Sieben Tage von Flordelis (Custos Mortis reminiscentia) ================================================================================ 3. – Tag I: Allegra ------------------- Kieran konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt in Allegras Küche gewesen war. Aber er wusste noch genau, dass alles wie beim letzten Mal aussah, er erinnerte sich lebhaft an den Duft des Tees, der erfolglos versucht hatte, den Kupfergeruch zu übertünchen, der im gesamten Haus vorherrschte und von den beiden Bewohnern vermutlich nicht einmal mehr wahrgenommen wurde. In diesem Moment roch er ihn ebenfalls nicht mehr, genausowenig wie den Tee, der vor Allegra stand. Dies war einer der Sinne, den er jenseits des Lebens wohl nicht mehr gebrauchen konnte, aber zumindest im Moment vermisste er ihn nicht. Während Allegra mit einer Hand im Tee rührte und mit der anderen nachdenklich mit einer ihrer blonden Haarsträhnen spielte, versuchte er ihr, zu berichten, was geschehen war: „Als ich in jener Nacht ins Bett gehen wollte, traf ich Landis auf dem obersten Treppenabsatz.“ „Landis?“, unterbrach sie ihn irritiert. „Niemand hatte gesagt, dass er dort war.“ „Eigentlich sollte er da auch gar nicht sein. Aber es war auch nicht … Landis.“ Er empfand es als schwer, einer Außenstehenden das zu erklären. Einem anderem Lazarus, einem anderen Dämonenjäger also, hätte er einfach gesagt, dass er sich nicht anfühlte, wie Landis, dass etwas Dunkles die Aura des Jungen überlagerte, weswegen er als besessen anzusehen wäre. In seiner ganzen Laufbahn als Lazarus war ihm eine wirkliche Besessenheit noch nie untergekommen. Gedankenmanipulation war verbreitet, aber kein Dämon hatte es dabei geschafft, wirklich die Aura des Originals derart zu überlagern, wie dieser in jener Nacht. Aber bekannt war ihm dieses andere Ich nicht vorgekommen. Es wunderte ihn allerdings nicht, dass er mit einer solchen List angegriffen worden war. Auch wenn er die Lazarus-Gilde schon lange verlassen hatte, war es in den letzten zehn Jahren immer wieder vorgekommen, dass er zur Waffe gegriffen und seine Erfahrung genutzt hatte, um einen weiteren Dämon niederzustrecken. Selbst in aller Bescheidenheit hätte er sich ohne zu zögern als einer der großartigsten Lazari bezeichnet – der einzige, der ihn noch übertreffen könnte, würde eines Tages Nolan sein, sobald er erwachte. Das war wiederum ein Umstand, den Kieran unbedingt verhindern wollte, weswegen er den Dämon verfluchte, der für seinen Tod verantwortlich war. Das geschah nicht, weil er es Nolan nicht gönnte, ihn zu überflügeln – er wollte ihn nur vor der Verzweiflung bewahren, die mit dem Dasein eines Lazarus einherging und er hatte ihn außerdem zu etwas wesentlich Größerem auserkoren. Allegras Löffel klirrte ungewohnt laut, als dieser gegen die Tasse stieß, was ihm sagte, dass seine Pause zu lang und sie ungeduldig wurde, also fuhr er rasch fort: „Jedenfalls gerieten wir in einen kurzen Kampf, er stieß mir das Messer in die Brust, ich fiel die Treppe hinab – und das war es dann.“ In Kurzform erzählte er ihr, was bei Charon geschehen war und weswegen er nun wieder hier war. „Ich habe also sieben Tage, um diesen Dämon zu finden und damit Nolan zu retten, damit er nicht auch ein Lazarus wird.“ Kieran war überzeugt, dass ein Dämon ihn nicht gänzlich töten könnte. Nolan würde einfach wieder auferstehen und dann mit seiner natürlichen Kraft, die selbst zu seinen Lebzeiten spürbar war, diesen Dämon besiegen – auf welche Art und Weise das auch immer geschehen würde. Bei Kieran war es immerhin genauso gewesen. Zu schade, dass Lazari nur einmal wieder auferstehen, nachdem sie getötet wurden. Würden wir öfters von den Toten auferstehen, wäre ich jetzt nicht in dieser Situation. „Warum gerade sieben Tage?