Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 1: Erste Begegnung (Hallo Sku) -------------------------------------- Ich habe mir die Kanto Pokémon Akademie groß vorgestellt. Aber nicht so groß. Staunend bleibe ich stehen und lasse meinen Blick über das gigantische Gebäude gleiten, das fast die gesamte Straßenbreite einnimmt und auf einer Höhe mit dem Einkaufscenter liegt.  Schön ist der Beton- und Stahlkoloss nicht, aber allein der Gedanke an die Studenten, die aus Kanto und Johto anreisen, um hier ihre Protrainerkarriere in Gang zu bringen, bevor sie mit vierzehn Jahren losziehen dürfen, erfüllt mich mit einem mulmig guten Gefühl. „Kommst du, Abby?“, fragt Agnes, meine Tante und Dozentin an der KPA über den Lärm der Prismania City Straßen hinweg und steigt von ihrem Fahrrad. Als sie meinen Blick sieht, lächelt sie schelmisch. „Eindrucksvoll, nicht wahr? Der Anblick übermannt mich jedes Mal aufs Neue.“ Ich bleibe noch einen Moment stehen, laufe dann aber zu ihr und folge ihr durch die breiten Doppeltüren ins Innere der Akademie. Trainergrüppchen werfen uns im Vorbeigehen kuriose Blicke zu oder brüten über Stapeln von Papieren und Büchern in den Lesebalkons, die die hohe Eingangshalle an den seitlichen Wänden bevölkern. Die meisten von ihnen sind älter als ich. Mit acht Jahren bin ich eigentlich noch nicht alt genug, um ein eigenes Pokémon zu besitzen, denn der Kampf um Orden ist auf ein Mindestalter von vierzehn Jahren angehoben worden und Trainer erhalten ihre Starter oft erst kurz vor Beginn ihrer Reise. Nach Reds und Golds Steilkarrieren und ihrem anschließenden Verschwinden ist der Trainerandrang so groß gewesen, dass die Liga neue Regulationen einführen musste. Die Professoren der jeweiligen Region dürfen Pokémon nur noch an Kinder mit einer Protrainerlizenz geben, die ihnen das Sammeln von Arenaorden und die spätere Teilnahme an der PCS, der Pokémon Championship erlaubt. Und die bekommt man erst mit vierzehn. Ich straffe meine Schultern und folge Agnes durch die volle Halle zu einem Lift. Kaum sind wir eingestiegen, spreche ich aus, was mich schon seit Tagen beschäftigt. „Ist es wirklich okay, dass ich ein Akademiepokémon bekomme?“, frage ich zum gefühlt hundertsten Mal, aber Agnes legt nur beruhigend eine Hand auf meine Schulter. „Ich musste ein bisschen rumtelefonieren, aber jetzt ist alles abgesegnet“, sagt sie. „Auch wenn du nicht eingeschrieben bist, wird es keine Probleme geben. Meine Vorgesetzten kennen das Prozedere inzwischen von deinen Geschwistern, mach dir darüber also keine Sorgen.“ Ich nicke. Die Aufregung macht sich immer mehr bemerkbar und als wir das siebte Stockwerk erreichen und die Aufzugstüren sich mit einem leisen Pling öffnen, rausche ich hinaus auf den Flur und schaue mich suchend nach der Kinderstube um, wie Agnes den Raum manchmal nennt. „Andere Richtung“, ruft sie lachend und ich mache auf dem Absatz kehrt, um ihr hinterher zu laufen. Agnes führt mich durch den beleuchteten Flur und bleibt schließlich vor einer breiten Tür mit eingefasstem Glasfenster stehen. Zu blöd, dass ich nicht groß genug bin, um hindurch zu schauen. „Gleich wird es voll“, warnt sie mich. „Bewege dich langsam und achte darauf, sie nicht zu verschrecken. Es sind ausnahmslos Jungpokémon.“ Ich nicke. Tarik hat sein Wablu vor zwei Jahren ebenfalls hier bekommen, Maya ihr Teddiursa ein Jahr später. Beide haben wochenlang geprahlt und weichen ihren Pokémon auch heute nicht von der Seite. Aber jetzt bin ich dran. Agnes öffnet die Tür und wir treten nacheinander ein. Ein hüfthoher Maschendrahtzaun trennt den Eingangsbereich gleich nach der Tür vom Rest des weitläufigen Raums. Mein Blick wandert über die Regale, die mit nummerierten Pokébällen zum Bersten gefüllt sind und über die Topfpflanzen, Planschbecken und Steinbrocken, die überall im Raum verstreut liegen. Und über die Pokémon. Es müssen hunderte sein. Herumtapsende und rollende Pokémonbabys soweit das Auge reicht. Ich kann ein leises Wow nicht unterdrücken und schaue zu Agnes hinauf. „Ich kann mir irgendeins aussuchen?“, frage ich nochmal nach, sicher, dass es irgendeinen Haken geben muss. Sie lächelt. „Irgendeins“, stimmt sie zu. Dann geht sie vor mir in die Hocke und legt ihre Hände auf meine Schultern. „Aber denk daran: Dein Starter wird mit dir zusammen aufwachsen. Wähle nicht nach Aussehen oder Stärke, sondern nach seinem Wesen und Charakter. Wenn du den richtigen Partner findest, wird es ein Freund sein, den nichts und niemand ersetzen kann.“ Ich nicke ernst und steige dann vorsichtig über den Zaun. Ich habe kaum einen Fuß auf die andere Seite gesetzt, da wuseln schon die ersten Pokémon um meine Fußgelenke und klettern an meinem Hosenbein hinauf. Ich grinse breit und bewege mich langsam durch das Meer aus Fell, Schuppen und Federn. Es müssen unendlich viele kleine Pokémon sein, die meine Beine entlang streifen, über meinen Kopf hinweg flattern und über meine Füße wuseln. Ich kichere, als ein flauschiger Schwanz unter meiner Nase entlang streicht. Agnes folgt mir. „Was ist das für eins?“, frage ich und zeige auf ein beigebraunes Pokémon mit sehr langen Armen und braunen Streifen auf dem Rücken und um die Augen. Es kratzt sich gemächlich am Kopf und seufzt leise, während seine Augen langsam zufallen. „Das ist ein Bummelz“, sagt Agnes. „Art Faulpelz. Es hat zwei Entwicklungsstufen und ist vom Typ Normal.“ Agnes ist ein wandelnder Pokédex. Aber das muss sie auch sein, wenn sie an einer Akademie wie dieser Teambuilding unterrichtet. Etwas Schwarzes flattert über meinen Kopf. Als ich nach oben schaue, fliegt dort ein blauschwarzer Vogel mit krummem, gelbem Schnabel und Federn auf dem Kopf, die aussehen wie ein dreizackiger Hut. „Und das?“, frage ich und deute auf das Pokémon, das mich mit schief gelegtem Kopf anschaut. „Ein Kramurx“, sagt Agnes sofort. „Art Finsternis, eine Entwicklungsstufe, Typ Unlicht und Flug.“ Es krächzt, dann fliegt es davon. Als ich ihm mit meinem Blick folge, entdecke ich eine im Schatten liegende Ecke, die mit Vorhängen von den Lampen und Fenstern abgeschirmt ist. Darunter tummelt sich eine Gruppe nachtaktiver Pokémon, die leise schnarchen oder müde in die Gegend schauen. Ich bewege mich in Richtung des kleinen Grüppchens und begutachte sie einige Momente. Agnes sagt, ich soll meinen Starter nach seinem Wesen beurteilen, nicht nach seinem Aussehen, aber ich frage mich allmählich, wie ich unter all diesen Pokémon den richtigen Partner auswählen soll. Es kommt mir unmöglich vor. Ein tiefes, kurzes Schnurren reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue zu Boden. Vor mir sitzt ein flauschiges, schwarzviolettes Fellknäuel. Ein beiger Streifen beginnt über seinen rot unterlaufenen Augen und verläuft den Rücken entlang bis zum Ende seines buschigen Schwanzes. Es hat eine breite Schnauze mit weißen Schnurrbarthaaren und kleine, spitze Krallen. Ich gehe vor ihm in die Hocke und es schaut mich mit großen schwarzen Augen an. Es schnurrt noch einmal und ich kann das Geräusch förmlich in meiner Brust fühlen. Ich strecke die Hand nach dem Pokémon aus. Als ich es streichle, schließt es genießerisch die Augen und rollt sich auf den Rücken. Sein Bauch ist weich und warm. „Das ist ein junges Skunkapuh“, sagt Agnes, ohne meine Frage abzuwarten. „Art Stinktier, Typ Unlicht und Gift. Es hat eine Entwicklungsstufe auf Level 34.“ Ich setze mich im Schneidersitz hin und das Skunkapuh krabbelt zu mir auf den Schoß, wo es sich einrollt. Als ich ihm den Bauch streichle, rollt es sich von innen nach außen, bis sein Rücken ganz gebogen ist. „Es ist noch nicht ausgewachsen“, sagt Agnes. „Und sein Gewicht wird sich in den nächsten Wochen noch vervielfachen.“ „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“, frage ich, während ich ihm weiter durch das weiche Fell streiche. Agnes setzt sich zu mir und streichelt ihm ebenfalls den Bauch, aber ich kann sehen, dass sie nach etwas sucht. „Weiblich“, sagt sie schließlich. Dann zieht sie einen Pokédex aus ihrer Brusttasche. Das Emblem der Schule ist darauf genäht, ein Pokéball, ein Superball und ein Hyperball in einem Dreieck angeordnet und mit den Buchstaben KPA in schwarz darüber. Ich kenne die Bälle, obwohl ich sie noch nie benutzt habe. Papa hat früher bei der Silph Co gearbeitet. Danach ist er auf Mamas Bitten mit uns nach Orania City gezogen und hat dort einen Supermarkt für Trainer eröffnet.  „Skunkapuh - das Stinktier-Pokémon“, schallt es mit metallischer Frauenstimme aus dem Gerät und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. „Es beschützt sich, indem es aus seiner Gesäßdrüse eine 24 Stunden stinkende Flüssigkeit spritzt. Level 4. Spezialfähigkeit: Finalschlag.“ „Was ist Finalschlag?“, frage ich. „Das ist eine Fähigkeit, die in Kraft tritt, wenn dein Pokémon von einem anderen mit einer physischen Attacke besiegt wird“, erklärt Agnes, mit der Stimme einer Lehrerin, die diese Frage oft beantworten muss. „Der Angreifer erhält ein Viertel seiner maximalen Gesundheit an Schaden.“ Ich schaue sie ratlos an. „Oh, tut mir leid.“ Sie lacht. „Es ist so eine Art letzte Attacke, bevor dein Pokémon besiegt wird.“ Ich schaue das Skunkapuh noch einen Moment länger an. Es hat sich um meine Hand gerollt und als ich sie versuchshalber anhebe, bohren sich kleine Krallen in meine Haut und halten mich fest. Dann beginnt es, leise zu schnarchen. „Ich will es haben“, sage ich und hebe das Skunkapuh auf meinen Arm, bevor ich aufstehe, um es nicht zu stören. Es schlummert friedlich und reibt seine feuchte Schnauze gegen meinen Hals. Ich kichere. „Ganz sicher?“, fragt Agnes. Ich strahle sie an. Agnes nickt, dann schlängelt sie sich zwischen den ganzen Pokémon hindurch zu einem der Regale. Sie sucht ein bisschen, dann nimmt sie einen der Bälle und kommt zu mir zurück. Sie drückt ihn mir in die Hand. „Bitteschön.“ Sie geht wieder in die Hocke. „Wenn du Druck auf den Ball ausübst, wird er aktiviert und dein Pokémon kehrt entweder zurück oder wird heraus befördert. Wenn du auf diesen kleinen Knopf drückst…“ Sie zeigt mir den Knopf, der leuchtet, wenn man drauf drückt und der in der Mitte des Balls zwischen der roten und der weißen Hälfte liegt. „…dann wird er klein und wieder groß.“ Der Ball schrumpft und wächst. Ich nehme den Pokéball und drücke ihn leicht, während ich seine Öffnung in Skunkapuhs Richtung halte. Er öffnet sich mit einem leisen Klacken und rotes Licht schießt daraus hervor, ummantelt Skunkapuh und zieht sie in den Ball hinein. Dann schließt er sich wieder. Ich drücke auf den kleinen Knopf und er schrumpft von Apfel auf Walnussgröße. Agnes nickt zufrieden. „Ich habe deine ID schon in Auftrag gegeben“, erklärt sie. „Wir müssen sie nur abholen und dann bringe ich dich nach Hause, damit du den anderen dein Pokémon zeigen kannst. Ich habe außerdem noch drei Pokédexe, für jeden von euch einen.“ Ich nicke begeistert und laufe zwischen den Pokémon hindurch zurück zur Tür, Skunkapuhs Pokéball fest in meinen Händen. Ich kann es kaum erwarten, ihre Gesichter zu sehen.   Wir fahren mit dem Fahrrad zurück. Als wir die Akademie verlassen, setze ich mich hinten auf den Gepäckträger, dann schwingt Agnes sich in den Sattel. Sie winkt einigen Studenten zu, die sie aus ihren Vorlesungen kennt und radelt schließlich mit mir aus Prismania City heraus und in Richtung Saffronia City. Saffronia ist eine große Stadt und ich meine damit nicht nur den Bahnhof. Sogar zwei Arenen gibt es. Das Herzstück der Stadt bildet allerdings die Silph Co. Bevor Papa den Laden in Orania übernommen hat, hat er dort gearbeitet und Pokébälle entwickelt. Aber dann ist vor fünf Jahren etwas Schlimmes passiert. Papa redet nicht gerne darüber, aber Mama hat mir erzählt, dass es einen Anschlag auf die Silph Co gab und alle Mitarbeiter als Geiseln genommen wurden. Red hat Team Rocket damals im Alleingang besiegt und die Silph Co gerettet. Red ist toll. Er ist der stärkste Trainer, den es gibt. Selbst heute noch, nachdem er schon seit vielen Jahren verschwunden ist und es nur Gerüchte über seinen Aufenthaltsort gibt, laufen im Fernsehen immer noch Dokumentationen über ihn. Interviews, Kampfmitschnitte und dergleichen. Wann immer PCN solche Reportagen bringt, muss Mama mich vom Bildschirm wegziehen. Ich kann nicht anders. Red fasziniert mich. Offiziell ist er nicht mehr Champion, aber dann wiederum ist er untergetaucht, bevor ihn jemand herausfordern konnte. Bis heute bleibt er ungeschlagen. Wir fahren an der Silph Co vorbei und folgen der Straße südlich in Richtung Orania. Wir sind zwei Stunden unterwegs, bevor der See und die Voltilammherden in Sicht kommen. Ich rufe dem Hirten etwas zu und als er mich sieht, winkt er zurück und zieht seinen Strohhut. Bis wir in Orania City ankommen, dämmert es bereits. Ich entdecke Mama, die gerade aus einer Seitenstraße kommt und eine lange Umhängetasche schultert. Sie wirkt müde. Ich winke ihr zu und Agnes bleibt mit dem Fahrrad neben ihr stehen. „Natalie, wie geht’s dir?“, begrüßt sie meine Mutter und steigt vom Rad, um ihre Schwester zu umarmen. „Ich hab dich heute Morgen gar nicht mehr gesehen.“ „Tut mir leid, ich musste die Konferenz vorbereiten und es gab noch so viel zu tun…“ Mama seufzt. „So ein Aufwand, nur für diese kurze Besprechung.“ „Hast du viel Stress in letzter Zeit?“, fragt Agnes und sieht Mama forschend an. Sie zuckt mit den Achseln. „Seit wir die neuen Pokémonarten national eingeführt haben, ist der Stressfaktor in allen Bereichen hoch, denke ich. Aber ja, es gibt viel zu erledigen.“ Sie schaut zu mir und ein strahlendes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Wie geht es dir, Abby? Hast du ein schönes Pokémon ausgesucht?“, fragt sie. Ich nicke enthusiastisch. „Warum fahren wir nicht nach Hause und Abby zeigt es dir dort?“, fragt Agnes und lächelt geheimnisvoll. „Ich habe unheimlichen Hunger.“ „Ich hoffe, Bernhard hat die Kartoffeln schon gekocht, die ich raus gelegt habe“, sagt Mama. „Dann könnten wir direkt essen.“ Unser Haus ist am anderen Ende der Stadt gleich am Meer, wo die M.S. Anne und die M.S. Aqua anlegen. Der Steg ist direkt vor unserer Haustür, was gut ist, denn ich schwimme unheimlich gerne im Meer, auch wenn der Wellengang stärker ist als im angrenzenden See vor der Stadt. Nur bei Schiffverkehr dürfen wir nicht hinein. Tarik steht auf besagtem Steg und lässt Wablu das Wasser attackieren. Das kleine blaue Pokémon schießt vor und zurück und pickt mehrmals schnell hintereinander nach den Wellen. Ich schaue ihm fasziniert zu, dann springe ich vom Fahrrad und laufe zu ihm. „Riki!“, schreie ich und renne ihm in die Arme, die er im letzten Moment hoch bekommt. Wir fallen beide um. Tarik ist zwei Jahre älter als ich. Er hat Mamas braunes Haar, das er kurz trägt und weil Sommer ist, trägt er eine kurze Latzhose. „Was willst du, Abs?“, fragt er und schiebt mich weg. Stolz überreiche ich ihm einen der Pokédexe. Seine Augen glühen vor Begeisterung förmlich auf. „Danke, Tante Agnes!“, ruft er ihr zu und schaltet das rote Gerät ehrfürchtig an. Agnes kommt zu uns. „Das neuste Modell“, erklärt sie. „Er speichert deine Pokemondaten und liest den Level, hat Platz für mehrere Kartenmodule und sammelt natürlich Informationen über alle neuen Pokémon, die du fängst oder siehst.“ Sie zwinkert ihm zu. „Er verwendet ein drahtloses System, das dich mit anderen Pokédexen verbindet und es dir ermöglicht, Pokédexeinträge anderer Trainer runter zu laden. So musst du nicht die ganze Arbeit alleine machen.“ Tarik schaut das Gerät begeistert an. Ich habe nur die Hälfte von dem verstanden, was Agnes ihm erzählt hat, aber Rikis Reaktion nach ist das neue Modell ziemlich cool. „Probier ihn doch mal aus“, schlägt Agnes vor. Tarik nickt. „Wablu, komm her“, sagt er und Wablu flattert wild fiepend zu ihm, wo sie sich auf seine Schulter setzt und den Kopf liebevoll an seine Wange reibt. Er streicht ihr abwesend über den Kopf, dann zeigt er mit dem Pokédex auf sie. „Wablu – Das Wollvogel-Pokémon. Wablu liebt die Sauberkeit und reinigt umgehend jede schmutzige Fläche mit seinen baumwollartigen Flügeln. Level 14. Spezialfähigkeit: Innere Kraft“, verkündet die Frauenstimme. Tarik sieht das Gerät geknickt an. „Wann entwickelt sich Wablu nochmal?“, fragt er. „Auf Level 35“, sagt Agnes sofort. Enttäuscht lässt er den Kopf hängen. Ich laufe zu Mama und sie streicht mir über den Kopf. Als ich hoch schaue, wirft sie mir ein Lächeln zu. „Wer hat Hunger?“, fragt sie gut gelaunt und ich laufe sofort an ihr vorbei zum Haus. Ich klopfe zweimal laut, dann macht Marcel die Tür auf. Ich bin ein bisschen größer als das Machollo, was nicht immer der Fall war. „Macho“, sagt er und geht zur Seite, um mich durchzulassen. Die anderen folgen. Papa hat tatsächlich schon gekocht. Nancy, Mamas Snobilikat, liegt wie immer neben dem Sofa und betrachtet uns mit glasigen Augen. Sie ist das faulste Pokémon, das ich kenne. Wir setzen uns alle an den Tisch. Maya kommt auch, nachdem Mama sie zweimal gerufen hat, ihr Teddiursa, das sie Ursula getauft hat, fest in ihren Armen. Sie laufen immer so rum. Allein für den Spitznamen wäre ich an ihrer Stelle von Maya weggelaufen. Die Erwachsenen reden, aber ich höre nur mit halbem Ohr hin. In Gedanken bin ich bei Skunkapuh. Meine Hand tastet immer wieder nach der Wölbung in meiner Hosentasche wo der kleine Pokéball ist. Mama, Papa und Agnes lassen sich unendlich viel Zeit mit dem Reden. Irgendwann stehe ich auf und laufe rastlos durchs Wohnzimmer. Als alle mit dem Essen fertig sind, drehen sie sich neugierig zu mir um. Ich springe vom Sofa auf und ziehe meinen Pokéball aus meiner Tasche. „Los, Skunkapuh“, sage ich. Der Pokéball öffnet sich, ein rotes Licht strömt heraus und einen Moment später steht Skunkapuh vor meiner Familie. Eingeschüchtert legt sie sich flach auf den Boden, den flauschigen Schwanz eng an den Körper gepresst. „Oh je“, sagt Mama. „Ist das…“ „Ein Skunkapuh! Igitt!“ schreit Maya und klammert sich an Ursula. Selbst Papa verzieht das Gesicht und Tarik krault angewidert Wablus Kopf. Was? Agnes lächelt mir stolz zu, aber die anderen schauen Skunkapuh an, als wäre sie irgendetwas… Ekliges. Warum sehen sie nicht, wie süß mein Pokémon ist? Warum schauen sie so komisch? „Hättest du dir kein… anderes Pokémon aussuchen können?“, fragt Mama. „Skunkapuhs stinken fürchterlich.“ „Wirklich, Abby, das ist widerlich“, stimmt nun auch Tarik zu. Ich blinzele. Wie können sie so etwas sagen? Agnes wirft Mama einen bösen Blick zu und murmelt leise etwas, aber ich höre nicht mehr richtig zu. Ich schlucke die Tränen hinunter, greife Skunkapuh unter den Achseln und laufe hoch in mein Zimmer. Kaum dass ich die Tür hinter mir zu gerissen habe, werfe ich mich auf mein Bett und spüre, wie heiße Tränen meine Wangen hinunter kullern. Ich hatte mich so auf Mamas Gesicht gefreut, so wie bei Tarik und Maya, als alle begeistert waren und Wablu und Teddiursa gestreichelt haben. Skunkapuh kommt zu mir aufs Bett gesprungen und rollt sich auf meinen Armen zusammen, wo sie einschläft. Obwohl ich immer noch schluchze, muss ich für einen Moment lächeln und schmiege mein Gesicht an ihren warmen Bauch. Ich höre Gesprächsfetzen, die aus dem Wohnzimmer zu mir hochdriften, aber ich kann keine Worte verstehen. Etwas später klopft Mama an die Tür und sagt, Skunkapuh wäre ein tolles Pokémon, sie wäre nur überrascht gewesen und ob ich nicht raus kommen wolle. „Nein!“, rufe ich. „Geh weg.“ Sie bleibt noch ein paar Sekunden stehen, dann höre ich ihre Schritte, als sie die Treppe hinunter geht. „Skunka?“, frage ich leise. Sie rührt sich nicht. „Sku?“ Sie öffnet ein Auge und schaut mich verschlafen an. „Sku.“ Ich lasse den Namen auf mich wirken. Bis mir ein besserer eingefallen ist, ist Sku okay, denke ich. Immerhin besser als Ursula. Ich krame die beiden übrigen Pokédexe aus meiner Hosentasche. Von mir wird Maya ihren ganz sicher nicht kriegen. Ich spiele ein bisschen mit den Programmen herum, bis ich auf Skunkapuhs Pokédexeintrag stoße. Da kommt mir eine Idee. „Sku, wach auf.“ Sie öffnet die Augen und schaut mich träge an. „Kannst du runter gehen und alle anstinken? Außer Agnes, wenn das geht?“, frage ich. Sie blinzelt einmal. Vielleicht muss ich eine Attacke sagen. Oder gehorcht sie mir nicht? Frustriert schaue ich noch einmal auf den Eintrag. Dann stehe ich kurzentschlossen auf. Sku rollt von meinen Armen hinunter und schaut mich vorwurfsvoll an, tut aber sonst nicht viel. Ich hebe sie hoch und verlasse leise mein Zimmer. Ich muss aufpassen, weil die Tür manchmal knarzt. Sku hänge ich mir um den Hals. Unten höre ich Stimmen. Agnes sagt etwas. Dann Papa. Ich taste mich mit den Zehenspitzen voran, bis ich die Treppe erreiche, dann setze ich Sku ab. „Sku, Giftwolke ins Esszimmer“, befehle ich. Sku lässt ein leises Geräusch hören, das wie ein Seufzen klingt, dann hopst sie die erste Stufe hinunter. „Aber ohne Gift, nur Gestank“, füge ich schnell hinzu. Sku wirft mir einen kurzen, trägen Blick zu, als wolle sie sagen, dass ihr das alles viel zu anstrengend ist, dann klettert sie gehorsam die restlichen Stufen hinunter und läuft durchs Wohnzimmer zu meiner Familie. Ich höre noch ein Geräusch, das wie ein lauter, langgezogener Pups klingt, dann bricht Geschrei und Gezeter los. Mayas Kreischen klingt wie Musik in meinen Ohren. „Abbyyyyy!“, schreit Mama und ich laufe lachend nach oben. Ich will schon die Tür zuschlagen, da huscht Sku an mir vorbei in mein Zimmer, klettert den Bettpfosten hinauf und rollt sich auf meinem Kissen ein. Ich grinse, dann ziehe ich meinen Schlafanzug mit den Pokébällen drauf an und lege mich zu Sku unter die Decke. Ich hebe sie von meinem Kissen und lege mich hin, die Augen geschlossen. Wenige Sekunden später klettert Sku auf meinen Kopf und rollt sich dort zusammen. Ihre Krallen ziepen in meinem Haar, aber das macht mir nichts aus. Ich hab mein eigenes Pokémon. Und es ist das Beste auf der ganzen Welt. Kapitel 2: Kein Sprücheklopfer (Bikeralarm) ------------------------------------------- „Weißt du, Abs, vielleicht solltest du Skunk ein bisschen mehr trainieren.“ Tarik wirft mir einen vielsagenden Blick zu. „Du weißt schon, was Trainer so machen.“ Er ist jetzt fünfzehn Jahre alt. Seitdem Wablu sich zu Altaria entwickelt hat, denkt er, er müsse mir irgendwelche Ratschläge geben. Ich räkele mich ein bisschen in der Sonne und lasse meinen Kopf zur Seite sacken. „Nah, zu heiß“, sage ich. Das Holz des Bootstegs ist angenehm warm unter meiner nackten Haut. Ich trage einen schwarzen Bikini, während ich mich sonne. Sku liegt dicht neben mir, gerade so weit von mir entfernt, dass ihr aufgeheiztes Fell mich nicht berührt. Sie seufzt leise im Schlaf. „Du hast echt keinen Ehrgeiz, oder?“, fragt Tarik und kommt zu mir rüber. Ich öffne die Augen und blinzele ihn unter meiner Sonnenbrille verschlafen an. „Nein, wieso?“ Er schüttelt den Kopf. „Du bist unglaublich, wirklich. Agnes hat dir Skunk nicht geschenkt, damit ihr zwei Faulpelze euch in die Sonne legt und den ganzen Tag schlaft.“ Ich stütze mich auf meine Ellenbogen und ziehe meine Sonnenbrille ein Stück runter, um ihm in die Augen sehen zu können. Die Wellen plätschern sanft gegen den Steg und das Ufer und über uns kreischen zwei Wingulls. „Wir sind müde“, verteidige ich uns. „Außerdem ist es meine Sache, was ich mit meinem Pokémon mache.“ „Wie du meinst.“ Er wendet sich ab und Altaria gleitet sanft neben ihm durch die Luft. Wenn sie ihre flauschigen Daunenflügel anlegt, sieht es fast so aus, als würde sie auf einer Wolke schweben. „Aber beschwer dich nicht bei mir, wenn du demnächst von einem Trainer herausgefordert wirst und ihm dein ganzes Geld geben musst.“ „Werde ich nicht, keine Sorge.“ Ich lege mich wieder hin. Tarik soll nicht so besserwisserisch tun. Sku und ich haben mehr trainiert, als er ahnt. Sku ist wie alle Pokémon ihrer Art nachtaktiv, tagsüber ist sie zu nicht viel zu gebrauchen. Seit ich herausgefunden habe, welchen Rhythmus sie hat, sind wir jede Nacht für ein oder zwei Stunden raus in die Wiesen außerhalb von Orania gegangen. Laut Pokédex ist Sku mittlerweile auf Level 27. Sie beherrscht die Attacken Schlitzer, Kreideschrei, Rauchwolke und Toxin und kommt mit allen wilden Pokémon in dieser Gegend sehr gut alleine klar. Aber das muss Tarik ja nicht wissen. Soll er doch denken, seine kleine Schwester wäre völlig hilflos. „Und du?“, frage ich unschuldig. „Schon irgendwelche Pläne?“ „Ich will Major Bob fragen, ob er mich trainieren kann.“ „Hah!“, pruste ich. „Du hast nicht mal ein Elektropokémon. Was willst du bei Major Bob?“ „Du hast ja keine Ahnung“, erwidert Tarik gereizt. „Agnes sagt, Arenaleiter und ihre Vorkämpfer haben Vorgaben, wie ihr Pokémonteam gestaltet sein muss. Wenn sie kein Passendes haben, wird ihnen eins gestellt.“ „Ach, und du glaubst, du gehst da einfach rein, lässt dir ein paar neue Pokémon geben und arbeitest dann da? Warum sollten die sich so viel Mühe machen? Es gibt nicht mal Aushänge, dass Bob neue Leute braucht.“ „Fragen kostet schließlich nichts“, sagt Tarik, aber er klingt unsicher. „Willst du nicht Pokémontrainer werden?“, frage ich. „Professionell. Mit Orden und so.“ Er zuckt die Achseln. „Vielleicht.“ „Ich wette, das könntest du“, ermutige ich ihn. „Rocko in Marmoria packst du doch schon locker und Misty dürfte auch kein Problem sein.“ „Schon, aber ich habe nur ein einziges Pokémon.“ „Mann, Riki, jetzt suhl dich nicht in Selbstmitleid.“ Ich nehme Schwung und richte mich in Sitzposition auf. Dann breite ich die Arme weit aus. „Da draußen wartet eine ganze Welt auf dich, mit hunderten von Pokémon! Allein vor deiner Haustür gibt es zwanzig verschiedene Arten. Geh zu Papa, lass dir ein paar Pokébälle geben und fang dir was!“ Ich grinse ihn an, aber Tarik wirkt nicht überzeugt. Altaria, anhänglich wie sie ist, schwebt vor ihm und er streichelt ihren langen blauen Hals. „Ich weiß nicht, Abs.“ „Was weißt du nicht?“ „Ob ich hier weg will.“ „Von zu Hause?“, frage ich ungläubig. „Früher sind Trainer schon mit zehn Jahren alleine losgezogen und das mit weit schlechter trainierten Pokémon. Wovor hast du bitte Angst?“ „Ach, keine Ahnung, das verstehst du nicht.“ Er schaut weg und ich schaue ihn nachdenklich an. Ich verstehe es wirklich nicht. Ich habe schon seit langem vor, an meinem fünfzehnten Geburtstag selbst los zu ziehen, egal wohin, egal wie. Jetzt sind es nur noch zwei Jahre. Umso mehr will ich Tarik auf seinen eigenen Weg bringen, bevor ich gehe. Es wäre schade um ihn, wenn er hier verrottet. Pokémon trainieren ist seine Leidenschaft, ich sehe es ihm jedes Mal an, wenn wir Agnes in Prismania besuchen und uns zu ihr in die Vorlesung setzen. Sie unterrichtet vieles, was wir wahrscheinlich nie wieder brauchen werden, aber immerhin haben sowohl Tarik als auch ich jetzt fundierte Kenntnisse in Teambuilding und damit verbunden dem Training von Pokémon. Vielleicht überwältigt ihn die ganze Theorie und er hat Angst, alles zu verbocken. Ich nehme das gelassener. Sku und ich haben uns auf Rettan, Taubsi und Rattfratz konzentriert, um Skus Angriff und Initiative zu trainieren, aber mir ist völlig egal, wie mein Team später Mal aussieht. Ich will schließlich keine professionelle Trainerin werden. Und mal ehrlich, niemand erwartet von einem Teenager ein perfektes Team. Meist dauert es drei oder vier Jahre, bevor Trainer stark genug sind, an der Pokémon Championship teilzunehmen und selbst dann ist ihr Training noch nicht beendet. Ich verstehe nur nicht, warum Tarik Angst davor hat, weg zu gehen. „Wenn du wirklich zu Bob willst, würde ich mir vorher immerhin einen Elektrotyp anschaffen“, schlage ich vor. „Frag doch Jack, ob er dir eins von seinen Voltilamm abgibt. Oder du kannst über Azuria zu dem Elektrokraftwerk gehen. Das ist weiter weg, aber dafür hättest du mehr Auswahl.“ Er macht ein undefinierbares Geräusch und ich stehe deprimiert auf. „Bei deiner Einstellung kriegt man ja eine Gänsehaut“, sage ich. „Weißt du eigentlich, dass Maya vorhat, nach Marmoria City zu gehen?“ „Was?“ Tarik sieht mich entsetzt an. „Sie ist doch erst vierzehn!“ „Sie will gehen, sobald sie alt genug ist, eine Ausbildung zu kriegen.“ „Was will sie denn in Marmoria?“ „Hallo? Mondberg? Fossilien?“ Ich schaue ihn ungläubig an. „Dann noch das Museum mit dem ganzen alten Zeugs drin und Rockos Steinarena. Das muss ihr wie ein Paradies vorkommen.“ „Mist.“ Tarik streichelt Altarias Wolkenflügel und sie belohnt ihn mit einem glücklichen Gurren. „Dann bleiben wohl nur wir zwei“, sagt er, aber ich weiß nicht, ob er mich oder Altaria meint. Ich sage nichts, sondern stehe auf. Während ich Sku wachkraule, schaue ich Tarik ernst an. „Denk drüber nach“, sage ich. „Wenn du hier bleiben willst, solltest du dir ein paar Elektropokémon zulegen, sonst kommst du da nie rein.“ Er nickt. „Vielleicht hast du Recht.“ „Riki, ich habe immer Recht, finde dich damit ab“, sage ich grinsend. Sku öffnet träge ein Auge und schaut mich flehend an. „Oh nein, du läufst, Sku. Du hast zugenommen und es ist heiß, glaub nicht, dass ich dich auf meine Rücken packe und durch die Gegend kutschiere.“ Sku seufzt auf ihre Stinktierart, dann erhebt sie sich langsam und wankt ein bisschen, bevor sie sich fängt und ein paar Schritte macht. Tarik beäugt sie fassungslos. „Weißt du, ich kann nicht verstehen, wie du mit ihr klar kommst. Du warst früher immer so aktiv und wolltest nichts mit Faulpelzen zu tun haben und jetzt sieh dich an. Sie hat auf dich abgefärbt, ihr schlaft beide den ganzen Tag.“ „Du kennst unsere Nächte nicht“, kontere ich und winke ihm, während Sku und ich den Steg verlassen und zurück Richtung Stadtzentrum gehen. Die Sonne hat mich ausgetrocknet und mir ist furchtbar warm. Vielleicht können wir in dem See beim Untergrundtunnel schwimmen gehen. Bei dem Gedanken an das kühle Nass wird mein Gang noch ein wenig beschwingter. Obwohl es so heißt ist, ist der Platz vor dem Stadttor so überfüllt, dass ich kaum durchkomme. Ich quetsche mich zwischen den Erwachsenen durch und weil ich noch so klein bin, kann ich mich mehr oder weniger unbehelligt vordrängeln. Vorne angekommen sehe ich, was den Aufruhr verursacht hat. Vor dem Stadtausgang steht eine Bikergang. Ich weiß, dass es zwischen Lavandia und Saffronia viele Biker gibt und natürlich auf dem Radweg runter nach Fuchsania City, aber nach Orania kommen sie eigentlich nie. Es sind drei junge Männer, einer groß und fett mit Glatze, die anderen beiden schmaler, mit Lederklamotten trotz des Wetters und hochgestyltem, buntem Haar. Vor ihnen steht ein einzelner Trainer, ein Junge, vielleicht so alt wie Tarik, mit einem roten Lockenkopf. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber seine geballten Fäuste zittern. Sein Pokémon, ein Knilz, liegt halb besiegt auf dem Boden. Es rappelt sich mühsam mit seinen kurzen Ärmchen auf, aber ich sehe mit einem Blick, dass es keine Chance hat. Seine Gegner sind zwei Sleima, wahrscheinlich die Pokémon der beiden dünnen Biker, denn der Große lehnt gelangweilt an seinem Motorrad und gähnt ab und zu demonstrativ. „Los, Penny, du schaffst das!“, ruft der Junge und Penny antwortet mit einem schwachen Fiepen. Ich gucke mich um, aber ich kenne die meisten Leute, die hier rumstehen. Niemand von ihnen ist ein Trainer. Zumindest kein besonders guter. In Orania hat fast jeder ein Pokémon, aber die wenigsten haben je mit ihnen gekämpft. Es ist ein Jugendsport, sagen sie, obwohl das natürlich Quatsch ist. Es gibt viele tolle erwachsene Trainer. „Bereit für ein bisschen Action?“, frage ich Sku und sie schaut mich mit ihren schwarzen Knopfaugen an. Ich kann vielleicht nicht mit ihr reden, aber über die letzten drei Jahre sind wir einander so nah gekommen, dass ich ihre Mimik wie ein offenes Buch lesen kann. Ich hab zwar überhaupt keine Lust, aber du kannst auf mich zählen. Sie plustert sich auf und ihr ohnehin schon dicker Körper wird grotesk groß, dann läuft sie los und stellt sich wie ein Schutzschild vor das Knilz. „Hilfe gefällig?“, frage ich den Jungen. Seine runde Brille ist ihm die Nase runtergerutscht, aber als er mich sieht, schiebt er sie schnell wieder hoch. „Wer bist du?“, fragt er, aber da greifen die Sleima schon an. „Sku, Rauchwolke!“, rufe ich und Sku stemmt sich auf ihre kurzen Vorderbeine und speit eine große, schwarze Wolke aus ihrem Maul. Innerhalb von Sekunden kann ich meine Hand nicht mehr vor Augen sehen. Die Biker husten und fluchen und ich höre etwas, das verdächtig nach gegen die Regeln klingt. „Na komm, die Wolke hält nicht ewig“, sage ich. „Penny, Megasauger!“, ruft der Junge und in dem Rauch sehe ich eine Bewegung und ein grünes Licht. „Hat dein Knilz eine physische Attacke?“, frage ich hektisch, weil der Rauch sich langsam verteilt und die Schemen unserer Gegner wieder sichtbar werden. „Ja, aber warum-“ „Greif damit an, sobald ich dran war“, unterbreche ich ihn. „Sleima, Lehmschelle!“ Ich fluche und klappere alles, was ich je bei Agnes gelernt habe, in meinem Kopf ab. Boden ist effektiv gegen Gift, aber nicht gegen Pflanze, Sleima hat einen geringen Spezialangriff, kein Stabeffekt… Die Lehmschelle durchbricht die zarten Überreste von Skus Rauchbombe und erwischt sie mit voller Wucht. Der Besitzer des anderen Sleimas flucht. „Warum greifst du das Stinktier an, du Idiot?“ „Boden ist gegen Gift effektiv und ich will nicht noch so `ne Rauchwolke abkriegen!“, schreit der andere. „Das Knilz ist doch schon fast hinüber, warum greifst du das nicht an!“ Ich werfe einen kurzen Blick zu Sku. Sie ist auf einem höheren Level und der geringe Spezialangriff von Sleima hat die Supereffektivität ausgeglichen. Knilz hängt schon ziemlich in den Seilen, aber es wird noch eine Runde durchhalten. Hoffe ich. „Mist. Dann halt erst das Stinktier“, murrt der andere. „Lehmschelle, Sleima! Schalte es aus!“ „Sku, ausweichen, Konter mit Kreideschrei“, rufe ich und Sku lässt ein zustimmendes Grunzen hören. Trotz ihrer Masse weicht sie dem Bodenangriff mühelos aus. Dann schreit sie. Der Ton ist so hoch, so unerträglich, dass ich glaube, mein Trommelfell müsse jeden Moment platzen. „Jetzt!“, zische ich und der Junge nickt. „Knilz, Kopfnuss auf das linke Sleima.