Sieben Tage von Flordelis (Custos Mortis reminiscentia) ================================================================================ 1. – Tag I: Verleugnung ----------------------- Dieses Mal erwachte Kieran wesentlich sanfter. Er öffnete blinzelnd die Augen, starrte einen kurzen Moment gedankenverloren an die vertrauten Deckenbalken seines Zimmers und legte sich dann eine Hand auf die Stirn. „Was für ein seltsamer Traum.“ Zu seiner eigenen Verwunderung erinnerte er sich noch äußerst gut an diesen Traum, in dem er durch Landis' Handeln gestorben und bei Charon erwacht war, nur um als Geist zurückgesendet zu werden, um einen Dämon zu fangen, der hinter Nolan her sein sollte. Es war geradezu lächerlich und je länger er darüber nachdachte, desto seltsamer wurde es. Also verwarf er den Gedanken lieber und erhob sich von seinem Bett. Es überraschte ihn ein wenig, dass er vollständig angezogen war, aber er machte sich nichts weiter daraus – vielleicht war er am Vorabend nur zu müde gewesen, sich umzuziehen, das kam manchmal vor – und verließ sein Schlafzimmer, um nach Nolan zu sehen. Bevor er dessen Zimmer erreicht hatte, hörte er bereits, wie die Haustür geöffnet wurde, gefolgt von Nolans Stimme: „Ganz sicher, Tante Asti. Mach dir keine Gedanken.“ „Ich bin ja nur ein wenig besorgt, wenn du hier jetzt ganz alleine lebst“, hörte er, Asterea erwidern; er konnte sich richtig vorstellen, wie sie dabei die Hände vor der Brust faltete. An der Treppe angekommen, ging er einige Stufen hinunter, dann hielt er wieder inne, da sein jetziger Blickwinkel durchaus genügte, um zur Haustür hinüberzusehen. Tatsächlich stand Asterea mit gefalteten Händen da, während Nolan ihr gegenüber nervös von einem Fuß auf den anderen wippte. „Es wird schon gehen“, versuchte der Junge es noch einmal. „Ich bin kein kleines Kind mehr.“ Mit einem Seufzen gab Asterea sich geschlagen. „Ich weiß, ich weiß. Aber falls irgendetwas sein sollte, kannst du jederzeit zu uns kommen, das weißt du doch, oder?“ „Natürlich.“ Nolan klang resigniert, ganz und gar nicht, wie sein sonstiges Ich, als hätte er dieses Gespräch in der letzten Zeit viel zu oft geführt. Es rührte geradewegs an Kierans Herz, weswegen er die Treppe eilig hinter sich ließ, den seltsamen Fleck auf dem Boden ignorierte und dann ebenfalls auf den Eingang zuging. Doch bevor er etwas sagen konnte, verabschiedete Nolan sich bereits von Asterea und schloss die Tür, ehe er sich mit dem Rücken dagegen lehnte. Der Junge stieß ein Seufzen aus, das direkt aus den Tiefen seiner Seele zu kommen schien und das Kieran noch nie zuvor von ihm gehört hatte, weswegen er abrupt wieder stehenblieb. „Was ist los, Nolan?“, fragte er mit seiner gewohnt kühlen Stimme, um sich die Sorgen nicht anmerken zu lassen. „Hast du dich mit Landis gestritten?“ Das würde zumindest seine düstere Stimmung erklären – aber er bekam keine Antwort. Nolans grüne Augen, die sonst vor Leben sprühten, blickten stumpf direkt durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht anwesend. Es ließ ihn wieder an seinen Traum der letzten Nacht denken, aber noch schaffte er es, diesen erfolgreich zurückzudrängen und nicht zu nah an sich herankommen zu lassen. Noch wollte er nicht akzeptieren, was das alles bedeutete. „Redest du jetzt nicht mehr mit mir?“, fragte Kieran stattdessen. Nolan stieß sich von der Tür ab und strebte an ihm vorbei zur Treppe, wo er noch einmal innehielt. Dort starrte er auf den Fleck auf dem Holzboden, den jemand zu entfernen versucht hatte, nur um im Endeffekt daran zu scheitern. Die ursprüngliche Flüssigkeit mochte vielleicht nicht mehr zu sehen sein, aber der dunkle Umriss war noch immer deutlich erkennbar und rief jedem, der davon wusste, den Vorfall sofort wieder ins Gedächtnis. Auch Kieran, der plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust spürte, weswegen er sich gedankenverloren an diese Stelle griff – nur um festzustellen, dass seine Hand, nein, sein ganzes Hemd sogar, plötzlich voller Blut war. Er spürte, wie er in Panik zu geraten drohte, wie die Schlussfolgerung daraus sich ihren Weg durch sein Gehirn bahnte und versuchte, gleichmäßig zu atmen, um sich wieder zu beruhigen. Da ihm das nicht gelang, solange er seine blutige Hand anstarrte, schloss er die Augen und wiederholte immer wieder den Gedanken, dass dies nur ein Produkt seiner Einbildung war, dass es sich hierbei nicht um sein Blut handeln konnte, dass er das alles nur träumte, er war am Leben, verdammt! „Papa.