“, fragte Allegra und nahm endlich den Löffel aus der Tasse und legte ihn daneben. „Wenn ich das wüsste ...“ In seinem Elan, diesen Dämon zur Strecke zu bringen, hatte er nicht daran gedacht, Charon einfach danach zu fragen. Er müsste das nachholen, wenn er ihn – möglicherweise – um Mitternacht wiedertraf. Allegra hob die Tasse, samt Untertasse – wie es sich gehörte, hatte sie ihm einmal erklärt – und nahm einen Schluck ihres Tees. Unwillkürlich wollte er selbst seine Tasse nehmen, aber als seine Hand ins Leere griff, wurde ihm wieder bewusst, dass das gar nicht möglich war. „Glaubst du denn, dass der Dämon noch in der Stadt ist?“, fragte sie weiter und überging dabei seine Geste, wofür er ihr dankbar war. „Laut Charon muss er noch hier sein. Ich habe mich aber noch nicht wirklich umgesehen.“ Dass er, in Selbstmitleid versunken, auf dem Baum gesessen war, fügte er nicht extra hinzu und auch sie ließ das einfach weg – auch dafür war er ihr im Moment dankbar. Allerdings wusste er nicht, wie es nun weitergehen sollte und sie wohl genauso wenig: „Im Gegensatz zu dir kann ich keine Dämonen wahrnehmen oder gar sehen, Kieran. Ich kann dir also leider nicht wirklich helfen.“ Er war sich auch nicht sicher, weswegen Charon ihm überhaupt mitgegeben hatte, dass es eine Person gab, mit der er interagieren könnte, wenn diese doch eigentlich gar nicht in der Lage war, ihm bei der eigentlichen Sache weiterzuhelfen. Asterea wäre eine wesentlich bessere Alternative gewesen in dieser Hinsicht – aber er verstand sich mit Allegra wesentlich besser. „Wie geht es dir derzeit eigentlich?“, fragte er auch sofort. „Schläfst du wieder besser?“ In den letzten Jahren war er zu der Überzeugung gelangt, dass Allegra wirklich krank war und nicht von Dämonen heimgesucht wurde. Das bedeutete aber keineswegs, dass sie besser dran war, im Gegenteil: Einen Dämon hätte Kieran einfach für sie töten können, eine Krankheit konnte er nicht heilen. Also musste sie sich weiter mit Wahnvorstellungen, Schlaflosigkeit und plötzlichen Anfällen von Suizidgedanken quälen, die Kieran niemals nacherleben wollte. Er erinnerte sich, dass er einmal mit dem Arzt der Lazarus-Gilde, Jii, darüber gesprochen hatte, in der Hoffnung, dass diesem ein Heilmittel bekannt wäre. Doch seine Antwort war ein spöttisches Lächeln gewesen und der Rat, besser niemals mit Allegra zu schlafen – mehr hatte er bei diesem Mann nicht in Erfahrung bringen können und viel mehr Ärzte kannte er nicht. Als Lazarus begegnete man naturgemäß vielen Dämonen, keinen Medizinern. Allegra legte beide Zeigefinger an den Rand der Untertasse und begann, hochkonzentriert, am Rand entlangzufahren. Dabei lächelte sie selig, blickte aber stur auf die Tasse. „Oh, mir geht es ganz gut, seit du tot bist – immerhin habe ich jetzt einen Konkurrenten weniger.“ Kieran rollte mit den Augen. So sehr er Allegra auch mochte, dieses Konkurrenzdenken war ihm schon zu Lebzeiten dezent auf die Nerven gegangen – vor allem, da es sich auf eine Person bezog, die ohnehin niemals in dieser Form Interesse an ihnen entwickeln würde, schon allein, weil Asterea immer noch da war. Solange es Asterea gab, war Richard für jeden anderen unerreichbar. Und wenn nicht, hätte ich die besseren Chancen besessen – ich kenne ihn in- und auswendig. Aber diese Überlegung war nun erst recht überflüssig. Er war tot, Asterea lebte und Allegra war keinen Schritt näher an Richard herangekommen, auch wenn sie das in ihrem Wahn, der stets erwachte, sobald es um ihn ging, vielleicht annehmen mochte. Doch noch während er über all das nachdachte, wurde Allegra wieder ernst, ihre Finger verharrten in ihrer aktuellen Position. „Aber es war sehr hart für uns alle, als du plötzlich einfach fort warst. Ganz Cherrygrove war auf deiner Beerdigung und danach haben alle stundenlang darüber gesprochen, wie du damals meinen Vater vorgeführt hast, wie du überraschenderweise auszogst und mit einer eigenen Familie wiederkamst und auch darüber, dass du, egal wie seltsam du am Ende warst, ein guter Kerl gewesen bist.