“ Knilz rafft sich auf und rennt los, gewinnt an Geschwindigkeit und rammt mit voller Wucht in das sich noch immer windende Sleima hinein. Es wird nach hinten geschleudert und landet mit einem lauten Platsch auf der Straße vor den Füßen seines Trainers. Der Biker bleckt die Zähne und ruft es zurück. „Mach sie fertig“, befiehlt er seinem Freund, der jetzt gar nicht mehr so selbstsicher aussieht wie noch vor einer Minute. An dieses Gefühl könnte ich mich gewöhnen. „Sleima, Schlammbombe! Gib alles, was du hast!“ „Ausweichen!“, schreie ich noch, aber Sku schafft es nicht mehr und wird von dem Schlammball in die Seite getroffen. Der Impakt wirbelt sie durch die Luft und als sie wieder auf dem Boden landet, schlittert sie ein paar Meter an mir vorbei und bleibt regungslos liegen. Ich sehe noch, wie Sleima sich windet und sein violetter Schleimkörper zu zittern beginnt, da nimmt Knilz schon Anlauf. „Kopfnuss“, schreit der Junge, die Augen zugekniffen, als wolle er den Ausgang des Kampfes gar nicht sehen. Ich will zu Sku laufen, aber der Anblick von Pennys Angriff hält mich davon ab. Sie beugt ihren runden Kopf nach vorne und prallt mit dem Sleima zusammen. Beide taumeln zu Boden und für einen Moment herrscht absolute Stille. Dann steht Knilz auf. Es sieht absolut erledigt aus, aber es steht. Sleima bleibt besiegt liegen. Ich nutze die Gelegenheit und renne zu Sku, die mich schwach anblinzelt. Sie ist wieder bei Bewusstsein, aber in keiner Verfassung zum Kämpfen. Obwohl sie mindestens zwanzig Kilo wiegt, wuchte ich sie hoch und lege sie mir über die Schultern. Ihr Gewicht drückt mich runter, aber es ist mir egal. Als ich mich wieder umdrehe, stockt mir der Atem. Knilz leuchtet. Sein Körper ist in ein silbernes Licht gehüllt und beginnt, sich langsam zu verändern. Der Körper streckt sich, der Kopf definiert sich und ihm wächst ein Schwanz. Dann fällt das Licht in glitzrigen Schuppen zu Boden, die dort verschwinden wie Schneeflocken, wenn sie auf der Handfläche liegen und wegschmelzen. Aus Penny dem Knilz ist ein Kapilz geworden. Ich gehe zu dem Jungen hinüber, der sein Pokémon erstaunt ansieht. „Was, noch nie eine Entwicklung gesehen?“, frage ich, obwohl ich bisher auch erst bei Wablus dabei war. „Penny?“, fragt er vorsichtig. Kapilz dreht sich zu ihm um. Dann wimmert es und läuft mit seinen kräftigen Beinen auf den Jungen zu, während seine roten Krallen laut über den Boden klackern. Sie springt auf ihn zu und umarmt ihn stürmisch um die Taille. Dem Jungen steigen Tränen in die Augen, aber er wischt sie hastig weg. Dann dreht er sich zu mir. „Ich kann dir gar nicht genug danken…“ Er stockt und sieht mich hilflos an. Er hat ein kindliches Gesicht. Von vorne sieht er nicht mehr so alt wie Tarik aus, aber er ist mindestens so groß wie mein Bruder, wenn nicht größer. Er trägt knielange Wandershorts und ein graues T-Shirt mit einem Pokéball drauf. „Abbygail. Nenn mich Abby.“ „Vielen, vielen Dank, Abby.“ Er lächelt mich ungelenk an. „Kann ich dich auf ein Eis einladen?“ „Zu Eis sage ich nie nein“, sage ich grinsend. „Aber vorher sollten wir im Pokécenter vorbeischauen.“ „Selbstverständlich. Ich heiße Raphael.“ „Freut mich, dich kennen zu lernen. Auch wenn die Umstände sehr lebhaft waren.“ Wie auf ein unsichtbares Zeichen schauen wir zu den drei Bikern, die bereits auf ihren Motorrädern sitzen. Der Große sieht besonders wütend aus. „Habt ihr nicht was vergessen?“, schreie ich ihnen nach. Raphael schaut mich entsetzt an. „Ich bin froh, wenn die weg sind, lass sie einfach gehen.“ Einer der beiden Besiegten spuckt in unsere Richtung, dann wirft er eine Handvoll Münzen auf den Boden. Sein Freund tut es ihm nach. Dann düsen sie mit viel Motorenlärm davon. Ich helfe Raphael dabei, das Geld einzusammeln, dann teilen wir es untereinander auf. „Nicht so viel, wie sie uns eigentlich schulden, aber immerhin. Damit wäre unser Eis dann wohl finanziert“, sage ich. „Komm, Sku wird langsam schwer.“   Das Pokécenter ist nur eine Minute von unserem Kampfplatz entfernt und nachdem die Biker weg sind, verlaufen sich auch die Schaulustigen und gehen wieder ihren eigenen Beschäftigungen nach. Als wir in das klimatisierte Pokécenter kommen, wird mir plötzlich bewusst, dass ich immer noch im Bikini bin. Aber da wir bald wieder raus gehen werden, ignoriere ich den kalten Luftzug an meiner verschwitzten Haut vorerst. Außerdem spendet Sku unbewusst jede Menge Wärme. Schwester Joy lächelt uns an, als wir näher kommen. „Hattet ihr einen harten Kampf?“, fragt sie freundlich. Ich hebe Sku ächzend von meinen Schultern und lege sie auf die Theke, wo Joy ihre Wunden untersucht und ihre Gliedmaßen abtastet. Schließlich nickt sie zufrieden. „Nichts Schlimmes“, sagt sie. „Ruf sie in ihren Pokéball zurück, dann kann ich sie an die Maschine anschließen. Danach muss sie sich nur noch etwas ausruhen.“ „Das kann sie gut“, sage ich. Ich krame ihren Pokéball hervor und rufe sie zurück, dann reiche ich Joy den Ball. Sie legt ihn in eine dieser Maschinen, die es in Pokécentern gibt, er leuchtet ein paar Mal und dann gibt es ein klingendes Geräusch. Schwester Joy nimmt Skus Ball wieder heraus und reicht ihn mir lächelnd. Dann verfährt sie gleichermaßen mit Penny. Als auch Raphael sein Pokémon wieder hat, winkt sie zum Abschied. „Kommt jederzeit wieder vorbei.“ „Werden wir“, verabschiede ich mich, ebenfalls winkend, dann verlassen wir das Pokécenter. „Also, was machst du so?“, frage ich Raphael, während wir zusammen zum nächsten Café schlendern. Innerhalb von Sekunden bin ich wieder aufgewärmt. „Ich will Major Bob herausfordern. Aber ich habe wohl doch noch einiges an Training vor mir, wie es scheint.“ Er zieht eine Grimasse. „Ach was, wir haben sie doch besiegt“, meine ich gut gelaunt. „Ich hätte verloren, wenn du nicht gekommen wärst.“ Raphael wirft mir einen vielsagenden Blick zu. „Ich habe schon ausgerechnet, wie viel Geld ich ihnen schulde, als du kamst.“ „Ich hab dich nur ein bisschen unterstützt, das ist alles. Den größten Teil hast du erledigt.“ „Danke trotzdem, Abby. Wirklich. Dein Pokémon hat es echt drauf.“ Ich kratze mich verlegen hinterm Ohr. „Du bist also professioneller Pokémontrainer?“ frage ich. „Wie viele Orden hast du denn schon?“ „Zwei, bisher.“ Er holt ein Etui aus seiner Umschnalltasche und zeigt sie mir. „Und du?“ „Keine. Ich wohne nur hier. Da unten.“ Ich zeige ihm unser Haus. „Schöne Lage.“ „Kannst du laut sagen.“ Wir erreichen das Café und setzen uns draußen an einen der wenigen freien Tische. Wir scheinen nicht die einzigen zu sein, die der Hitze mit etwas Eis entgegenwirken wollen. Ich bestelle einen Fragiabecher und Raphael zwei Bällchen Honmeleis mit viel Sahne und Schokosoße. Eine Weile genießen wir das Eis in Stille, nur das Schwappen der Wellen, das Kreischen eines einsamen Wingulls  und die Gespräche um uns herum sind zu hören. „Was willst du denn später machen?“, fragt Raphael, nachdem sein Eis zur Hälfte aufgegessen ist. „Dies und das“, antworte ich vage. „Reisen. Jobben. Menschen kennen lernen. Pokémon fangen. Irgendwas mit Medien. Am liebsten Reporterin oder sowas.“ „Keine Orden sammeln?“, hakt er nach. „Kein Bester-Trainer-aller-Zeiten-Sprücheklopfer werden?“ Ich lache lauter als angemessen und die Leute schauen sich zu uns um. „Nein, das hatte ich nicht vor“, presse ich zwischen zwei Atemzügen hervor und halte mir die Seiten. „Hört sich gut an“, sagt Raphael. „Einfach Reisen, sehen wo man landet. Kein Stress, keine Konkurrenz… Wenn ich Urlaub vom Sprücheklopfen habe, probiere ich das mal aus.“ „Und? Willst du der beste Trainer aller Zeiten werden?“, frage ich, neugierig geworden. „Naja, cool wäre das schon, aber ich glaub eigentlich nicht wirklich, dass ich das schaffe.“ Er schaut mich verlegen an. „Für´s erste versuche ich, alle Orden zu sammeln und dann an der Pokémon Championship teilzunehmen. Wenn ich es in die Top Zwei schaffe, können wir weiterreden.“ Ich nicke. Seit der Trainerandrang so groß geworden ist, kann sich die Liga nicht mehr von jedem Trainer mit acht Orden herausfordern lassen. Deshalb haben sie die Championship eingeführt, in der die Teilnehmer in Duellen gegeneinander kämpfen, bevor sie die Top Vier herausfordern dürfen. Erst werden sie in Vierergruppen aufgeteilt, dann muss jeder gegen jeden in seiner Gruppe kämpfen. Diese Kämpfe werden nur teilweise live ausgestrahlt, weil sie parallel ablaufen. Meist beschränken sich die Reporter auf die Favoriten oder besonders spannende oder gerade endende Kämpfe. Auch bei seltenen Pokémon steigen die Einschaltquoten oft. „Ist es inzwischen wirklich so, dass Trainer Zusatzpunkte bekommen, wenn sie mehr als vier Pokémon übrig haben?“, frage ich interessiert. Im Frühjahr gab es die ersten Gerüchte über diese Regeländerung. „Ich glaube schon. Bei vier oder mehr Pokémon erhält der Trainer zwei Punkte, bei allen sechs sogar drei. Sie wollen erreichen, dass die Punktunterschiede größer werden. Und den Trainern mehr Anreiz bieten, ihre Pokémon sorgsam einzusetzen.“ „Stimmt, sowas haben sie gestern bei PCN erwähnt“, sage ich nachdenklich. Sein Gesicht hellt sich auf. „Hast du auch die Reportage gesehen, die danach kam?“, fragt er aufgeregt. „Nein, ich musste beim Abwasch helfen.“ Ich verziehe bei der Erinnerung das Gesicht. Mama versteht einfach nicht, wo meine Prioritäten liegen. „Was lief denn?“ „PCN hat einen Bericht über Team Rocket gebracht. Anscheinend sollen ein paar Mitglieder wieder irgendwo auf den Eilanden gesichtet worden sein. Die hatten da doch mal so eine geheime Basis.“ „Echt?“, frage ich. „Das wusste ich gar nicht.“ Ich stecke mir noch einen Löffel Eiscreme in den Mund und lutsche daran herum, während ich Raphaels Auführungen aufmerksam lausche. „Einige Leute glauben, Team Rocket wird wieder auferstehen. Nachdem sie zweimal in die Knie gezwungen wurden, warum sollten sie sich nicht wieder aufrappeln? Einmal haben sie das bereits geschafft.“ „Stimmt, aber Gold hat sie doch erledigt, oder?“ Die Story bringen sie meistens gleich nach den Red Reportagen. Die beiden Legenden… Mir wird ganz warm ums Herz. Wer kann sich schon mit diesen Giganten messen? „Naja, jedenfalls sagen das viele“, fährt Raphael fort. „Sie meinen, man hätte damals nicht aufhören sollen, Team Rocket zu jagen, nur weil sie verschwunden sind. Also, wenn demnächst wieder irgendwo welche rumlaufen, weißt du, was zu tun ist.“ Ich imitiere die Stimme eines Reporters und halte mir den Löffel wie ein Mikrofon an den Mund. „Heute, Exklusiv-Interview mit einem Mitglied von Team Rocket. Stimmt es, dass ihre Organisation zurück ist? Was sind ihre Pläne für die Zukunft?“ Jetzt ist es an Raphael, sich den Bauch zu halten. „Bitte“, röchelt er. „Bitte werde Reporterin. Ich wäre dein größter Fan.“ Am Ende des Satzes steigt seine Stimme ungefähr eine Oktave, bevor sie wieder in unkontrolliertes Lachen umschlägt. Jetzt kann ich auch nicht mehr an mich halten und einige Minuten lang lachen wir uns beide schlapp. Außer Atem und völlig erschöpft lassen wir uns in unsere Stühle rutschen. „Mein Eis ist geschmolzen“, stelle ich fest und Raphael nickt. Wir schlürfen die Reste aus dem Becher, dann stehen wir auf. „War nett dich kennen zu lernen“, sage ich und reiche ihm meine Hand. Er schüttelt sie. „Es war super.“ „Wenn du morgen Zeit hast, komm doch zum Essen vorbei. Mama kocht eh für fünf, da macht einer mehr auch keinen Unterschied mehr.“ Hoffe ich. „Gerne. Ich geh dann mal weiter trainieren.“ Er dreht sich schon um, da fällt mir etwas ein. „Hey, warte!“ Ich halte ihn fest. „Du hast nur Kapilz, oder?“ Er nickt. „Dann zeige ich dir morgen nach dem Essen etwas.“ Er schaut mich überrascht an, grinst dann aber. „Ich bin gespannt.“ Kapitel 3: Willkommen im Team (Ein Digda ist nicht genug) --------------------------------------------------------- Mama ist regelrecht begeistert, dass ich einen Freund mitbringe. Ich glaube, sie hat es satt, dass ich immer nur mit Sku rumlungere. Ich habe hier in der Stadt kaum Freunde. Da sind nur meine Geschwister und meine ehemaligen Spielkameraden, aber mit denen habe ich nicht mehr viel zu tun. Manchmal gehen wir zusammen ans Meer oder ein Eis essen, aber wir haben uns auseinander gelebt. Nur Michi hat auch ein Pokémon, und er muss seinem Vater helfen. Der ist Baumeister und renoviert derzeit den Untergrundtunnel, der unter Saffronia durchführt. Katharina und Angie verstehen nicht, was es heißt, ein Pokémon zu haben. Sie denken, Sku ist irgendeine Art Haustier und ich sollte mich mehr um unsere Freundschaft kümmern als mit Sku rumzuhängen. Sie haben keine Ahnung. Jedenfalls mag Mama Sku immer noch nicht so richtig. Sicher, sie ist freundlich zu ihr, aber ich glaube, die Stinkattacke hat sie ihr nie verziehen. Obwohl der Pokédex gesagt hat, der Geruch würde nur vierundzwanzig Stunden anhalten, war es in Wirklichkeit mehr als eine Woche, weil der Gestank in das Sofa und den Teppich eingezogen ist. Das Meeting, das sie mit ihrem Pokéfanclub bei sich geplant hatte, musste sie deshalb kurzfristig verlegen und es war generell ein ziemliches Chaos. Ich hatte eine Woche Hausarrest, aber um ehrlich zu sein, war es mir das wert. Ich würde es jederzeit wieder so machen. Natürlich kann ich Sku nicht jeden anstinken lassen, der uns komisch ansieht, aber meistens reicht es, wenn ich diejenigen warnend ansehe und Sku ihren Schweif hochhebt und sich in ihre Richtung dreht. Dann rennen sie immer wie die Champions. Ich helfe Mama gerade dabei, die Möhren zu schneiden, als es an der Tür klingelt. Ich wische mir die Hände an meiner Schürze ab und gehe am Esstisch vorbei zur Tür. Sku liegt verschlafen auf dem Sofa und öffnet die Augen zu Schlitzen, um zu sehen, wer da ist. Als ich aufmache, steht Raphael vor der Tür und grinst mich an. Er hat dieselbe Hose wie gestern an, seine Pokébälle sind alle fein säuberlich in seiner Gürteltasche verstaut und Kapilz ist nirgends zu sehen. „Hi“, sage ich und trete zur Seite. „Komm rein.“ „Hallo, Frau Hampton.“ Er muss das Schild neben der Klingel gelesen haben. „Danke für die Einladung.“ Mama kommt zu uns und schüttelt seine dargebotene Hand. Er benimmt sich wie ein richtiger Gentleman. „Schön, dass du gekommen bist“, sagt sie lächelnd. „Ich freue mich immer, wenn Abby Freunde mitbringt.“ „Setz dich, wir sind bald fertig mit Kochen“, sage ich und gehe zurück zum Herd, wo ich mich wieder ans Möhren schneiden mache. „Ich hoffe, dir macht ein vegetarisches Gericht nichts aus?“, fragt Mama. Wir essen kein Fleisch. Mama sagt, man kann keine Pokémon im Haushalt halten und als Freunde bezeichnen und gleichzeitig andere essen. Und der Meinung sind nicht nur wir. In allen öffentlichen Einrichtungen wird vegetarisch gekocht, sowie in den meisten Haushalten. Dass sie ihn fragt, ist mehr Formsache als alles andere. „Nein, überhaupt nicht.“ Raphael macht es sich neben Sku auf dem Sofa bequem. Mama wirft ihm einen entschuldigenden Blick zu. „Sie ist nicht die Süßeste, aber immerhin stinkt sie nur, wenn meine Tochter es ihr befiehlt. Schieb sie einfach weg, wenn du nicht neben ihr sitzen willst.“ In dem Moment kommt Nancy die Treppe runter geschlichen und geht zu Mama, die ihr abwesend den Kopf krault. Dann legt sie sich auf ihr Bett neben dem Sofa. Nancy ist fast einen Meter hoch, schneeweiß und mit runden Ohren. Ihr Fell ist mit dem Alter spröde geworden und ihre Augen sind ein wenig tränenunterlaufen, aber sonst sieht sie noch aus wie früher. „Ehm.“ Raphael sieht verwirrt zu mir rüber. „Sku ist ein tolles Pokémon, Frau Hampton. Wirklich. Und ich finde sie ziemlich süß.“ Als hätte Sku ihn gehört, rollt sie sich lasziv auf den Rücken und reckt Raphael ihren weichen Bauch entgegen, während sie wohlige Brummgeräusche von sich gibt. „Sie mag dich“, lache ich, während Raphael anfängt, ihren Bauch zu kraulen. „Sku hat mir und Penny gestern den A- das Leben gerettet“, verbessert er sich schnell. Mama schaut neugierig von ihrer Arbeit auf. „Wirklich? Wie das?“ „Ich habe gegen eine Bikergang gekämpft, aber sie hatten zwei Pokémon, ich nur eins und sie haben mich ziemlich fertig gemacht.“ Die Tür geht auf. „Aber dann ist Abby aufgetaucht und Sku hat sich zwischen Penny und die Sleima gestellt. Dank ihr haben wir den Kampf gewonnen.“ „Was?“, fragt Tarik, der gerade rein gekommen ist und sich schon an den Tisch gesetzt hat, obwohl noch nicht mal gedeckt ist. Altaria schwebt neben ihm herein und lässt sich auf der Tischplatte nieder. „Meine Schwester hat tatsächlich gekämpft und nicht faul in der Sonne gelegen? Abs, ich bin beeindruckt.“ Er zieht einen imaginären Hut und ich strecke ihm die Zunge raus. „Davon hast du mir gar nichts erzählt“, sagt Mama vorwurfsvoll und sieht mich mit hoch gezogenen Augenbrauen an. „Vergessen“, murmele ich und steche ebenfalls in die Kartoffeln, obwohl ich weiß, dass sie noch nicht durch sind. In dem Moment kommt Maya die Treppe runter, Ursula fest in ihren Armen. Armes Ding. „Um Himmels willen“, ruft Mama, als sie sich umdreht. „Man kann ja kaum noch laufen! Kinder, Pokémon in die Bälle, sofort.“ „Wieso?“, frage ich wütend. Tarik nickt. „Was ist mit Nancy, Mama?“, fragt er. „Wo ist ihr Pokéball?“ „Nancy ist ein Mitglied dieser Familie und-“ „Altaria ist auch ein Mitglied dieser Familie“, erwidert Tarik wütend. „Falls du es noch nicht bemerkt hast, sie lebt hier seit fünf Jahren.“ „Nicht in diesem Ton, Tarik!“ Ich räuspere mich und Mama kommt wieder zur Besinnung. „Tarik, wir haben einen Gast, bitte benimm dich wie ein normaler Mensch und bitte sag Altaria, sie soll vom Tisch runterkommen. Ich will nicht immer ihre Flaumfedern in meinem Essen haben.“ „Sag´s ihr selber…“, murrt Tarik, aber er gibt Altaria einen kleinen Klaps und sie hüpft vom Tisch, gleitet zwei Meter durch die Luft und landet federleicht neben Nancy auf dem Boden. „Hab ich was verpasst?“, fragt Maya und guckt Raphael verstohlen aus den Augenwinkeln an. „Maya, Raphael, Raphael, meine nervige Schwester Maya“, stelle ich die beiden brüsk vor. „Hey, Tarik, Raphael ist Protrainer, er hat schon zwei Orden. Wie viele hast du noch gleich?“ „Halt die Klappe.“ „Tarik!“ Mama schlägt mit dem Holzlöffel auf den Pfannenrand und Soße spritzt mir ins Gesicht. „Na wunderbar“, murmele ich. „Maya, deck mal den Tisch.“ „Wie wär’s mit bitte?“, fragt sie gereizt, aber als Mama ihr einen ihrer mahnenden Blicke zuwirft, huscht sie an dem Sofa vorbei und holt Teller, Besteck und Gläser aus dem Geschirrschrank.   Papa kommt ein paar Minuten später heim. Sein Supermarkt ist gleich gegenüber und wenn er Mittagspause macht, kommt er meistens her, um mit uns zusammen zu essen. Wir sitzen zu sechst an dem Tisch und reichen dampfende Schüsseln herum, während unsere Pokémon sich im Wohnzimmer tummeln. Ursula spielt mit Nancys Schwanz, die ihn genervt hin und her peitschen lässt, während sie zu schlafen versucht. Altaria hat sich auf dem Fernseher niedergelassen und beobachtet uns beim Essen, während Marcel Kniebeugen macht. Sku schläft, immer noch grotesk verdreht, mit dem Bauch nach außen und den kurzen Beinchen über ihrem Gesicht gefaltet. Der Großteil des Gesprächs kursiert um Raphael und seine Reisen. Am Anfang war er aufgeregt und stotterte ein bisschen, aber mittlerweile hat er sich gefangen und redet mit glühenden Wangen von Kämpfen, Menschen, die er getroffen und hat und, auf Mayas Wunsch hin, von allem, was mit Marmoria City zu tun hat. „Rocko ist großartig“, sagt er gerade. „Sein Onix ist unglaublich stark und sein Kleinstein hatte es echt in sich. Obwohl ich den Typvorteil hatte, hätte ich ihn fast nicht besiegt.“ „Und das Museum?“, fragt Maya aufgeregt „Warst du da?“ „Man war nicht wirklich in Marmoria, wenn man nicht da war“, erwidert Raphael grinsend. „Es ist unglaublich. Die Leute dort kennen sich sehr gut aus. Ich habe eine Frage nach der anderen gestellt und sie haben alles beantwortet. Und das Aerodactylskelett…“ Seine Augen bekommen einen träumerischen Ausdruck, der sich auch in Mayas Gesicht widerspiegelt. Man sollte es ja nicht meinen, aber Maya hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Sie ist immer noch zickig und weigert sich weiterhin, Ursula zu trainieren, damit sie sich nicht in ein unsüßes Ursaring entwickelt, aber ich glaube, inzwischen ist es mehr aus Trotz. Ich wette, sie würde Ursula trainieren, wenn sie keine Kommentare unsererseits zu befürchten hätte. Tatsächlich ist sie überhaupt nicht mehr auf süß und girly getrimmt. Gut, sie hat immer noch pinke Spangen in ihrem braunen Haar und trägt auch sonst sehr viel rosa, aber der Schein trügt. Seit zwei Jahren hat sie eine Faszination für Stein- und Fossilpokémon entwickelt, weshalb sie unbedingt nach Marmoria City will. Dort gibt es alle möglichen Steintypen und Fossile. Ein wahrgewordener Traum für meine Schwester. Tarik schaut immer wieder zu Maya rüber. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich in zwei Jahren auch abhaue? „Hast du manchmal Heimweh?“, frage ich Raphael, um das Gesprächsthema etwas aufzufrischen und Tarik eine Möglichkeit zu geben, etwas aus der Konversation mitzunehmen. Raphael überlegt kurz. „Nicht wirklich“, sagt er schließlich. „Ich bin jetzt seit zwei Monaten unterwegs und, naja, wenn man nicht über seine Eltern nachdenkt, dann hat man auch kein Heimweh, schätze ich. Ich würde sie zwar gerne Mal wieder sehen, aber ich weiß auch, dass ich jederzeit heim kommen könnte. Außerdem telefonieren wir alle paar Wochen ausgiebig. Ich glaube, für meine Eltern ist es schwieriger als für mich.“ Papa nickt wissend und wirft Mama einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten kann. Sie stockt in ihrer Bewegung und schaut gedankenverloren zu Raphael, dann spießt sie ein Stück Kartoffel auf und isst weiter. „Und deine Eltern waren damit einverstanden dass du mit… wie viel Jahren alleine los ziehst?“, fragt sie. „Mit fünfzehn.“ Ich verschlucke mich an meinem Salat. „Nie im Leben bist du fünfzehn!“ röchle ich und muss husten. Der Salat hat sich in meiner Kehle verkeilt. Er grinst. „Doch, bin ich. Das hättest du nicht gedacht, oder?“ „Ich hätte dich auf maximal dreizehn geschätzt“, sage ich und trinke einen großen Schluck Wasser. Er schaut mich gekränkt an. „Und ich dich auf zehn“, kontert er und ich werfe eine Möhre nach ihm. Mama schaut mich entsetzt an. „Schatz, fünfzehn ist das normale Alter“, sagt Papa, um Mama zu besänftigen. „Irgendwann werden sie erwachsen. Früher sind sie teilweise schon mit zehn Jahren losgezogen.“ „Ich kann immer noch nicht begreifen, wie man ein zehnjähriges Kind alleine losziehen lassen kann. Unverantwortlich“, sagt sie steif und ich werfe Raphael einen schmunzelnden Blick zu. Er zieht eine Grimasse. Ich lege mein Besteck auf meinen leeren Teller und gucke zu Mama. „Können wir aufstehen? Ich muss Raphael noch etwas zeigen.“ Sie schaut mich unglücklich an, dann seufzt sie ergeben. „Macht doch, was ihr wollt. Aber du bist zum Abendessen wieder hier, verstanden?“ „Ja, Mama.“ „Du bist auch herzlich eingeladen, Raphael. Ich weiß, das Schwester Joy sehr liebenswürdig ist, aber jeden Tag Pokécenter-Essen wird auf die Dauer langweilig, oder nicht?“ Sie zwinkert ihm zu und Raphael nickt dankbar. „Vielen Dank“, sagt er und wir stehen auf. Wir räumen noch schnell unsere Teller ab, dann rufe ich Sku kurzerhand in ihren Pokéball zurück, weil ich zu faul bin, sie zu wecken und wir verlassen das Haus. „Puh“, sage ich grinsend und wische mir demonstrativ den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. „Nochmal davon gekommen.“ „Davon gekommen?“, fragt Raphael und wir gehen langsam los. „Ach, Mama kann manchmal etwas anstrengend sein. Und ich bin nicht zehn, ich bin dreizehn.“ „Aber noch nicht lange“, meint er und weicht meinem gespielten Schlag aus. Ich lache und zupfe an meinem T-Shirt herum. Es ist schon wieder so warm. Warum muss der Sommer nur so lange anhalten? „Also, was ist diese Überraschung, von der du erzählt hast?“, fragt er. „Komm einfach mit.“ Er zuckt die Achseln und gemeinsam folgen wir der Straße Richtung Osten und begeben uns auf Route 11. Nachdem wir ein kleines Stück durch den schattigen Wald gegangen sind, tauchen vor uns die weiten, üppig grünen Wiesen auf, die mit Trainern und Pokémon bevölkert sind. „Schick“, sagt Raphael, aber er wirkt nicht sehr beeindruckt. „Ist das ein Trainingsplatz oder so?“ „Nicht die Wiese, Idiot.“ Ich ziehe ihn einen kleinen Abhang hinunter und biege scharf links ab, sodass wir direkt vor einer Steinwand stehen. „Hier.“ Ich grinse einen verständnislosen Raphael an. „Was ist das?“ „Das ist das wahre Herz von Orania City, die allseits kühle und in Vergessenheit geratene…“ Ich hebe die Stimme, um die Spannung zu heben und wische etwas Dreck von einer kleinen Metallplakette, die vor Ewigkeiten an der Steinwand befestigt wurde. „Digda-Höhle!“ „Was ist das?“, wiederholt Raphael und ich tippe auf das Metall. Er beugt sich nach vorne. „DIGDAs Höhle“, liest er vor. „Ein Tunnel von Orania City nach Marmoria City, gegraben von DIGDA.“ Er schaut mich verblüfft an. „Echt? Ein Tunnel?“ „Jep. Ich war schon mal drinne. Er ist ewig lang.“ „Okay, cool. Warum bin ich hier?“ „Weil, lieber Raphael, du meine Hilfe brauchst.“ Ich grinse ihn selbstgefällig an. „Ach wirklich? Dann klär mich mal auf.“ „Dein Knilz war ein Pflanzentyp, damit hattest du den Typvorteil gegenüber sowohl Rockos als auch Mistys Pokémon, aber Major Bob ist ein Elektrotrainer“, erkläre ich ihm. „Pflanze hat da keinen besonderen Effekt. Mit Tempohieb kann Kapilz vielleicht etwas gegen die Elektrostahltypen ausrichten, aber was du wirklich brauchst, ist ein Bodentyp. Und rate, wo es die größte Auswahl in ganz Kanto gibt.“ „Hier?“, fragt er unsicher. „Hundert Punkte.“ Ich grinse ihn an. „Früher gab es hier nur Digda, deshalb der Name Digdahöhle, aber seit es den großen Pokémonaustausch der Regionen gab, tummeln sich hier alle möglichen Bodenpokémon. Wenn du ein passendes findest, dann genau hier.“ „Und warum weiß eine Dreizehnjährige so gut über all das Bescheid?“, fragt er lachend. „Vielleicht liegt es an meinem genialen Verstand.“ Er prustet los. „Vielleicht auch an meiner Tante, die an der Pokémon Akademie unterrichtet.“ Sein Blick wandelt sich von erheitert zu entsetzt. „Echt? Kommen da nicht die ganzen Ass-Trainer her?“ „Kann sein.“ „Und warum bist du dann nicht da?“, fragt er fassungslos. „Nicht jeder will bester Trainer aller Zeiten werden, schon vergessen?“ Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Komm, wir haben noch ein paar Stunden, bis wir zurück müssen. Wenn du heute schon mit dem Training anfangen könntest, wäre das ideal.“ Raphael und ich zwängen uns durch den kleinen Spalt, den man nur auf den zweiten Blick erkennt, weil dahinter alles so dunkel ist. Ich taste mich mit den Füßen voran, bis ich die Leiter finde und rufe Raphael zu mir. Dann steigen wir beide in die Dunkelheit hinab. Als sich unsere Augen an das fehlende Licht gewöhnt haben, kann ich langsam die Umrisse des Tunnels erkennen. Er windet sich in langen Kurven und hier und da kann man an den Wänden hochklettern, um auf einer Art zweiten Ebene zu laufen, aber Raphael und ich bleiben lieber unten. Ich habe ihn sichtlich beeindruckt, was mich gut gelaunt stimmt und ich fange an zu summen. Wir laufen ein paar Minuten lang ziellos herum, dann entdeckt Raphael das erste Pokémon. Ein Digda, das sich langsam aus dem Boden gräbt und uns mit großen Augen ansieht. „Hast du überhaupt Pokébälle dabei?“, frage ich, plötzlich panisch. Ich will nicht den ganzen Weg zu Papas Laden zurücklaufen müssen. „Wofür hältst du mich?“, fragt er. „Ein Pokémontrainer hat immer Pokébälle dabei, sowie Gegengifte, Supertränke, Fluchtseile, Schutz…“ Er zählt die Items an seinen Fingern auf. Ich winke ab. „Willst du ein Digda?“, frage ich und deute auf das Pokémon. „Mal sehen.“ Er zieht einen Pokéball aus seiner Tasche. „Los, Penny!“ Kapilz materialisiert sich in einem roten Licht und nimmt eine Art Boxerhaltung ein. Nach ihrer Entwicklung hat sie auch den Typ Kampf angenommen, das merkt man sofort. „Megasauger, los!“ Aber das Digda ist schneller. Es verschwindet unter der Erde und eine Welle aus Steinbrocken rollt unter Kapilz hindurch, das seinen Halt verliert und zu Boden fällt. Es rappelt sich aber sofort wieder auf, kaum verwundet. Im selben Moment, da Digda wieder auftaucht, speit Penny einen grünen Strahl auf das Digda, das sich windet und dann bewusstlos zu Boden sinkt. Grüne Funken sprühen zu Kapilz zurück, das sie in sich aufnimmt und wieder wie frisch aus dem Pokécenter aussieht. Es schaut sich zu Raphael um, der die Schultern zuckt. „Das dann wohl nicht“, sagt er und wir gehen an dem besiegten Digda vorbei weiter in die Höhle hinein. Auch wenn ich gesagt habe, dass die Digdahöhle mittlerweile von zahlreichen Bodenpokémonarten bewohnt wird, so habe ich doch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ursprünglich war diese Höhle ausschließlich von Digda bewohnt, was bedeutet, dass sie auch heute noch die absolute Mehrheit bilden. Mit anderen Worten: Auf jedes andersartige Bodenpokémon kommen zehn Digda. Dementsprechend frustriert werden wir. Nach dem fünfzehnten Digda und nur einem einzigen Phanpy, das wegrennt, sobald es uns sieht, haben wir die Nase voll. „Ich will kein Pokémonmeister mehr werden“, stöhnt Raphael und setzt sich, wo er steht, auf den Boden. Kapilz kommt zu ihm und lässt sich neben ihm fallen. Ich stemme die Hände in die Hüften. „Als Pokémontrainer solltest du etwas mehr Ausdauer mitbringen“, weise ich ihn zurecht. „Bestimmt wirst du hier das Pokémon finden, wenn du nur nicht aufgibst.“ „Du hast gesagt, hier gäbe es eine riesengroße Auswahl, aber ich sehe weit und breit nur Digda.“ „Dann fang dir halt ein Digda, entwickle es zu Digdri und los geht’s“, kontere ich. „Die scheinen aber alle keinerlei Durchhaltevermögen zu haben. Ich besiege sie nämlich alle mit einer einzigen Attacke, falls es dir entgangen ist.“ „Wie du willst.“ Ich ziehe meinen eigenen Pokéball hervor und lasse Sku raus. Sie schaut sich skeptisch um. Sku spürt, wann es Nacht ist. Und draußen ist es schließlich noch ziemlich hell, trotz der Dunkelheit hier drinnen. Sie hebt den Kopf und schaut mich empört an. „Jetzt maul du nicht auch noch rum“, erwidere ich gereizt und sie drückt sich schuldbewusst zu Boden. Dann, als wolle sie sich entschuldigen, rennt sie voran, als wäre sie das aktivste Pokémon der ganzen Welt. Ich muss unwillkürlich lächeln. „Sku und ich kundschaften mal voraus“, sage ich, wieder an Raphael gewandt. „Wenn wir ein cooles Pokémon sehen, sagen wir dir Bescheid.“ Er lässt sich, genau wie Kapilz, nach hinten kippen und bleibt liegen. Dann hält er seinen Daumen hoch. „Ich nehme das mal als ja“, erwidere ich in Singstimme und folge Sku tiefer in den Tunnel. Als wir Raphael nicht mehr sehen können, wird mir ein bisschen mulmig, weil ich noch nie so weit alleine in der Höhle war. Sonst ist immer Tarik mitgekommen. Als würde sie meine Unruhe spüren, bleibt Sku stehen und setzt sich auf ihre Hinterbeine. Ich streiche ihr über den Kopf, der mir in dieser nach oben gereckten Position fast bis zur Hüfte reicht und sie lässt ein wohliges Schnurren hören. Ich tätschele sie, dann gehe ich weiter, Sku dicht auf meinen Fersen. Plötzlich bewegt sich die Erde unter meinen Füßen. Ich bleibe stehen, sicher, dass ich mir das Rumoren im Boden eingebildet habe, aber es wird immer stärker. Und es bewegt sich auf uns zu. Ich will wegrennen, aber ich kann mich keinen Zentimeter rühren. Sku fiept aufgeregt, beißt in mein Hosenbein und zerrt daran, aber ich bleibe wie erstarrt stehen. Dann spüre ich einen stechenden Schmerz in meiner Wade und reiße meinen Blick von dem Etwas weg, dass unter der Erde auf mich zu gegraben kommt. Sku hat mich ins Bein gebissen. Sie wirkt verängstigt, aber ob es an dem Pokémon liegt, das auf uns zukommt oder an meiner Reaktion kann ich nicht sagen. „Raphael!“, schreie ich so laut ich kann. Das Beben unter meinen Füßen wird immer stärker und gewinnt jetzt auch an Lautstärke. Erde rieselt von der Decke, Steinchen lösen sich von den Wänden und rollen in kleinen Kaskaden zu Boden, wo sie hin und her hüpfen, als würden sie tanzen. Dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Weil ich mich nicht vom Fleck bewegt habe, springt Sku todesmutig vor mich, reckt ihren Schwanz aufrecht in die Höhe und faucht lauter, als ich es ihr zugetraut hätte. Raphael kommt hinter mir angerannt, während Kapilz Stellung neben Sku bezieht. Und ein Pokémon bricht aus dem Boden hervor, während seine Schaufelarme Erde in alle Richtungen verspritzen. Das Pokémon ist klein. Kleiner als Marcel. Kleiner sogar als Sku. Stände es neben mir, würde es mir gerade einmal bis zu den Knien reichen. Seine lange Schnauze schnuppert die Luft und die blauen Muster auf seinem glänzenden, braunen Pelz erinnern an einen Gurt. Das Rotomurf schaut sich verstohlen um, seine Augen zu Schlitzen verengt. Dann bemerkt es uns. Es bückt sich, um wieder im Erdreich zu verschwinden, aber Raphael ist vorbereitet. Ich bewundere ihn dafür, denn aus irgendeinem Grund sitzt mir der Schreck noch so sehr in den Knochen, dass ich alles wie in Zeitlupe wahrnehme. „Egelsamen, sofort!“, schreit er und aus Pennys roten Knospen an ihrem hutähnlichen Kopf sprießen in Rekordtempo zwei Lianen, die sich um den Körper des Rotomurfs schlingen und es festhalten. Die Lianen wachsen und verzweigen sich immer weiter, bis sie das Bodenpokémon in ein Geflecht aus Pflanzen und Blättern gehüllt haben. Dann saugen sich kleine Noppen an dem Rotomurf fest und entziehen ihm seine Energie, die wie durch einen Schlauch über die Lianen geradewegs zu Kapilz zurückgeführt wird. Rotomurf windet sich, aber als es merkt, dass es nicht zurück ins Erdreich gelangen kann, rennt es stattdessen mit seinen kurzen Beinchen auf Kapilz zu. Wegen des Egelsamens kann Penny nicht ausweichen und die Kratzfurie des Rotomurf erwischt es fünfmal kurz hintereinander. Es zischt und kreischt, aber lässt seinen Gegner nicht los. „Du weißt, was zu tun ist, Penny! Stachelspore!“, ruft Raphael ihr zu und aus ihrem knospenartigen Schwanz schießen Pollen, die das Rotomurf in einer orangefarbenen Wolke einhüllen. Es atmet zwei-, dreimal ein, dann fängt es an, unkontrolliert zu zittern. Währenddessen saugen die Egelsamen ununterbrochen an seiner Energie. „Dann wollen wir mal.