“ Nolans Stimme durchdrang seine finsteren Gedanken wie ein Lichtstrahl die Nacht und beruhigte ihn sofort wieder. Als Kieran seine Augen öffnete, war das Blut verschwunden. Aber entgegen seiner Hoffnungen hatte Nolan ihn nicht angesprochen, stattdessen kniete der Junge nun auf dem Boden, seine Hand lag auf dem Fleck, als wäre dies die einzige Möglichkeit, noch mit ihm zu kommunizieren. Kieran schüttelte den Kopf über so viel Unverstand, gratulierte Nolan aber gleichzeitig zu seinem Ehrgeiz, dieses Spiel noch weiterzuführen. Sicher hatten sie sich am Tag zuvor nur über irgendetwas gestritten, weswegen Nolan nun so tat, als wäre Kieran nicht mehr da, genau das musste es sein – und der Fleck spielte dabei sicher eine Rolle. So wie er es einschätzte, war dem Jungen einfach etwas auf den Boden gefallen. Das war die einzige Erklärung. Ich lebe immerhin. Diesen Schluss zog er zwar nur daraus, dass er sich nicht sonderlich wie ein Geist fühlte – wie auch immer sich das anfühlen mochte – und sein Gespräch mit Charon musste einfach ein Traum gewesen sein. Alles andere war einfach nur absurd, selbst für einen Lazarus. Also streckte er die Hand aus, um nach Nolan zu greifen – und wünschte sich im selben Moment, er hätte es nicht getan. Seine Hand glitt geradewegs durch Nolans Körper hindurch, als wäre dieser gar nicht vorhanden. Es war ihm unmöglich, die Wahrheit weiter zu ignorieren, nachdem er das gesehen hatte. Egal wie sehr er sie nun immer wieder von sich wegschob, sie kroch wieder zu ihm herüber, schlang sich an ihn und starrte direkt in seine Augen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, den Blick abzuwenden. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! Ich muss das träumen! Das ist alles nur der Teil eines großen Traumes! Es war die beste Erklärung, die er finden konnte und er empfand sie auch als nicht zu weit gegriffen. Immerhin stand er immer unter großem Stress und die eigene Sterblichkeit war ihm stets bewusst gewesen, also war es doch nur verständlich, dass er sogar davon träumte, verstorben, aber unfähig zu sein, Nolan allein zurückzulassen. Doch noch während er sich dieses wunderbare Konstrukt baute, das ihm helfen sollte, seinen Verstand zu wahren, spürte er wieder, wie Blut aus einer Wunde auf seiner Brust zu fließen begann, als würde ihn ein kleiner Teil seines Gehirns daran erinnern wollen, dass er nicht träumte und wie es hierzu überhaupt gekommen war. Er müsste der Wahrheit ins Auge sehen, so schwer es ihm im Moment auch noch fiel und so wenig er das wollte. Es kann einfach nicht sein! Wie konnte das passieren? Ein plötzlicher Ausruf von Nolan holte ihn erneut in die Gegenwart zurück. Der Junge war aufgesprungen und rannte nun die Treppe hinauf, allerdings nicht, um in sein eigenes Zimmer zu gehen. Kieran folgte ihm rasch bis in sein eigenes Schlafzimmer, wo Nolan einfach nur bewegungslos dastand und auf das leere Bett starrte. Instinktiv griff er noch einmal nach der Schulter des Jungen, um ihn zumindest ein wenig zu trösten, doch seine Hand ging erneut durch ihn hindurch, ohne den gewünschten Trost zu spenden. „Es wäre auch zu schön gewesen“, murmelte Nolan, fuhr herum und lief durch Kieran hindurch, um nun tatsächlich sein eigenes Zimmer aufzusuchen. Eigentlich wollte Kieran ihm folgen, aber eine andere Erkenntnis hielt ihn in diesem Moment an Ort und Stelle fest: Nolan vermisste ihn. Nolan, der sich eigentlich daran erinnerte, dass Kieran ihn gequält und misshandelt hatte, Nolan, der eigentlich froh sein sollte, dass Kieran tot war, vermisste ihn! Er trauerte um ihn! Auch wenn das Ereignis eine traurige Sache blieb, stimmte diese Erkenntnis ihn irgendwie glücklich. Nach allem, was er getan hatte, um Nolan zum Heilbringer der Lazari werden zu lassen, liebte der Junge ihn immer noch – was ihn nur noch einmal in seinem Denken verstärkte, dass Nolan genau die richtige Person war, um die Lazari von ihrem Schicksal zu erlösen. Und genau dieses Thema lenkte ihn wieder auf etwas anderes zurück: Ich muss die Person finden, die mich sehen kann. Ich muss dafür sorgen, dass Nolan auf jeden Fall sicher bleibt! Er war davon überzeugt, bereits zu wissen, wen Charon gemeint hatte, weswegen er rasch das Haus verließ – praktischerweise ohne die Tür öffnen zu müssen – und sich auf den kurzen Weg zu Richards Haus machte. Im Gegensatz zu seinem besten Freund kannte Kieran das