“ So ganz konnte er sich das nicht vorstellen, auch wenn es ihm durchaus schmeichelte und ihn gleichzeitig ein wenig verlegen machte. Man redete eher selten über ihn – glaubte er jedenfalls – und am Ende war ohnehin nichts Gutes mehr über ihn gesagt worden, aber dass es doch noch Leute gab, die das anders sahen, freute ihn. Selbst wenn es erst seinen Tod benötigte, damit sie das erkennen konnten. „Aber ich habe direkt gesagt, dass du nicht einfach stirbst“, bemerkte sie munter. „Deswegen bin ich auch gar nicht überrascht, dass du jetzt in meiner Küche sitzt und ich mich mit dir unterhalte.“ „Ich könnte auch eine deiner Wahnvorstellungen sein“, wandte er ernst ein. Endlich hob sie den Blick wieder, um ihn direkt anzusehen. Dabei lächelte sie so sanft, als wäre sie die Ruhe selbst und als wäre es das Normalste der Welt, sich mit einem Geist zu unterhalten. „Du bist mein bester Freund, Kieran“, sagte sie. „Selbst wenn du wirklich nur ein Teil meiner Wahnvorstellungen wärst, könnte mich das absolut nicht kümmern, solange du bei mir bist.“ Für einen kurzen Moment konnte Kieran sie nur fassungslos anstarren, dann wandte er verlegen den Blick ab. „Sag doch nicht so einen Unsinn.“ So etwas war ihm noch nie gesagt worden, jedenfalls nicht so direkt, weswegen er nicht wirklich damit umgehen konnte. Es war, zumindest für Allegra, kein großes Geheimnis, dass er nicht sonderlich viel von sich hielt und seine einzige Qualität darin sah, dass er ein außerordentlich guter Dämonenjäger war. Deswegen war er selbst jetzt immer noch verlegen, wenn man so über ihn sprach. „Es ist kein Unsinn“, erwiderte Allegra, wechselte dann aber sofort wieder das Thema, um ihm, wie er glaubte, einen Gefallen zu tun: „Ich glaube nicht, dass wir heute viel erreichen werden, immerhin wissen wir absolut gar nichts. Wenn du um Mitternacht zu Charon zurückkehrst, solltest du ihn darum bitten, dir noch einen Hinweis zu geben.“ „Das werde ich tun.“ Zufrieden nahm Allegra die Tasse wieder auf, um erneut einen Schluck zu trinken. Dabei hielt sie allerdings noch einmal inne. „Ich stehe dir die nächsten sieben Tage übrigens stets zur Verfügung, du darfst mich sogar wecken, wenn du nach deinem Besuch bei Charon wieder zurückkommst.“ Erst dann setzte sie die Tasse wirklich an ihre Lippen. Kieran, der wusste, wie wichtig ihr das bisschen Schlaf war, das sie bekam – so sehr, dass es sogar einige ihrer Auseinandersetzungen mit Frediano auslöste – musste bei dieser Aussage sofort lächeln. „Ich danke dir, Allegra.“ Vielleicht gab es doch einen tieferen Sinn dahinter, dass es gerade sie war, die ihn sehen konnte – und Kieran war überzeugt, dass er diesen nun kannte. Auch wenn sie es vielleicht nicht verstand und er keinen großen Wert darauf legte, es ihr zu erklären. Schon allein deswegen, weil er nicht unbedingt gut darin war, anderen Leuten etwas zu erklären. Außerdem würde sie es eher verstehen, wenn sie es selbst begriff und es nicht vorgekaut bekam, dessen war er sich sicher. Also ließ er das Thema fallen. Das einzige, worauf es nun ankam, war, den Dämon zu finden und diese Tür zu erreichen – und er würde beides in den nächsten sieben Tagen schaffen, davon war er, nach wie vor, vollkommen überzeugt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)