“ Raphael schiebt seine runde Brille hoch, dann wirft er seinen Pokéball hoch in die Luft, fängt ihn wieder und schleudert ihn geradewegs auf das Rotomurf. Ein rotes Licht umhüllt das Pokémon bei dem Kontakt und im nächsten Moment liegt neben Kapilz nur noch ein Pokéball, der blinkend hin und her rollt. Einmal. Ich halte den Atem an. Zweimal. Sku winselt. Dreimal. „Komm schon“, flüstert Raphael. Viermal. Der Pokéball leuchtet ein letztes Mal, dann bleibt er ruhig liegen. Wir starren ihn einen Moment lang regungslos an, dann fallen Raphael und ich uns gleichzeitig um den Hals und drehen uns wie zwei Deppen im Kreis. „Das, “ sage ich, „war das coolste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.“ Er läuft rot an. „Ach was…“, sagt er, aber seine Wangen glühen. „Nein, wirklich. Du sahst aus wie einer dieser Profis im Fernsehen. Du hattest eine Wahnsinnsausstrahlung!“ Meine Stimme steigt in ungeahnte Gefilde und ich muss loslachen, weil die ganze Anspannung von mir abfällt. Wir halten uns noch einen Moment, dann lässt Raphael mich los und geht zu Kapilz hinüber. Sie hat ein paar rote Striemen von der Kratzfurienattacke abbekommen, aber sonst sieht sie fit aus. Er umarmt sie. „Du warst der Hammer“, flüstert er und Kapilz erwidert seine Umarmung innig. Plötzlich landen zwanzig Kilo auf meiner Schulter und ich sacke ein, bevor ich mich wieder fangen kann und hoch schiele, wo mich Skus schwarze Knopfaugen anblinzeln. „Du warst auch toll, auch wenn du nichts gemacht hast“, beruhige ich sie. Sie schnappt halbherzig nach meiner Nase. „Du hast ja Recht, du hast ja Recht. Du warst eine weit größere Hilfe als ich.“ Ich kraule ihr den Kopf und sie gibt sich ganz meiner Berührung hin. „Danke für die Hilfe“, flüstere ich, so leise, dass nur sie mich hört. Raphael ist ohnehin noch mit Kapilz beschäftigt. „Egal, was für ein Pokémon es gewesen wäre, du hättest mich verteidigt, das weiß ich.“ Sie stupst mich mit ihrem breiten Kopf an. „Okay, wir lieben uns, Friede Freude Eierkuchen, aber geh bitte von mir runter.“ Ich schaue sie ernst an. „Du bist fett.“ Kapitel 4: Pokerface (Im Angesicht von PCN) ------------------------------------------- Die nächsten Tage verbringen Raphael und ich mit Training. Das heißt, er trainiert sein Rotomurf und ich sorge dafür, dass er es richtig macht. Ich bin vielleicht kein Ass-Trainer im eigentlichen Sinne, aber Agnes´ Vorlesungen haben auf mich abgefärbt und ich will schließlich, dass Raphael in seinem Trainerdasein noch sehr weit kommt. Raphael versteht meine Trainingsmethoden nicht, bei denen er vor allem gegen physisch starke oder sehr flinke Pokémon wie Rettan, Taubsi und Rattfratz kämpfen muss, deswegen erkläre ich ihm die Grundzüge an einem der heißesten Tage des Monats, als wir eine wohlverdiente Pause machen. Rotomurf, jetzt offiziell Murphy getauft, sitzt schmollend mit dem Rücken zu uns im Gras. Er hat Raphael nicht vergeben, dass der ihn aus seinem wundervollen Erdparadies herausgerissen hat. Ich habe schon vorgeschlagen, ihm eine Sonnenbrille aufzusetzen, was Raphael zutiefst amüsierst hat, aber wenn ich Murphy so anschaue, ist es vielleicht wirklich keine schlechte Idee. Ich beschließe, Papa demnächst zu fragen, ob es solche Items für Pokémon gibt. „Es gibt drei Dinge, die dein Pokémon stärker machen“, erkläre ich, während wir im Gras liegen und den Schatten eines hohen Baumes genießen. Wegen der Hitze habe ich meine Shorts wieder durch meinem schwarzen Bikini ersetzt. „Trainingserfahrung, Kampfeinsatz und genetische Veranlagung.“ „Huh.“ „Erfahrung erhält dein Pokémon in jedem Kampf, an dem es teilnimmt und gewinnt. Dadurch wird es stärker, was die Pokédexe in Level-Abständen messen. Und ab einem bestimmten Stärkelevel erlernen sie dann neue Attacken oder entwickeln sich.“ „So weit war ich auch schon“, sagt Raphael und ich gebe ihm das Zeichen, ruhig zu sein. „Das Potenzial deines Pokémon hängt von seiner angeborenen Stärke ab. Wenn zwei Pokémon genau gleich aufgezogen werden, wird das genetisch besser ausgestattete Pokémon stärker sein. Und zu guter Letzt: Einsatz. Das wird von vielen vergessen.“ „Und was ist es nun?“ „Wenn du Murphy gegen physisch starke Gegner kämpfen lässt, muss er sich selbst physisch mehr anstrengen, genauso wie er bei schnellen Gegnern schneller agieren muss als sonst. Dadurch erhält er Erfahrung in diesen spezifischen Fähigkeiten.“ Raphael seufzt frustriert. „Ich kann nicht fassen, dass sie einem das alles in der Akademie beibringen. Kein Wunder, dass immer so viele Ass-Trainer in die Top Sechzehn kommen.“ „Nicht nur Akademiemitglieder wissen davon“, sage ich. „Und manche Trainer gehen sogar soweit, dass sie ihre Pokémon so lange züchten, bis ihr Potenzial das Maximum erreicht. Das geht aber zu weit, wenn du mich fragst.“ „Hm. Aber vielleicht ist das der einzige Weg, oben mitmischen zu können“, überlegt Raphael laut. „Vielleicht ist das das Geheimnis der ganzen Protrainer.“ „Kann sein. Aber ich glaube, wenn du eine gute Strategie verfolgst und deine Pokémon halbwegs anständig aufgezogen hast, kannst du immer gewinnen. Auch ohne Zucht.“ „Hast du je darüber nachgedacht, Trainercoach oder Lehrer an der Akademie zu werden?“, fragt er. „Nein“, erwidere ich entschieden. Wir bleiben noch eine Weile liegen, dann steht Raphael auf und wischt sich etwas Erde von seiner Hose. „Los Murphy, ran an die Arbeit.“ Rotomurf steht langsam auf und wirft seinem Trainer einen giftigen Blick zu. Ich stehe auf und geselle mich zu ihnen. Murphy hat bereits ein Rettan gewittert und als Raphael ihm einen Klauenwetzer befiehlt, gräbt Murphy sich für einen Schaufler in die Erde. Raphael seufzt theatralisch. Das Maulfwurfpokémon schießt direkt unter dem violetten Schlangenkörper empor und rammt das Giftpokémon mit gewaltiger Kraft hoch in die Luft, wo es für einen langgezogenen Moment zwischen den Erdbrocken zu schweben scheint, bevor es mit einem dumpfen Wump auf dem Boden aufschlägt. Murphy klappert mit seinen dreigliedrigen Schaufelhänden, um die Erde loszuwerden und wirft Raphael einen verächtlichen Blick zu. Der fährt sich durch seine roten Locken. „Er mag mich nicht“, sagt er niedergeschlagen und betrachtet Rotomurf. „Und er macht nicht das, was ich ihm sage.“ Murphy hat sich inzwischen weggedreht und betrachtet gelangweilt die kleinen weißen Blumen, die überall auf der Wiese wachsen. „Das wird schon“, meine ich bestimmt. „Eine Freundschaft ist nicht innerhalb von ein paar Tagen geschlossen.“ „Nicht?“, fragt er und zwinkert mir zu. „Naja, nicht jede“, sage ich grinsend. „Na los, weiter geht’s.“ Murphy besiegt noch ungefähr zwanzig weitere Rettan und Rattfratz, bevor es auch uns zu viel wird. In einem Anflug von Einfühlsamkeit lässt Raphael sich neben ihm auf dem Boden nieder und beginnt ein Gespräch. Oder einen Monolog. Was auch immer. „Hör zu“, sagt er. „Ich verstehe, warum du mich nicht magst. Du wärst jetzt lieber in deiner kalten, dunklen Höhle, als hier oben in der Sonne zu brutzeln und vielleicht magst du mich auch einfach nicht.“ Murphy grunzt zustimmend und Raphael schaut mich niedergeschlagen an. Dann seufzt er, als hätte er einen schwierigen Entschluss getroffen und faltet die Hände in seinem Schoß. „Okay, meinetwegen.“ Murphy schaut ihn an. „Wenn du mich nicht magst, dann mache ich jetzt einen Deal mit dir. Ich bin Protrainer und ich möchte Major Bob herausfordern, einen Elektrotrainer. Er ist sehr stark, deswegen werde ich Hilfe brauchen. Starke Hilfe.“ Für einen Moment scheint es mir, als würden Murphys Augen stolz aufleuchten. „Ich trainiere dich, damit du noch stärker wirst. Und wenn ich den Orden habe und du immer noch nichts von mir wissen willst, dann lasse ich dich frei.“ Jetzt hebt Murphy interessiert den Kopf. Ich schaue dem Wortwechsel aufmerksam zu. Murphy erhebt sich und streckt seine rechte Grabklaue aus. Raphael schaut sie verwirrt an, dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und er packt die dargebotene Hand. „Deal. Danke für deine Hilfe.“ Trotz ihres kleinen Paktes verläuft das Training nicht viel anders als vorher, sehr zu Raphaels Frustration. Die giftigen Blicke bleiben aus, aber Murphy gehorcht weiterhin nur den Befehlen, die er ohnehin zu tun vorhatte und benimmt sich ganz wie ein Pokémon, das seinem Trainer weniger zutraut als sich selbst. Keine gute Voraussetzung, denn gefangene Pokémon werden nicht nur durch das Training stärker, sondern vor allem durch die Leitung durch einen erfahrenen Trainer. Als er später am Abend Murphy zurückruft und mich nach Hause bringt, nehme ich seine Hand und drücke sie. „Er wird schon noch auf dich hören“, beruhige ich ihn. "Er spürt wahrscheinlich, dass ich noch nicht so viel Erfahrung als Trainer habe“, sagt Raphael. Er klingt ein wenig resigniert. „Wenn ich Glück habe, legt sich das bis zum Arenakampf, ansonsten hoffe ich nur, dass er auch gegen Bob die richtigen Entscheidungen trifft. Aber ich will wirklich nicht, dass er geht. Ich habe ihn irgendwie ziemlich ins Herz geschlossen, trotz der kurzen Zeit.“ „Er ist süß“, stimme ich zu. „Auf eine sture, wiederborstige Maulwurfart.“ „Charmant wie immer.“ „Keine Komplimente nach Feierabend.“ Ich drücke seine Hand noch einmal, dann lasse ich los. „Schläfst du wieder im Pokécenter?“, frage ich ihn, als wir vor meiner Haustür stehen. „Du weißt ja, Mama hat dir das Sofa zur Verfügung gestellt, solange du hier bist. Sie kann den Gedanken nicht ertragen, dass ein Kind ohne seine Eltern unterwegs ist und Dinge alleine tun muss.“ „Du solltest sie nicht so runter machen“, sagt Raphael leise und ich lege überrascht den Kopf schief. „Es ist ehrlich gesagt ziemlich schön, wieder so etwas wie eine Familie um sich zu haben. Mir ist nicht aufgefallen, wie sehr ich das vermisst habe.“ „Wollen wir uns noch kurz an den Steg setzen?“, frage ich, weil ich merke, dass ihm etwas auf dem Herzen liegt. „Nein, ist schon okay“, winkt er ab. „Man wird nur ein wenig einsam, wenn man keine Gruppe hat, die mit einem reist.“ „War in Vertania City niemand, der mit dir hätte gehen können?“ „Doch, jede Menge.“ Er verzieht das Gesicht. „Ich war nur nie die Art Gesellschaft, die sich die meisten dort gewünscht hätten. Lag vielleicht an dem alleine im Zimmer hocken und keine Bekanntschaften machen.“ „Ich mag dich“, sage ich ernst. „Mama und Papa mögen dich auch. Penny liebt dich und Sku findet dich attraktiv.“ Raphael verschluckt sich, aber ich ignoriere ihn und  fahre fort. „Murphy respektiert dich, er weiß es nur noch nicht, Tarik bewundert dich, weil du tust, was er insgeheim will, sich aber nicht traut und für Maya bist du eine Art Gott, weil du schon mal in Marmoria City warst. Also vergiss diese Idioten, die dich nicht mögen. Die haben nämlich nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Er lacht und schaut verlegen zur Seite. „Weißt du, ich glaube, ich nehme heute das Sofa.“ Ich schließe die Tür auf und lasse ihn hinein. „Es gehört dir.“   Drei Tage später ist es soweit. Laut Pokédex ist Rotomurf jetzt auf Level 24, während Kapilz Level 25 erreicht und Konter erlernt hat. Sowohl Raphael als auch ich sind optimistisch, dass er heute mit dem Donnerorden die Arena verlassen wird. Unsere größten bedenken sind aber, dass Murphy in den Kämpfen weiterhin seinen eigenen Kopf durchsetzt. Immerhin schaut er Raphael nicht mehr so grimmig an und lässt sich manchmal sogar zu einer High-Five bewegen. Sku verkriecht sich schon seit Tagen tagsüber in ihrem Pokéball, selbst in den Nächten kommt sie nur ungerne raus, weil es so heiß ist. Ihr dickes Fell hilft nicht gerade bei der Temperaturregulation, aber als ich vorgeschlagen habe, es zu trimmen, ist sie empört auf meinen Kopf gesprungen. Und so gehen wir, Pokébälle beruhigend in unseren Taschen, zur Arena von Orania City. Als wir eintreten, wird es schlagartig kühler. Zwei Trainer stehen mit verschränkten Armen hintereinander gestaffelt vor einer elektrischen Barriere und schauen uns überheblich an. An den Wänden sind rote Knöpfe in mehreren Reihen angebracht und der Boden ist gefliest und so stark poliert, dass ich mein Spiegelbild darin sehen kann. Direkt hinter dem Eingang stehen zwei Säulen, deren Spitze jeweils ein steinernes Raichu krönt. In eine Metallplakette am Fuß der Säule sind hunderte Namen eingraviert. Namen von Trainern, die dieses Jahr hier einen Orden erhalten haben. Neben der rechten Säule stehen zwei Männer. Der eine trägt eine Brille und einen violetten Längsstreifenanzug. Sein dunkles Haar ist platt gegen seinen Kopf gegelt und in der Hand hält er ein Mikrofon. Der andere hat eine Kamera in der Hand und ist eher leger gekleidet. Er sieht fast aus wie… aber nein. Das kann nicht sein. „Findet irgendetwas besonderes statt?“, frage ich und sehe aus den Augenwinkeln, dass Raphael hinter mir stehen geblieben ist und stocksteif steht. Der Reporter entdeckt uns und sein Gesicht hellt sich schlagartig auf. „Herausforderer am frühen Morgen, wunderbar! Hast du das, Erik?“ Der Kameramann nickt, während er seine Linse auf uns richtet. Verdammt. Er sieht genauso aus wie er. Kann es sein… Ich drehe den Kopf und schaue zu Raphael. Der öffnet den Mund, bleibt aber stumm und schaut überall hin, nur nicht auf die Kamera. Die Panik steht im quasi ins Gesicht geschrieben. „Kamera aus, Erik, Kamera aus, sage ich!“ Erik nimmt die Kamera runter. Der Reporter schaut Raphael ernst an, der nun endlich den Augenkontakt erwidert. Dass er nicht zittert, ist alles.  „Ich bin Alfred Phirello, Reporter und Live-Moderator bei Pokémon Camera Network“, stellt er sich überschwänglich vor und mir fällt die Kinnlade herunter. Er ist es. „Wir von PCN sind auf Talentsuche“, erklärt er. „Deswegen besuchen wir Arenen und filmen die Kämpfe junger, vielversprechender Trainer, damit sie groß rauskommen.“ Er sieht Raphael über den Rand seiner Metallbrille ernst an. „Warum kommt ihr zwei Hübschen nicht nochmal rein und seit dieses Mal völlig ignorant gegenüber uns Kameraleuten? Ihr seid Pokémon in eurem natürlichen Habitat und wir sind die Ranger. Tut so, als wären wir nicht da. Legt eine Wahnsinnsshow hin und ich verspreche euch, dass ihr berühmt werdet.“ Er reibt sich die Hände. „Also, wer von euch kämpft? Erik muss wissen, auf wen er den Fokus legen muss.“ „Ich“, sagt Raphael, nachdem er einen Moment lang einfach nur perplex da steht. Dann schaut er mich hilfesuchend an, aber ich bin gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt. PCN ist hier. Oh. Mein. Gott. Ich kann es nicht fassen! Sie sind die Hauptberichterstatter bei allen guten Red-Reportagen. Bei der Championship und bei den Pokéligakämpfen. PCN ist der Sender. Und hier steht ein Team von ihnen, direkt vor uns. Und nicht nur ein Team. Alfred Phirello höchstpersönlich. Ich wollte es zuerst nicht glauben, aber er ist es. Der Anzug mit dem grünen Taschentuch in der Brusttasche hätte mich von Anfang an überzeugen müssen, aber wie hätte ich denn ahnen sollen… „Ich bin Abbygail Hampton, freut mich, Leute vom PCN persönlich kennen zu lernen!“, plappere ich los und reiche dem Reporter meine Hand. „Tut mir leid, aber ich bin ein Riesenfan von PCN. Könnten sie mir gleich ein paar Fragen beantworten? Nachdem wir eine Wahnsinnsshow hingelegt haben, versteht sich?“ „Junge Lady, du bist mir sofort sympathisch!“ Er ergreift meine Hand und lächelt ein weißes Fernsehlächeln. „Es freut mich, einen charismatischen Fan wie dich kennen lernen zu dürfen.“ „Ich bin so froh, sie treffen zu können, Alfred. Wirklich, es ist mir eine Riesenehre. Wir gehen jetzt raus und kommen wieder rein und ich verspreche ihnen, sie werden perfektes Bildmaterial bekommen.“ „Abbygail, ich werde mir deinen Namen merken.“ Er tippt sich an seine Stirn und ich schiebe Raphael raus. „Los, los Erik, Kamera hoch, uns wurde eine Show versprochen, wir werden eine Show kriegen!“ „Was ist das denn für einer?“, fragt Raphael, als wir draußen stehen und ich dafür sorge, dass seine Haare ein wenig wilder aussehen, so als käme er gerade aus einem dramatischen Sturm und nicht aus dem heißesten Tag des Jahres. Ich antworte, während ich seine Brille zu Recht rücke und sein Hemd ein wenig weiter aufknöpfe. Er muss perfekt aussehen. „Hast du ihn nicht erkannt?“, frage ich entsetzt. „Das ist Alfred, der Starreporter von PCN, du weißt schon, dem größten Fernsehsender in Kanto und Johto. Wenn ein Kampf feurig wird, ist seine Moderation mindestens auf Weltuntergangsniveau. Du müsstest ihn aus dem Fernsehen und dem Radio kennen.“ „Ach, das ist er?“ Raphael schaut wenig begeistert zur Arena zurück und schiebt meine Hände von seinem Hemd weg. „Ich weiß nicht, ob ich so begeistert von der Situation bin, wie du.“ „Ach was“, sage ich. „Wenn Alfred dabei ist, kannst du nur über Nacht berühmt werden.“ „Wer sagt, dass ich das will?“ Er schaut wieder nach drinnen. „Ich will nicht beim Kämpfen gefilmt werden. Ich weiß nicht mal, ob Murphy mir gehorchen wird oder nicht. Und nachdem du so eine große Ankündigung gemacht hast, wäre eine Niederlage wirklich peinlich.“ „Du wirst gewinnen, keine Sorge“, sage ich. „Kämpf einfach und alles wird gut.“ Raphael schüttelt den Kopf und schaut zu Boden. „Du verstehst das nicht! Ich kann nicht einfach so tun, als würde mich niemand beobachten.“ „Ich will ja nichts sagen“, beginne ich. „Aber spätestens bei der Pokémon Championship wirst du ein verdammt großes Publikum haben und gefilmt werden. Das hier sollte für dich kein Problem sein, wenn du jemals oben mitmischen willst.“ Er wird kreidebleich. „Vielleicht sollte ich noch etwas trainieren, nur um sicher zu gehen.“ Er macht Anstalten, sich umzudrehen, aber ich packe sein Handgelenk und schaue ihm in die Augen. „Wenn du jetzt nicht reingehst, wirst du dich nie wieder trauen“, sage ich ernst. „Wenn du Angst hast, stell dir vor… stell dir vor, du bist jemand anderes. Tu so, als wärst du schon Champion und berühmt und beliebt und all das könnte dir nichts anhaben.“ „Wenn es so einfach wäre, hätte ich das schon früher gemacht“, sagt Raphael, nun ein wenig genervt. „Du verstehst nicht, wie sich das für mich anfühlt, okay?“ „Du hast es noch nie versucht“, kontere ich. „Du weißt nicht, ob es funktioniert oder nicht. Komm schon! Sei ein Kämpfer! Sei der coolste Trainer, den du dir vorstellen kannst. Spiel eine Rolle, setz ein Pokerface auf, was auch immer dir hilft, aber tu es!“ Er schaut mich lange an. Dann seufzt er. „Ich probier´s.“ „Das ist die richtige Einstellung“, lobe ich ihn und zupfe ein paar letzte Flusen von seinem Hemd. „Jetzt rein da, Pro.“ Als Raphael und ich die Arena zum zweiten Mal betreten, fehlen eigentlich nur der dramatische Luftzug und die Explosion im Hintergrund. Dafür, dass Raphael eben noch fast alles hingeschmissen hat, kontrolliert er sich wahnsinnig gut. Er ignoriert die Kamera vollkommen, die ihm auf Schritt und Tritt folgt und hält den Kopf stur auf seinen ersten Gegner gerichtet. Ich halte mich schräg hinter ihm, gerade so, dass ich erkennbar bin, ohne die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Wir gehen zwischen den Säulen hindurch zum ersten Vortrainer. Er zieht seine Cappie nach hinten und stellt sich ein bisschen breitbeiniger hin. „Wer von euch Schlappschwänzen glaubt, er hätte das Zeug dazu, Major Bob herauszufordern?“, fragt er. Raphael sagt nichts, sondern macht nur einen Schritt nach vorne. „Also gut.“ Der Junge grinst. „Das läuft hier so ab. Siehst du die elektrische Barriere da hinten? Zwei Stromkreisläufe halten sie aufrecht. Zwei Knöpfe an diesen Wänden können sie ausschalten. Du weißt nicht, welche. Ich schon. Wenn du mich besiegst, schalte ich den ersten Stromkreislauf ab. Wenn du es dann noch schaffen solltest, meinen Freund zu besiegen, darfst du dich Major Bob entgegen stellen. Aber ich würde dir empfehlen, sofort aufzugeben. Wenn du erst bei Major Bob bist, kann dich nichts mehr retten.“ Raphael schaut ihn gelangweilt an. „Bist du zum Reden oder zum Kämpfen hier?“, fragt er mit einer lässig coolen Stimme, die ich ihm nie zugetraut hätte und ich würde ihn am liebsten abknutschen. Aber das käme nicht gut. Stattdessen setze ich mein wissendstes Lächeln auf und mache ein paar langsame Schritte zur Seite, damit die beiden mehr Platz für ihren Kampf haben. Jetzt muss nur noch Murphy mitspielen. Der Junge knirscht mit den Zähnen, dann zieht er seinen Pokéball. „Los, Plusle!“ Das Plusle materialisiert sich vor seinem Trainer, seine Wangen sprühen Funken und es sieht überhaupt nicht so süß aus, wie ich mir Plusle immer vorgestellt habe. Es bleckt die spitzen Zähnchen und faucht. „Penny, zeig, was du kannst“, sagt Raphael ruhig und hält ihren Pokéball hoch. Sein Kapilz taucht vor ihm auf und hüpft leichtfüßig von einem Bein zum anderen, während sein Schwanz sacht hin und her peitscht. „Plusle, Ruckzuckhieb!“, befiehlt der Junge und Plusle verschwindet so schnell, dass ich es erst wieder sehe, als es schon gegen Kapilz geprallt ist. Der Aufprall ist heftig, aber die Attacke scheint Penny nur wenig Schaden zugefügt zu haben. „Egelsamen, dann Tempohieb!“, ruft Raphael und Kapilz nutzt die Nähe des Plusles, um es mit ihren Lianen einzuwickeln, bevor es wieder fliehen kann. Dann holt Penny weit aus und schlägt mit unglaublicher Geschwindigkeit seitlich gegen Plusles Kopf. Das kleine Pokémon wird zur Seite geworfen, bleibt aber in den Egelsamlianen hängen und schlittert nur ein kleines Stück über den Boden. „Plusle, Funkensprung, jetzt!“, ruft der Junge und Plusles Wangen beginnen zu knistern, bevor sich die Elektrizität über die Lianen auf Kapilz überträgt und es in pulsierende Blitze hüllt. Penny kreischt und ihr Körper verkrampft sich. „Damit hast du nicht gerechnet!“, ruft er Raphael zu. „Eine Elektroattacke von einem Elektropokémon? Unvorhersehbar“, erwidert Raphael kühl. Ich liebe ihn. „Penny, nochmal Tempohieb, sein Plusle ist quasi schon erledigt.“ „Schreib uns noch nicht ab! Plusle, nochmal Funkensprung!“ Plusle lädt sich mit Elektrizität auf, aber es ist zu spät. Kapilz schießt auf Plusle zu und trifft seinen kleinen Kopf mit einem unangenehmen Knacken. Ich kneife angewidert ein Auge zu. Plusle zuckt noch ein paar Sekunden, dann hängt es bewusstlos in Penny Egelsamen, die sich jetzt ablösen und wieder in ihren Kopfknospen verschwinden. „Plusle, zurück.“ Der Junge wirft Raphael einen vernichtenden Blick zu. „Wir sind noch nicht fertig. Los, Minun!“ Raphael sieht ihn herablassend an, als die blaugelbe Maus auftaucht, weit weniger blutrünstig aussehend als ihr Partner. „Wirklich?“, fragt er. „Das gleiche Spiel nochmal von vorne?“ „Klappe. Minun, Charme! Mach seinen Angriff zunichte!“ Minun schaut Penny mit großen, glänzenden Augen an und es scheint fast, als würde es irgendeine Droge ausschütten, denn Kapilz starrt es mit feuchten Augen an und rührt sich nicht mehr. „Denkst du, das hält sie zurück?“, fragt Raphael und schiebt seine Brille zu Recht. „Penny, Megasauger.“ Der grüne Lichtball schießt aus Pennys weit geöffnetem Maul und trifft das Minun frontal. Es wird zurückgeschleudert und kleine grüne Lichter fliegen zu Kapilz zurück, das diese über seinen ganzen Körper aufsaugt. Als Minun sich wieder aufrappelt, wirkt es sehr geschwächt. „Funkensprung Minun, komm schon!“ Minun sammelt seine Kräfte und ein Funkenregen prasselt auf Kapilz nieder, das hin und her hüpft, ihm aber nicht ausweichen kann. Raphael wirkt nicht weiter bekümmert. „Beende es mit Tempohieb“, ruft er seinem Pokémon zu und Penny nickt. Mit desaströser Geschwindigkeit schießt sie auf Minun zu und ihr Schlag schleudert es ans andere Ende des Kampffeldes gegen die Wand. Es bleibt reglos liegen. „Minun, du hast gut gekämpft“, sagt der Junge, als er sein Pokémon zurück ruft. „Ich bin noch nicht fertig“, droht er dann und Raphael stöhnt. „Was kommt jetzt? Neutron?“ Der Junge läuft rot an und holt einen dritten Pokéball aus seiner Tasche. „Warte nur ab“, zischt er. „Waaty, du bist dran!“ „Penny, selbe Vorgehensweise. Zapf es mit Egelsamen an.“ Penny macht ein zustimmendes Geräusch, dann schießen wieder Ranken aus ihrem Kopf und umwickeln ihren Gegner mit einem dichten Geflecht aus Energie abzapfenden Noppen. Waaty windet sich, hat aber keine Chance, sich zu befreien. „Waaty, Baumwollsaat, dann Ladevorgang!“ Waaty schüttelt sich, schneller und schneller, bis sich rosa Wolle von ihrem Körper ablöst und in alle Richtungen fliegt. Dort, wie die Wolle mit Kapilz in Berührung kommt, bleibt sie haften, verklebt seine Glieder und senkt seine Beweglichkeit. Dann lädt Waaty sich auf. Ihre Wolle beginnt vor Elektrizität zu sprühen. „Penny, Megasauger, sofort!“, ruft Raphael und der grüne Lichtball trifft Waaty mitten ins Gesicht. Doch sie ignoriert ihn, ihre ganze Konzentration gilt der Ladung, die sich in ihrem Körper sammelt. „Donnerschock Waaty, gib alles, was du hast!“, schreit der Junge verzweifelt. Was würde er wohl denken, wenn er wüsste, dass nach Kapilz noch ein Bodentyp auf ihn wartet? Waaty kreischt und all die angestaute Elektrizität entlädt sich in einem einzigen Stromstoß, der Kapilz aus nächster Nähe trifft. Ich werfe einen schnellen Blick zu Raphael. Sein Pokerface ist weiterhin in Takt, aber diese Attacke hat es in sich, das wissen wir beide. Für den nächsten Kampf wird er Murphy benutzen müssen, wenn er Penny ein wenig Ruhe gönnen will, bevor sie gegen Bob antreten müssen. Kapilz wird von Stromstößen geschockt und zuckt noch eine ganze Weile. Der Egelsamen ist ihre Rettung, da bin ich sicher, denn ununterbrochen gibt er ihr die Energie von Waaty zurück. „Noch einmal Megasauger, Penny, dann kannst du dich ausruhen!“, ruft Raphael ihr zu und sie holt ein letztes Mal Luft, um einen grünen Energieball auf das sich windende Waaty abzufeuern, das hilflos in ihrem Egelsamengriff festsitzt. Die Attacke trifft sie mit voller Wucht, und noch während Kapilz die Energie wieder in sich aufnimmt, wird Waaty schlaff und fällt zu Boden. Der Junge stöhnt und sinkt auf die Knie. „Aber… ich habe doch unter Major Bob trainiert…“, flüstert er. Besiegt zieht er seinen Pokéball hervor und ruft Waaty zurück. Dann steht er auf. „Ich werde wohl weiter trainieren müssen“, sagt er und geht auf Raphael zu, der Penny bereits zurück gerufen hat. Er reicht ihm seine Hand. „Du warst der Stärkere.“ „Wir alle müssen weiter trainieren“, erwidert Raphael und lächelt leicht. „Jeder von uns ist stärker als die einen und schwächer als die anderen. Wir steigen nur in dieser Hierarchie auf, aber egal wie gut wir sind, es wird immer jene geben, die höher stehen.“ „Du hast Recht.“ Der Junge grinst und lässt Raphaels Hand los. „Wir werden sehen, ob du auch besser als Tobias bist. Ich aktiviere den ersten Schalter.“ Mit diesen Worten geht er zu der rechten Wand und drückt einen roten Knopf irgendwo links außen. Hinter Tobias öffnet sich das erste Elektrogitter. Tobias tritt nach vorne. „Ich bin die letzte Barriere. Zeig mir, was du drauf hast.“ „Murphy, dein Auftritt.“ Raphael wirft seinen Pokéball hoch in die Luft, fängt ihn wieder und hält ihn in Richtung Kampffläche, wo Rotomurf sich materialisiert. Tobias grinst hämisch. „Ein Bodenpokémon? Glaubst du, damit rechnet ein Elektrotrainer nicht?“ Er tippt gegen seinen Pokéball und ein rotes Licht kündigt das Erscheinen seines Pokémon an. Es ist klein, mit einem weißen Körper und schwarzen Ohren und Schwanz. Und es fliegt. „Damit hast du nicht gerechnet, hm?“, fragt Tobias und verschränkt die Arme. „Deine hübschen Bodenattacken werden dir jetzt nichts nutzen. Wie fühlt es sich an, hilflos zu sein?“ „Vielleicht solltest du jemanden fragen, der schon mal hilflos war“, erwidert Raphael seelenruhig. Der Junge von eben lacht. „Unterschätz ihn nicht, Tobi! Der Typ hat´s echt drauf.“ „Fangen wir nun an oder nicht?“, fragt Raphael. „Emolga, Doppelteam“, befiehlt Tobi und Emolga beginnt, so schnell um Murphy herumzufliegen, das sie an mehreren Orten gleichzeitig zu sein scheint. „Murphy“, sagt Raphael nur und sein Rotomurf beginnt, seine Klauen aneinander zu wetzen. Clever. So kaschiert er die Tatsache, dass Murphy ihm nicht gehorcht. Hoffen wir, dass Murphy weiß, was er tut. „Jetzt Rutenschlag!“ Emolga schießt aus allen möglichen Richtungen auf Murphy zu und schlägt ihn mit ihrem Schwanz wieder und wieder, bis Rotomurf sich nur noch desorientiert umsehen kann. Rotomurf fährt fort, seine Klauen zu schärfen. Sollte er nicht langsam angreifen? Ich schaue zu Raphael, versuche, mir nichts anmerken zu lassen, aber er sieht seelenruhig aus. Entweder seine Maske ist besser, als ich jemals hätte ahnen können oder er vertraut seinem Pokémon mehr als ich. Emolga trifft Murphy problemlos mit einer Verfolgung und er strauchelt rückwärts. Dann schlägt er mit seinen Pranken nach Emolga, doch das ist schneller und weicht geschickt aus, bevor es im großen Bogen um Murphy herum segelt und zu seiner nächsten Attacke ansetzt. Murphy will wieder angreifen, da erklingt Raphaels Stimme hinter ihm und er dreht sich um. „Warte…“, sagt er und hebt einen einzigen Finger. „Warte…“ Murphy blinzelt, dann wendet er sich wieder seinem Gegner zu, die Klauen erhoben. „Nochmal Verfolgung, Emolga!“, schreit Tobi und im selben Moment schreit Raphael „Jetzt!“ Was nun geschieht, kann ich mit bloßem Auge nicht mehr erkennen. Im einen Moment schießt Emolga auf Murphy zu, im nächsten Moment liegt es besiegt zu seinen Füßen. „Wa-was? Wie konnte…“ Tobi starrt sein Pokémon an. Da geht mir ein Licht auf und ich mache einen Schritt nach vorne. „Raphael hat auf den Moment gewartet, in dem Emolga das Doppelteam für einen kurzen Moment aufgeben würde, um anzugreifen“, analysiere ich laut. Ich spüre, wie die Kamera sich auf mich richtet. „Er wusste, dass er diese Schwachstelle nur einmal ausnutzen kann, also hat er Murphy unauffällig befohlen, seinen Angriff und seine Genauigkeit zweimal mit Klauenwetzer zu steigern, bevor er mit einer typneutralen Attacke angreift. Und weil Rotomurf einen ohnehin starken Angriff und Emolga eine schwache Verteidigung hat, war das der Anfang vom Ende“, sage ich mit einem dramatischem Unterton. Dass Murphy erst ganz zum Schluss beschlossen hat, Raphael zu vertrauen, lasse ich außen vor. Als ich den Blick senke und dann von unten direkt in die Kamera hineinschaue, sehe ich Alfred im Hintergrund wild mit seinen Daumen gestikulieren. Er ist begeistert. Und ich auch. Wer hätte gedacht, dass Raphaels Pokerface so überzeugend sein würde? Kapitel 5: Du bist mein Held (Pikachu aus der Hölle) ---------------------------------------------------- Tobias bleibt noch einen Moment wie vor den Kopf geschlagen stehen, dann ruft er Emolga zurück. „Du hast gewonnen“, sagt er und geht zur anderen Seite der Arena, wo er den zweiten roten Knopf drückt. Mit einem Knistern öffnet sich die letzte Elektroschranke und gibt den Blick auf einen großen Raum frei. „Viel Glück“, ruft uns der erste Vorkämpfer nach, während Raphael und ich an ihm vorbei gehen. Wir durchqueren die Elektrotür, die Kamera in unserem Rücken. Der Raum ist fast so groß wie der Eingang, mit einem richtigen Kampfplatz, der in schwarz auf den weißen Fliesen eingezeichnet ist. Auf einem erhöhten Podium am anderen Ende des Kampfplatzes steht Major Bob. Sein blondes Haar ist stachlig hochgegelt, seine Augen werden von einer Sonnenbrille verdeckt und er trägt eine Militärhose, ein grünes Muskelshirt und schwarze Militärstiefel. Um seinen Hals hängt eine Kette mit einem Metallanhänger und an seinem Gürtel sind sechs Pokébälle befestigt. Ich kann nur hoffen, dass er nicht vorhat, sie alle einzusetzen. Neben ihm steht ein Raichu mit einer ähnlichen Metallkette um den Hals und einer Narbe am Ohr. Sein langer, blitzförmiger Schweif peitscht hinter ihm auf und ab. Bevor er den Ring betritt, heilt Raphael sein Kapilz mit einem Supertrank. Er verfährt genauso mit Murphys Pokéball, um auf Nummer sicher zu gehen, nehme ich an, dann macht er ein paar Schritte nach vorne, bis er im Trainerbereich steht, einem abgegrenzten Bereich außerhalb des Kampfplatzes. Erst jetzt nimmt Major Bob offiziell Notiz von uns. Leichtfüßig springt er die Stufen seines Podests hinunter und verschränkt die muskulösen Arme vor seiner Brust. Raichu folgt ihm, bleibt aber außerhalb des Rings, was hoffentlich bedeutet, dass es heute nicht kämpft. Ich habe üble Gerüchte über dieses Pokémon gehört, aber wahrscheinlich ist es von der Liga nicht für Arenakämpfe zugelassen worden, weil es mittlerweile zu  stark ist. „Ein Rekrut, der sich mit mir messen will?“, fragt er und zeigt Raphael ein wölfisches Grinsen. „Mach dich bereit, bei lebendigem Leibe gegrillt zu werden. Meine Pokémon haben ihre Feinde im Krieg besiegt, sie werden von keinem Kind in die Knie gezwungen!“ Er hebt langsam einen der Pokébälle. In seiner Hälfte des Kampfplatzes materialisiert sich ein Magnetilo, das ungefähr einen Meter über dem Boden schwebt. Ab und zu lässt es sich zu Boden sinken, nur um wieder aufzusteigen. „Los, Penny“, ruft Raphael und lässt Kapilz auf das Kampffeld los. Die beiden Pokémon betrachten einander eingehend. „Tempohieb.“ „Superschall“, kontert Major Bob. Kapilz schießt blitzschnell nach vorne und trifft das Magnetilo mit seiner Faust, worauf dieses zur Seite geschleudert wird. Es wankt ein wenig, als es sich wieder in die Luft bewegt, aber dann beginnt es, Impulse auszusenden, die wie unsichtbare Wellen in der Luft erkennbar sind, begleitet von einem Fiepen, das ich kaum hören kann. Kapilz packt sich an den Kopf und wankt wimmernd hin und her. „Nochmal Tempohieb!“, ruft Raphael und Penny sieht sich hilflos um, als wüsste sie nicht, woher die Stimme kommt. Dann holt sie zum Schlag aus – und trifft sich selbst. Die Wucht des Tempohiebes ist nicht verloren gegangen und Penny taumelt mit schmerzverzerrtem Gesicht ein paar Schritte zurück. „Den Vorteil deines Gegners zu deinem eigenen machen, das ist wahre Kriegsstrategie“, sagt Major Bob und deutet mit dem Zeigefinger auf Kapilz. „Metallsound, Magnetilo.“ Magnetilo stößt eine weitere Schallwelle aus, die dieses Mal aber so klingt, als würde jemand mit seinen Fingernägeln über Metall kratzen. Ich muss mir die Ohren zu halten, so schlimm hört es sich an. Penny scheint es ähnlich zu gehen, sie wimmert und schlägt wild um sich, als könnte sie dadurch die Töne aus ihrem Kopf vertreiben. „Penny, konzentrier dich!