nur einen Streich? Statt zu widersprechen setzte er sich einfach wieder auf die Stufen und hoffte, dass er in der nächsten Nacht auch direkt hier weiterlaufen könnte. Den Kopf gegen den zentralen Balken gelehnt, schloss er die Augen und sank fast sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)