Geheimnis hinter Asterea. Er wusste, dass sie die Sternennymphe war, auch wenn sie das vor jedem, besonders vor Richard, zu verheimlichen versuchte. Kieran war nicht ganz so naiv und leichtgläubig und er glaubte nicht an derart viele Zufälle, wie sie bei Asterea zusammenkamen. Sie war also ein Naturgeist, eine ähnliche Entität wie Charon, daher müsste sie ihn sehen können. In Richards Haus, das er das erste Mal ohne zu klopfen betrat, fand er die Gesuchte schnell in der Küche, wo sie gerade damit beschäftigt war, Tee zu kochen. Kieran blieb in einiger Entfernung stehen, um sie nicht zu erschrecken und rief dann ihren Namen, um auf sich aufmerksam zu machen. Doch sie wandte sich ihm nicht zu. Sie stutzte nicht einmal oder hielt für einen kurzen Moment in der Bewegung inne, also schien sie ihn nicht einmal gehört zu haben. Er versuchte es noch einmal, aber sie reagierte wieder nicht. Unfähig, zu glauben, dass er sich geirrt hatte, trat er näher, sagte dabei wiederholt ihren Namen und griff dann auch nach ihrer Schulter. Aber nichts davon erzielte die von ihm gewünschte Wirkung. Asterea wusste nicht einmal, dass er gerade hier war, sie bemerkte seine Anwesenheit nicht. Er verstand nicht, weswegen eine Nymphe ihn nicht sehen konnte und dachte dabei nicht einmal im Mindesten daran, dass die ersten Falten in ihrem Gesicht ihm eigentlich verraten müssten, dass es sich bei ihr inzwischen nur noch um einen Menschen handelte. Bevor er erneut in Panik abzugleiten drohte, wirbelte er herum, damit er das Wohnzimmer aufsuchen könnte. Richard schien ihm oftmals das zweite Gesicht oder zumindest einen sechsten Sinn zu besitzen, mit dem er, jedenfalls manchmal, in der Lage gewesen war, Geister wahrzunehmen. Wenn Kieran Glück hatte und die Verbindung zwischen ihnen nur stark genug war, wäre es ihm sicher möglich, mit Richard Kontakt aufzunehmen! Sein Freund saß auf dem Sofa, den Blick auf eine Zeitung gerichtet, die auf seinem Schoß lag, aber er schien nicht zu lesen. Stattdessen sah es so aus, als würde er leiden. Auch wenn das kaum zu bemerken war, denn seine Stirn war gerunzelt, so dass jeder andere vermutlich eher darauf getippt hätte, dass er wütend war. Aber Kieran wusste es besser, dafür kannte er Richard bereits lange genug. Um seinen besten Freund nicht länger in diesem Zustand sehen zu müssen, sagte er lächelnd Richards Namen – aber wieder erfolgte keine Reaktion. Urplötzlich fühlte Kieran sich, als müsste etwas in seinem Inneren zerspringen und wäre er nicht bereits tot gewesen, davon war er überzeugt, wäre er nun gestorben, so melodramatisch das auch klingen mochte. Entgegen seiner sonstigen Art wollte er seinen Freund an den Schultern greifen und ihn schütteln, bis er seine Anwesenheit akzeptierte, doch seine Hände glitten auch hier einfach durch den anderen Körper hindurch. Kieran glaubte tatsächlich, ein verheißungsvolles Klirren zu hören, widmete dem aber keine weitere Aufmerksamkeit und erging sich bereits in seinen Gedanken. Weder Nolan, noch Richard oder Asterea konnten ihn sehen. Zwei der wichtigsten Personen in seinem Leben und jene, von der er wusste, dass sie mythischen Ursprungs war, wussten nichts davon, dass er wieder hier war. Er war nie jemand gewesen, der schnell aufgab, aber an diesem Tag, in diesem Augenblick, in dem er vor dem Scherben seines gesamten Lebens stand, konnte er einfach nicht mehr. Er war tot und doch hier, aber niemand konnte ihn sehen, er musste jeden einfach seiner Trauer um ihn überlassen. Die Tatsache, dass es ihn ein wenig freute, dass man doch um ihn trauerte, war vollständig in den Hintergrund gerückt und machte der Ernüchterung Platz, dass er nicht im Mindesten auf diese Situation vorbereitet gewesen war. Um ihr zumindest für den Moment auszuweichen, sich zu sammeln und dann noch einmal über alles nachzudenken, fuhr Kieran herum und verließ das Haus wieder. Dabei bemerkte er nicht, dass Richard aufsah und ihn tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen schien, bevor er durch die Wand aus dem Haus verschwunden war. Richard selbst schüttelte nur rasch mit dem Kopf und rieb sich dann die Augen. „Ich werde wohl wirklich langsam verrückt“, murmelte er leise, ehe Asterea hereinkam, um ihm einen Tee zu bringen. Schweigend nahm er ihr diesen ab und starrte dann wieder auf seine Zeitung hinunter, im sicheren Wissen sich das eben einfach nur eingebildet zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)