“, ruft Raphael ihr mit ruhiger, sanfter Stimme zu. Penny Kopf dreht sich ganz leicht zu ihm. „Ich bin hier, das Magnetilo ist dort, wo die Geräusche am schlimmsten sind. Ich weiß, dass du es besiegen kannst. Ein Tempohieb noch, dann ist es erledigt!“ Kapilz nickt und dreht sich um. Sie wiegt den Kopf hin und her, als suche sie nach etwas. Dann reißt sie die Augen auf und prescht geradewegs auf Magnetilo zu. Sie holt aus und schlägt zu, aber Magnetilo schafft es, ihrem Schlag zu entgehen. Kapilz streift es nur und der Großteil der Kraft geht verloren. „Jetzt Donnerschock!“, ruft Bob und Raphael schreit verzweifelt „Tempohieb, komm schon!“ Die beiden Pokémon rasen aufeinander zu, Kapilz nun nicht mehr von dem Superschall beeinflusst und ihre Faust trifft das Magnetilo mit voller Wucht. Magnetilo fliegt in hohem Bogen durch die Luft und landet mit einem klingenden Geräusch auf den Fliesen. Major Bob ruft es ohne ein Wort zurück. „Glaubst du, das war´s?“, fragt er und greift nach seinem nächsten Pokéball. „Der Krieg hat gerade erst begonnen! Elektek, antreten!“ Ein Pokémon, das ein bisschen wie ein Donneryeti aussieht, taucht vor Major Bob auf. Es trommelt sich mit den massigen Fäusten auf die Brust und stampft mit den klauenbewährten Füßen auf den Boden. Kapilz wendet sich ihm zu. Seine Atmung hat sich beschleunigt und ich weiß, dass es nicht mehr lange durchhalten wird. Raphael scheint dasselbe zu denken, denn seine Stirn ist in Falten gelegt.  „Fußkick, Elektek!“, ruft Major Bob und Raphaels Stimme folgt gleich danach. „Konter ihn, Penny!“ Elektek rennt auf Kapilz zu und springt hoch, während es einen Fuß ausstreckt und Kapilz damit mitten in den Bauch trifft. Penny wird zurück geschleudert und für einen Moment glaube ich, dass sie nicht mehr zum Konter kommen wird, aber Penny bleibt auf ihren Beinen stehen, wenn auch mehr bewusstlos als alles andere. Sie hebt den Kopf – und sprintet mit halsbrecherischem Tempo auf das verdutzte Elektek zu, das von ihrem Ganzkörperangriff von den Füßen gerissen wird. Beide Pokémon fallen zu Boden und kugeln über die Fliesen. Aber während Elektek sich danach aufrichtet, bleibt Kapilz einfach liegen. „Ruckzuckhieb“, sagt Major Bob mit nüchterner Stimme und bevor Penny ihre Kräfte wieder sammeln kann, trifft Elekteks Attacke sie in den Bauch. Ihr Kopf sackt ohne einen Laut zur Seite. Raphael ruft sie wortlos zurück. „Murphy, du bist dran“, ruft er, als er Rotomurf in den Kampf schickt. Das Bodenpokémon schaut zu dem Elektek auf und kneift missmutig die Augen zusammen. „Fang an mit Klauenwetzer.“ „Silberblick, Elektek.“ Die folgenden Momente sind auf ihre eigene Weise sehr intensiv. Murphy schärft seine langen Grabklauen, indem er sie immer wieder aneinander schleifen lässt und das resultierende Klingen hallt überall an den Fliesen wieder. Gleichzeitig ist sein Blick auf die Augen des Elekteks fokussiert, das ihn mit seinem mörderischen Blick zu durchbohren scheint und ich kann förmlich sehen, wie Murphys dunkelbraunes Fell sich langsam aufstellt. Wir warten. „Elektek, Fußkick!“, befiehlt Major Bob mit donnernder Stimme und Elektek springt wie zuvor auf seinen Gegner zu. Murphy hebt seine Arme und überkreuzt sie vor seinem Körper, um den Angriff zu blocken, wird aber trotzdem von der Wucht des Tritts nach hinten gedrückt. Er scheint allerdings weit besser davonzukommen als Kapilz zuvor. „Schaufler!“, ruft Raphael ihm zu. Murphy wirft sich zur Seite und seine Grabklauen fressen sich in Sekundenschnelle durch die Fliesen und hinunter ins Erdreich. Keine fünf Sekunden später ist Murphy tief unter der Erde und nicht mehr zu sehen. „Ruckzuckhieb, lass dich nicht von ihm erwischen!“, ruft Bob seinem Elektek zu, dass daraufhin wie ein Besessener über die Kampffläche rennt, Haken schlägt und möglichst an keinem Ort verweilt. Aber sein Manöver hält nicht ewig. In dem Moment, da es langsamer wird und einen Sekundenbruchteil zu lange stehen bleibt, schießt Murphy unter ihm aus der Erde, trifft das Elektek mit seinen klauenbestückten Händen und schleudert es über einen Meter in die Luft. Ich rechne damit, dass es sich wieder aufrappelt, aber zu meiner großen Überraschung bleibt Elektek reglos liegen, während Murphy seine Krallen schüttelt, um Erde und Fliesensplitter aus den Zwischenräumen zu lösen. Major Bob pfeift anerkennend, als er sein Pokémon zurückruft. „Nicht schlecht, Rekrut. Aber gegen mein nächstes Pokémon kannst du nicht gewinnen. Jetzt werden wir dir zeigen, was wahre Elektropower ist!“ Raichu bleckt die Zähne zu einem gefährlichen Grinsen und für einen Moment bin ich sicher, dass er es doch in den Kampf schicken wird und wir geliefert sind. Aber dann pfeift Major Bob. Nichts geschieht. Er pfeift nochmal. Ein kleines, gelbes Pikachu taucht aus einem hinteren Teil der Arena auf, der mir vorher gar nicht aufgefallen ist. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine versteckte Tür, die zu Major Bobs Wohnung führt, aber sicher bin ich nicht. Das Pikachu jedenfalls sieht… verwegen aus. Als es sich vor Major Bob positioniert, fällt mir als erstes das in alle Richtungen abstehende Fell auf, das vor allem auf seinem Kopf länger ist als gewöhnlich. Um seinen Hals ist ein Tuch in Tarnfarben gebunden, passend zu Major Bobs Hose und eine feine Narbe verläuft gleich unter seinem rechten Auge. Es bleckt die spitzen Zähne und faucht. Und ich dachte immer, Pikachus wären süß. So kann man sich täuschen. „Mach ihn fertig“, sagt Major Bob und das Pikachu grinst. Es ist das Furchterregendste, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Dann, ohne ein Kommando seines Trainers abzuwarten, schießt es auf Murphy zu, der von der Schnelligkeit der Attacke völlig überrumpelt wird. Der Ruckzuckhieb trifft ihn frontal und auch wenn die Attacke selbst nicht die Stärkste ist, beginnt Murphy plötzlich zu zittern. Pikachu springt mit einem großen Satz zur Seite und wartet, seine Wangen knistern elektrisch und entladen sich mehrmals spontan in der Luft, als wäre der kleine Körper zum Bersten geladen. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was passiert ist. Pikachus Elektrizität hat sich bei dem Körperkontakt auf Murphy übertragen und ihn paralysiert. „Schaufler, schnell!“, ruft Raphael, der genauso überrumpelt ist wie Murphy und ich. Murphy nickt, und läuft, langsamer als sonst, auf das zuvor gegrabene Loch zu. Dann verschwindet er im Erdreich. Pikachu beginnt unterdessen eine Doppelteam Attacke, während Major Bob mit verschränkten Armen und väterlichem Lächeln das Geschehen betrachtet. Er scheint Pikachu ohne Anweisungen kämpfen lassen zu wollen. Die gelbe Maus rennt quer über den Kampfplatz und scheint, je länger sie läuft, nur an Geschwindigkeit zu gewinnen. Murphys Schaufler wird das Pikachu ausschalten, das ist sicher. Aber paralysiert wird er gegen diese Schnelligkeit niemals ankommen. Die stärkste Attacke der Welt hilft nichts, wenn sie nicht trifft. Murphy bleibt länger als gewöhnlich unter der Erde, was vermutlich daran liegt, dass Pikachu sich keine Pause erlaubt und seine Geschwindigkeit nicht mal eine Sekunde lang drosselt. Dann bleibt es plötzlich stehen. Abrupt, als hätte es vergessen, was sein ursprünglicher Plan war. Murphy nutzt die Gelegenheit und schießt unter ihm aus der Oberfläche hervor und Pikachu fliegt in die Luft. Nur das es nicht getroffen wurde. Pikachu hat sich selbst in die Höhe katapultiert, genau in dem Moment, als Murphy aus der Erde schoss. Strategisch einwandfrei. Es überschlägt sich einmal in der Luft und landet unverletzt auf allen Vieren, etwa zwei Meter von Murphy entfernt, der immer noch von elektrischen Schüben geschüttelt wird. Raphael beißt sich auf die Lippen. „Nochmal Schaufler!“, ruft er Murphy zu, der sich gehorsam wieder auf den Weg unter die Erde macht. Pikachu macht ein Geräusch, das ein bisschen wie ein hämisches Keckern klingt, dann sprintet es auf Murphy zu und trifft ihn wieder mit einem heftigen Ruckzuckhieb. Murphy wird zur Seite geschleudert und steht mühsam auf, die Paralyse behindert seine Bewegungen und er faucht das Pikachu an, das sein Fell sträubt und mit doppelter Lautstärke zurückkeift. Murphy gräbt sich ein und Pikachu nimmt sein halsbrecherisches Tempo wieder auf, bis ich es überall und nirgends auf dem Kampfplatz sehen kann. Als Rotomurf dieses Mal aus der Erde schießt, wird es plötzlich von Krämpfen geschüttelt und sein Angriff stoppt, bevor er überhaupt in Reichweite des Pikachus gelangt ist. Pikachu feixt und hüpft schnell hin und her. Raphael ruft Murphy etwas zu und er setzt zu einer Kratzfurie an, aber bevor er treffen kann, verschwindet Pikachu und taucht direkt hinter ihm wieder auf. Sein Ruckzuckhieb trifft Murphy mitten in den Rücken und der kleine Maulwurf fällt zu Boden. Wütend schlägt er nach Pikachu, doch es springt rechtzeitig aus seiner Reichweite. Ich werfe einen Blick zu Major Bob, dessen Augen weiterhin von der Sonnenbrille bedeckt sind, aber auf seinem Gesicht ist ein siegessicheres Lächeln. Ich kann es ihm nicht verübeln. Murphy ist bereits dreimal von dem Ruckzuckhieb erwischt worden, sein Schaufler trifft partout nicht und Pikachu ist schneller als der Wind. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Murphy besiegt wird. Aber Raphael gibt nicht auf. Er scheint die Kamera völlig vergessen zu haben, alles an ihm spricht von voller Konzentration und unzerstörbarem Siegeswillen. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn und ich kann förmlich sehen, wie es hinter seiner Schädeldecke arbeitet. Dann huscht etwas über sein Gesicht und ich wage die Hoffnung, dass er eine Strategie entwickelt hat. „Murphy, Klauenwetzer, aber lass es nicht aus den Augen!“ Murphy gibt ein grunzendes Geräusch von sich, dann beginnt er, seine Klauen wieder aneinander zu reiben. Es war ein schleichender Prozess, aber Murphy scheint gemerkt zu habe, dass er mit Raphaels Hilfe weiter kommt als alleine. Selbst, wenn Raphael verliert, das gegenseitige Vertrauen in ihre Fähigkeiten kann ihnen niemand mehr nehmen. Raphael versucht, Pikachus Doppelteam entgegen zu wirken, indem er Murphys Genauigkeit erhöht. Gleichzeitig verstärkt die Attacke seinen Angriff, womit Kratzfurie effizient genug wird, sodass er sich nicht mehr auf Schaufler verlassen muss. Denn die Zeit unter der Erde kann Pikachu nutzen, um seinen Fluchtwert weiter zu stärken. Mir kommt die Strategie eher wie eine Art Schadensbegrenzung vor, aber um ehrlich zu sein habe ich auch keine bessere Idee. Wie erwartet beginnt Pikachu wieder eine Doppelteamattacke. Es bewegt sich so schnell, dass überall in der Arena Pikachubilder hängen bleiben, die sofort wieder verschwinden. Aber es kommt mir langsamer vor als noch vor zwei Runden. Könnte es sein, dass es müde wird? Murphy hört nicht auf, seine Krallen zu schleifen, sein Blick wandert die gesamte Arena entlang und folgt dem Pikachu auf Schritt und Tritt. Tatsächlich scheint er Pikachu immer besser erkennen zu können, je öfter er Klauenwetzer einsetzt und Pikachu wird langsamer, je länger es Doppelteam einsetzt. Schließlich bleibt es stehen, sein kleiner Brustkorb hebt und senkt sich rapide. Dann schleudert es sich wieder Murphy entgegen. „Kratzfurie!“, schreit Raphael und Murphy holt aus. Im nächsten Moment donnert Pikachu gegen ihn und Murphy wird nach hinten geschleudert. Ich stöhne innerlich. Das war vielleicht Murphys letzte Chance. Aber dann sehe ich es. Ein roter Kratzer, gleich neben Pikachus Narbe. Murphy hat getroffen. Nicht wirklich verletzt, aber getroffen. Raphael sieht es auch, denn sein Gesicht hellt sich augenblicklich auf. „Murphy, du schaffst das!“, schreit er und Murphy rappelt sich auf. Es wird keinen weiteren Ruckzuckhieb durchhalten, da bin ich mir sicher. „Harpy, gib jetzt nicht nach!“, ruft Major Bob und das Pikachu namens Harpy faucht zustimmend. Dann rennt es wieder auf Murphy los. Murphy schließt die Augen. Dann, als Pikachu zum Sprung ansetzt hebt er plötzlich beide Arme, als könnte er Pikachus fehlende Präsenz auf dem Boden spüren. Vielleicht kann er es sogar. Denn ich kann Pikachu nicht mehr sehen, so schnell ist es. Und trotzdem trifft Murphy es mit beiden klauenbesetzten Grabhänden und schleudert es mit einer doppelten Kratzfurie ans andere Ende der Arena. Harpy überschlägt sich mehrere Male in der Luft, fliegt über Major Bobs Kopf hinweg und prallt mit einem Knirschen von der Wand ab. Es fällt zu Boden und bleibt bewusstlos liegen. Murphy öffnet die Augen und blickt Major Bob triumphierend an. Dann bricht Raphael in Jubel aus, rennt auf Murphy zu und hebt ihn hoch in seine Arme, wo er ihn so fest umarmt, dass Murphy müde mit den Armen wedelt. Ich muss unwillkürlich lächeln und als ich sehe, dass die Kamera über Raphael, den Arenaleiter und schließlich zu mir schwenkt, mache ich das Peacezeichen und grinse breit in die Kamera. Alfred hat Tränen in den Augen, so begeistert ist er. „Nicht schlecht, Rekrut“, sagt Major Bob, nachdem Raphael Murphy wieder abgesetzt hat und er Harpy zurückgerufen hat. „Aber noch sind wir nicht fertig.“ Raichu macht einen Schritt nach vorne. Ohne den Ring zu betreten, zuckt Raichu mit seinem blitzförmigen Schweif und der Raum verdunkelt sich. Als ich den Blick hebe, erkenne ich Gewitterwolken, die sich direkt über unseren Köpfen zusammenbrauen und elektrisch knistern. Raphael nimmt schwer schluckend wieder Position auf seiner Trainerplattform ein und Murphy bezieht niedergeschlagen und erschöpft vor ihm Stellung. Dann entladen sich gewaltige Blitze vom Umfang kleiner Bäume überall auf der Kampffläche, begleitet von tosendem Donnergrollen, das in unseren Ohren wiederhallt. Die Wolken lösen sich langsam auf. Murphy steht völlig unberührt auf dem Kampfplatz, nur sein Fell steht ihm zu Berge.  „Du hast deinen Donnerorden noch nicht, Rekrut.“ Major Bobs Raichu verschwindet hinter ihm und läuft zu seinem Podium. Als es zurückkehrt, blinkt etwas golden Glitzerndes in seinem Maul. Es läuft zu Raphael und stellt sich auf die Hinterbeine. Dann legt es den Donnerorden behutsam in seine dargebotene Hand. „Er gehört dir, Junge“, sagt Major Bob. „Du hast ihn dir verdient. Dein Rotomurf wird noch ein waschechter Soldat, wenn es weiter mit dir trainiert.“ „Aus, Erik, aus!“ Alfred gestikuliert wild mit den Händen, dann läuft er auf Raphael und mich zu. „Das war fantastisch. Du hast nicht zu viel versprochen Abbygail, wenn wir daraus keine herzzerreißende Reportage machen, dann kündige ich meinen Job. Wie dein Murphy gekämpft hat, Raphael, wie es für dich an seine Grenzen gegangen ist…“ Er fischt das grüne Taschentuch aus seiner Brusttasche und tupft sich seine Augen, bevor er sich ausladend schnäuzt und das Taschentuch Erik zuwirft. Der fängt es mit einer geübten freien Hand und steckt es in seine Hosentasche. „Danke, Alfred“, sagt Raphael, jetzt, da die Kamera und der Druck weg sind, wieder so unsicher wie bei ihrer ersten Begegnung. „Also, was haltet ihr zwei Hübschen davon, wenn ich euch als Dankeschön für diese Darbietung zu einem Eis einlade und du mir alle Fragen stellst, die dir auf der Seele brennen, Abby.“ Ich sehe, dass Raphael zu einer Antwort ansetzt und komme ihm schnell zuvor. „Es wäre uns eine Ehre, Alfred. Eis klingt wundervoll. Nicht wahr, Raphael?“ „Oh, ja. Ganz wundervoll.“ Er schaut mich böse an. „Ich würde zu gerne mitkommen, aber ich glaube, ich bringe meine Pokémon lieber erst in ein Pokécenter. Ich komme nach, wenn sie versorgt wurden.“ Alfred steigen schon wieder die Tränen in die Augen. „Seine Pokémon sind im wichtiger als alles andere, hast du das notiert, Erik?“ „Hm, mhm.“ Erik hat sein Kamera auf dem Boden abgestellt und einen Notizblock in der Hand. „In Ordnung, dann werden wir Abbygail mitnehmen und du kommst nach. Wunderbar.“ Er reibt sich die Hände. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf dieses Eis freue.“   Zehn Minuten später sitze ich mit Erik und Alfred in Oranias beliebtesten Eiscafé und genieße die Sonne auf meiner Haut. Dieses Mal habe ich mir einen Sinel- und Yapabecher bestellt, mit extra Sahne und Schokosoße. Alfred isst nicht, er beobachtet mich lieber fasziniert. Erik hingegen hat sich zehn verschieden Eissorten bestellt und isst sie in Rekordtempo. Ich bezweifle nicht, dass er sich noch einen Nachschlag bestellen wird. „Also, Abbygail, wie heißt du denn mit vollem Namen?“, fragt Alfred und lächelt mich freundlich an. „Abbygail Charlotte Hampton“, antworte ich mit vollem Mund. „Wundervoll. Und wie alt bist du, Abby?“ Ich bemerke, dass Erik seinen Notizblock gezückt hat. „Ich bin dreizehn.“ „Nun, Abby, ich muss dir ein Kompliment aussprechen“, sagt er und faltet die Hände unter seinem Kinn. „Wie du diesen schüchternen, misstrauischen Jungen innerhalb von fünf Minuten in einen vor Coolness triefenden Star verwandelt hast, das war überwältigend! Und er hat auch noch das Talent! Ich war beeindruckt. Auch deine gesamte Haltung. Deine Siegesgewissheit in all den richtigen Momenten, deine strategischen Erklärungen, deine Mimik… So etwas sehe ich nicht jeden Tag.“ Es ist das beste Kompliment, das ich je in meinem Leben bekommen habe. „Sie glauben gar nicht, wie viel mir das aus ihrem Mund bedeutet“, sage ich aufrichtig und strahle ihn an. Alfred sieht so aus, als würde er gleich wieder anfangen zu weinen, aber er hält sich zurück. „Dein Freund, Raphael. Er wird nicht kommen, nehme ich an?“ „Nein, vermutlich nicht“, sage ich und esse noch einen Löffel Eis. Wie erwartet bestellt Erik sich gerade seine zweite Portion. „Er wirkte von Anfang an Kamerascheu auf mich“, stimmt Alfred mir zu. „Aber das wichtigste mit diesen Trainern ist, dass sie im entscheidenden Moment vor der Kamera glänzen können. Und das hat er bewiesen. Wenn sie erst mal berühmt sind, kann ich alles andere als Charakter vermarkten. Aber gerade am Anfang ist der erste gute Eindruck vor der Kamera wichtig.“ Ich nicke. „Weißt du, Abby, ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, aber du hast diesem Jungen eine mögliche Profikarriere ermöglicht.“ „Ach was, Raphael hat gekämpft, nicht ich“, widerspreche ich, aber Alfred schüttelt den Kopf und schaut mich ernst an. „Ohne dich wäre er beim zweiten Mal genauso aufgetreten wie zuvor, mit hängenden Schultern und einem paranoiden Blick in unsere Richtung. Außerdem wird deine Anwesenheit ihn noch viel interessanter machen.“ Ich schaue ihn fragend an.  „Du machst ihn interessant“, erklärt er. „Interaktion mit einer anderen Person ist interessanter als reine Interaktion mit der Kamera. Pokémon verhalten sich in ihrem natürlichen Umfeld anders als beobachtet in einem Käfig und wieder anders in Interaktion, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden.“ Ich höre aufmerksam zu. „Der Trick“, fährt er fort, „ist den Zuschauer, also den Beobachter, glauben zu machen, dass was sie sehen die pure Interaktion ist. Er muss denken, dass er die Person in ihrem natürlichen Umfeld beobachtet, auch wenn die Person vielleicht alles spielt. Es muss echt wirken.“ Ein Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus. „Ihr wart echt. Und das hat Raphael dir und deinem Einfluss zu verdanken, denn du“, er deutet auf mich, „hast diese Fähigkeit, den Beobachter vergessen zu machen, dass alles, was er sieht, gespielt sein könnte.“ „Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Hilflos schaue ich Alfred an und er tätschelt meine Hand. „Das wissen wir doch nie. Trotzdem sagen wir etwas.“ Er grinst breit. „Also, was wolltest du mich fragen?“ Meine Frage! Ich hatte total vergessen, dass ich ihn etwas fragen wollte. „Falls ich mich später dazu entscheiden würde, freiberufliche Reporterin werden zu wollen, rein hypothetisch, wie würde ich das anstellen?“ Alfred Lächeln wächst, bis es fast seine Ohren erreicht. „Das wüsstest du gerne, nicht wahr? Also, rein hypothetisch natürlich, würde ich dir empfehlen, dich bei der PCN Leitstelle in Lavandia zu melden. Im Keller des Radioturms ist unsere Abteilung. Du wirst dich erst beweisen müssen, eine Story wäre ideal. Ich würde dir außerdem empfehlen, nach mir zu fragen oder, falls ich nicht zugegen bin, ihnen mein Empfehlungsschreiben vorzulegen.“ „Ihr Empfehlungsschreiben?“, frage ich mit großen Augen. Ich kann es nicht fassen. „Das rein hypothetisch in ein paar Tagen an deine Adresse geliefert werden wird, wenn du sie dem guten Erik aufschreibst.“ Ich greife nach dem Notizblock, schnappe mir Eriks Stift und kritzele meine Adresse auf das Papier. „Wundervoll.“ Er legt Geld auf den Tisch und steht auf, dann klopft er mir auf die Schulter. „Wir werden deine Karriere schon in Gang bringen, Abby, mach dir da mal keine Sorgen. Ob du morgen kommst oder in zehn Jahren, ich erwarte freudig den Tag, da ich dich in der Branche wiedersehe.“ Ich schlürfe den geschmolzenen Rest Eis auf, dann stehe ich auf und, nach kurzem Zögern, umarme ich Alfred innig. Er erwidert die Umarmung mit genauso viel Wärme. „Auf Wiedersehen“, sagt er lächelnd, dann dreht er sich um und geht, mit Erik im Schlepptau, davon.   Ich finde Raphael, wie erwartet, auf einer Couch im Pokécenter. Er schläft, Penny in einem Arm und Murphy halb auf seinem Schoß. Die beiden sehen besser aus, aber Kapilz hat immer noch einige Macken und als mich neben Murphy niederlasse und ihn versehentlich berühre, verpasst er mir einen kleinen Schlag. Ich setze mich zu ihnen aufs Sofa, lehne mich an und döse langsam ein. Ich erwache nicht viel später auf, wie ein Blick auf die Uhr an der Wand zeigt. Raphaels Gesicht ist ganz nah vor meinem und grinst mich an. „Wie war das Eis mit deinem Promicrush?“, fragt er neckend und ich wedele mit der Hand, um ihn aus meinem Gesicht zu bekommen. „Es war toll. Zu schade, dass du nicht dabei warst“, feixe ich zurück, aber Raphael stört sich nicht daran. Er rückt seine runde Brille zurecht, dann richtet er sich auf. Seine Pokémon sind wieder in ihren Pokébällen. „Kommst du mit zur Digdahöhle?“, fragt er und klingt plötzlich sehr ernst. Erst jetzt fällt mir sein Deal mit Murphy wieder ein. „Klar komme ich mit.“ Ich drücke seine Hand, dann lasse ich los und wir machen uns auf den Weg. Es ist kurz nach Mittag, der heißeste Teil des Tages bricht gerade an und nach nur einer Minute sind Raphael und ich schon nass geschwitzt. „Ich will meinen Bikini…“, quengele ich und Raphael lacht. „Ich auch“, sagt er und wirft mir einen vielsagenden Blick zu, den ich mit dramatisch hoch gezogenen Augenbrauen erwidere. Es ist vielleicht mein letzter gemeinsamer Nachmittag mit ihm. Er ist jetzt Besitzer des Donnerordens, es gibt keinen Grund für ihn, weiterhin in Orania City zu bleiben. Wir erreichen die Digdahöhle knapp eine Viertelstunde später und sind gleichermaßen froh, als wir uns in den kühlen Schatten vor der Hitze verkriechen können. Wir sprechen es nicht an, aber keiner von uns will die Leiter in die Höhle hinein klettern. Denn wenn wir unten sind, gibt es keinen Grund mehr, zu warten. Schließlich seufzt Raphael und murmelt ein Bringen wir es hinter uns, bevor er in den Tunnel hinabsteigt. Ich folge ihm. Unten angekommen stehen wir ein paar Sekunden nur da, dann zieht Raphael seinen Pokéball hervor und Murphy materialisiert sich in rotem Licht. Es schaut sich überrascht um und guckt zu Raphael hoch, der vor ihm in die Hocke geht. „Ein Deal ist ein Deal“, sagt er und schaut Murphy ernst an. „Du hast deinen Teil der Abmachung erfüllt, jetzt bin ich dran. Willst du freigelassen werden, Murphy?“ Murphy schaut ihn an. Dann dreht er sich um blickt in die Dunkelheit der Digdahöhle. Sie muss ein Paradies für ihn sein. „Ohne dich hätte ich niemals gewonnen. Also, danke dafür.“ Plötzlich füllen sich Raphaels Augen mit Tränen. Er wischt sie schnell mit dem Handrücken weg und zwingt sich zu einem Lächeln. „Da oben warst du… mein Held“, sagt er leise. Ich denke an die Box oben in meinem Zimmer. Wird sie dort liegen bleiben, unbenutzt? Vergessen? „Tut mir leid, Kumpel“, sagt Raphael, seine Stimme etwas beherrschter. „Es ist Zeit.“ Ich schaue wieder zu ihnen. Raphael hält Murphys Pokéball fest umklammert, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Dann atmet er tief durch, nimmt ihn in beide Hände und beginnt, ihn gewaltsam aufzuklappen. Wenn der Pokéball zerbricht, ist die Bindung zwischen Murphy und ihm gelöst. Ich kann kaum hinsehen. Da hebt Murphy seine Arme und legt sie auf Raphaels Handgelenke. Raphael hält inne. Murphy drückt seine Hände bestimmt zu Boden und schaut Raphael mit tiefschwarzen Augen an. „Willst du freigelassen werden?“, fragt Raphael, seine Stimme hoffnungsvoll. Murphy schüttelt den Kopf. „Willst du bei mir bleiben? Stärker werden?“ Murphy nickt. Raphael lässt den Pokéball fallen und breitet seine Arme aus. Murphy springt hinein und drückt Raphael fest. „Ich freue mich so sehr für euch“, grinse ich. „Ihr seid ein super Team.“ Raphael ruft Murphy in seinen Pokéball zurück, dann steigen wir die Leiter wieder hoch. „Was hältst du davon, wenn wir uns Badesachen anziehen und am Steg schwimmen gehen?“, frage ich, als wir die Höhle verlassen und beinahe augenblicklich von der Hitzewand erdrückt werden. „Gute Idee.“ Und so liegen wir knapp eine halbe Stunde später mit Sonnencreme und eisgekühlter Limonade ausgerüstet am Steg, unsere Beine baumeln im Wasser und wir genießen die zeitweilig aufkommende, kühle Meeresbrise. „Wann ziehst du weiter?“, frage ich schließlich. „Morgen, schätze ich. Erst nach Azuria City Richtung Kraftwerk, dann durch den Felstunnel nach Lavandia und von dort dann nach Prismania und Saffronia City.“ „Warum gehst du nicht direkt nach Prismania City?“, frage ich. „Im Felstunnel soll es viele Trainer geben, außerdem sind Steinpokémon für Murphy und Penny zum Trainieren ideal.“ „Vielleicht kannst du ja Tarik mitnehmen“, meine ich nach einer kurzen Pause. „Er will Vortrainer bei Major Bob werden und dazu braucht er ein paar Elektropokémon. Ich glaube, er hat Angst, alleine zu gehen. Wenn du ihn bis zum Kraftwerk bringen könntest, wäre das super.“ „Ich hätte lieber dich dabei.“ Der Satz, den ich befürchtet hatte. Ich atmete tief durch, dann nehme ich Raphaels Hand. „Ich kann nicht.“ „Nein, du willst nicht.“ „Aber es liegt nicht an dir, es ist nur…“ „Ich weiß schon, mach dir keine Sorgen.“ Er drückt meine Hand. „Du willst deinen eigenen Weg gehen. Ich bezweifle nicht, dass wir uns wieder sehen werden. Außerdem werde ich eine ganze Weile in Prismania und Saffronia sein, dann können wir uns besuchen.“ „Auf jeden Fall“, stimme ich zu. „Kommst du morgen noch bei mir vorbei, um dich zu verabschieden?“ „Klar.“ „Gut.“ Ich lasse seine Hand los und lasse mich nach hinten fallen. Die Sonne ist angenehm warm auf meiner Haut. Und Raphaels Nähe fühlt sich gut an.   Am nächsten Morgen stehe ich früher auf als sonst. Raphael will ein gutes Stück in der morgendlichen Kühle zurücklegen, bevor die Hitzewelle über ihm hereinbricht. Ich wecke Sku, die neben meinem Bett auf einem großen Kissen eingerollt liegt und leise schnarcht. Sie wacht unwillig auf und schlägt mit eingefahrenen Krallen halbherzig nach meiner Hand, als ich ihren Bauch kraule. „Aufstehen“, sage ich. „Raphael geht heute weg und draußen ist es noch nicht ganz hell.“ Sku streckt sich, dann steht sie gemächlich auf und ich folge ihr die Treppe hinunter, durchs Wohnzimmer und raus aus der Wohnung. Die kleine Box liegt beruhigend in meiner Hand. Raphael, Penny und Murphy warten neben dem Pokécenter auf uns. Ich winke, als sie in Sichtweite kommen und Raphael winkt zurück. Es ist ein kein besonders trauriger Abschied wenn man bedenkt, dass wir uns schon sehr bald wiedersehen werden. Trotzdem ist die Stimmung gedrückt. „Schnapp dir ein cooles Elektropokémon“, sage ich, während ich Raphael fest drücke. Er erwidert die Umarmung. „Werde ich. Das Allerbeste.“ Als wir uns gelöst haben, gehe ich vor Murphy in die Hocke. „Ich habe noch ein Geschenk für dich“, sage ich und Murphy schaut mich neugierig und mit zusammengekniffenen Augen an. Ich öffne die Schachtel und reiche ihm etwas, das aussieht wie eine Mischung aus Schwimm- und Sonnenbrille. „UV-Schutz, wasser- und feuerfest und größenverstellbar“, sage ich und grinse ihn an. „Damit du in der bösen, grellen Welt auch ordentlich sehen kannst.“ Murphy betrachtet die Brille, dann zieht er sie sich über den Kopf. Die Gläser spitzen sich an der Außenseite nach oben hin zu, was der Brille einen extrem coolen Look gibt. Ich zurre das Gummi zu Recht, bis es sicher sitzt, dann stehe ich auf und begutachte mein Werk. „Wow.“ Raphael betrachtet Murphy, der den Kopf hebt und mit weit offenen Augen in die Runde guckt. „Das ist eine total süße Idee von dir, Abby. Vielen Dank.“ „Keine Ursache.“ Wir umarmen uns ein letztes Mal, dann macht Raphael sich auf den Weg. Seine Pokémon laufen neben ihm her und ich winke ihm nach, während er in den Wiesen vor Orania verschwindet und der Wind seine Spuren verweht. Kapitel 6: Happy Birthday (Auf leisen Sohlen) --------------------------------------------- „Und hier sind wir wieder bei PCNs »Favoriten des Jahres«! Jessy, was hältst du von den vier Jugendlichen, die in den letzten zwei Jahren einen Orden nach dem anderen abgeräumt und ganz Kanto in Staunen versetzt haben?“ „Nun, Alfred, ich bin beeindruckt! So vielversprechende Neulinge hatten wir schon lange nicht mehr. Man könnte fast glauben, sie wurden zum Champ geboren. Aber wie wir alle wissen, kann nur einer den Thron des Pokémonligachampions besteigen, und ich weiß aus sicherer Quelle, dass Noah nicht vorhat, seinen Titel so schnell abzugeben.“ „Für alle, die die letzten Jahre hinterm Mond gelebt haben, Noah Reynes ist der amtierende Champion der Pokémon Liga und hält diesen Titel hartnäckig seit zwei Jahren. Bekannt ist er durch sein Zoroark-Duo geworden, das wirklich nichts dem Zufall überlässt. Aber genug davon, liebe Zuschauer. Jessy, wer ist dein Favorit? Ich glaube, du hattest die Ehre, drei von den Vieren persönlich zu interviewen. Was sind deine Eindrücke?“ „Weißt du Alfred, sie sind allesamt einzigartige Persönlichkeiten, ich kann mich gar nicht entscheiden! Richard ist ein echtes Energiepaket. Selbstbewusst, quirlig, humorvoll, ein toller Typ für euch Singlemädels da draußen! Wenn ich noch mal so jung sein könnte….“ „Sie hören es selbst, liebe Zuschauer, unsere Jessy hat einen Narren an ihm gefressen!“ „Richard hat die Pokémon Akademie vor zwei Jahren abgeschlossen und knüpft jetzt den Arenaleitern Kantos in Rekordtempo die Orden ab. Für die diesjährige Qualifikation an der Championship ist er leider zu spät dran, aber nächstes Jahr können wir mit Sicherheit mit ihm rechnen! Nur noch ein Orden trennt ihn von seinem Ziel, der größte Pokémontrainer aller Zeiten zu werden.“ „Aller Zeiten, du lieber Himmel, hat er das so gesagt?“ „Seine Worte, Alfred. Dieser Junge hat sich einiges vorgenommen, und er ist gerade einmal sechzehn Jahre alt!“ „Hier haben wir also jemanden, der sich an das Vermächtnis von Red höchstpersönlich herantraut. Darf ich sie in diesem Sinne daran erinnern, dass das große Red XXL Special nächste Woche Sonntag um 20:15 hier bei PCN läuft? Verpassen sie es ja nicht, denn wir haben einige Enthüllungen, die selbst eingefleischte Red-fans noch überraschen könnten! Aber genug davon. Was hältst du von Genevieve, Jessy? Ist sie so süß wie alle sagen?“ „Oh, sie ist zuckersüß, Alfred, gar keine Frage, aber hinter dieser Fassade verstecken sich ein eiserner Wille und ein herrlich schwarzer Humor. Ich sage nur eins: Dieses Mädchen will ich nicht zur Feindin haben.“ „Genevieve ist vor einigen Tagen achtzehn Jahre alt geworden, also, wenn du gerade zuschaust Vivi, Herzlichen Glückwunsch nachträglich zur Volljährigkeit!“ „Oh Alfred, Raphael ist ja so ein charmanter Junge! Siebzehn Jahre alt und er sieht aus, als könne ihn kein Wässerchen trüben, aber auf dem Kampfplatz wird er zu einer echten Maschine. Seine Coolness kennt keine Grenzen, dabei ist er nach eigenen Angaben eher der schüchterne Typ.“ „Und dann ist da noch das geheimnisvolle Mädchen aus seinem ersten ausgestrahlten Arenakampf, wer erinnert sich hier an die Kleine? Jaha, da klatschen sie, nicht wahr? Wirklich süß, und niemand weiß, wo sie ist. Vielleicht sollten wir einmal Officer Rockys Spezialeinheit losschicken, was meinst du, Jessy?“ „Ich glaube, die sind derzeit mit wichtigeren Problemen beschäftigt, Alfred.“ „Was mich zu der perfekten Überleitung für die Nachrichten bringt, aber vorher noch eine Frage an dich, Jessy: Was hältst du von unserem vierten Favoriten, Zacharias?“ „Er sieht aus wie ein Gott, ist so leicht zu finden wie eine Nadel im Heuhaufen und so gesprächig wie ein Gesteinpokémon, aber Himmel, Alfred, hast du diese Muskeln gesehen?“ „Die habe ich gesehen, Jessy, keine Sorge. Was lachen sie denn so, liebe Zuschauer!“ „Sie sind nur neidisch auf deinen guten Geschmack, Alfred.“ „Und damit verabschieden wir uns von ihnen, aber schalten sie noch nicht um, denn nach dem Wetter kommen die Nachrichten und ich kann ihnen versichern, die haben es dieses Mal in sich. Also, bis nächsten Sonntag, ihr Alfred…“ „…und ihre Jessy! Bye!“   „Danke ihr beiden! Für alle Sommerfans da draußen, ihr habt Glück, denn der August zieht sich dieses Jahr weiter in die Länge! Ab September können wir die ersten etwas kühleren Tage erwarten, aber bis dahin heißt es Sonne, Sonne, Sonne. Wenn ihr Wasserpokémon zu Hause habt, empfehle ich euch, euren Garten einmal mit einer schönen Aquaknarre zu versorgen, denn sonst werden die Wasserkosten noch in die gleichen Höhen steigen wie die Temperaturen. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen und erholsamen Restsommer und gebe ab an das Nachrichtenteam. George, was hast du für uns?“   „Danke, Steven. Die Team Rocket Aktivitäten haben sich gehäuft. Es gibt jetzt keinen Zweifel mehr, dass die Organisation wieder zurück ist, auch wenn wir alle uns wünschten, dass sie ein für alle Mal besiegt bliebe. Gestern haben Team Rocket-Mitglieder ein Pokécenter in der Nähe des Felstunnels überfallen. Zwei Pokémon sind dabei entführt worden. Hinweise und Augenzeugenberichte können sie per Taubsipost, E-Mail oder Telefonanruf an uns weiterleiten, die Adressen werden am Ende der Nachrichten durchgegeben. Kuriose Berichte geben außerdem an, dass ein Teenager unbekannten Geschlechts an dem Überfall beteiligt war. Ob es sich dabei um einen jungen Rekruten oder gar ein Familienmitglied handelt, bleibt ungeklärt, aber wir sind der Sache dicht auf der Spur. Nach zahlreichen rechtlichen Fragen ist die achte Arena in Vertania City nun offiziell an Claire übergegangen, nachdem Blue Eich seit Jahren versucht hat, den Titel als Arenaleiter endgültig abzulegen. Blue sagte dazu, er sei froh, die Arena in so fähige Hände übergeben zu können und dass er sich nun voll und ganz auf seine Forschungen konzentrieren wolle. Stellung zu Reds Verbleib nimmt der dreiundzwanzig Jährige weiterhin nicht. Claire ist damit die erste Unlicht-Arenaleiterin der fünf Regionen und wir sind alle sehr gespannt auf ihre weitere Entwicklung. Die Pokémon Championship findet wie jedes Jahr auch diesen Herbst auf dem Indigo Plateau statt. Die Anmeldefrist ist vor zwei Tagen abgelaufen und laut der letzten Zählung haben sich über hundert Pokémontrainer und Trainerinnen für den Wettbewerb eingetragen. Wir bei PCN werden wie immer die interessantesten Vorkämpfe live ausstrahlen, genauso wie alle KO-Duelle. Noah Reynes verkündete, dass er nicht befürchte, dieses Jahr seines Titels beraubt zu werden, gab aber zu, dass das nächste Jahr noch viele Überraschungen bereit halten könne. Sie haben es gehört, meine Damen und Herren, das nächste Jahr wird ein Fest für Pokémonfans, aber glauben sie nicht, dass die diesjährige Pokémon Championship nicht interessant wird. Wie wir aus Erfahrung wissen, machen Alfreds Moderationen jeden Kampf zu einem absoluten Spektakel! Damit verabschieden wir uns, die Adresse für ihre Augenzeugenberichte lautet PCN-“   Ich schalte den Fernseher aus und lasse mich tiefer in das Sofa sinken. Ein Jahr noch, bevor Raphael sein Glück bei der Championship versuchen wird. Ich seufze und streiche über Skus Pokéball, der in meinem Schoß liegt. Bei dem Wetter weigert sie sich, raus zu kommen, obwohl wir drinnen sind und der Ventilator auf höchster Stufe kühle, staubige Luft in mein Gesicht bläst. Mama ist bei der Arbeit, genauso wie Papa und Tarik. Mein Bruder hat meinen Rat tatsächlich befolgt und sich zwei Elektropokémon zugelegt. Und nachdem Tobias mit seinen Eltern nach Hoenn gezogen ist, hat Tarik den Platz bekommen. Jetzt trainiert er wie ein Besessener und zerstört die Träume von jungen Pokémontrainern. Naja, er und Harpy. Major Bobs Höllenpikachu ist inzwischen in ganz Kanto berühmt, mindestens so gefürchtet wie eine Naturkatastrophe und weit weniger berechenbar. Maya ist vor einem Jahr ausgezogen. Sie macht jetzt eine Ausbildung zur Fossilforscherin in Marmoria City und bei ihrem letzten Anruf hat sie durchblitzen lassen, dass Ursula sich entwickelt hat. Ich puste einige rotblonde Haarsträhnen aus meinem Gesicht und gehe in die Küche, um den Eistee zu überprüfen, den ich kalt gestellt habe. Mit einem großen Glas bewaffnet gehe ich hoch in mein Zimmer und setze mich an meinen Computer. Ich checke meine Mails, aber Raphael hat mir nicht geschrieben. Ich weiß, dass er ziemlich gestresst ist, aber wenigstens ein Mir ist heiß hätte er schreiben können. Ich habe seit Wochen nichts mehr von ihm gehört. Ich fahre den Computer wieder runter. Für die nächsten paar Monate wird es das letzte Mal sein. Ich trinke das halbe Glas Eistee und mache mich dann daran, meinen Rucksack weiter zu packen. Ich bin nicht sicher, wie viel ich mitnehmen soll. Pokédex, Handy, Portemonnaie, das Empfehlungsschreiben von Alfred und ein paar leere Pokébälle, sowie Tränke, Gegengifte und Paraheiler liegen bereits auf meinem Bett. Dazu kommen noch ein kleiner Beutel mit Pokémon Trockenfutter. Meine Klamotten sind die weit schwierigere Problematik. Ich gehe zu meinem Kleiderschrank und suche all meine Lieblingssachen raus, dann verteile ich sie auf dem Boden und entscheide bei jedem einzelnen, ob ich es gebrauchen kann oder nicht. Schließlich ende ich mit drei Tops, zwei Shorts, einer Strumpfhose, meinen fingerlosen Handschuhen, der grauen ärmellosen Kapuzenjacke, einem langärmligen Shirt und natürlich dem schwarzen Trainergürtel, den Agnes mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Er hat mehrere Haken, an denen man kleine Taschen mit Items befestigen kann und Einbuchtungen, in denen sechs Pokébälle verstaut werden können. Dann noch meine Sonnenbrille und zwei paar dicke Socken für die Wanderschuhe. Zwei kleine Wasserflaschen, einen Pulli… Zufrieden mit meiner Auswahl falte ich alle Klamotten so ordentlich wie möglich zusammen und quetsche sie in den riesigen Rucksack. Dann schnüre ich ihn zu und stelle ihn neben die Tür.   In der Nacht, als es abgekühlt ist und alle schlafen, schleiche ich mich wie so oft aus dem Haus und folge Route 11 zu den Wiesen, die mittlerweile eher gelb statt saftig grün sind. Der heiße Sommer ist ihnen nicht gut bekommen. Dort angekommen lasse ich Sku raus, die mich jetzt, da es dunkel ist, mit wachen Augen ansieht. „Bereit für unseren Geburtstag?“, frage ich und Sku brummt zustimmend. Ich schaue kurz auf meine Uhr. Noch ist nicht Mitternacht. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es sogar noch rechtzeitig. Sku ist bereits losgelaufen und hat das erste Pokémon gefunden, ein Taubsi, das ahnungslos im Gras sitzt und glaubt, die Nacht würde eine Ruhepause von all den Trainern bedeuten. Es sollte besser Bescheid wissen. „Sku, Säurespeier“, befehle ich und Sku bäumt sich auf ihre Hinterbeine, bevor sie sich wieder auf alle Viere fallen lässt und dem Taubsi eine Ladung Säure entgegen spuckt. Taubsi kreischt und flattert hilflos mit den Flügeln, dann fällt es besiegt zu Boden. Als nächstes finden wir ein Tauboga, das uns misstrauisch von einem der Bäume beäugt, die die Wiesen zu beiden Seiten säumen. „Nochmal Säurespeier“, rufe ich. Skus Attacke trifft das Tauboga mit voller Kraft und es winselt leise, als es hilflos zu Boden fällt. Seine Federn sind mit Säure verklebt, aber es schafft es trotzdem, auf Sku los zu flattern und mit dem Schnabel auf sie einzuhacken. „Schlitzer“, befehle ich und Sku kratzt mit klauenbewerten Pfoten über den Körper des Taubogas. Es gibt ein klägliches Piepen von sich, dann sackt es zu Boden. Wir verbringen die nächsten zwanzig Minuten auf der Weise. Es ist fast zwölf Uhr. „Komm schon…“, flüstere ich, als Sku ein Rattfratz mit ihrem Säurespeier besiegt. Dann passiert es. Endlich. Sku beginnt zu leuchten. Ich gehe vor ihr in die Hocke und schaue ihrer Entwicklung von ganz nahem zu. Als das Leuchten verblasst, steht eine doppelt so große und mit Sicherheit auch doppelt so schwere Version von Skunkapuh vor mir. Skuntank ist einen Meter groß, ihr großer buschiger Schweif ist mindestens genauso lang wie ihr restlicher Körper und liegt bequem auf ihrem Rücken. Beine und Bauch sind nun von demselben Beigeton wie der Streifen, der von ihrem Kopf bis zum Ende ihres Schweifes reicht. „Happy Birthday“, flüstere ich und Sku schnurrt, tiefer als früher, und reibt ihren Kopf ausgiebig gegen meinen. Ein Blick auf meine Uhr bestätigt meine Vermutung. Es ist zwölf Uhr. Meine Zeit zu Hause ist nun offiziell vorbei.   Wir spazieren noch eine Weile durch das nächtliche Orania City. In der Dunkelheit sollte alles anders aussehen, aber mir ist die Nacht hier genauso vertraut wie der Tag. Papas Supermarkt ist geschlossen, genauso wie die Arena und das Eiscafé. Im Grunde ist alles geschlossen, außer dem Pokécenter, das wie immer rund um die Uhr geöffnet hat. Wir machen einen kleinen Abstecher dorthin, lassen Sku heilen und verabschieden uns von Schwester Joy. Sie ist die erste, die von meiner morgigen Abreise erfährt und sie wünscht mir alles Glück der Welt. Sie ist außerdem die einzige, die von meinen nächtlichen Trainingseinheiten weiß, schließlich mussten wir oft genug mitten in der Nacht bei ihr vorbeischauen. Als ich durch die leeren Straßen wandere, Sku so groß, dass ich bequem ihren Kopf kraulen kann, ohne mich zu bücken, überkommt mich so etwas wie Nostalgie gepaart mit Fernweh. Ich liebe Orania City, aber etwas an diesem Ort quetscht mich ein, erdrückt mich. Missmutig denke ich an das Gespräch, dass ich vor etwa neun Monaten mit meiner Mutter hatte, kurz nachdem Maya umgezogen ist.   Mama saß am Küchentisch als ich von meiner Verabredung mit Raphael in Saffronia zurückkam, ein Glas Wein in der einen Hand und ihren Kopf auf die andere gestützt. „Komm her“, sagte sie erschöpft und ich ging zu ihr und setzte mich auf ihren Schoß. „Sie fehlt mir schon jetzt“, flüsterte sie mit heiserer Stimme. Ich glaube, sie hatte geweint, bevor ich heim gekommen bin. „Bitte versprich mir, dass du hier bleibst“, sagte sie leise und umarmte mich fest. „Ich kann nicht meine beiden Mädchen verlieren.“ Ich sagte nichts. Ich wollte sie nicht verletzen, aber das Versprechen halten konnte ich genauso wenig, also hielt ich es für am besten,nichts zu sagen. Aber Mama deutete mein Schweigen genauso, wie ich es meinte: Dass ich gehen würde. „Bitte“, flüsterte sie und presste ihre Stirn gegen meinen Nacken. Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber ich kann nicht hierbleiben. Ich will auch weggehen.“ „Aber doch nicht schon mit sechzehn, wie deine Schwester, oder?“, fragte sie. Ich zuckte innerlich zusammen. „Mit fünfzehn“, sagte ich und Mama hob den Kopf. Ich konnte mir ihren geschockten Blick genau vorstellen. Ihre Stimme klang wütend, als sie jetzt redete. Enttäuscht. „Auf keinen Fall.“ „Mama…“, fing ich an, aber sie unterbrach mich sofort. „Sechzehn war mir schon viel zu früh, aber fünfzehn? Du bist noch ein Kind, Abby, was willst du denn ganz alleine irgendwo, wo du noch nie warst und niemanden kennst?“ „Neue Orte sehen, Menschen kennen lernen,-“ „Ich verbiete es.“ Ich sprang von ihrem Schoß auf und sah sie entsetzt an. „Du kannst mir nicht vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe!“, schrie ich sie an, aber sie zuckte nicht mal mit der Wimper. „Du verlässt dieses Haus nicht, bevor du nicht wenigstens siebzehn bist. Achtzehn wäre mir am liebsten.“ „Achtzehn?“, fragte ich und machte ein paar Schritte rückwärts. „Ich halte es hier niemals so lange aus!“ „Dein Bruder ist auch hier geblieben“, konterte Mama und ich konnte sehen, wie ihr wieder Tränen in die Augen schossen. Dieses Mal konnte ich sie nicht trösten. „Such dir hier eine Arbeit, wenn du weniger Zeit zu Hause verbringen willst, meinetwegen geh auch in die Arena, es ist mir gleich, aber du bleibst hier!“ „Erstens ist Tarik nur hier geblieben, weil er sich nicht traut, alleine los zu ziehen, sonst wäre er schon längt ein Pokémontrainer so wie Raphael“, antwortete ich wütend. „Und zweitens bin ich nicht er! Ich will kein Arenaleiter werden oder in einem Supermarkt oder Pokéfanclub verrotten, ich will reisen, wieso kapierst du das nicht?!“ Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wusste ich, dass ich zu weit gegangen war. Mama sah mich verletzt an, dann deutete sie zur Treppe. „Du hast Hausarrest für den Rest des Monats.“ „Fein“, sagte ich und erwiderte ihren Blick. „Gib mir Hausarrest. Ist mir egal. Aber du kannst mich nicht davon abhalten, mit fünfzehn zu gehen. Egal was passiert, ich verschwinde.“ „Das werden wir noch sehen“, sagte sie noch, bevor ich die Treppe hoch rannte, mich in mein Zimmer einschloss und weinend auf mein Bett warf.   Mama hat den Vorfall inzwischen verdrängt. Jedenfalls hat sie es nicht mehr angesprochen. Sie denkt, dass ich nicht ohne ihre Einwilligung gehen werde. Sie täuscht sich. Ich setze mich mit Sku auf den Steg vor unserem Haus. „Morgen werden wir nicht mehr hier sein“, sage ich zu ihr und Sku schaut mich mit ihren Knopfaugen an, dann klettert sie auf meinen Schoß und rollt sich dort zusammen. Eigentlich ist sie dafür jetzt zu groß und zu schwer, aber ich kraule ihr die Ohren und sie schnurrt. Der Mond ist fast voll und spiegelt sich im Meer, das in schwachen Wellen gegen meine Füße schwappt. Ich frage mich, wie Mama reagieren wird, wenn ich weg bin. Als ich wieder reingehe, ist es schon drei Uhr nachts. Ich hole meinen Rucksack aus meinem Zimmer, stopfe noch meine Wanderschuhe und eine Zahnbürste hinein, dann gehe ich hinunter und ziehe mir meine Sandalen an. Als nächstes hole ich meine Inliner aus dem Abstellraum und hänge sie mir über die Schulter. Ich reiße einen Zettel von dem Notizblock auf unserem Tisch ab und schreibe eine Abschiedsnotiz darauf, in der ich Mama und den anderen knapp schildere, was ich vorhabe. Ich hüte mich davor, Ortsangaben zu machen, denn ich traue Mama zu, dass sie mich verfolgt und gewaltsam zurück schleift. Ich lege den Brief auf den Tisch und beschwere ihn mit einem Glas, dann drehe ich mich um. Papa steht am Fuß der Treppe und schaut mich an. „Papa, was machst du denn hier?“, frage ich leise, perplex. „Dich abfangen“, sagt er. „Natalie hat mir damals von eurem Streit erzählt. Sie sagte, du wirst schon nicht wegrennen. Ich weiß es besser.“ „Bitte Papa, ich muss hier abhauen. Ich halte keinen Tag länger aus.“ Er lächelt. „Ich weiß. Aber ich wollte dich wenigstens noch ein letztes Mal umarmen, bevor du für wer weiß wie lange weg bist.“ „Du… willst mich nicht aufhalten?“, frage ich. „Warum? Es ist dein Leben. Wenn du sagst, du hältst es hier nicht mehr aus, dann glaube ich dir das. Wenn du denkst, du bist in der Lage, alleine klar zu kommen, glaube ich dir das auch.“ „Papa…“, flüstere ich und im nächsten Moment liege ich in seinen Armen. „Ich werde euch vermissen“, flüstere ich. „Nicht so sehr, wie wir dich vermissen werden. Pass auf dich auf, Abby.“ Er drückt mich lange und fest, dann lässt er mich los. „Auf Wiedersehen, Skunka. Du bist jetzt groß und stark, also pass auf meine Tochter auf.“ Sku setzt sich auf ihre Hinterbeine und nickt einmal. Papa lacht leise. „Gut. Dann weg mit dir, bevor Mama etwas merkt.“ „Ich hab dich lieb, Papa. Und Mama auch. Sag ihr das.“ „Werde ich. Halt dich tapfer.“ Ich nicke, dann nehme ich meine Sachen und verlasse das Haus. Ich rufe Sku in ihren Pokéball zurück, dann ziehe ich meine Inliner an und fahre nach Norden.   Ich erreiche Saffronia ungefähr vierzig Minuten später und fahre in Richtung Pokécenter. Dort angekommen fahre ich, immer noch auf Inlinern, hinein und zum Tresen, wo eine andere Schwester Joy sitzt und mich genauso müde anschaut, wie ich mich fühle. Als sie mich sieht, reißt sie sich zusammen, steht auf und lächelt mich an. „Was kann ich für dich tun?“, fragt sie gut gelaunt. „Ist noch ein Zimmer frei?“, frage ich und krame meine Geldbörse aus der Tasche, die ich hinten an meinem Gürtel befestigt habe. „Ich glaube schon, lass mich mal nachsehen.“ Sie gähnt und zieht einen schwarzen Ordner unter der Theke hervor, dann blättert sie darin herum. „Du hast Glück, Raum 4 ist noch frei. Wie lange willst du bleiben?“ „Nur heute Nacht.“ „In Ordnung. Das macht dann 400 Pokédollar.“ Ich halte inne, das Geld in der Hand. „Ich dachte, eine Übernachtung kostet 800.“ „Oh, aber den größten Teil der Nacht hast du schließlich nicht hier verbracht.“ Sie lächelt und reicht mir einen Schlüssel mit einem Holzanhänger, auf dem die Nummer 4 eingraviert ist. „Bitteschön.“ Ich lege 400 PD auf die Theke und sie sammelt die Münzen lächelnd ein. „Wissen sie, wann der nächste Zug nach Johto fährt?“ frage ich sie, während ich meine Inliner ausziehe. „Ich glaube, um 7:50 Uhr, aber du solltest schon etwas früher zum Bahnhof, wenn du sicher sein willst.“ „Danke.“ Ich hänge mir meine Inlineskates über die Schulter und fahre mit der Rolltreppe zwei Stockwerke nach oben, bis ich zu den Zimmern komme, die jedes Pokécenter für Trainer bereithält. Es sind meist Einzel- oder Doppelzimmer und sie sind sehr billig. Frühstück und Abendessen bieten sie hier auch an, wenn man will. Zimmer 4 ist ganz vorne rechts. Ich schließe auf und trete in den dunklen Raum. Als ich den Lichtschalter finde, bin ich positiv überrascht. Außer einem Bett und einem kleinen Bad gibt es zwar kein Mobiliar, aber alles ist sauber und ein kleines Fenster gibt es auch. Todmüde pfeffere ich meinen Rucksack in die Ecke und lasse mich angezogen ins Bett fallen. Im letzten Moment fällt mir noch ein, dass ich mir vielleicht einen Wecker stellen sollte, dann schlafe ich sofort ein.   Ich werde unsanft von meinem Handy geweckt und greife stöhnend nach dem kleinen Höllengerät. Es dauert fast eine Minute, bis ich es unter meinem Kissen gefunden und ausgeschaltet habe. Übermüdet und mit verklebten Augen schiele ich auf die Digitalanzeige. 6:00 teilt sie mir blinkend mit. Ich stöhne erneut, dann ziehe ich mich aus und gehe unter die Dusche. Das warme Wasser weckt mich langsam auf und ich schaue einigen rotblonden Haarsträhnen dabei zu, wie sie in den Abfluss strudeln. Zwanzig Minuten später fühle ich mich halbwegs lebendig und drehe das Wasser ab. Ich kämme meine Haare, dann lasse ich sie trocknen, während ich mich anziehe. Für die Reise nach Johto entscheide ich mich für meine weißen Shorts und ein hellgrünes Top auf dem in dicken gelben Buchstaben I SURVIVED HARPY steht. Darunter ist der gelbe Umriss eines Pikachus mit buschigem Kopfhaar abgebildet. Keine Details, nur gelb. Oh, und natürlich ein furchteinflößender roter Mund mit spitzen Zähnen. Ich zupfe es ein wenig zu Recht und gehe dann zurück ins Bad, um mir einen seitlichen Zopf zu flechten. Als all das erledigt ist, schnappe ich mir meinen Rucksack, ziehe meine Sandalen und den Gürtel an und stecke meine Trainer-ID in meine Hosentasche.Ich schließe das Zimmer von außen ab, bevor ich wieder runter gehe. Als Schwester Joy mich sieht, muss sie grinsen. Ich habe noch nie eine Schwester Joy grinsen sehen. „Gut geschlafen?“, fragt sie und ich nicke. „Nicht besonders lange, aber gut“, stimme ich ihr zu. „Nettes Top.“ „Danke.“ „Hast du gegen Major Bob gekämpft?“, fragt sie und ich schüttele den Kopf. „Ein Freund von mir. Ich stand nur daneben und habe um unser aller Leben gebangt.“ Sie lacht. „Das denke ich mir.“ Sie schweigt, während ich meine Sonnenbrille raussuche und aufziehe. „Also nach Johto, ja? Hast du ein bestimmtes Ziel?“ „Nicht wirklich. Ich schaue mal, wohin es mich verschlägt.“ „Gute Idee“, sagt sie. „Alle wollen immer irgendwo hin. Niemand geht mehr einfach los und schaut, was der Weg für ihn bereithält. Wenn wir alle etwas weniger gestresst wären, könnten wir unser Leben endlich genießen.“ Ich muss lachen und Schwester Joy schaut mich gekränkt an. „Was ist?“, fragt sie. „Nichts, sie sind nur so… unjoyisch. Wenn sie verstehen, was ich meine.“ Ich lächle sie an. „Aber es passt zu ihnen.“ „Ja, ich bin für diesen Job nicht ganz geschaffen, denke ich. Wer weiß, vielleicht verreise ich demnächst auch einmal.“ Sie zwinkert mir zu. „Auf Wiedersehen“, sage ich und winke ihr, als ich mich umdrehe und das Pokécenter verlasse. Sie winkt zurück. Bis zum Bahnhof ist es nicht weit, ich brauche gerade einmal zehn Minuten zu Fuß. Das große Gebäude ist schon von weitem zu sehen und eine Vorfreude baut sich tief in meinem Inneren auf. Mama müsste meinen Zettel ungefähr jetzt finden, denke ich noch, aber in diesem Moment ist es mir egal. Da fällt mir plötzlich ein, dass ich kein Ticket habe und ich nicht weiß, wie teuer eines ist. Ein wenig unruhig folge ich der Straße, die auf der einen Seite von abgezäuntem Wald und auf der anderen von Häusern gesäumt ist, bis ich den Bahnhof erreiche. Als ich eintrete, ist es voller, als ich erwartet hätte. Auf den Sitzbänken sitzen überall Menschen mit Koffern, Rucksäcken oder anderen Taschen. Alle möglichen Pokémon laufen herum und ich fühle mich ein bisschen wie damals in der Pokémon Akademie, als ich mir Sku aussuchen durfte. Ich gehe zu einem der Schaffner hinüber. „Entschuldigung, wie viel kostet ein Ticket nach Johto?“, frage ich ihn. Er ist ein bisschen dicklich, mit einer Halbglatze und er kleinen runden Brille, die hoch oben auf seiner Nase sitzt. „2000 Pokédollar.“ antwortet er und ich schlucke. Ich habe nicht unendlich viel Geld und 2000 PD sind ein guter Anteil meines derzeitigen Vermögens. „Gibt es keinen Kinderrabatt?“, frage ich und lächle ihn unschuldig an. Er grunzt und schüttelt den Kopf, dann dreht er sich weg und geht. Irritiert bleibe ich stehen, dann schaue ich zu der großen Uhr, die über dem Eingang zum Bahngleis hängt. 7:30. Ich gehe zu dem Fahrplan, der links neben den Ticketautomaten hängt und überprüfe die Zeit, die Schwester Joy mir genannt hat. Der Zug fährt um 7:53 ab. Gut, dreiundzwanzig Minuten, um mir einen Plan einfallen zu lassen, ansonsten muss ich wohl oder übel ein Ticket kaufen. Ich lasse Sku aus ihrem Pokéball und setze mich mit ihr in die Ecke des Bahnhofs auf den Boden. „Kannst du Rauchwolke noch?“, frage ich, aber ich weiß, dass sie die Attacke für Säurespeier verlernt hat. Sie schüttelt den Kopf. „Gut…“ Ich schaue mich unauffällig um. Vielleicht kann ich jemandem sein Ticket klauen. Oder mich einfach an dem Schalter vorbeischleichen… Ich stehe auf und lasse Sku in der Ecke stehen, dann gehe ich in Richtung Bahnschalter. Elektrisch. Mist. Aber immerhin steht dort kein Schaffner, die sind alle auf den Bahngleisen. Also warte ich. Um viertel vor acht fährt der Zug ein. Eine nicht enden wollende Menge an Passagieren steigt aus, geht durch den Schalter und mischt sich mit den wartenden Leuten. Wenn nicht jetzt, dann nie. Ich gebe Sku ein Zeichen und sie läuft in die Mitte des Bahnhofs, während ich mich etwas abseits bei den Automaten positioniere. Ein Mann, der wie ein erwachsener Biker aussieht, tippt gerade seine Daten in den Schalter und wirft einige Münzen ein. Ich warte, bis er damit fertig ist und der Automat ein Druckgeräusch macht, dann gebe ich Sku das Startzeichen. Sie senkt den Kopf, damit man nicht sofort erkennt, dass sie es ist, die den folgenden Kreideschrei loslässt. Der Mann reißt den Kopf herum und hält sich die Ohren zu, während er nach der Quelle des Geräusches sucht. Ihm tun es alle Menschen in der großen Bahnhofshalle gleich. Ich nutze die allgemeine Verwirrung, greife in den Schlitz, aus dem der Fahrschein kommt und stecke ihn mir rasch in die Hosentasche, dann halte ich mir ebenfalls die Ohren zu und entferne mich langsam von den Automaten. Sku hört auf zu schreien und ein erleichtertes Stöhnen geht durch die Menge, dem ich mich wahrheitsgetreu anschließe. Auch wenn sie mein Pokémon ist, ein Kreideschrei bleibt ein Kreideschrei. Hinter mir höre ich jetzt den Mann fluchen. „Schaffner, der Automat spinnt!“, ruft er. „Ich habe bezahlt, aber es kommt kein Ticket.“ Ich drehe mich, wie viele andere, zu dem Mann um. Er hat eine Irokese, trägt Lederklamotten und hat ein Tattoo unter dem Schlüsselbein. Als einer der Bahnhofangestellten zu ihm kommt und für meinen Diebstahl verantwortlich gemacht wird, tut er mir schon ein bisschen Leid, aber der Mann bekommt ein neues Ticket geschenkt, also ist im Grunde alles gut. Sku mischt sich wieder unter die Leute und als ichan ihr vorbei laufe, rufe ich sie unauffällig in ihren Pokéball zurück. Dann gehe ich zum Schalter, lasse mein Ticket checken und trete durch die Schranke auf das riesige Bahngleis. Der Magnetzug hat mindestens zehn Wagons und ich werfe einen Blick auf mein Ticket, für den Fall, dass der Mann einen Platz reserviert hat. Das hat er nicht, also steige ich im letzten Wagon ein und nehme neben einem Mädchen mit Nasenring und blauen Haaren Platz, die sie streng auf eine Seite gekämmt hat. Sie wirft mir einen komischen Blick zu, als hätte sie nicht erwartet, dass sich jemand freiwillig neben sie setzt. Als sie den Kopf dreht und mich schamlos anschaut, kann ich sehen, dass die von mir abgewandte Seite ihrer Haare kurz rasiert ist. Da sie mich auch anstarrt, erwidere ich die Geste und lasse meinen Blick über ihren ganzen Körper schweifen. Sie trägt eine Netzstrumpfhose, rote hochhackige Schnürschuhe, einen schwarzen Minirock und ein rotes ärmelloses Hemd mit Rüschen und schwarzer Spitze. Ihr Gesicht ist blass und wunderschön. „Caroline“, sagt sie und reißt mich damit aus meiner Beobachtung. Sie zieht etwas aus ihrer Rocktasche. „Kaugummi?“ fragt sie, während sie sich drei auf einmal in den Mund steckt. Ich nehme mir eins und sie steckt die fast leere Packung wieder weg. „Abbygail“, stelle ich mich vor und als der Zug losfährt, sitzen wir schweigend nebeneinander und schauen aus dem Fenster, während die Landschaft in einem grünen und blauen Streifen an uns vorbei rauscht. Caroline kaut langsam und genussvoll und ab und zu formt sie Kaugummiblasen, die sie wieder auf ihrer Zunge platzen lässt. Schließlich zieht sie ihr Handy aus ihrer anderen Rocktasche und beginnt, wie wild darauf rum zu tippen. „Gib mir deine Handynummer“, sagt sie dann, ohne von ihrem Handy aufzusehen. Sie hat bereits meinen Namen eingetippt. „Warum?“ „Nur so.“ Ich schaue sie einen Moment lang verwundert an, dann zucke ich die Achseln und hole mein eigenes Handy heraus, während ich ihr meine Nummer aufsage. Dann erstelle ich einen Eintrag für CarolineZug und sehe sie erwartungsvoll an. Sie gibt mir ihre Nummer und ich speichere sie in meinen Kontaktdaten. „Wo willst du hin?“, fragt sie nach einer Weile. „Weg“, antworte ich. Sie dreht den Kopf in meine Richtung, dann fängt sie laut und heiser an zu lachen. Ihre Stimme hört sich kratzig sein. „Fuck, ich will eine rauchen“, stöhnt sie und kaut weiter. „Wofür willst du meine Handynummer?“, versuche ich es nochmal. „Mein Leben ist zu kurz, um darauf zu hoffen, coolen Menschen durch Zufall ein zweites Mal zu begegnen.“ „Du findest mich cool?“, frage ich überrascht. „Yep.“ Ihre Finger trommeln auf ihrem Oberschenkel herum und ich sehe, dass sie mehrere Ringe pro Hand trägt. „Warum?“, frage ich. Sie grinst mich mit strahlend weißen Zähnen an. „Nur so.“ Kapitel 7: Sie gehört mir (Mit dreißig ist man quasi tot) --------------------------------------------------------- Caro ist nicht die gesprächigste Person unter der Sonne, trotzdem fangen wir immer wieder kleinere Gesprächsfetzen an. „Woher kommst du?“, frage ich sie, um eine unserer vielen Pausen aufzubrechen. Sie schaut weiterhin aus dem Fenster, ihr Kinn auf ihre delikate Hand gestützt. „Dukatia City.“ „Dann hast du es ja nicht weit.“ „Nein.“ Sie schiebt sich ein viertes Kaugummi in den Mund. „Was hast du in Kanto gemacht?“, frage ich. „Meinen Bruder besucht.“ Wir schweigen wieder. Als ich zu der nächsten Frage ansetzen will, dreht sie sich zu mir um und legt den Kopf ein wenig schief. „Niemand zwingt dich, Unterhaltung zu betreiben“, sagt sie und macht eine Kaugummiblase, bevor sie weiterspricht. „Ich persönlich komme gut mit Gesprächspausen klar.“ Ich zucke die Achseln und wir wenden uns wieder dem Fenster zu. Einige Minuten später ist sie es, die das Schweigen bricht. „Wohin willst du jetzt, nachdem du erfolgreich weg gegangen bist?“ „Keine Ahnung.“ Ich falte meine Hände hinter meinem Kopf und starre an die Decke. „Vielleicht bleibe ich erst mal ein bisschen in Dukatia City.“ Caro nickt. „Wir sind bald da“, sagt sie dann und ich schaue auf die Zuganzeige. Tatsächlich. Unsere Ankunftszeit wird auf 9:27 geschätzt. „Warst du schon mal in Dukatia?“, fragt sie mich und ich schüttele den Kopf. „Weißt du schon, wo du schlafen willst?“ „Im Pokécenter, denke ich.“ Sie prustet los. „Billig, wenn du mal für eine Nacht `ne Absteige suchst, aber nicht unbedingt eine Dauerlösung.“ „Notfalls übernachte ich draußen.“ „Uhuh.“ Sie wirft mir einen abschätzigen Blick zu. „Hast du ein Zelt?“ Ich schüttele den Kopf. „Einen Schlafsack? Irgendwas?“ „Nein.“ „Okay, wie viel Geld hast du?“ „Um die 5000 PD.“ „Tja, fuck würde ich sagen. Wie alt bist du, Abby?“ „Fünfzehn.“ „Okay, damit kann ich arbeiten.“ Sie trommelt mit ihren Fingern gegen ihren Oberschenkel. „Ich mache dir ein Angebot. Du bekommst ein Zimmer, in dem du kostenfrei übernachten kannst und im Gegenzug übernimmst du ein paar Aufgaben in meinem Laden, Aufträge ausliefern und so weiter.“ „Was für Aufträge?“, frage ich, neugierig geworden. „Nichts anspruchsvolles, keine Sorge. Außerdem hast du kein Recht, wählerisch zu sein.“ Ein paar Minuten später fährt der Magnetzug in Dukatia City ein. Caro und ich checken aus, dann verlassen wir den Bahnhof. Ich wende mich nach rechts und werde von dem Anblick, der sich mir bietet, förmlich erschlagen. Die Straße ist gesäumt mit Laternen und mit gelbem Backstein gepflastert. Gleich neben dem Bahnhof steht ein Radioturm und meine Finger beginnen schon bei dem Gedanken an all die Reporter, Journalisten und Moderatoren zu kribbeln. Das Ende der Straße weitet sich in einen großen Platz aus, dessen südlicher Teil von zwei Fontänen eingenommen wird, während im Norden ein verglastes, mehrstöckiges Gebäude thront, größer als der Radioturm. „Was ist das?“, frage ich und deute auf das Hochhaus. „Das Global Terminal, wo sie Pokémontausche, virtuelle Kämpfe und internationale Angelegenheiten abwickeln. Nicht so mein Terrain, aber wen´s interessiert...“ „Es ist riesig.“ „Gut erkannt. Komm.“ Ich bin so überwältigt, dass Caro mich mitziehen muss, um mich von dem Anblick loszureißen. Wir folgen der Straße einige Minuten in die entgegengesetzte Richtung, bis wir eine Kreuzung erreichen. „Also“, sagt Caro, spuckt ihre Kaugummis aus und zündet sich eine Zigarette an. Dann nimmt sie einen tiefen Zug und  atmet dichten, grauen Qualm durch ihre Nase aus. „Fuuuuck...“, flüstert sie und schließt genießerisch die Augen. Dann nimmt sie noch einen Zug. „Das hab ich gebraucht.“ „Also?“, hake ich nach. „Wenn du hier rechts gehst, kommst du zum Pokécenter, dem Kaufhaus und außerhalb der Stadt zu einer Pokémonpension“, fährt sie fort, ohne auf meine Unterbrechung einzugehen. „Hier links geht´s in Richtung Arena, falls du daran interessiert bist. Außerdem ist da der Blumenladen und wenn du durch das grüne Wachthäusschen läufst und dich weiter nördlich hältst, kommst du zum Nationalpark, wo sie das Käferturnier abhalten. Und gerade aus und dann rechts ist ein Fahrradladen.“ Ich nicke. Ich habe die Hälfte schon wieder vergessen. „Oh, und links ist auch noch ein Wahrsager, der die Namen deiner Pokémon bewertet und ihre Zukunft vorhersagt. Glaube ich nicht dran, aber was soll´s.“ Caro hält ihre halb aufgerauchte Zigarette zwischen ihren Lippen eingeklemmt, während sie die Orte an ihren Finger abzählt. „Und natürlich die Spielhalle, aber da du noch nicht volljährig bist, kann dir das eigentlich egal sein. Kennst du übrigens Bill?“ „Den Erfinder des Pokémon-Lagerungssystems? Klar!“, sage ich empört. Wer kennt ihn nicht? „Warum fragst du?“ Ein Ausdruck huscht über ihr Gesicht, den ich nicht ganz deuten kann, dann verschwindet er wieder. „Nur so“, Sie zieht noch einmal an ihrer Zigarette, dann schnippt sie den übrig gebliebenen Stummel weg und wendet sich nach links, während sie ihre nächste Zigarette anzündet. Sie hat eines dieser Aufklappfeuerzeuge, silbern, mit etwas darauf eingraviert. Ich kann es nicht erkennen. Wir laufen unter den Gleisen durch, die in einigen Metern Höhe über unseren Köpfen verlaufen, dann biegen wir einige Minuten später nach rechts in eine schmalere Straße ein. Neben der Arena steht eine Gruppe Hochhäuser, mit einigen kleinen Wohnungen davor. Der Blumenladen ist zwischen ihnen und der Arena eingequetscht und sieht höher aus als er breit ist. „Wo gehen wir hin?“, frage ich und Caro wirft mir einen komischen Blick zu. „Zum Blumenladen. `Nen anderen Laden gibt’s hier in der Ecke nicht, oder?“ „Warte.“ Ich bleibe stehen und starre sie sprachlos an. „Was?“ „Du arbeitest in einem Blumenladen?“, frage ich perplex. „Mir gehört der Blumenladen, Honey.“ Caro formt einen Rauchring mit ihren Lippen, der vor ihr in die Luft steigt und sich langsam auflöst. „Warum bist du so überrascht?“ „Tut mir Leid, du warst nur… Ich dachte nicht, dass du in einem Blumenladen arbeitest.“ Sie sieht mich mit hoch gezogenen Augenbrauen an, dann schwenkt sie ihren Kopf in Richtung Blumengeschäft. „Kommst du jetzt? Heute ist geschlossen, aber ich will morgen alles auf Vordermann gebracht haben, bevor die Kundschaft aufkreuzt.“ Nachdem Caro den kleinen Laden aufgeschlossen hat, treten wir ein. Ich bin positiv überrascht. Bunte Blumenkästen und vorgefertigte Sträuße füllen die Regale auf der linken Seite bis an die Decke aus, auf einem prunusgrünen Tisch in der Mitte des Ladens liegen einige Broschüren über Dünger, Pflanzentypen und Flyer über ein Käferturnier im Nationalpark. Rechts stehen Vasen mit einzelnen Blumensorten, die Kunden selbst zusammenstellen können. An der hinteren Wand stehen Glasschränke, die Saatgut oder ähnliches beinhalten, rechts davon ist eine Tür. Während Caro durch die Tür verschwindet und mit einer großen Gießkanne zurückkehrt, um die Pflanzen zu gießen, lese ich den Flyer aufmerksam durch. Anscheinend findet das Käferturnier jeden Dienstag-, Donnerstag- und Samstagnachmittag um 16:00 Uhr im Nationalpark statt. Für den Gewinner gibt es außergewöhnliche Preise. Aus den Augenwinkeln nehme ich ein rotes Licht war und drehe mich um. Neben Caro steht ein rot gepanzertes Käferpokémon. „Schlitzer, kannst du mir den Besenbringen?“, fragt Caro und das Scherox verschwindet mit gebückten Bewegungen in dem kleinen Hinterkämmerchen, dann kehrt es mit einem Besen und einem Handfeger in den beiden überdimensionalen Scheren zurück. „Gib sie Abby da drüben.“ Scherox knurrt und kommt auf mich zu, seine Flügel in ständiger Bewegung. Es ist fast einen Kopf größer als ich. „Danke“, sage ich, als er mir den Besen und die Schaufel in die Hände drückt, dann mache ich mich an die Arbeit, lose Blütenblätter und Erde aufzukehren. „Du bist Pokémontrainerin?“, frage ich sie, während ich mich vom hinteren Teil des Ladens nach vorne durcharbeite. Caro lehnt inzwischen an dem Flyertisch und raucht ihre dritte Zigarette. Der Raum füllt sich mit dem süßlichen Qualm und Scherox geht zu einem der Fenster, um es weit zu öffnen. Der Blick auf einen Garten wird frei. „Nicht wirklich“, erwidert sie und formt einen weiteren Rauchring mit ihren Lippen. „Schlitzer kommt gut genug mit den meisten Pokémon klar, aber abgesehen davon trainiere ich ihn kaum noch. Er hilft mir im Laden und leistet mir Gesellschaft. Darin ist er wesentlich besser als ein Großteil der menschlichen Rasse. Hast du den Leuten mal zugehört, wenn sie reden? Alles Schwachsinn.“ „Hast du keine menschlichen Freunde?“, frage ich, während ich den Dreckhaufen auf die Schaufel kehre und in den Mülleimer unter dem Tisch werfe. „Ein oder zwei. Linda wirst du morgen kennen lernen, sie arbeitet hier. Meinen Bruder vielleicht noch, aber eigentlich sehen wir uns kaum.“ „Was macht dein Bruder in Kanto?“, hake ich nach, weil ich mich daran erinnere, was sie im Zug erzählt hat. „Er ist Pokémontrainer. Professionell. Orden und all das.“ „Mein bester Freund ist auch Pokémontrainer“, sage ich. „Er ist einer der Favoriten für die Championship nächstes Jahr.“ „Kein Scheiß?“ Sie wirft mir ihr blendend weißes Lächeln entgegen. „Ich kenn mich da nicht so aus. Hey, Schlitzer.“ Scherox dreht sich zu ihr um und klappert mit seinen Scherenhänden. „Mähst du bitte den Rasen?“, fragt sie und Scherox knurrt, dann verschwindet er in der kleinen Hintertür und taucht wenige Sekunden später in dem Garten vor dem Fenster auf. Ich beobachte interessiert, wie Scherox seine Zornklinge benutzt, um den Rasen in Rekordzeit zu mähen. Caro wirft ihre aufgerauchte Kippe in den Mülleimer, dann klopft sie mir auf den Rücken. „Ich zeig dir die Wohnung.“ Ich folge ihr durch die hintere Tür und staune nicht schlecht, als sich das von mir erwartete Kämmerchen zu einem scharf nach links führenden Flur entpuppt, an dessen linke Wand sich eine Treppe nach oben anschmiegt. Am Ende des Flurs führt eine Tür in den Garten, eine zweite Tür zweigt nach rechts in einen weiteren Raum ab. Wir haben die knarzende Holztreppe schon zur Hälfte hinter uns, als Caro mir den letzten unbekannten Raum vorstellt. „Das ist meine Werkstatt“, sagt sie und deutet vage in die Richtung. Ich muss mich runter beugen, um die Tür mit der Aufschrift PRIVAT – FUCK OFF ein letztes Mal zu sehen. „Da entwerfe ich neue Blumensträuße, verpacke Geschenkartikel und so weiter.“ Sie bleibt stehen. „Da sind wir.“ Die Treppe endet vor einer Holztür mit Milchglaseinlagen. Caro schließt auf und wir treten in den kleinen geraden Flur, der dahinter liegt. Nach links ist der Flur offen, rechts wird er von einer Tür abgeschnitten. Caro führt mich nach links. „Hier links ist das Bad“, sagt sie und deutet zu der weißen Tür, die gleich neben uns auftaucht. „Der Rest ist Wohn-Essbereich plus Küche.“ Wir folgen dem L-förmigen Raum nach links. Er ist klein, wirkt aber trotzdem nicht eng, was mich überrascht. Die Küchenzeile ist an der gegenüberliegenden Wand angebracht, ein grünblau kariertes Sofa ziert die Wand rechts von uns und ein kleiner Tisch mit drei Stühlen steht an der letzten freien Wand. Die Wohnung windet sich mehr oder weniger um das Bad herum und umschließt es. Die letzte Tür führt in Caros Schlafzimmer, ein heller Raum mit einem breiten Bett auf der einen und einem Schrank auf der anderen Seite. Die Wände sind wie schon im Wohnzimmer graubraun gestrichen und der Boden sieht wie ausgeblichenes Holz aus, dessen Farbe schon fast an Weiß grenzt. „Dein Zimmer ist von der Treppe aus im rechten Flügel. Es ist klein, aber in dem Bett lässt es sich ganz gut schlafen.“ In dem Moment knurrt mein Magen und Caro grinst. „Ich koch uns in der Zwischenzeit etwas.“ Ich nicke und folge ihr aus dem Schlafzimmer heraus, dann mache ich mich zu meinem Zimmer auf, während sie Eier, Milch und Käse aus dem Kühlschrank holt. Als ich in den Flur zurückkehre, kommt mir Scherox entgegen, das eindeutig zu groß für diese Wohnung ist. Ich bin kaum größer als 1,65m und obwohl Caro größer ist, überragt Scherox sie trotzdem noch. Es zischt mich an und das Geräusch klingt wie eine Mischung aus metallischem Summen und Skus Fauchen, wenn sie wütend ist. Ich trete respektvoll zur Seite und lasse ihn durch, dann atme ich erleichtert aus. Ich glaube, Caros Scherox mag mich nicht. Bevor ich weitergehe, drehe ich mich ein letztes Mal zu ihr um. Scherox schmiegt sich von hinten an Caro an und sie krault ihn im Nacken, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Sie wirken fast wie ein Liebespaar. Mein Zimmer ist ähnlich schlicht gehalten wie Caros und liegt direkt neben der Rumpelkammer. Es gibt einen kleinen Schrank, einen Schreibtisch ohne Stuhl und ein unbezogenes Bett. Ich werfe einen Blick in den Schiebeschrank und entdecke Bettwäsche, weiß mit schwarzem Blumenmuster. Komische Kombination, aber dann wiederum passt sie sehr gut zu Caro und ihrem Blumenladen, also hole ich sie heraus und beziehe mein Bett. Als ich fertig bin, räume ich meinen Rucksack aus, sodass meine Kleider und die unhandlichen Schuhe und Inliner im Schrank verschwinden, dann gehe ich zurück in die Küche. Caro deutet wortlos auf einen der Schränke und ich hole zwei Teller, Besteck und Gläser heraus und decke den Tisch. Scherox sitzt auf dem Sofa und gibt ein keckerndes Geräusch von sich, als würde er sich über mich lustig machen. Dann, als ich die beiden Teller auf den Tisch gestellt habe, bricht sein Lachen plötzlich ab und er springt blitzschnell auf. Er drückt mich zur Seite, bevor er einen weiteren Teller aus dem Schrank holt und ihn, ein wenig mühevoll, zwischen seinen Scheren balanciert und auf den Tisch stellt. „Isst Scherox mit uns am Tisch?“, frage ich und Caro wirft mir einen ungläubigen Blick zu. „Wo soll er denn sonst essen?“ Guter Punkt. Ich setze mich zu Scherox an den Tisch, der mir tödliche Blicke zuwirft und fühle mich alles andere als wohl, aber kaum hat Caro Käsebrote und Rührei auf den Tisch gestellt, hellt sich sein Gesicht auf. Caro tut ihm zuerst auf, bis sein Teller mit Ei voll getürmt ist, dann mir. Wir schweigen, während wir essen, nur Scherox gibt schmatzende Laute von sich, während er das Ei von seinem Teller frisst. Besteck benutzt er verständlicher Weise nicht. Als wir fertig gegessen haben, räumt Caro den Tisch ab und Scherox verzieht sich wieder auf das Sofa. Caro setzt sich zu mir und zündet sich eine neue Zigarette an, dann schaut sie mich an. Ihre Augen sind eisblau. „Also, was hast du heute noch vor?“, fragt sie. „Ich wollte mich ein bisschen in der Stadt umsehen, dachte ich“, antworte ich und nehme einen Schluck von meinem Pirsifbeersaft. Er ist zuckersüß und die kleinen Fruchtstückchen zergehen mir auf der Zunge. „Ich habe hier noch ein bisschen zu tun, aber wir können heute Abend etwas unternehmen, wenn du Lust hast“, schlägt sie vor. „Klar! Hast du was Bestimmtes vor?“ „Kommt drauf an.“ Sie wirft einen Blick auf meinen Gürtel. „Willst du deinem Skuntank nichts zu essen geben?“, fragt sie dann. „Oh, ich dachte, ich finde ihr gleich in der Stadt etwas, du kannst nicht zwei von uns durchfüttern und…“ Ich stocke und sie grinst mich mit makellosen Zähnen an. „Woher weißt du, dass ich ein Skuntank habe?“ „Honey. Im Gegensatz zu anderen beobachte ich, was um mich herum passiert. Wenn ein kleines Mädchen jemandem sein Ticket klaut, während ihr Pokémon für eine nicht ganz subtile Ablenkung sorgt, entgeht mir das nicht.“ Ich schaue sie mit offenem Mund an und sie lacht heiser. Schlitzer wirft mir einen zornigen Blick zu, als könne er den Gedanken nicht ertragen, dass jemand anderes als er seine Trainerin zum Lachen bringt. „Keine Sorge, wenn ich dich anzeigen wollte, hätte ich das schon längst gemacht“, beruhigt sie mich. „Ich fand es mutig. Du bist nicht mal erwischt worden, obwohl du dich ziemlich ungeschickt angestellt hast.“ „Und du kannst es so viel besser?“, entgegne ich, ein wenig gereizt. Sie zieht eine Trainer-ID aus ihrer Tasche. Es ist meine. „Wann hast du…“ „Als du die Teller aus dem Regal geholt hast. Scherox hat sich köstlich amüsiert.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Okay, du kannst besser stehlen als ich“, gebe ich zu und nehme ihr meine ID ab. Sie bläst mir einen Mund voll Rauch ins Gesicht. „Gut erkannt.“ Sie lehnt sich zurück und lässt beide Arme über der Stuhllehne hängen. „Also, lässt du sie nun essen oder nicht?“ Ich nehme Skus Pokéball und lasse sie raus. Überrascht dreht sie den Kopf hin und her, dann schaut sie mich fragend an. „Sku, das ist Caroline“, stelle ich die Beiden vor. „Sie lässt uns bei sich wohnen, während wir in Dukatia City sind. Und das ist ihr Scherox, Schlitzer.“ Sku schaut Caro skeptisch an, dann landet ihr Blick auf Scherox und ihr Fell sträubt sich, bis es seine doppelte Größe erreicht hat. Caro betrachtet sie aufmerksam, dann schaufelt sie eine große Portion Rührei auf Scherox´ leeren Teller und stellt ihn vor Sku auf den Boden. „Für dich, Große“, sagt sie und lächelt Sku geradezu freundlich an. Während Sku sich mit gewohntem Elan über ihr Futter hermacht, sieht Caro mich an. „Du hast dich gut um sie gekümmert. Sie liebt dich sehr.“ Ich werde rot und schaue zu Sku, die schon die Hälfte des Rühreis aufgefressen hat. Es stimmt, denke ich. Sku liebt mich. Und ich liebe sie auch. Ich kann mir gar nicht vorstellen, mehrere Pokémon zu haben, die ich alle auf diese Weise liebe. Ist das überhaupt möglich? Aber dann denke ich an Raphael und an seinen Abschied von Murphy, der gar kein Abschied war. Sie waren gerade Mal eine Woche zusammen und trotzdem waren sie schon durch ein tiefes Band verbunden. Raphael weinte damals. Ich bezweifle nicht, dass er Murphy liebt, aber liebt er ihn so sehr wie Penny? „Du glaubst nicht, wie vielen schlechten Trainern ich schon begegnet bin“, fährt Caro fort. „Irgendwelche Arschlöcher, die ihren Pokémon alles abverlangen und ihnen die Schuld geben, wenn ihre Trainingsmethoden scheiße sind oder sie einfach keine Ahnung von Pokémonkämpfen haben.“ Sie drückt ihre Zigarette in einem schwarzen Aschenbecher aus und stützt ihr Kinn auf eine Hand. „Merk dir eins, Abby“, sagt sie und schaut mich ernst an. „Die meisten Menschen sind dumm, böse oder beides. Wenn du jemanden triffst, der keins von den dreien ist, dann zögere nicht. Rede mit ihm. Du wirst nicht viele von diesen Leuten in deinem Leben treffen. Jedenfalls hatte ich bisher nicht viel Glück.“ „Wie alt bist du eigentlich?“, frage ich sie. Sie wirkt jung, aber die Art wie sie redet… „Zwanzig. Traurig, oder? Ab jetzt geht es nur noch abwärts.“ „Zwanzig ist doch noch jung!“, erwidere ich entrüstet, aber sie winkt ab. „Das sagst du, weil du jung bist. Mit achtzehn ist man immerhin noch jugendlich, aber sobald du die zwei vorne stehen hast, bist du erwachsen und es gibt nichts, was du daran ändern kannst. Man wird älter und älter und mit dreißig ist man quasi tot.“ „Wow. Das ist die negativste Einstellung, die ich je gehört habe“, sage ich schockiert und Caro zuckt die Schultern. „Ich sag´s nur wie es ist.“ „Würdest du dich besser fühlen, wenn ich dir sage, dass ich dich auf maximal siebzehn geschätzt hätte?“, frage ich und grinse sie an. „Kaum. Aber vielleicht reicht es, um meine heutige Depression im Zaum zu halten.“ „Da bin ich ja erleichtert.“ „Solltest du“, erwidert sie kühl, aber mit einem Glitzern in ihren Augen. „Nur Schlitzer kann mich dann noch ertragen.“ Wie auf Kommando erhebt Scherox sich und kommt zu uns rüber. Dann bückt er sich und umarmt Caro von hinten. Sie hebt ihren Arm und krault ihn wieder am Nacken, so wie schon vorher beim Kochen. „Ich verrate dir etwas.“ fährt sie fort. „Menschen sind scheiße. Frauen sind scheiße. Männer sind scheiße. Gott, Männer, lass mich nicht von ihnen anfangen. Es gibt nur einen Mann, den ich an meiner Seite ertrage, und das ist Schlitzer hier.“ Er vergräbt sein metallisches Gesicht in ihrer Halsbeuge und für eine Trainer-Pokémon Beziehung kommt mir der Moment irgendwie zu innig vor. „Wie viele Männer hattest du schon?“ frage ich und als Caro die Augenbrauen hochzieht, werde ich knallrot. „Ich hatte drei feste Freunde. Keinen länger als vier Wochen“, antwortet Caro schließlich. „Und sie waren alle unerträglich.“ Schlitzer hebt den Kopf und seine Augen funkeln mich an, als wolle er sagen, dass es nicht mehr lange dauert, bevor ich auch als unerträglich abgestempelt werde. Sku bemerkt seinen Blick, springt auf meinen Schoß und faucht Scherox giftig an. Ich unterdrücke ein Stöhnen bei dem plötzlichen Gewicht auf meinen Oberschenkeln und fahre mit der Hand über ihren aufgebauschten Schweif. „Ruhig“, flüstere ich. Dann, lauter, „Wo wollen wir uns heute Abend treffen?“ Caro krault weiter Scherox´ Kopf, während sie kurz überlegt. „Komm um 18 Uhr zum Haus des Wahrsagers. Ich habe in der Ecke noch einen Termin, den können wir dann zusammen abklappern.“ Ich schubse Sku von meinem Schoß und stehe auf, aber bevor ich gehen kann, hält sie mich am Handgelenk fest. „Nimm dir was Warmes mit“, sagt sie grinsend, dann lässt sie mich los. Geringfügig verwirrt gehe ich mit Sku in mein Zimmer und hole meine graue Hoodie und die Handschuhe aus dem Schrank und stecke sie zurück in meinen Rucksack. Dann verlassen wir Caros Haus.   Sku und ich verbringen den Mittag und Großteil des Nachmittags damit, staunend durch Dukatia City zu wandern. Die Straßen füllen sich langsam und ich stelle fest, dass Dukatia viel größer ist als Orania. Oder Saffronia. Wenn ich von einem Ende meiner Heimatstadt zum nächsten laufen wollte, dauerte das höchstens fünfzehn Minuten. In Dukatia bin ich über eine Stunde unterwegs. Als erstes besuche ich natürlich den Radioturm, doch zu meiner großen Enttäuschung sind Besuchertage nur am Wochenende, an Werktagen lassen sie nicht autorisierte Besucher nicht weiter als das Erdgeschoss. Als ich nach dem Grund frage, bedenkt mich die Sekretärin mit einem mitleidigen Lächeln. „Team Rocket hat sich hier vor vielen Jahren eingeschlichen und beinahe eine gefährliche Radiofrequenz über ganz Johto ausgesendet. Der Vorfall konnte nur dank Golds Hilfe abgewendet werden. Von Gold hast du gehört?“ Ich laufe rot an. Natürlich kenne ich Gold, mir ist nur entfallen, dass er Team Rocket genau hier zerschlagen hat. „Dann komme ich einfach am Wochenende wieder“, sage ich geknickt und verabschiede mich. Als nächstes nehmen Sku und ich uns das Global Terminal vor. Drei Stockwerke voller hochtechnischer Geräte, Tauschmaschinen und Menschen aus allen fünf Regionen. Ich unterhalte mich mit einigen der Angestellten, treffe den ein oder anderen Pokémontrainer und tausche mich kurz mit ihm aus, aber nach zwei Stunden tun mir die Füße vom vielen Treppensteigen weh und Sku und ich verlassen das Terminal wieder. So interessant es dort ist, so wenig hat man dort zu tun, wenn man nicht gerade einen Freund in einer anderen Region hat, mit dem man virtuell kämpfen oder Pokémon tauschen kann. Sku und ich setzen uns auf den Rand der äußeren Fontäne und schauen uns das Meer an, während ich meine nackten Füße in dem kühlen sprudelnden Wasser erfrische. Als nächstes nehmen wir uns die Arena vor. Sku und ich haben nicht vor, jetzt mit dem Orden-Sammeln anzufangen, aber wer weiß, vielleicht treffen wir ja ein paar Mitglieder von PCN. Falls ich erkannt werde und ins Fernsehen komme, werde ich auf jeden Fall eine persönliche Nachricht an Raphael weitergeben, damit der Idiot sich mal meldet. Vielleicht sollten wir auch noch einen Zwischenstopp im Pokécenter machen, nur für den Fall, dass er mir in den letzten vierundzwanzig Stunden eine E-Mail geschrieben hat. Als wir die Arena erreichen, ist außer den Vorkämpferinnen niemand da. Kein Herausforderer und kein PCN. Mist. Als ich allerdings über eine Treppe auf die erhöhten Emporen steige, kann ich sehen, dass diese in Form eines Piepis angeordnet sind. Das ist immerhin ziemlich cool. Ich mache ein Foto mit meinem Handy und halte Sku davon ab, alles voll zu stinken. Sie mag Normaltypen nicht. Mit Nancy hat sie sich nur verstanden, weil die beiden sich in ihrer Faulheit verbündet haben. Nachdem wir die Arena verlassen haben, kaut Sku an meinem Bein und ich rufe sie zurück. Es ist 14 Uhr, die paar Stunden draußen in der Hitze haben sie bereits ziemlich ausgelaugt. Und es ist wirklich heiß. Ich weiß nicht, warum ich etwas Warmes mitnehmen sollte, aber Caro scheint wie immer mehr zu wissen als sie mir sagt, also vertraue ich ihr einfach. Mein Abstecher zum Pokécenter wird länger als geplant, denn die Klimaanlage funktioniert einwandfrei und ich sitze mindestens dreißig Minuten einfach nur unter dem Ventilator und lasse mich mit kalter Luft belüften. Als ich mich wieder halbwegs menschlich fühle und mein ganzer Schweiß verdunstet ist, logge ich mich über den Computer auf mein offizielles Profil ein. Und, Überraschung, gleich fünf  Nachrichten! Ist jemand gestorben? Der erste Absender ist Mama. Natürlich. Ihre Mail ist mindestens zwei Seiten lang, aber ich überfliege sie nur, weil ich gerade nicht in der Stimmung bin, meine neugewonnene Freiheit durch ihre Beschuldigungen zu verunreinigen. Sie ist enttäuscht, sie ist traurig, sie wird es mir nie verzeihen, sie hofft, es geht mir gut, sie hofft, ich sehe bald ein, was für eine dumme Idee das war und komme wieder heim. Nichts, was ich nicht erwartet hätte. Ich schließe das Fenster und scrolle ein wenig runter. Die zweite ist von Tarik. Er schreibt: Hätte es mir ja denken können. Hat Raphael dich dazu angestiftet? Ne, ich glaub nicht. So bist du halt. Halt die Ohren steif, Abs, mach was aus dir. Aber komm demnächst mal zu Besuch, Mama stirbt sonst noch an akuten schlechten Vorahnungen. Seit du weg bist (also heute Morgen) kriegt sie ständig diese Gefühle. „Ich weiß, dass etwas passiert ist, bestimmt stirbt sie jetzt gerade in diesem Moment“… Du kennst sie. Grüß Skunk von mir. Tarik Die danach ist von Agnes. Sie schreibt nur: Wurde aber auch Zeit! Erobere die Welt, du schaffst alles, was du willst, Abby, ich zähle auf dich. Wehe, du tauchst nicht demnächst in den Nachrichten auf. Kümmere dich gut um Sku! Alles Liebe, Agnes Ich muss grinsen, als ich ihre E-Mail lese. Agnes versteht mich. Ich schreibe ihr eine kurze Nachricht, wo ich bin, dass es mir gut geht und dass sie Mama nichts sagen soll, egal, wie sehr die auf die Mitleidsdrüse drückt. Bei Agnes kann man sich darauf verlassen, dass sie ein Geheimnis für sich behält. Sie ist schon toll, meine Tante. Die nächste ist von Papa. Hallo Kleines, schreibt er. Natalie ist ziemlich durch den Wind, aber sie wird sich schon wieder beruhigen. Wo bist du gerade? Nein, sag es mir lieber nicht, ich könnte es ihr vermutlich nicht verheimlichen. Ich hoffe, du hast deine erste Nacht weg von zu Hause gut überstanden und bist nicht entführt worden. Das wäre nicht so gut, aber ich vertraue mal auf Skunka, sie wird schon alle Kriminellen von meiner lieben Tochter wegstinken. Ich will dich nicht groß aufhalten, genieß die Zeit von zu Hause weg, lerne viele neue Menschen kennen und sammle wundervolle Erfahrungen. Ich liebe dich, Papa Bei seiner E-Mail kommen mir tatsächlich die Tränen und ich lasse ein oder zwei über meine Wangen kullern, während ich den Text anstarre, dann entdecke ich einen kleinen Zusatz. ps. Check deine Items. Du hattest schließlich Geburtstag. HAPPY BIRTHDAY Ich wische die Tränen weg und öffne mein Itemlager. Es ist leer, bis auf ein paar Tränke, die ich dort eingelagert habe. Und Papas Geschenk natürlich. Giftschleim. Ich blinzele ein paar Mal, dann suche ich es in der Item-Datenbank des Computers. Erst dann geht mir ein Licht auf. Es stellt im Kampf nach jeder Aktion des Trägerpokémons 1/16 seiner Energie wieder her, sofern der Träger ein Giftpokémon ist. Kluger Papa. Er hat bestimmt Agnes gefragt. Ich drucke den Beleg aus und stecke ihn mir in die Tasche. Wenn ich damit in einen Supermarkt oder ein Kaufhaus gehe, wird das Item bestellt und ich kann es in ein paar Tagen abholen. Ich will mich schon wieder abmelden, da fällt mir die letzte E-Mail ein. Vielleicht hat Maya ja auch noch etwas geschrieben. Wer weiß, wem Mama schon von meinem Auszug erzählt hat. Wahrscheinlich weiß es schon die halbe Stadt. Und morgen hängen dann überall in den fünf Regionen Steckbriefe mit meinem Foto. Mir läuft es kalt über den Rücken. Absender: Raphael Berni. Betreff: Wo bist du? :D Mein Herz macht einen Satz. Hey Abby. Tut mir Leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, aber die Presse rennt mir langsam die Türen ein. Alle wollen Interviews und Kommentare, mein Postfach läuft mit Einladungen zu diesem Event und jener Fernsehsendung über. Wie soll man da bitte in Ruhe trainieren? Du verstehst daher vielleicht, dass ich keine Lust mehr auf E-Mails hatte. Sorry :/ Jedenfalls bin ich heute Morgen nach Orania City gekommen, um dir zum Geburtstag zu gratulieren und, Überraschung, du warst weg. Ich weiß, du hattest das irgendwann mal erwähnt, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass du mitten in der Nacht verschwindest. Jedenfalls musste ich mir eine Stunde lang deine Mutter anhören, weil sie sich bei jemandem über dich beschweren wollte. Naja, was soll´s. Immerhin wollte sie kein Interview ;) Mein Geschenk kriegst du aber nur persönlich. Also, hier ist der Plan. Keine Ahnung wo du bist, aber Mandy kann mich überall hin fliegen, also egal wohin, kein Problem. Vielleicht willst du auch erst mal ein bisschen alleine rumrennen, kann ich verstehen. Ich werde nächsten Monat nach Hoenn oder Sinnoh fliegen und da ein paar Wochen trainieren. Danach komme ich zurück nach Kanto, aber ich kann dich vorher noch besuchen. Sag mir nur, wo du dann bist und wir machen ein Treffen aus. Sei nicht böse Abby, du bist meine beste Freundin und ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Liebe Grüße von Penny und Murphy. Er trägt die Sonnenbrille seit zwei Jahren, Abby, er nimmt sie nie ab. NIE. Ich weiß nicht mal mehr, wie seine Augen aussehen… In diesem Sinne, hau rein, hab eine geile Zeit und wir sehen uns hoffentlich in knapp zwei Monaten. Grüß Sku von mir. Raphael Ich lese die Mail dreimal durch, dann schließe ich das Fenster, logge mich aus und verlasse das Pokécenter, ein breites Lächeln auf den Lippen. Kapitel 8: Black Mantis (Zugang auf eigene Gefahr) -------------------------------------------------- Den restlichen Nachmittag wandere ich ziellos durch Dukatia City, lerne die Straßen auswendig und gebe meinen Itemausdruck im Kaufhaus ab. Dukatias Kaufhaus ist riesig, mindestens so groß wie das in Prismania. Es gibt fünf Stockwerke und ich nehme mir für jedes ausgiebig Zeit. Als ich den fünften Stock erreiche, kaufe ich mir ein Tafelwasser und setze mich auf eine der Bänke, während ich dem Losverfahren zuschaue. Die Teilnehmer ziehen alle einen kleinen Pokéball, in dem ein Zettel mit einer Nummer versteckt ist. Dann zieht eine junge Frau mit blonden Zöpfen aus einer großen Urne ebenfalls einen Zettel. Der erstgezogene Zettel entspricht dabei dem ersten Platz, der zweite dem zweiten und so weiter. Nur die ersten Drei bekommen jedoch einen Preis. Ich kann nicht genau erkennen welchen, also gehe ich, nachdem die Leute wieder ihren normalen Einkäufen nachgehen, zu der Frau hinüber. „Entschuldigung“, sage ich und sie schaut von der Urne auf, die sie gerade wegpacken wollte. „Wie kann ich dir helfen?“, fragt sie und lächelt mich an. Sie hat ein sehr gleichmäßiges Gesicht und schöne Hände. „Ich wollte fragen, was man hier gewinnen kann.“ „Oh, das kommt auf den Wochentag an.“ Sie zwinkert mir zu und räumt die Urne weg. „Der Erstplatzierte bekommt eine TM, der Zweitplatzierte einen besonderen Ball und der Drittplatzierte eine Beere der Saison.“ „Kostet die Teilnahme etwas?“, frage ich misstrauisch und sie lacht. „Ja, aber es sind gut angelegte 300 PD, findest du nicht auch? Eine TM kann oft das Zehnfache kosten.“ „Vielleicht komme ich demnächst mal wieder vorbei“, verabschiede ich mich, dann nehme ich den Aufzug. Ich will schon auf EG drücken, da fällt mein Blick auf die Taste darunter: UG. Untergeschoss? Neugierig geworden drücke ich auf den Knopf und zu meiner großen Überraschung funktioniert es, der Aufzug setzt sich ruckartig in Bewegung und wir fahren nach unten. Als sich die Türen öffnen, bin ich in der Tat nicht im Erdgeschoss. Das Untergeschoss ist gefüllt mit Kisten, die sich bis an die Decke stapeln. Maschock transportieren sie von einem Ort zum nächsten und als sie mich sehen, winken sie mir. Ein wenig verunsichert verlasse ich den Aufzug und laufe ein wenig im Untergeschoss hin und her. Insgesamt sind es drei abzweigende Räume, die alle nur betreten werden können, wenn man über die meterhohen Kistenstapel klettert. Auf der linken Seite kann ich aber an den Kisten vorbei gucken. Der Raum dahinter scheint mit einem zweiten verbunden zu sein. Und in dem führt eine Treppe weiter nach unten. Nun doch neugierig geworden setze ich einen Fuß auf die Kiste direkt vor mir, aber eine kräftige Hand packt meinen Oberarm und zieht mich sanft aber bestimmt zurück. Als ich mich umdrehe, schaut mich das Maschock mit roten Augen an und schüttelt den blaugrauen Kopf. Ich nehme den Fuß von den Kisten runter und entschuldige mich, dann fahre ich mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und verlasse das Kaufhaus. Hungrig geworden mache ich einen Zwischenstopp in einem kleinen Imbiss, der frittierte Süßkartoffeln mit frischem Miltankquark verkauft und kaufe drei Portionen. Dann suche ich mir einen ruhigen Platz außerhalb der Stadt. Ich komme an einigen Trainern vorbei, die im hohen Gras ihre Pokémon trainieren und sogar einem Polizisten, der gähnend an einen Baum gelehnt steht. Sein Fukano sitzt hechelnd neben ihm und beobachtet die Umgebung. Ich folge dem Weg noch ein Stück, bis ich die Pension erreiche, die Caro erwähnt hat und weil gleich gegenüber das Meer liegt, setze ich mich dort auf den Boden, lasse Sku raus und schiebe ihr zwei Portionen von den Süßkartoffeln hin. Sie schnurrt mich liebevoll an, dann macht sie sich darüber her. Das Frühstück ist immerhin schon fünf Stunden her und Sku kann im Grunde immer essen, wenn sie etwas Essbares sieht. Manchmal glaube ich, sie hat mehrere Mägen. Als wir fertig gegessen haben,  rollt Sku sich auf dem Boden zusammen und ich lehne mich an ihren weichen Körper. Dann dösen wir langsam ein.   Ich werde von lautem Gekreische und Geschrei geweckt und schrecke hoch. Sku hat die Augen halb geöffnet und nickt mit dem Kopf in Richtung Süden. Ich folge ihrer Geste und entdecke zwei Jungs, die sich wütend anschreien, während ihre Pokémon fauchend und spuckend voreinander stehen. „Das war mein Abra, du Idiot!“, schreit der kleinere. „Ich hab es zuerst gesehen!“ „Du hast es vielleicht zuerst gesehen, aber ich habe es zuerst gefangen. Such dir ein anderes“, erwidert der größere schnippisch. Er trägt eine Cappi und ein gelbes T-Shirt, auf dem der Schnabel eines Entons und seine Augen zu erkennen sind, der Rest ist in Entons Federfarbe gehalten. Der Kleine trägt so etwas wie Pfadfinderklamotten, alles in grün und braun. „Nur weil du näher dran gestanden hast“, keift er und zeigt dem Teenager seinen Mittelfinger. „Ich lass mir doch von so einem Pimpf wie dir nicht mein rechtmäßig gefangenes Pokémon abschwatzen. Geh doch zu Mami heulen.“ Genervt stehe ich auf und gebe Sku ein Zeichen, die ihr Fell sträubt und mir folgt. „Könnt ihr das vielleicht wie Pokémontrainer klären?“, frage ich, als ich näher komme. Die Beiden schauen sich überrascht um, aber als sie mich sehen, entspannen sich ihre Gesichtszüge. „Ist nur ein Mädchen“, sagt der Große. Der Pfadfinderjunge grinst. Auch die anderen Trainer, die hier mit ihren Pokémon entlang kommen, schauen sich jetzt um, allen voran ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter zu sein scheint. Sie trägt einen dunkelblauen Faltenrock, eine weiße Bluse und blaue Wanderschuhe. Ihr blondes Haar trägt sie in einem langen Flechtzopf und sie beobachtet uns genau. Ich stelle mich vor den Jungen auf und schaue sie herausfordernd an. „Hier gibt es Leute, die einen ruhigen Tag am Meer verbringen wollen“, fahre ich ungerührt fort. „Und die haben keine Lust, sich das Geheule von zwei Kindergartenkindern anzuhören.“ „Was hast du gesagt?“, fragt der mit der Cappi und baut sich bedrohlich vor mir auf. Seine Nase ist ein wenig schief und kurzes schwarzes Haar schaut unter seiner Mütze hervor. „Und taub sind sie auch noch. Kein Wunder, dass ihr so schreien musstet“, füge ich lächelnd hinzu. Der Junge hebt seine Hand und für einen Moment bin ich davon überzeugt, dass er mich schlagen wird, aber er zieht nur den Schirm seiner Mütze nach hinten und greift nach einem Pokéball in seiner Tasche. „Warum zeigst du uns dann nicht, wie ein Pokémontrainer kämpft, hm?“, fragt er und winkt den Camper, mit dem er sich gerade noch gestritten hat, zu sich. Ich bin nicht sicher, wie stark die beiden Jungen sind oder wie viele Pokémon sie haben, aber Sku muss wohl alleine herhalten. Ohne auf mein Kommando zu warten, schleicht sie an mir vorbei und nimmt vor mir Stellung. „Zwei Jungen gegen ein Mädchen?“, fragt plötzlich eine Stimme und ich drehe mich um. Neben mir steht das Schuluniformmädchen. Erst als sie näher kommt, erkenne ich das Emblem. Sie ist von der KPA. „Erlaubst du mir, dich zu unterstützen?“, fragt sie lächelnd und ich grinse sie dankbar an. „Überlass mir die Unterstützung, ich bin sicher, du bist besser für die Offensive geeignet.“ Ihre Augen glitzern und sie zieht einen Pokéball aus ihrer Tasche. „Los, Tyracroc!“, ruft der Cappijunge und schleudert uns seinen Pokéball entgegen. Das erscheinende Pokémon schaut uns gelangweilt an. „Du auch, Bibor!“, ruft der andere. Ich schaue zu dem Mädchen hinüber. Sie schwingt ihren Kopf, sodass ihr Zopf um ihren Kopf peitscht, dann hält sie ihren Pokéball vor sich. „Sunny, zeig ihnen, wie ein wahres Pokémon kämpft.“ Ein Schwalboss taucht vor ihr in der Luft auf, um seinen Hals ist ein dunkelblaues Halsband gebunden, an dessen Ende ein rot orange glühender Ball von der Größe einer Walnuss hängt. Dann geht Sunnys Gefieder in Flammen auf und ihre Augen flackern rot. „Bibor, Nadelrakete auf Skuntank!“ „Sunny, Doppelteam.“ „Knirscher auf Schwalboss, Tyracroc! „Kreideschrei, Sku.“ Schwalboss´ Initiative ist nicht von dieser Welt. Ihr brennender Körper schießt in die Luft und Scheinbilder huschen überall über unseren Köpfen vorbei. Gleichzeitig kreischt Sku und der Hauptimpakt des Schalls trifft Tyracroc, das Sku am nächsten ist. Bibor Nadelrakete trifft Skuntank, aber sie schüttelt die Nadeln ohne großen Schaden ab. Tyracrocs Attacke ist die langsamste und er kommt nicht mal in die Nähe von Schwalboss. Stattdessen zerreißen seine Kiefer eines der Scheinbilder. „Aero-Ass!“, ruft die Akademieabsolventin und ihr Schwalboss rauscht mit abnormaler Geschwindigkeit über uns vorbei und auf Bibor zu. Der Aufprall ist so heftig, dass Bibor ein lautes, kratziges Insektenkreischen von sich gibt und mehrere Meter nach hinten geschleudert wird, wo es noch einmal dieselbe Strecke durch das hohe Gras schlittert. Es bleibt ungefähr zehn Meter von uns liegen und meine Augen weiten sich. Die des Campers im Übrigen auch. Ohne abzuwarten rennt er zu seinem Pokémon. „Sku, erledige es mit Schlitzer!“, rufe ich in die fassungslose Stille hinein und bevor Tyracroc sich in Sicherheit bringen kann, treffen Skus messerscharfe Krallen auf sein Fleisch. Tyracroc jault und packt sich an die Wunde, während Sku zurück hechtet und ihren Schweif senkrecht aufstellt, ihr Fell zu doppelter Größe aufgebaut. „Tyracroc, nein!“, schreit sein Trainer vergeblich. „Benutzt… benutz irgendwas!“ Tyracroc macht einen wackligen Schritt nach vorne, seine Fangzähne beginnen eisblau zu leuchten, dann stöhnt es auf und fällt vornüber zu Boden. Schwalboss landet neben ihrer Trainerin, die sie in ihren Pokéball zurückruft, bevor sie einen Feuerheiler auf den Pokéball anwendet. „Du solltest in den entscheidenden Momenten nicht die Fassung verlieren“, empfiehlt sie ungerührt, während der Teenager sein Pokémon zurückruft. „Es ist auf deine Leitung angewiesen. Pokémon vertrauen auf ihren Trainer und seine Entscheidungen. Nicht sie entscheiden, welche Strategie die Beste ist, wir entscheiden es. Und wenn die Strategie ihnen Schmerzen bereitet, dann erdulden sie das, denn sie vertrauen uns.“ Sie verstaut Schwalboss´ Pokéball in ihrer Gürteltasche. „Du darfst sie niemals im wichtigsten Moment, nämlich wenn alles gegen sie steht, im Stich lassen.“ Der Junge kniet besiegt auf dem Boden, sein Kopf gesenkt. Jetzt tut er mir fast ein bisschen Leid. Das Mädchen streckt ihre Hand aus und ich drücke sie dankbar. „Ich bin Abby“, stelle ich mich vor. „Danke für deine Hilfe.“ „Nichts zu danken. Du hast nur ausgesprochen, was uns allen durch den Kopf gegangen ist“, erwidert sie lächelnd. „Nicht zu helfen wäre falsch und unverantwortlich gewesen. Ich bin Miranda.“ „Du bist von der KPA, oder?“, frage ich und deute auf ihre Bluse. Ihr Lächeln verwandelt sich in ein Strahlen. „Hier in Johto kennen nicht viele die Akademie.“ „Meine Tante ist dort Lehrerin“, sage ich, während wir uns in Bewegung setzen und langsam Richtung Dukatia zurückgehen. „Vielleicht kennst du sie. Agnes Hampton? Sie unterrichtet-“ „Teambuilding und Trainingsmethoden. Ich kenne sie.“ Miranda schaut mich begeistert an. „Sie ist eine wundervolle Lehrerin. Manchmal ein wenig exzentrisch, wenn es um eines ihrer Lieblingsthemen geht, aber sie ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Sie war diejenige, die mir diese Strategie für mein Schwalboss vorgeschlagen hat.“ „Zum Thema Strategie, was hatte es mit dem Feuer auf sich?“, frage ich. Ich bin immer neugierig, wenn es um Kampfstrategien geht. Ich habe viele Vorlesungen meiner Tante besucht, aber hin und wieder dort aufzutauchen ersetzt kein jahrelanges Lernen mit Klausuren und dergleichen. „Schwalboss hat eine Spezialfähigkeit. Adrenalin.“ erklärt Miranda. „Wenn sie unter einem primären Statusproblem leidet, dann steigert sich ihr Angriff um 50%. Verbrennung schädigt das Pokémon weniger als zum Beispiel eine Vergiftung und der eigentliche Angriffsverlust wird ebenfalls ignoriert. Also gebe ich Schwalboss einen Heißorb, der sie zu Beginn jedes Kampfes in Brand setzt. Dazu kommt, dass Aero-Ass immer trifft und Schwalboss einen natürlich hohen Initiativewert hat.“ „Genial“, erwidere ich verblüfft. Sku nickt stumm. „Nun, es war nett, mit dir geredet zu haben, aber ich muss jetzt weiter trainieren“, verabschiedet sich Miranda. „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“ „Ehrlich gesagt… warum tauschen wir nicht Handynummern aus?“ Sie schaut mich zuerst verwundert an, dann lächelt sie. „Stimmt, warum nicht. Hier.“ Sie zieht eine kleine Karte aus ihrer Tasche, auf der ihr Name und ihre Handynummer stehen. „Ruf mich an, wenn dir danach ist.“ Sie winkt, dann kehrt sie ins hohe Gras zurück. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und erstarre, als ich die Zeit sehe. Es ist 17:30 Uhr und ich bin am anderen Ende der Stadt. Ich rufe Sku zurück, um ihr den Lauf und mir ihr Gejammer zu ersparen, dann jogge ich los. Ich erreiche den Wahrsager um kurz nach sechs. Caro steht bereits dort, ihr Scherox drohend hinter ihr aufgebaut. Sie hat sich umgezogen. Statt des Minirocks trägt sie nun eine schwarze Lederhose, die ihren schmalen Beine betont, darunter die roten Highheels von heute Morgen. Schwarze Handschuhe, deren Knöchel mit Nieten besetzt sind, zieren ihre Hände ein schwarzes Korsett formt ihren Brustkorb zu einer dramatischen Bibortaille, während ein rotes Rüschenhemd lose oben und unten herausschaut. Über ihrem Arm hängt eine schwarze Jacke mit Kapuze und Fellfütterung. Sie winkt mir zu und als ich näher komme, sehe ich den schwarzen Lippenstift. Sie könnte als Gothikmodel durchgehen. Als ich schwer atmend bei ihr ankomme, schaut sie mich kurz an, dann dreht sie sich um und verschwindet in dem lila und gelb gefärbten Zelt des Wahrsagers. Scherox und ich folgen ihr. Das Innere des Zeltes ist mit violetten Vorhängen verhangen und auf dem Boden ist in beiger Farbe ein großer Pokéball umrahmt von Symbolen aufgemalt. Zwei leuchtende Glaskugeln säumen den Eingang und an einem Schreibtisch am Ende des Raumes sitzt ein alter Mann. Auf dem Schild hinter ihm stehen die Worte: Der Name ist der Schlüssel zur Seele. Caro geht unbeeindruckt zu ihm hinüber und beugt sich skandalös weit vor ihm nach vorne, während sie ihre Ellenbogen auf der Tischplatte abstützt. Scherox stellt sich auf ihrer rechten Seite auf, ich halte mich links von ihr, mit etwas mehr Abstand. „Was hast du heute für mich, alter Mann?“, fragt Caro und ihre Stimme ist plötzlich viel härter als noch heute Morgen. Kälter. Berechnender. „Black Mantis“, krächzt der Alte und lächelt ein zahnloses Lächeln. „Ihr wart die letzten Tage fort. Gab es Probleme?“ Scherox knurrt tief in seinem Chitinpanzer und der Mann leckt sich nervös über die Lippen. „Es gibt tatsächlich Neuigkeiten für euch, Black M. Greg hat folgende Informationen hinterlassen. Sie sind wieder im Untergrund unterwegs und bringen eure Ordnung durcheinander. Sie wollen sich euch nicht unterordnen. Die armen Bastarde.“ Er keckert, dann krächzt er und das Keckern wird zu einem Husten. „Sind sie heute Nacht dort?“, fragt Caro und der Mann nickt, während er sich die Kehle festhält. „Gut.“ Caro wendet sich ab und geht in Richtung Ausgang. „Abby, wir gehen.“ „Black M“, ruft der Alte ihr nach. „Es sind viele. Geht nicht alleine.“ „Ich bin nie alleine“, erwidert Caro ohne sich umzudrehen und Scherox´ Knurren erfüllt das ganze Zelt. Es läuft mir kalt den Rücken runter und ich frage mich mit einem Mal, in was für eine Geschichte ich da hinein geraten bin. Als ich mit Caro wieder draußen bin, zündet sie sich eine Zigarette an. Schwarzer Nagellack bedeckt ihre Fingernägel und silberne Ringe stapeln sich auf ihren Fingern. „Also“, sagt sie und schaut mich ernst an. „Ich habe jetzt zu tun. Wenn du mitkommen willst, halte ich dich nicht davon ab. Wenn du lieber zu Hause bleiben willst, kannst du das auch tun. Ich gebe dir den Zweitschlüssel und du legst dich ins Bett und schläfst aus.“ Ich sehe sie lange an. „Wer ist Black Mantis?“, frage ich schließlich. „Ich bin Black Mantis“, erwidert Caro ohne mit der Wimper zu zucken. Mit ihren Lederklamotten wirkt sie tatsächlich ein bisschen wie ein Insekt. „Und was hast du jetzt vor?“ „Einer Gruppe Möchtegernkriminellen zeigen, wer in dieser Stadt das Sagen hat“, erwidert sie und zieht ein letztes Mal an ihrer Zigarette, dann wirft sie den Stummel auf den Boden und zerquetscht ihn mit ihrem Absatz. „Und wer hat das Sagen?“, hake ich nach. Sie sieht mich mitleidig an. „Na, Black Mantis, Honey.“   Der Eingang zum Untergrund ist ein kleines heruntergekommenes Gebäude gleich neben dem Wahrsager. An der Tür hängt das Schild Achtung, Zugang auf eigene Gefahr. Darunter ist ein Totenkopf aufgemalt. Caro zieht die Tür ohne zu Zögern auf und wir steigen die Treppe hinunter, die gleich hinter dem Eingang auf uns wartet. Je tiefer wir gehen, desto heller wird es, bis wir schließlich in einer langen, durch flackerndes Licht erhellten Passage landen. Die Lampen an der Decke füllen den Gang mit kühlem Licht und lose Elektrokabel hängen überall von den gefliesten Wänden. Links und rechts stehen vertrocknete Pflanzen und Tische, an denen schummrige Gestalten sitzen und Items verkaufen. Die Passage ist gefüllt mit leisem Feilschen und geschäftigem Treiben. „Bleib dicht hinter mir“, flüstert Caro, dann strafft sie die Schultern und marschiert los, dicht gefolgt von Scherox und mir. Blicke bleiben an uns hängen und folgen uns, bevor sich Erkennen in ihnen ausbreitet. Überall um uns herum nicken die Leute Caro respektvoll zu. Diejenigen, die sie auch nur entfernt schief angucken, werden sofort von Scherox mit Blicken aufgespießt. Wir erreichen die Mitte der Passage in wenigen Minuten. Caro bleibt vor einer Gruppe Männer stehen, die die kahl rasierten, tätowierten Köpfe zusammengesteckt haben. Sie wartet darauf, dass einer von ihnen sie sieht und steckt sich in der Zwischenzeit eine Zigarette an. Als nichts passiert, beginnt Scherox, tief in seiner Kehle zu knurren und endlich schauen sich zwei der vier Männer zu uns um. Die anderen beiden müssen nur den Kopf heben, um Caro und mich zu sehen. „Mantis, du hier?“, fragt der Größte mit einem gigantischen roten Bart. „Wir dachten, du wärst außer Landes.“ „Falsch gedacht“, erwidert Caro kühl und bläst ihm einen Rauchring ins Gesicht. „Ich dachte, ihr wärt nach eurer letzten Niederlage abgehauen. Ich wusste nicht, dass ihr dumm genug sein könntet, wieder zu kommen. Aber eigentlich sollte es mich nicht wundern.“ Der Mann knirscht mit den Zähnen, dann stehen er und seine Kumpanen auf. „Black Mantis“, sagt er langsam. „Bist du sicher, dass du das willst? Du bist alleine, wir sind zu viert. Du hast ein Pokémon, wir haben jeweils zwei oder drei.“ Er zuckt die Achseln. „Wäre vielleicht dumm von dir, dich trotzdem in unsere Angelegenheiten einzumischen.“ „Wenn du Schwarzhandel ohne meine Erlaubnis in meiner Stadt betreibst, dann mischst du dich in meine Angelegenheiten ein.“ Caro zieht ihre Kippe in einem Zug leer, dann spuckt sie ihm den Stummel vor die Füße. „Ich trete euch sooft in den Arsch wie nötig, merk dir das, Fucker.“ „Oho, die Königin hat gesprochen.“ Er breitet die Arme aus. „Was meint ihr, Freunde? Sollen wir gehen?“ Eine plötzlich auf tosende Buh-Welle tobt durch den Untergrund und ich kann an Caros sich plötzlich steifen Schultern erkennen, dass sie nicht mit so viel Reaktion gerechnet hat. Vielleicht hat der Wahrsager recht gehabt. Vielleicht wären wir lieber nicht allein hier her gekommen. Aber Caro kann jetzt keinen Rückzieher machen. Der Mann grinst uns an und lässt die Arme sinken. „Oder sollen wir hier bleiben und die Königin stürzen?“ Der Jubel brandet an meine Ohren, als von überall her Zustimmungsrufe laut werden. Rote Lichtblitze erfüllen die Passage mit einem beängstigenden Licht. Dann materialisieren sich die Pokémon. Caro verschwendet keine Sekunde. Sie packt mein Handgelenk und zerrt mich mit, zwischen den Menschen, die die Passage blockieren, hindurch. Ohne nachzudenken lasse ich Sku raus. „Kreideschrei, sofort!“, schreie ich und Sku nickt, dann bleibt sie stehen und stößt einen markerschütternden Schrei aus. „Schlitzer, Eisenabwehr!“, ruft Caro ihrem eigenen Pokémon zu, während sie jeden zur Seite stößt, der sich die Ohren zu haltend in unserem Weg steht. Sku schreit weiter, während sie uns folgt. Hinter uns höre ich das Klingen von Metall und ich frage mich, ob es Scherox ist, der angreift, oder ob er die Angriffe blockt. Caro rennt plötzlich nach links und ich falle fast, aber ihr Griff ist fest und sie zerrt mich mit. Skus Schrei endet abrupt und damit unser Vorteil. Hände greifen nach uns, aber Scherox schießt mit einer Agilität auf uns zu, die ihn unsichtbar wirken lässt. Keine Hand, die uns berührt, verweilt länger als eine Sekunde. Der Gang, den wir entlang laufen, ist mit einem Mal menschenleer und ich kann am hinteren linken Ende eine große Tür erkennen. „Scherox, mach die Tür auf!“, ruft Caro und Scherox fliegt geradezu an uns vorbei, jedenfalls scheint er den Boden nicht zu berühren. Bei der Tür angekommen hebt er seine Scheren und beginnt, in schneller Sukzession auf die Tür einzuschlagen. Trotzdem öffnet sie sich nicht. Scherox verdoppelt seine Anstrengungen, aber vergebens. Die Männer von eben rennen auf uns zu, aber als sie uns in die Ecke gedrängt sehen, verlangsamen sie ihr Tempo. „Sku, nochmal Kreideschrei!“, rufe ich verzweifelt und Sku kreischt, aber dieses Mal verziehen unsere Gegner nur das Gesicht. Caro flucht und geht vor der Tür in die Knie, um das Schloss zu inspizieren. „Da kommst du nicht rein, Königin“, höhnt der Rotbart und Caro steht langsam auf, dann geht sie an mir vorbei. Als sie sich vor mich stellt, zieht sie unauffällig etwas aus ihrer Hosentasche und wirft es zu mir. Scherox übernimmt die Deckung, als sie weiter nach vorne geht und verbirgt mich effektiv vor den Augen der Männer. Ich starre das Handy an, dann öffne ich das Telefonbuch. Es sind fünf Nummern eingespeichert. Abby, Bill, Eva, Linda und Zach. Ich schaue verzweifelt zu Scherox, der mit dem Rücken zu mir steht. „Wen soll ich anrufen?“, frage ich leise und Scherox dreht sich zu mir um. Er wirft einen Blick auf das Handydisplay, dann dreht er sich wieder um. Caros Stimme ertönt, kühl und beherrscht. „Robin.“ Kein Anzeichen von der Panik, die eben kurz in ihren Augen gesehen habe. Scherox klappert mit seinen Scheren. „Du willst mich also stürzen?“, fragt sie. „Ich kann mein Amt an niemanden abtreten, der mich nicht in einem fairen Duell geschlagen hat.“ Scherox klappert wieder mit den Scheren, dieses Mal langsamer, betonter. „Ich glaube, was du kannst oder willst, steht hier nicht zur Debatte, BM. Warum gibst du uns nicht einfach die Erlaubnis, unseren Handel hier zu betreiben, trittst zurück und wir vergessen die ganze Sache hier unten.“ Scherox klackert wieder. Viermal. Ich starre auf seine Scheren, dann auf das Handy. Vier. Nummer vier. Linda? „Dem Mädchen muss nichts passieren, Caroline. Wer ist sie, dein neues Nebenprojekt?“ Ich tippe so schnell ich kann eine SMS an Linda. Probleme im Untergrund, Tür im langen Gang verschlossen… „Könnte man so sagen“, erwidert Caro. „Obwohl ich Menschen ungern als Projekte bezeichne, aber das würdest du nicht verstehen, nicht wahr? Für dich sind es ja nur Kunden und potenzielle Kunden.“ …sind eingekesselt, brauchen Hilfe… „Du bist nichts von all dem, Königin“, erwidert Robin. „Du bist mehr so eine Art… Hindernis.“ Senden. Ok. SMS wurde erfolgreich versendet. „Willst du wirklich, dass deine Fans dich für einen Schwächling halten?“, fragt Caro und ich schaue endlich wieder von dem Handy auf. Sie steht einige Meter von dem Rotbart namens Robin entfernt und statt direkt hinter ihr zu stehen bleibt Scherox beschützend vor mir. Ich kann förmlich sehen, wie es ihn zerreißt. Ich tippe seine metallische Schulter an und er dreht sich mit mörderischem Blick um. „Ich bin fertig“, flüstere ich. „Geh zu ihr.“ So etwas wie Dankbarkeit huscht über seine Züge, dann ist er schon verschwunden und taucht gleich hinter Caro auf. Als sie ihn anschaut, gibt er ein kurzes bestätigendes Nicken. „Sie wissen, dass ich genauso stark bin wie du. Aber im Gegensatz zu dir, Black Mantis, bin ich nicht so wählerisch, was die Verkäufer hier unten angeht.“ Caro verschränkt die Arme vor der Brust und ich mache ein paar Schritte zur Seite, um besser sehen zu können. „Warum beenden wir es nicht in einem fairen Kampf. Du darfst dir sogar Verstärkung holen, wenn du sie brauchst, ich bin großzügig“, verkündet Caro süffisant. „Ich brauche keine Verstärkung für eine Möchtegerntrainerin wie dich.“ Er lacht. „Du kannst passable Blumensträuße basteln, aber ich glaube, du bist in letzter Zeit nicht genug herausgefordert worden. Dein Scherox ist eingerostet, sieh es ein, Black M. Deine Zeit als Untergrundkönigin ist vorbei. Diese Stadt gehört nicht mehr dir.“ „Sie gehört mir, solange niemand mich im Duell besiegt, Robin. Und wenn du mich nicht besiegst, wird sie auch dir nie gehören, denn du kannst mich vielleicht für eine Nacht aus dem Untergrund vertreiben, aber ich komme immer wieder.“ Scherox klackert bedrohlich mit seinen Scheren und ich komme nicht umhin zu bemerken, wie unheimlich cool Caro in ihrem Korsett aussieht. Wie ein schwarzes Käferpokémon. „Du willst kämpfen, BM?“, fragt Robin und sieht sie mitleidig an. „Es tut mir leid, aber du hast keine Chance. Denn dein Pokémon hat eine große Schwäche.“ Er hebt einen Pokéball. „Und die wäre?“ fragt Caro aber ich kann an ihrem bitteren Ausdruck erkennen, dass sie die Antwort längst kennt. „Feuer.“ Ein roter Lichtstrahl schießt aus dem Pokéball des Rotbarts und ein wild aussehendes Arkani materialisiert sich. Sein Fell ist zottig und ungepflegt, Narben verlaufen kreuz und quer über seiner gewaltigen Schnauze und es fährt die Krallen ein und aus, als wolle es den Boden prüfen. Dann brüllt es und die Wände beben. Scherox tritt ungerührt nach vorne, aber Caro wirkt besorgt. Nicht umsonst. Arkani ist ein unglaublich starkes Feuerpokémon und Scherox hat durch seine Typkombination eine Vierfachschwäche gegen Feuerattacken. Es sieht nicht gut für uns aus. „Schlitzer, nochmal Eisenabwehr!“, ruft Caro und Robin lacht. „Das wird dir nichts helfen! Nightmare, greif mit Feuerzahn an!“ Scherox´ Körper beginnt von innen zu leuchten, als es seinen Chitinstahlpanzer von innen verstärkt. Arkani rennt mit gewaltigen Schritten auf ihn zu, entlang seiner lodernden Fangzähne lecken Flammen seine Lefzen empor und in die Luft um sein Maul herum. Sein Biss trifft Scherox, das gerade noch rechtzeitig mit seiner Attacke fertig wird und das Feuer frisst sich in den Stahl hinein. Scherox kreischt und es hört sich an, als würde man Metall über Metall schleifen lassen. Es ist so laut, dass ich das Klopfen hinter mir beinahe überhöre. Aber nur beinahe. Kapitel 9: Die Rettung naht (Von Blumen und Schildern) ------------------------------------------------------ „Sku“, flüstere ich, so leise ich kann. Sie hört mich und hebt den Kopf zu mir. „Check die Tür.“ Ich wage kaum, meine Lippen zu bewegen aus Angst, Caros Plan könnte wegen mir scheitern. Der Kampf der beiden ist in vollem Gange, während Sku langsam rückwärts tippelt, ein kleiner Schritt nach dem anderen. Zum Glück sind alle Augen auf Caro und ihren Gegner gerichtet. „Nochmal Eisenabwehr!“, ruft Caro und plötzlich weiß ich, was sie vorhat. Sie will nicht gewinnen. Sie weiß, dass sie nicht gewinnen kann. Sie will uns Zeit verschaffen. Ich werfe einen verzweifelten Blick zu Sku, die jetzt ganz nah bei der Tür steht. Sie kratzt am Boden und wartet. „Feuerzahn!“, bellt Robin und das Arkani verbeißt sich noch tiefer in Scherox´ leuchtend roten Panzer. Scherox windet sich, versucht mit allen Mitteln zu entkommen, aber es gelingt ihm nicht. Caro beißt sich auf die Lippen. Dann wimmert Sku leise und ich schaue zu ihr. Sie drückt gegen die Tür und ich kann sehen, wie sie sich öffnet. Der Spalt ist so schmal, dass er von weiter weg nicht zu erkennen ist, aber er ist da. Ich nicke ihr dankbar zu, dann winke ich sie zu mir. Sku läuft auf mich zu und gemeinsam gehen wir zu Caro. Sie schaut mich böse an, als ich mich neben sie stelle. „Brauchst du Hilfe?“, frage ich und sehe sie flehend an. Ich kann nicht laut sagen, dass Linda da ist, aber sie muss es in meinen Augen sehen. Sie muss! „Das ist mein Duell, Honey. Halt dich raus“, sagt Caro, aber ihr von Robin abgewandtes Auge zwinkert. Sie hat verstanden. „Unsinn!“, sage ich lauter und reiße an ihrem Arm. „Lass mich helfen.“ „Nein!“, schreit sie und stößt mich brutal weg. Scherox windet sich in Arkanis Biss, während ich unsanft zu Boden falle. „Sku, Toxin.“ flüstere ich und Sku rennt auf mich zu, als würde sie nur zu ihrer Trainerin laufen wollen. Sie beugt sich über mich, dann hebt sie den Kopf, faucht und speit eine violette Flüssigkeit auf das Arkani. Es lässt Scherox sofort los und rollt sich verzweifelt über den Boden, aber das Gift reibt sich nur noch tiefer in sein Fell und beginnt langsam, seine ätzende Wirkung zu entfalten. „Jetzt!“, schreie ich und Caro und Scherox nehmen reis aus. Ich springe ebenfalls auf und renne ihnen hinterher. „Folg ihnen!“, befiehlt Robin wutentbrannt, aber Arkani braucht ein wenig, bis er sich von dem ersten Giftschock erholt hat und nimmt nur langsam die Verfolgung auf. Dank dieser kleinen Verzögerung erreichen wir die Tür vor dem gewaltigen Feuerpokémon und Scherox wirft sich gegen die Tür. Sie schwingt weit auf und wir rennen alle in den Raum dahinter. Etwas Großes wirft sich jetzt von innen gegen die Tür und schließt sie mit einem gewaltigen Knall, als Metall auf Metall trifft.  Dann erfüllt eine gewaltige Feuerbrunst mein ganzes Sichtfeld und trifft die Tür. Das große Etwas von eben ist verschwunden und steht laut hechelnd neben uns. Die Metalltür beginnt rot zu glühen, dann verschmelzen die äußeren Teile innen mit den Metallplatten der Wände. Die Quelle des Feuers kann ich immer noch nicht erkennen, aber sie scheint von irgendwo aus Bodennähe zu kommen. Der Flammenwurf lässt ab, die Tür glüht noch einige Sekunden orangerot nach, dann kühlt das Metall und zurück bleibt nichts als ein geschmolzener Metallfleck. „Freddy, Glut“, sagt eine weibliche Stimme. Linda, denke ich sofort und dann erleuchtet Freddy den Raum. Es ist ein Floink, ein kleines, braun-orange gefärbtes Schweinchen mit einem dicken gelben Streifen, der seine Nase entlang läuft. Sein Mund ist leicht geöffnet und verströmt warmes Licht, das von der kleinen Flamme auf seiner Zunge herrührt. Ich drehe mich um und entdecke das Große Wesen, das neben mir steht. Nur dass es kein Pokémon ist, wie ich angenommen hatte. Es ist Linda. Das Feuer wirft von unten viele Schatten auf ihren sehr ausladenden Körper. Sie ist fett. Mindestens einhundert Kilo bei etwas mehr als meiner Größe, wahrscheinlich mehr. Ihr blondes Haar hängt in zwei Zöpfen von beiden Seiten ihres Kopfes und sie trägt eine große dunkle Hornbrille. Ein geblümtes weißes Kleid flattert träge um ihre Knie und weiße Sandalen bedecken ihre Füße. Ich kann nicht behaupten, dass sie schön ist, aber ehrlich gesagt bin ich dankbarer als je einer anderen Person in meinem Leben. Caro geht auf sie zu – und umarmt sie. Ich habe Caro noch nie in so engem Kontakt mit einer anderen Person gesehen und ich habe sie mir auch eigentlich nicht als Umarmtyp vorgestellt, aber es ist nicht die erste Überraschung des Abends. „Das war knapp“, sagt sie und löst sich von Linda, die sie mit ihren fleischigen Händen an den Schultern festhält und begutachtet. „Dir scheint es gut zu gehen.“ stellt sie mit weicherer Stimme fest, als ich ihrem Körperbau zugetraut hätte. „Schlitzer?“ Sie schaut das Scherox an, das einige Meter hinter Caro steht und gekrümmt seine Wunden betrachtet. Es sind tiefe Einkerbungen in seinem Panzer zu erkennen und es winselt bei jeder Bewegung. „Drei Eisenpanzer, aber er hat trotzdem einiges abbekommen. Fuck.“ Caro reibt sich die Schläfen. „Ich brauche einen Bodenkäfertyp, und zwar bald.“ Es hämmert an der Metalltür. Kratzen von Krallen auf Metall. Schreie, gedämpft durch den Stahl zwischen uns. „Du kannst morgen einen neuen Versuch starten“, beruhigt Linda sie, dann nimmt sie ihre Hand. „Komm, lass uns hier verschwinden.“ Caro nickt, geht zu Scherox und hebt ihren Pokéball. Er kreischt und winselt und bewegt sich weg von ihr, doch der rote Lichtstrahl trifft ihn trotzdem und befördert ihn zurück. Der Ball wackelt einige Male und ich glaube schon, dass Scherox es schaffen und ausbrechen wird, aber dann kommt der Pokéball zum Stillstand. Scherox ist zu geschwächt, um sich selbstständig zu befreien. „Wo sind wir?“ frage ich, während ich den beiden durch den kleinen Raum zu einer schmalen Treppe folge, die noch tiefer nach unten führt. „Im Untergeschoss des Kaufhauses“, antwortet Linda gelassen. „Es gibt eine Verbindung zwischen dem Untergrund und dem Keller.“ Bis auf Freddys Glut haben wir keinerlei Licht und weil das Feuer in seinem Mund ist, werfen seine Zähne bewegliche Schatten in alle Richtungen, was meine ohnehin blank liegenden Nerven nicht unbedingt beruhigt. Sku läuft dicht neben mir, ihre Nähe der einzige Halt in dieser dunklen Untergrundwelt. „Wie bist du so schnell hergekommen?“, frage ich Linda und sie lacht. „Ich wohne hier“, sagt sie vergnügt und grinst mich an. Wenn sie so lächelt wirkt sie um einiges hübscher. Eigentlich hat sie ein schönes Gesicht, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. „Naja, eigentlich wohnt sie bei mir“, sagt Caro. „Im Gästezimmer.“ Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu. „Ich will niemandem sein Bett wegnehmen“, protestiere ich, während wir die Stufen hinunter steigen und in einem Labyrinth aus Gängen, Kisten und noch mehr Treppen und Türen landen. „Ach was, wegnehmen, es gehört mir schließlich nicht“, widerspricht Linda und lächelt mich an. „Ich habe schon früher hier unten gelebt, ein paar Tage oder Wochen machen mir da nichts aus.“ „Das Angebot steht“, sagt Caro zu ihr und dreht sich zu ihr um. „ Wenn du das Sofa haben willst, oder mein Bett oder ´ne Matratze unten im Fuckraum-“ Ich schaue sie entgeistert an und Linda muss wieder lachen. Es klingt glockenklar. „Ihre Werkstatt mit dem Fuck off-Schild.“ „Ach so.“ „Wie gesagt“, wiederholt Caro. „Lass mich doch“, sagt Linda fröhlich. „Ich bin schon total verwöhnt von dir. Erst der Job, dann das Bett, ich kann ruhig ein paar Wochen wieder hier unten schlafen. Das hat meinen Schlafrhythmus noch nie gestört. Außerdem finde ich es gut, dass du die Kleine aufgelesen hast.“ Sie nimmt Caros Hand und zieht daran, sodass Caro ihr in die Augen sieht. „Wirklich.“ „Fein“, gibt sie sich geschlagen und drückt Lindas Hand, dann gehen wir weiter. „Also, wer hat Ärger gemacht?“, fragt Linda nach einer weiteren Abzweigung. Ich habe längst den Überblick verloren. Jeder Gang ist mit denselben Kästen und Kartons vollgestellt. Meiner Meinung nach sieht alles identisch aus, aber Linda schient den Überblick zu haben, also folge ich ihr genauso selbstverständlich wie Caro. „Robin, dieser Scheißkerl“, erwidert Caro und reibt sich wieder die Schläfen. „Er ist zurückgekommen. Ich dachte, seine letzte Niederlage hätte ihn gebührend eingeschüchtert, aber anscheinend hat er sich ein Arkani zugelegt.“ „Das ist in der Tat ziemlich problematisch“, stimmt Linda ihr zu. „Du solltest unbedingt an dem Käferturnier morgen teilnehmen. Wenn du keinen passenden Typ findest und ihn bald auf Vordermann bringst, kannst du dich hier unten nicht mehr blicken lassen. „Das Training wird das nächste Problem“, fährt Caro bitter fort. „Der Laden macht morgen wieder auf, ich habe einfach nicht die Zeit, ein Pokémon in Rekordzeit hoch zu ziehen.“ „Das kann ich übernehmen“, schlägt Linda vor. „Oder ich kümmere mich um den Laden und du trainierst in der Zwischenzeit.“ „Ich kann dich nicht alleine in dem Laden lassen, Linda.“ Caro wirft ihr einen wütenden Blick zu. „Ich müsste Robin schon sehr falsch einschätzen, wenn er nicht innerhalb der nächsten Tage vorbeikommt und mir einen Besuch abstattet. Wenn wir Glück haben, will er nur noch einen Kampf. Und wenn ich nicht da bin, rächt er sich mit etwas Pech, indem er das Haus in Brand setzt.“ „Und wie willst du dann ein neues Pokémon fangen?“, fragt Linda skeptisch und ich stimme ihr insgeheim zu. Caro seufzt. „Robin hat Männer, die mich mit hundert prozentiger Sicherheit ab morgen beobachten. Wenn ich das Haus für eine Stunde verlasse, wird ihm das egal sein. Wenn ich aber jeden Tag von morgens bis abends abhaue, könnte er glaube, ich bereite irgendetwas vor.“ Wir nehmen eine weitere Treppe, dieses Mal endlich wieder nach oben und kommen in einem kleinen Lagerraum an. Eine verschlossene Tür ist der einzige Ausgang, wenn man nicht wieder die Treppe hinunter steigen will. „Ich kann das Pokémon trainieren“, sage ich, als wir stehen bleiben. Caro schaut mich skeptisch an. „Nichts gegen dich, aber ich habe dich noch nie kämpfen sehen. Und dein Pokémon benutzt eher passive Attacken.“ „Ich bin eigentlich ziemlich gut darin, Pokémon zu trainieren“, kontere ich, leicht gekränkt „Sku und ich sind nur ein wenig faul, aber ich weiß genau, wie ich das Beste aus einem Pokémon heraushole.“ „Uhuh.“ Sie zieht eine Augenbraue hoch. „Vielleicht solltest du der Kleinen vertrauen, Caro“, sagt Linda freundlich und lässt sich wenig elegant auf den Boden fallen, wo sie sich hinsetzt. „Du hast mir gesagt, sie hätte eine gute Beziehung zu ihrem Pokémon. Warum soll sie nicht auch ein guter Trainer sein?“ Caro schaut zwischen uns hin und her, dann seufzt sie. „Fuck, ich kann so nicht denken“, sagt sie und zieht eine Zigarette aus ihrer Hosentasche. Dann steckt sie sie an Floinks Glut an und zieht erst einmal kräftig. Der kleine Raum füllt sich zusehends mit Rauch. „Also“, sagt sie dann. „Wie würdest du mein potenzielles Pokémon trainieren?“ „Zuerst würde ich seine Basiswerte überprüfen, recherchieren, welche Attacken es auf welchem Level lernt und mir dann anhand dieser Informationen einen Attackenbuild aussuchen. Anschließend  würde ich ein gezieltes EV-Training durchführen, dass dem Build entspricht und danach das Leveltraining starten.“ Caro schaut mich perplex an und Linda lacht herzhaft und klopft ihr auf den Rücken. „Caro, Caro, vielleicht solltest du dich weniger darüber beschweren, dass andere Leute dich nach deinem Aussehen beurteilen und selber mal hinter die Fassade schauen“, sagt sie und ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. „Okay, Pokédex“, erwidert Caro nachdenklich. „Wie kann ich Robins Arkani besiegen?“ „Du brauchst ein Pokémon, dass entweder vom Typ Wasser, Boden oder Gestein ist, oder eine Attacke dieses Typs erlernen kann. Und es sollte nicht allzu anfällig gegen Feuer sein. Bei Anfälligkeit sind ein starker Angriff und hohe Initiativewerte essentiell.“ „Gut. Also ein Käfertyp mit Zweittyp Wasser, Boden oder Gestein“, sagt Caro und zieht nochmal an ihrer Zigarette. „Warum willst du unbedingt einen Käfertyp?“, frage ich und sie zuckt die Achseln. „Nur so.“ Ich verdrehe die Augen und Linda lacht.   Weil das Kaufhaus über Nacht geschlossen hat, übernachten wir mit Linda in dem kleinen Räumchen. Nachts wird es in dem Keller ziemlich kühl, deshalb ziehen Caro und ich unsere mitgebrachten warmen Sachen an. Ich weiß nicht, wofür sie ursprünglich gedacht waren, aber jetzt bin ich froh, sie dabei zu haben. Sku liegt eingerollt unter meinem Kopf und ihr Schnurren hält mich für lange Zeit wach, bevor es abnimmt und schließlich ganz aufhört. Danach schlafe ich sofort ein. Linda ist die erste, die aufwacht und sie weckt uns mit sanftem Rütteln. Als ich verschlafen die Augen öffne, kann ich ihre große Gestalt nur als Schatten über mir wahrnehmen. Als ich mich aufsetze, entdecke ich Caro nur durch den rot glühenden Punkt ihrer Zigarette. Floink entfacht erneut ein Feuer in seinem Maul und ich kann endlich wieder sehen, wo wir sind. Linda beginnt, mit einem kleinen Gegenstand in dem Schloss an der Tür herum zu stochern, dann schwingt diese quietschend auf. „Kommt“, flüstert sie und wir schleichen uns aus dem kleinen Raum heraus. Jetzt erkenne ich das Untergeschoss des Kaufhauses auch endlich wieder. Wir sind aus der Tür gekommen, die mir gestern schon aufgefallen ist. Es scheint früh genug zu sein, denn von den Maschock ist noch keines zu sehen. „Was machen wir jetzt?“, frage ich Linda, die mit einigen Schwierigkeiten über die Kisten klettert, die den Eingang zum Hauptraum versperren. „Wir warten, bis die Maschock kommen“, sagt sie und nickt in Richtung des Aufzugs. „Sie können uns nicht verraten und sind im Allgemeinen sehr ignorant Besuchern gegenüber, so lange man nicht versucht, an ihren Kistenstapeln rum zu pfuschen.“ „Das habe ich gemerkt“, murmele ich und folge ihr über die Kartons. Caro folgt und Sku taumelt hinterher. Man könnte meinen, dass sie schon wieder müde ist, aber ich weiß, dass sie sich nur vor der Bewegung drücken will. Ich seufze und rufe sie zurück in ihren Pokéball. Wir warten, bis der Aufzug runterfährt und die Maschock aussteigen und ihre Arbeit aufnehmen. Ein paar von ihnen schauen uns misstrauisch an, aber nachdem sie sichergestellt haben, dass keine Waren fehlen, legt sich ihre Aufmerksamkeit, bis wir nur noch Luft für sie sind. Nur einer von ihnen wirft mir ab und zu Blicke zu und ich glaube in ihm das Maschock von gestern erkennen zu können. Als wir von oben gedämpfte Schritte hören, steigen wir in den Aufzug und fahren ins Erdgeschoss. Linda wirkt bei Tageslicht nicht mehr ganz so dick, aber sie hat trotzdem ein beachtliches Gewicht. Ihre Kleider sind süß gehalten, genauso wie ihre Frisur. Ich kann sie mir ehrlich gesagt viel besser als Blumenladenbesitzerin vorstellen als Caro in ihren schwarzen Lederklamotten. Ihr Make-Up hat die Nacht relativ gut überstanden, aber für den Alltag ist der dicke Auftrag eigentlich nicht gemacht. Kaum steigen wir aus, richten sich alle Blicke auf uns. Eine dicke Frau mit Blümchenkleid und Mädchenzöpfen, eine in Leder und Korsett gekleidete Gothikone mit blauen Haaren und ein fünfzehnjähriges Mädchen, die am frühen Morgen aus dem Keller des Kaufhauses kommen. Wir könnten nicht unauffälliger sein. Ich scheine die einzige zu sein, die sich unwohl fühlt. Caro greift nach einer weiteren Zigarette, hält aber in der Bewegung inne. Ich folge ihrem Blick zu dem Rauchen verboten-Schild an der Mittelsäule. Sie flucht leise, dann greift sie in ihre andere Hosentasche und fördert ihre fast leere Kaugummipackung zu Tage. Sie kippt sich die restlichen ohne Umschweife in den Mund und beginnt genervt auf ihnen zu kauen. Dafür, dass sie mich für den Ticketdiebstahl nicht angeschwärzt hat, nimmt sie Rauchverbote erstaunlich ernst. Dann macht Caro sich auf den Weg zur Treppe. „Caro?“, frage ich und folge ihr. „Wo willst du hin?“ „Ich brauche neue Kaugummis, neue Zigaretten und noch ein paar andere Sachen. Geht ruhig schon mal vor.“ „Ich komme mit“, sage ich stattdessen und winke Linda, die mich anlächelt und dann das Kaufhaus verlässt. „Wo geht sie hin?“, frage ich, während ich Caro die Treppen hoch in den ersten Stock folge. „Den Laden aufmachen, Honey, was sonst?“, antwortet Caro und reibt sich über den Nacken. Dann legt sie den Kopf ein wenig schief und es knackt mehrere Male schnell hintereinander. Sie atmet erleichtert aus und wir erreichen den ersten Stock. Caro bleibt aber nicht stehen, sondern läuft weiter die Treppen hoch, bis wir schließlich das dritte Obergeschoss erreichen. Die Arzneimittelabteilung, wie das Schild neben dem Treppenaufgang uns informiert. Hier kauft Caro von dem sichtlich verunsicherten Verkäufer zehn Päckchen Zigaretten, fünf Packungen Kaugummi und Aspirin. Der Arme lässt ihr Geld fallen und Caro bläst eine ihrer Kaugummiblasen auf, lässt seine Ungeschicklichkeit jedoch unkommentiert. Trotzdem wird der Verkäufer knallrot und versteckt sich hinter einem Schleier aus braunen mittellangen Haaren und einer überdimensionalen Brille. „Bitteschön“, winselt er, als er Caro ihre Tüte reicht und zu meiner und seiner Überraschung nimmt Caro die Tüte entgegen, lächelt ihn freundlich an und bedankt sich. Während ich dem Verkäufer dabei zusehe, wie ihm eine mentale Kinnlade runterklappt, geht Caro schon zur nächsten Treppe. Ich laufe ihr hinterher und fühle mich plötzlich wie ein kleines Hündchen. Als sie sich an den TM-Stand stellt, um was auch immer zu kaufen, laufe ich ziellos in der großen Halle umher. Es ist noch fast niemand da und ein Blick auf mein Handy bestätigt, dass es gerade einmal kurz nach Sieben ist. Caro steht eine Minute später neben mir. „Willst du noch hoch?“, fragt sie. „Die verlosen da täglich Preise.“ Ich überlege kurz, dann schüttele ich den Kopf. „Ein anderes Mal vielleicht.“ Sie nickt. „Gut, dann gehen wir jetzt ins Pokécenter und treffen danach Linda im Laden.“ Dieses Mal nehmen wir den Aufzug.   Die Tür des Blumenladens steht weit offen, als wir um halb neun dort ankommen. Scherox war schwerer verletzt als wir zuerst gedacht haben und die Behandlung dauerte dementsprechend lange. Aber jetzt läuft er wieder hinter Caro her, sein Panzer ist an den Bissstellen noch nicht ganz wiederhergestellt, aber er knurrt jeden an, der seiner Trainerin zu nahe kommt. Allzu schlecht kann es ihm also nicht gehen. Als wir eintreten, steht Linda neben den Blumen und arrangiert sie. Als sie uns sieht, lächelt sie und winkt uns zu. „Hast du alles gekriegt?“, fragt sie Caro, die vage nickt und sich eine Zigarette ansteckt. „Was für eine TM hast du eigentlich gekauft?“, frage ich, nachdem sie mir einen Putzeimer in die Hand drückt, mit dem ich wohl irgendetwas putzen soll. „TM28. Für den Notfall“, erwidert sie und deutet zur Tür. „Kannst du die putzen?“ „Klar.“ Ich gehe zur Eingangstür, die weit geöffnet ist und fange an, die Glasfront mit dem Reiniger zu besprühen, bevor ich mit einem Tuch darüber wische. Caro verschwindet unterdessen in den hinteren Teil. Es dauert lange, bis sie wieder kommt und sowohl Linda als auch ich sind mit unseren Aufgaben fertig und stehen mehr oder weniger dumm in der Gegend rum. Naja, ich stehe dumm in der Gegend rum. Linda wirkt immerhin so, als wüsste sie genau, was sie tut, auch wenn sie im Grunde nichts tut. Scherox hat sich inzwischen in den Garten verzogen und liegt in der Sonne. Caro hat sich geduscht und umgezogen, denn als sie zurückkommt, trägt sie ein einfaches schwarzes Shirt, dessen rote, verlaufende Schrift von ihrer geblümten Schürze überdeckt wird. Vielleicht ist es besser so. Die Lederhose hat sie gegen einen kurzen roten Faltenrock mit schwarzer Spitze und Abnähern eingetauscht. Als sie uns unbeschäftigt sieht, zieht sie eine ihrer gezupften Augenbrauen hoch und fährt sich durch ihr nasses blaues Haar. „Linda, kannst du mir bei den Blumensträußen helfen?“, fragt sie und steckt sich ein Kaugummi in den rot geschminkten Mund. Linda nickt und kommt zu ihr. Sie passt gerade so durch die Hintertür. „Abby.“ Ich richte mich etwas auf. „Geh duschen, zieh dich um, schnapp dir was aus dem Kühlschrank, dann komm wieder runter. Bis dahin hab ich eine Bestellung fertig, die du ausliefern kannst.“ „Kein Ding.“ Dankbar schlängele ich mich an ihr vorbei, gehe die Treppe hoch in ihre Wohnung und laufe schnurstracks ins Badezimmer. Meine Klamotten sind inzwischen verschwitzt und stinken und ich werfe alles auf den Boden. Dann schnappe ich mir ein Handtuch von dem Regal an der Wand, lege es über das Waschbecken und gehe unter die Dusche. Das kalte Wasser trifft mich wie ein Schlag, aber nachdem es sich aufgewärmt hat, bleibe ich einfach nur mit offenem Mund stehen und lasse das Wasser über mich laufen. Erst später kommt mir die glorreiche Idee, meine Haare zu waschen. Fünfzehn Minuten später verlasse ich das Bad in nichts als ein Handtuch eingewickelt und mit einem Berg Wäsche in den Armen und  wende mich nach rechts in Richtung mein neues Zimmer. Gerade, als ich den kleinen Flur erreiche, kommt Scherox die Treppe hoch. Einen Moment lang schaue ich ihn entgeistert an, weil ich fast nackt bin, aber dann fällt mir ein, dass er ja ein Pokémon ist. Es ist ein merkwürdiges Gefühl mit Scherox. Er ist ein Pokémon und sieht auch wirklich nicht menschlich aus, abgesehen von der Größe und den Basisgliedmaßen. Aber die Art wie er und Caro miteinander umgehen macht ihn irgendwie menschlicher. Meistens habe ich das Gefühl, es handele sich bei ihm um Caros super eifersüchtigen Freund. Daher mein Schock. Aber Scherox schaut mich nur ausdruckslos an. Ich will schnell an ihm vorbei, aber er hebt einen Arm und hält mich davon ab, indem er mir den Weg versperrt. „Ehm, Scherox? Ich muss da lang“, sage ich vorsichtig, aber er ignoriert mich. Stattdessen hebt er jetzt auch den anderen Arm und legt seine Scheren auf meine Schultern. Ich schlucke. Dann tut er etwas, womit ich nie in meinem gesamten Leben gerechnet hätte. Er beugt sich nach vorne – und umarmt mich. Es ist eine sehr steife Umarmung, denn Scherox hat keine normalen Arme und lehnt sich im Grunde nur an mich und ich kann die Geste nicht erwidern, weil ich in der einen Hand einen Haufen Wäsche halte und mit der anderen mein Handtuch vorm Runterfallen bewahre. Nach ein paar langen, unbeholfenen Sekunden richtet sich Scherox wieder auf und, als ob nichts gewesen wäre, geht er an mir vorbei in Richtung Wohnbereich. Ich bleibe noch einen Moment verblüfft stehen, dann gehe ich in mein Zimmer. Hier angekommen packe ich meinen Rucksack aus, den ich zusammen mit meiner Wäsche herum geschleppt habe, frage mich, was es mit den warmen Klamotten auf sich hatte und ziehe mir eine blaue Shorts, ein weißes Top mit spitzenbesetzten Längstreifen und meine Sandalen an, dann flechte ich meine Haare zur Seite und fische mein Nietenhalsband und die Ohrringe aus dem Wäschehaufen. Anschließend werfe ich die gebrauchten Sachen aufs Bett und gehe in die Küche. Scherox sitzt auf dem Sofa, aber als ich den Kühlschrank öffne, schaut er plötzlich in meine Richtung und kommt dann interessiert zu mir. Immer noch unschlüssig, was ich von der Umarmung halten soll, schaue ich ihn fragend an. „Willst du auch was?“, frage ich unsicher und Scherox nickt. „Cool“, erwidere ich und wende mich wieder dem Kühlschrank zu. Er ist vollgestopft mit Gemüse, Käse, Milch, Quark und Früchten. Und Eiern. Ein ganzes Fach ist voll mit Eiern, mindestens fünfzig oder sechzig Stück. Wahrscheinlich mehr. Ich deute darauf und gucke zu Scherox. Er nickt, sein Blick gierig. Eier also. Ich hole ein Sechserpack aus dem Kühlschrank und für mich den Käse. Brot muss ich erst noch suchen, aber nachdem ich alle Schränke einmal geöffnet und eine Pfanne gefunden habe, entdecke ich auch endlich den Brotkorb. Ich bin eine ganz passable Köchin, weil ich früher immer mit Mama gekocht habe. Früher. Es ist gerade mal zwei Tage her, seit ich das letzte Mal mit ihr in der Küche gestanden habe, aber es kommt mir wie ein halbes Leben vor. Soviel ist in der Zwischenzeit passiert. Ein paar Minuten später stehen wie gestern eine große Pfanne mit Rührei und ein Haufen Käsebrote auf dem Tisch. Sku sitzt neben mir auf dem Boden und futtert Käse, Scherox vertilgt alle Eier und noch eins von den Broten und ich versuche, seine Präsenz auszublenden. Er flößt mir Respekt ein, nur wenn er da sitzt. Und gerade ist er nicht mal aggressiv oder feindlich gesinnt, so wie gestern. Ich glaube, wenn er das wäre, hätte ich in meinem Zimmer gegessen. Oder unten. Oder gar nicht. Essen wird vollkommen überbewertet. Nach dem Essen spüle ich ab, stelle das Geschirr weg und frage Sku, ob sie in ihrem Pokéball schlafen will. Sie nickt und ich rufe sie zurück. Ich werde sie am späten Nachmittag rauslassen, sonst hält sie mich wieder die Nacht über wach. Als ich runtergehe, ist die Tür zum Fuckraum weit offen und ich schiele neugierig hinein. Er ist ziemlich groß, wirkt aber durch die Werkbank, die Verpackungspapierrollen und diversen Scheren und Werkzeuge an den Wänden sehr beengt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Caro und Linda nebeneinander stehen und riesige Blumensträuße binden. Sie sind wunderschön und ich starre die beiden an. Als Linda meinen Blick sieht, lacht sie herzhaft und Caro wirft mir nur einen kurzen Blick zu. „Abby, wir sind gleich fertig. Hast du Scherox etwas gekocht?“ „Ja, hab ich. Und, wow. Das ist unglaublich.“ Ich mache eine vage Geste, die den ganzen Raum einschließt. „Wir sind Floristen, Honey, wir verstehen unser Geschäft.“ „Sie will sagen: Danke für das nette Kompliment, aber ich bin zu cool, um freundlich auf dich einzugehen“, sagt Linda und lacht wieder laut und herzerwärmend. Ich kann nicht anders als mitzulachen und Caro schaut ihre Freundin böse an. „Mach lieber deine Arbeit“, sagt sie, aber als sie den Blick auf das Gesteck senkt, kann ich einen ihrer Mundwinkel zucken sehen. Ich warte ein paar Minuten und nutze die Zeit, um in Caros Werkstatt umher zu wandern. Der ganze Boden ist mit abgerissenen Blättern und Stängelspitzen übersäht und jeder Quadratzentimeter scheint mit irgendetwas bedeckt zu sein. Ich habe keine Ahnung, was für einen Boden dieser Raum hat. „So“, sagt Caro und ich drehe mich zu ihr und Linda um. Sie wischt ihre Hände an der blauen Schürze mit dem Blumenmuster ab, das überhaupt nicht zu ihrem restlichen Outfit passt. Ihr Haar ist inzwischen getrocknet und fällt in leichten Wellen über die linke Seite ihres Kopfes. „Das Gesteck hier und der Blumenstrauß da vorne müssen an eine alte Dame geliefert werden. Sie bestellt jeden Dienstag frische Blumen für ihr Haus und normalerweise bringen ich oder Linda sie vorbei, aber sie freut sich bestimmt, ein neues Gesicht zu sehen.“ Sie holt den Blumenstrauß und verstaut ihn in einem großen Korb. Dann legt sie das Gesteck dazu. „Sei nett, sei liebenswürdig und wenn sie dich in eine Unterhaltung verwickelt, geh darauf ein.“ „Sie ist sehr einsam“, fügt Linda hinzu. „Sie freut sich jeden Dienstag auf die Blumen und ein kleines Gespräch. Leiste ihr einfach ein bisschen Gesellschaft, wärst du so gut?“ „Ja, klar.“ Ich nehme den Korb entgegen. „Wie heißt sie?“ „Karin“, antwortet Caro und bugsiert mich aus der Werkstatt in Richtung Verkaufsraum. „Sie wohnt in der Straße, die zwischen Pokécenter und Spielhalle verläuft. Du kannst ihr Haus nicht verfehlen.“ „Warum?“, frage ich und Linda grinst mich breit an. „Weil die Dukatia City-Gemeinde ein Schild vor ihrer Tür aufgestellt hat.“ „Warum würde man einer alten Frau ein Schild vor die Tür stellen?“, frage ich entrüstet und Caro schmunzelt ein bisschen, als sie mich aus der Tür schiebt. „Sie ist Bills Mutter.“ Kapitel 10: Das Leben ist zu kurz (Teezeit) ------------------------------------------- Ich finde ihr Haus genauso schnell, wie Caro versprochen hat. Es ist klein, mit roten Dachziegeln, Blumenkästen vor den Fenstern und einem großen Schild neben der Tür: Hier wohnte Bill der Pokémaniac. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment sein soll. Mit dem großen Korb in meinem linken Arm klingele ich. Ich höre drinnen Schritte, dann öffnet sich die Eichentür und eine kleine Frau schiebt den Kopf hinaus. Als sie den Korb sieht, stiehlt sich ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht und ich erwidere es herzlich. „Blumen für sie, Karin.“ sage ich fröhlich und sie zieht die Tür weit auf. Ich trete ein und schaue mich um. Alle Möbel wirken altmodisch, aber gepflegt, viel Holz, viele Gardinen und viele Blumen. Auf dem runden Esstisch, auf den Fensterbänken, auf den Regalen, auf dem Couchtisch. Überall stehen Caros Blumensträuße, klein und rund gebunden und voller bunter Farben. „Stell sie hier ab, Kleines“, sagt Karin und ich folge ihren Anweisungen und stelle den Korb auf den Esstisch. Sie streicht mit einer runzligen Hand eine graubraune Haarsträhne hinter ihr Ohr und schaut die Blumen glücklich an. „Hier ist dein Geld“, sagt sie und zieht eine rote Geldbörse aus ihrem knielangen Blümchenrock. Ihre weiße Bluse bauscht sich, während sie das Geld in meine Hand auszählt. „2000 PD wie immer, und 500 für dich“, sagt sie lächelnd und ich stecke das Geld ein. „Möchtest du einen Tee?“, fragt sie und ich nicke enthusiastisch. „Ich liebe Tee.“ Karin strahlt, dann geht sie zu der kleinen Küchenzeile und fängt an, Teewasser in einem alten Teekessel aufzusetzen, während ich mich an den Esstisch setze und ihr zuschaue. „Bist du neu bei Caro?“, fragt sie, als wir mit zwei großen Teetassen, Zucker, Milch und Keksen am Tisch sitzen. Ich schlürfe genüsslich den Pirsiftee und genieße jeden Schluck. Meine Liebe für Tee war nicht gelogen. „Sozusagen“, antworte ich und tunke einen Karamellkeks in den Tee. „Sie hat mich im Magnetzug aufgelesen und jetzt wohne ich übergangsweise bei ihr und helfe im Laden mit.“ „Und wie heißt du, Kleines?“, fragt Karin interessiert und tut noch einen Zuckerwürfel in ihren Tee. „Abbygail. Aber Abby reicht.“ „Ein wunderschöner Name“, nickt sie und trinkt einen kleinen Schluck, bevor sie ihre Hände auf dem Tisch faltet und mich betrachtet, während ich an meinem Keks knabbere. Um ihren Hals ist ein rotes Tuch gewickelt. „Sind die selbst gebacken?“, frage ich und nehme mir den nächsten Keks. Sie schmecken himmlisch. „Ja, aber nicht von mir. Leider. Meine Backkünste sind eher unterirdisch.“ Sie kichert und klingt dabei wie ein kleines Schulmädchen. „Von wem denn?“, frage ich neugierig. „Eine Freundin meines Sohnes hat sie gebacken. Sie ist Konditorin und bringt mir jeden Sonntag frische Plätzchen, weil sie weiß, wie gerne ich Kekse zum Tee esse. Margret. Sie ist eine wundervolle junge Frau. Genauso wie Caroline.“ Ich nicke und schiebe mir den nächsten Keks in den Mund. „Margret war mit Carolines älterer Schwester befreundet, daher kennt Bill sie“, fährt Karin fort und schaut verträumt in ihre Teetasse. „Als dieser schreckliche Unfall passierte, ist sie allerdings lange Zeit nicht mehr her gekommen.“ „Welcher Unfall?“, frage ich und halte in meiner Bewegung inne, die Teetasse auf halbem Wege zu meinem Mund. „Du weiß es nicht?“, fragt Karin. „Ah, aber du kennst Caroline schließlich erst seit ein paar Tagen. Vielleicht sollte sie es dir lieber selber sagen.“ „Caro erzählt nicht viel von sich aus“, sage ich und Karin lacht. „Ja, da hast du wohl Recht“, stimmt sie mir zu. Sie nimmt noch einen Schluck Tee, dann stellt sie die Tasse ab und faltet wieder ihre Hände. „Es war vor fünf Jahren. Bill war schon immer in Carolines Schwester Eva verliebt, musst du wissen“, Eva? War der Name nicht in Caros Telefonbuch eingespeichert? „Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, wie sie da inmitten ihrer Blumen stand, mit dem gelben Sonnenhut und dem gelben Kleid. Sie war liebenswert, lebhaft, freundlich… Eine wundervolle Person. Ihr gehörte der Blumenladen. Caro und ihr kleiner Bruder lebten damals noch bei ihren Eltern gegenüber vom Fahrradladen. Eines Tages wagte mein Sohn es endlich, Eva anzusprechen, aber sie wollte zunächst nichts von ihm wissen. Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Eva liebte die Natur, speziell Blumen und war kein Pokémontrainer. Und dann war da Bill, der den lieben langen Tag in seinem Zimmer saß, an allen elektrischen Geräten herumbastelte, die er in die Finger bekam und seine eigenen Programme für den Computer entwickelte. Und er hatte diese Faszination mit Evoli und seinen Entwicklungen. Er war ein Pokémaniac durch und durch.“ Sie seufzt und betrachtet ihre Finger. „Sei es wie es war, eines Tages verabredeten die beiden sich freundschaftlich und Eva brachte ihre beste Freundin Margret mit. Bill erzählte mir, dass die beiden die ganze Zeit nur kicherten und er sich sehr unwohl fühlte, aber irgendetwas scheint diese Verabredung bewirkt zu haben, denn Eva und Bill trafen sich danach immer häufiger, auch alleine und schließlich wurden sie ein Paar. Eva besuchte uns oft und weil sie und Margret unzertrennlich waren, kam ihre Freundin auch oft her. Ich verstand mich wunderbar mit ihr und tue es heute noch.“ Ihr Gesicht nimmt einen schmerzhaften Ausdruck an. „Dann geschah es. Ich weiß noch ganz genau, was damals passierte. Bill wollte Eva heiraten. Er hatte einen Ring gekauft und war aufgeregter als ein junges Pokémon. Wir alle wussten, dass er um Evas Hand anhalten wollte und wir warteten nur noch auf ihre Rückkehr aus Kanto, wo sie seltene Blumensamen kaufen wollte. Aber sie kam nie an.“ Karins Stimme erstickt und sie wischt sich über die Augen. „Das arme Mädchen“, flüstert sie. „Sie war noch so jung. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich.“ „Was ist passiert?“, frage ich tonlos. „Der Magnetzug wurde überfallen. Sie saß ungünstig und wurde von einem der Verbrecher als Geisel genommen. Als einer der Passagiere heimlich die Polizei anrief, bemerkten ihre Geiselnehmer das und erschossen sie als Bestrafung, bevor die Polizei den Zug stürmen konnte. Der arme Mann war danach traumatisiert. Er wollte etwas Gutes tun, aber es kostete Eva das Leben. Ich glaube, er hat sich das nie verziehen.“ Karin schweigt, dann nimmt sie einen großen Schluck Tee und isst noch einen Keks. Mir ist der Appetit vergangen. „Bill war am Boden zerstört“, fährt sie nach einiger Zeit fort. „Er ertrug die Erinnerungen an sie in dieser Stadt nicht und reiste durch die Regionen. Er kommt kaum noch zu Besuch, meist telefonieren wir. Nur Margret ist nach ungefähr einem Jahr wieder gekommen. Jetzt besucht sie mich jeden Sonntag und gemeinsam halten wir Evas Andenken am Leben.“ „Und Caro?“, frage ich. „Sie übernahm den Blumenladen. Ich glaube, ursprünglich hatte sie andere Pläne, aber nach Evas Tod war es für sie keine Frage, dass sie das Lebenswerk ihrer Schwester weiterführen würde. Jetzt ist sie eine anerkannte Floristin und jeder in Dukatia City kennt sie. Manchmal bestellen sogar Kunden aus anderen Städten bei ihr. Aber sie erwähnt Eva nicht. Mit keinem Wort.“ Karin schließt die Augen und nimmt einen weiteren Schluck Tee, dann schaut sie mich an. „Ich glaube nicht, dass es die beste Möglichkeit ist, mit dem Verlust umzugehen, aber es ist Caros Weg und ich habe kein Recht, sie dafür zu verurteilen. Aber Evas Tod hat ein tiefes Loch in all unsere Herzen gerissen und ich weiß nicht, ob wir es je ganz füllen können.“ Ich nicke und starre in meine fast leere Teetasse. Dann trinke ich den inzwischen kalten Rest in einem Schluck. „Kann ich noch einen Tee haben?“, frage ich und Karin lächelt mich an, dankbar für den Themenwechsel. Sie holt die Teekanne und gießt nach. „Nachdem Eva tot war, gab Bill mir seine beiden Evoli. Er behielt ihre entwickelten Kinder, aber die Eltern gab er mir. Ich sollte mich um sie kümmern, bis er zurück sei. Er ist nicht mehr zurückgekehrt, aber ich kümmerte mich trotzdem um die Beiden und eines Tages bekamen sie ein Junges. Es schlüpfte aus einem Ei und war das niedlichste kleine Pokémon, das ich je gesehen hatte. Einige Zeit später besuchte Margret mich wieder und wir begannen, uns regelmäßig zu treffen. Schließlich erzählte sie mir, dass ihre Nichte Ronya aus Sinnoh vorhatte, ihre Pokémonreise aufzugeben, weil sie nicht das gleiche Starterpokémon wie die anderen Kinder haben wollte. Ich erzählte ihr von dem kleinen Evoli, das erst vor einigen Monaten geschlüpft war und sie fragte mich, ob ich es an ihre Nichte abgeben würde.“ „Und?“, frage ich neugierig und sippe an meinem Tee. „Ich habe es ihr gegeben. Was soll ich hier mit drei Evoli?“ Sie lacht und nimmt sich noch einen Keks. „Dann, vor einem Jahr, hatte ich wieder ein Ei auf meinem Sofa liegen.“ „Nicht wahr!“, rufe ich begeistert und Karin lacht. Ich bin froh, dass die gedrückte Stimmung vorerst vorüber ist. „Doch. Also habe ich es einem Freund in Prismania City geschenkt, aber er sagte, er komme mit der Kleinen nicht gut klar. Jetzt ist sie die meiste Zeit in einem Pokéball.“ Sie lächelt traurig. „Ich würde sie ja gerne wieder zurücknehmen, aber ich bin alt und ich glaube nicht, dass ich mit einem Energiepaket wie ihr mithalten könnte.“ „Wo sind ihre Evoli?“ frage ich und sie deutet nach oben. „Sie schlafen in Bills altem Zimmer. Sie lieben seinen Geruch. Es hat sie sehr verletzt, als er sie zurück gelassen hat. Ein Pokémon bindet sich an seinen Trainer, wenn es viel Zeit mit ihm verbringt. Sie dulden mich und lassen sich von mir streicheln, aber sonst…“ „Caro hat ein gutes Gespür für Pokémon und ihre Beziehung zu ihrem Trainer“, sage ich und Karin nickt. „Warum ist das so?“ „Ich weiß es nicht“, antwortet Karin und faltet wieder ihre Hände. „Es liegt wohl in der Familie. Schon Eva war so. Sie schaute dein Pokémon an und konnte dir genau sagen, was es für dich empfindet.“ Wir schweigen wieder, während wir unseren Tee süffeln und Kekse essen. Plötzlich schaut Karin auf die Uhr und steht aufgeregt auf. „Die Nachrichten fangen gleich an“, sagt sie fröhlich und geht zu dem alten Radio auf dem Küchenschrank. „Auch eine alte Frau muss sich auf etwas freuen können.“ Sie schmunzelt und ich lache. „So alt sehen sie nicht aus“, versichere ich ihr und sie schaut mich strahlend an. „Tatsächlich?“, fragt sie glücklich und posiert ein wenig, woraufhin ich laut lache. „Man soll es ja nicht meinen, aber in meiner Jugend war ich eine Kimonotänzerin in Teak City. Ich war die Schönste von allen und hatte die meisten Verehrer.“ Sie klimpert mit den Wimpern, aber als sie wieder ernst wird, kann ich ihren nachdenklichen Blick sehen. Sie sehnt sich nach ihrer Jugend, glaube ich. Sie schaltet das Radio an und Musik klimpert uns in metallischer Tonqualität entgegen. Sie setzt sich wieder und kurze Zeit später folgt die charakteristische Tonfolge und eine männliche Stimme meldet sich zu Wort.   „Es ist 13:00 und wir melden uns mit den Mittagsnachrichten. Daniel, was tut sich in der Welt?“ „Einiges, und zu meinem Bedauern nicht viel Gutes. Team Rocket ist erneut gesichtet worden und wir alle fragen uns: Wie lange wird es dauern, bis wir wieder mit einem ihrer teuflischen Pläne rechnen müssen? Noah Reynes verkündete bereits, dass er wie Red und Gold vor ihm für seine Generation einstehen und Team Rocket aufhalten werde, aber noch wissen wir nichts. Die Polizei meldet aber täglich neue Verbrechen und es scheint, dass Team Rocket sich langsam wie ein Geschwür über ganz Kanto ausbreitet. Wir können nur hoffen, dass es bald handfeste Beweise gegen diese Verbrecher gibt, denn sonst weiß niemand, was passieren wird. Ich erinnere sie noch einmal daran, Team Rocket ist es vor zwölf Jahren gelungen, die Silph Co, das am besten bewachte Gebäude Kantos, unter seine Kontrolle zu bringen, genauso wie drei Jahre später unseren Radioturm in Johto. Beide Mal sind wir um ein Haar einer Katastrophe entgangen und ich will nicht in Noahs Haut stecken, wenn er sich der gesamten Organisation widmen muss! Bisher gab es keine Berichte von Team Rocket-Sichtungen in Johto, aber wer weiß. Wir wollen nichts heraufbeschwören, aber was war, kann wieder passieren. Der ominöse Jugendliche ist mehrere Male gesichtet worden und scheint tatsächlich Teil Team Rockets zu sein. Was ein Kind in dieser Organisation zu suchen hat, ist uns bis auf weiteres nicht klar, aber Officer Rockeys Spezialeinheit ist allen Hinweisen dicht auf der Spur. Die gute Nachricht des Tages: Gold ist wieder in Johto! Gerade zwanzig geworden, ist er heute von seiner Reise durch alle Regionen zurückgekehrt und er sitzt hier neben mir! Gold, du siehst gut aus.“ „Danke, Daniel. Du auch.“ „Oho, vielen Dank! Gold, du hast Team Rocket vor neun Jahren zum zweiten Mal zerschlagen. Was sagst du zu ihrem dritten Comeback?“ „Ich kann nur sagen, was alle denken. Ich wünschte, sie würden in das Loch zurück kriechen, aus dem sie gekommen sind. Sie sind eine Organisation, die Pokémon missbraucht und Menschen Unrecht zufügt und ich werde mich mit Noah in Verbindung setzen, sobald ich einige private Angelegenheiten geregelt habe. Ich schwöre, dass wir Team Rocket auch ein drittes Mal besiegen werden.“ „Sie haben es gehört, liebe Zuhörer. Gold, gibt es Neuigkeiten von Red? Blue hüllt sich weiterhin in eisiges Schweigen.“ „Leider kann ich dazu auch keine Auskunft geben, Daniel. Aber er trainiert wie ein Besessener an einem Ort, der für Normalsterbliche nicht zugänglich ist.“ „Wie geht es deinen Pokémon, Gold? Sind sie fit?“ „Fitter denn je. Team Rocket wird seine Rückkehr schon sehr bald bereuen. Es gab lange keine Generation mit so vielen talentierten Trainern.“ „Da hat er Recht, liebe Zuhörer. Gold, welcher unserer vier Favoriten ist deiner Meinung nach der Stärkste?“ „Das kann ich nicht beurteilen, ich habe noch keinen von ihnen live kämpfen sehen. Außerdem ist jeder Kampf anders. Letztendlich entscheidet die Siegesquote, wie gut ein Trainer wirklich ist.“ „Und was hältst du von Noah Reynes, dem amtierenden Champion?“ „Ich zähle Noah zu den besten Trainern der letzten Jahre, aber wie ich immer sage: Jeder Trainer, mag er auch noch so gut sein, wird eines Tages einen Trainer treffen, der besser ist.“ „Wer war es bei dir, Gold?“ „Ich würde dir sehr gerne von ihm berichten, aber dann wird Alfred mich köpfen. Wenn du es wissen willst, schalte am Sonntag um 20:15 Uhr bei PCN ein.“ „Jetzt kann ich das Wochenende nicht mehr erwarten! Und damit verabschieden wir uns, liebe Zuhörer. Gold, möchtest du noch ein paar letzte Worte loswerden?“ „An alle Trainer da draußen, gebt nicht auf. Was immer ihr euch als Ziel gesetzt habt, haltet daran fest, glaubt an euch selbst und eure Pokémon und verfolgt es hartnäckig und mit all eurer Kraft. Eines Tages werden sich eure Anstrengungen auszahlen.“   Die Tonfolge ertönt, dann plätschert wieder Musik aus dem Radio. Karin und ich sitzen ganz still am Tisch und trinken unseren Tee. „Die Radiosendung wurde nicht zufällig live im Radioturm aufgenommen?“, frage ich unschuldig und Karin schlürft an ihrer Tasse. „Doch, doch.“ Ich springe auf, nehme die Blumen aus dem Korb und reiße ihn vom Tisch. „Ich muss weg. Ich komme morgen wieder!“, rufe ich Karin noch zu, dann renne ich aus der Tür und sprinte die Straße hoch Richtung Pokécenter, biege an der Hauptstraße zweimal links ab und stehe schließlich keuchend vor dem Radioturm. Ich bin nicht die Einzige. Eine riesige Schlange hat sich vor dem Eingang gebildet und versucht verzweifelt, Einlass zu erhalten, aber vor der Tür stehen zwei schwarz gekleidete Bodyguards mit Sonnenbrille und Headset und halten die Kinder und Jugendlichen mit ausgestreckten Armen zurück. Ich bleibe etwas abseits stehen und warte. Wenn Gold den Turm in nächster Zeit verlassen will, muss er entweder den Vordereingang benutzen, oder es gibt einen Geheimausgang und ich werde ihn nicht zu Gesicht bekommen, selbst wenn ich mich anstelle. Ich warte fast eine halbe Stunde, bevor sich die Situation verändert. Die Bodyguards gehen langsam nach vorne und machen den Eingang frei. Eine Gestalt tritt ins Licht und ich bekomme Schnappatmung. Gold. Er ist größer als ich erwartet hätte und als er seine Fans sieht, hebt er die Hand und lächelt. Ich muss mich sehr davon abhalten, nicht wie die anderen los zu kreischen. „Schaltet am Sonntag ein“, sagt er laut, um über das Geschrei gehört zu werden, dann schlängelt er sich hinter seinen Bodyguards vorbei, die immer noch versuchen, seine Fans von ihm fern zu halten. Er trägt eine Jeans, ein legeres, weißes Hemd, eine lose Krawatte mit Goldstreifen und eine schwarzgelbe Cappi. Sein schwarzes Haar schaut durch den Spalt an der Mütze heraus und weht fröhlich im Wind. Er wirft einen Pokéball in die Luft und alle halten ihren Atem an. Der rote Lichtblitz schießt hoch in die Luft, wo er gigantische Ausmaße annimmt. Dann materialisiert sich Golds Pokémon. Riesige, weiße Schwingen, die wie große Hände aussehen, schlagen gegen den schwülen Sommerwind und ich kann den Windstoß, den sie erschaffen, selbst aus vielen Metern Entfernung spüren. Der runde blaue Bauch senkt sich langsam, als das Lugia zu Boden gleitet, sein schnabelartiges Maul öffnet sich und ein lautes, tiefes Kreischen dringt an meine Ohren. Die weißen Füße setzen mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf und sein mit blauen Hornplatten besetzter Schwanz schlägt hin und her, als es den langen Hals neigt und seinen Kopf auf Golds Höhe bringt. Es muss über fünf Meter lang sein, allein sein Kopf ist schon größer als Golds gesamter Oberkörper. Er tätschelt den Hals des legendären Pokémon, dann schwingt er sich geübt auf seinen Rücken, wo die Hornplatten auf seiner Wirbelsäule beginnen und hält sich in dem dichten weißen Gefieder fest, das fast wie eine silbrig glänzende Haut wirkt. Dann hebt Lugia seine Schwingen und schlägt mehrere Male, bevor es sich langsam in die Höhe hievt. Gold winkt seinen Fans, die mit ihren Handys ein Foto nach dem anderen schießen und ich verdamme mich dafür, dass ich meins bei Caro gelassen habe. Verdammt, verdammt, verdammt! „GOLD!“, schreie ich und obwohl er schon viele Meter über unseren Köpfen ist, dreht er sich zu mir um und schaut mich an. „DANKE FÜR ALLES!“ Ich bin nicht sicher, ob er mich verstanden hat, aber er zieht seine Mütze und verbeugt sich. Dann ruft er in gleicher Lautstärke zurück. „KEINE URSACHE!“ Lugia nimmt Geschwindigkeit auf und fliegt davon. Innerhalb weniger Sekunden ist Gold in Richtung Meer verschwunden und ich kann nur noch einen kleinen weißen Fleck am Horizont erkennen. Als ich den Blick senke, entdecke ich an die fünfzig Fans, die mich mit Blicken aufspießen, die von bewundernd bis tödlich reichen, also nehme ich die Beine in die Hand und renne so schnell ich kann zurück zu Caros Blumenladen.   Ich erreiche ihn, ohne von der Fan-Meute verfolgt zu werden, was ich mir als ziemlichen Erfolg anrechne. Bevor ich eintrete, muss ich tief durch atmen. Ich habe mit Gold gesprochen. Und er hat geantwortet. Ich unterdrücke ein Quietschen, dann betrete ich den Verkaufsraum. Der Ventilator an der Decke läuft auf Hochtouren, trotzdem staut sich die Hitze. Es stehen zwei Kunden im Laden, die eine unterhält sich mit Linda, die ihr Ratschläge für irgendein Gesteck gibt, die andere begutachtet die fertigen Blumensträuße. Caro ist nirgends zu sehen. Ich gehe durch den Raum und durch die Tür am anderen Ende, dann betrete ich Caros Werkstatt. Wie erwartet arbeitet sie an einem großen Blumenstrauß, vielleicht für die zweite Frau. Als sie mich sieht, nickt sie mir wortlos zu. Ich stelle den Korb auf einen freien Tisch, dann lehne ich mich an Caros Werkbank. „Und?“, fragt sie, während sie die Blumen mit Draht an ihrer jeweiligen Stelle befestigt. „Sie ist sehr nett. Ich hab ihr versprochen, morgen wieder zu kommen“, antworte ich und schaue ihr bei der Arbeit zu. „Habt ihr euch ausgiebig unterhalten?“ „Ja, über eine Stunde“, sage ich. „Dann haben wir die Nachrichten gehört.“ „Die 13:00 Uhr Nachrichten?“, fragt Caro und zieht eine Augenbraue hoch, ohne mich anzusehen. „Sind die nicht schon eine Stunde her?“ „Ich wollte Gold sehen. Er war gerade im Radioturm, also bin ich hin und habe auf ihn gewartet.“ Caro schaut mich skeptisch an. „Er ist so alt wie ich. Lass lieber die Finger von ihm.“ „Ich habe einen Satz mit ihm gesprochen, Caro! Ich bin einfach ein großer Fan von berühmten Pokémontrainern, das ist alles.“ „Unfug“, murmelt Caro, während sie auf einem Kaugummi herum kaut. „Und? Hast du etwas Interessantes bei Karin erfahren?“ „Ach, dies und das.“ Caro wirft mir einen kurzen Blick zu. Dann widmet sie sich wieder den Blumen. „Dann ist gut“, sagt sie. Könnte Caro… gewollt haben, dass ich von Karin über ihre Vergangenheit erfahre? Hat sie vielleicht sogar damit gerechnet? Ich kann es eigentlich kaum glauben, aber Caros prüfender Blick geht mir nicht aus dem Kopf. Warum? Damit sie nicht selbst über Eva reden muss, denke ich sofort. Ich ringe einen Moment lang mit mir, weil ich sie unbedingt nach Eva fragen will, aber ich halte mich zurück. Caro redet nicht über Eva, das hat Karin gesagt. Es wäre unfair von mir, sie dazu zu zwingen. Aber ich will wissen, ob sie wirklich wollte, dass ich es so erfahre, also gehe ich einen Schritt weiter. „Danke für dein Vertrauen“, sage ich. Das kann man auch auf den Lieferauftrag beziehen. „Du hast es dir verdient“, erwidert sie. „Du hast gestern ziemlich schnell geschaltet. Ohne deine Hilfe wären wir vielleicht nicht heil da raus gekommen. Und du hast Scherox vor weiterem Schaden bewahrt.“ Sie lacht leise. „Außerdem hab ich doch schon gesagt: Das Leben ist zu kurz, um auf etwas zu warten.“ Ich schlucke. Caros Finger zittern, als sie die Blumen bindet. Sie versucht es zu verstecken, indem sie nach der Kaugummipackung tastet und sich ein neues in den Mund schiebt, aber sie lässt es fallen und es landet auf der Werkbank neben den Blumen. Ich zögere, dann umarme ich sie von hinten. Sie versteift sich, aber dann löst sich ihre Anspannung und ich kann spüren, wie ihre Atmung ruhiger wird. Als ich sie etwas später loslasse und anschaue erwarte ich, dass sie weint, aber ihre Augen sind trocken, so wie immer. „Zurück an die Arbeit“, sagt sie mit heiserer Stimme und ich nicke, dann verschwinde ich aus ihrer Werkstatt. Ich glaube, diese Seite von Caro kennen nur wenige. Und es macht mich plötzlich unglaublich glücklich, dass ich an dieser Caro teilhaben kann, auch wenn es eine traurige, verletzliche Caro ist.   Eine Stunde später verabschieden Caro und ich uns von Linda, die den Laden für den Rest des Tages übernimmt und machen uns auf in Richtung Nationalpark, wo das Käferturnier stattfindet. Ich habe meine Inliner angezogen und mein Handy eingesteckt. Ich will nicht noch mal eine einmalige Situation auf diese Weise verpassen. Während wir über den gepflasterten Weg gehen beziehungsweise rollen, erklärt Caro mir die Regeln. „Jeder Teilnehmer erhält zwanzig Parkbälle und muss alle seine Pokémon bis auf ein einziges an einen der Wärter übergeben. Dann haben alle Teilnehmer zwanzig Minuten Zeit, um ein möglichst starkes und seltenes Käferpokémon innerhalb des Parks zu fangen. Man darf nur das zuletzt gefangene behalten und zur Bewertung übergeben. Die Juroren analysieren die Pokémon dann auf ihre Werte und der Gewinner ist der mit den meisten Punkten.“ „Und warum fängst du dir nicht einfach woanders ein Käferpokémon? Du musst ja nicht unbedingt an einem Wettbewerb teilnehmen.“ „Speziell für die Turniere lassen sie hier seltene Käferpokémon ins Gras. Sie werden nach dem Wettbewerb wieder eingesammelt. Deshalb findest du hier die besten Käferpokémon der Umgebung. Schlitzer habe ich hier gefangen, als er noch ein Sichlor war.“ „Ah“, sage ich. Dann kommt der Nationalpark in Sicht. Von Wald umsäumt ist der runde Park wirklich schön angelegt. In der Mitte plätschert eine riesige Fontäne, die die Luft ein wenig abkühlt und kreisförmig um den Brunnen sind zwei Wiesen angelegt, das Gras in jeder so hoch, das es einem ausgewachsenen Menschen bis zu den Hüften geht. Weil die umrundende Wiese nicht durchgängig ist, sondern links und rechts einen waagerechten Durchgang freilässt, sieht das Ganze von oben wie ein großer Pokéball aus. Nach rechts führt ein kleines Durchgangshäuschen auf die nächste Route. „Ich werde mich jetzt registrieren. Willst du auch mitmachen?“, fragt Caro, aber ich schüttele den Kopf. „Mach´s dir hier irgendwo bequem, ich bin gleich wieder da.“ Ich gehe zu der Fontäne und setze mich auf den Rand, dann lasse ich Sku raus. Sie blinzelt in das helle Sonnenlicht, dann springt sie wenig elegant zu mir auf den Brunnen und legt sich dort hin. Sie schließt sofort die Augen und ich seufze. Zehn Minuten später kommt Caro wieder. Sie hat eine Stofftüte in der Hand mit nummerierten Taschen für die Parkbälle. Scherox´ Pokéball liegt locker in ihrer anderen Hand. Sie ist nicht die einzige Teilnehmerin, wie es scheint. Hinter ihr laufen vier weitere aufgeregte Trainer, die meisten mit Fangnetzen bewaffnet und kaum älter als ich. Caro ist in hervorragender Gesellschaft und als sie mich mit leidendem Gesichtsausdruck ansieht, kann ich nicht mehr und pruste los. „Ich werde heute das coolste Pokémon aller Zeiten fangen!“, ruft das einzige Mädchen der Gruppe mit zwei roten Zöpfen und einer Sommersprossen übersäten Stupsnase. „Niemals!“, sagt einer der Jungs und stemmt die Hände in die Hüften. „Ich werde das beste Pokémon aller Zeiten fangen. „Quatsch“, sagt der nächste und stülpt seinem Freund sein Käfernetz über den Kopf, woraufhin dieser erschrocken quietscht. Die anderen drei halten sich die Bäuche vor Lachen. Caro kommt zu mir rüber und streicht Sku über den Kopf. Sie öffnet nur ein Auge, dann schließt sie es wieder und lässt Caro gewähren. „Sie ist eher der faule, verfressene Typ, oder?“, fragt Caro und ein seltenes Schmunzeln stiehlt sich in ihre Mundwinkel. „Wer, Sku? Neeeeein“, sage ich langgezogen und lache. Sku hebt den Kopf und schaut mich beleidigt an. „Ich hab dich trotzdem lieb“, beruhige ich sie und strecke ihr die Zunge raus. Sie verdreht die Augen, dann bettet sie ihren Kopf wieder auf ihre Vorderpfoten und, um zu zeigen, dass ich sie nicht im geringsten interessiere, legt sie ihren Schweif dekorativ über ihren Kopf. Dann erscheint ein Wärter. Er ruft die Turnierteilnehmer zu sich und Caro zwinkert mir zu, dann bauscht sie ihr blaues Haar auf und folgt den Kindern zu dem jungen Mann, der ein Klemmbrett in den Händen hält. Der Wärter redet kurz mit ihnen, dann schwärmen die fünf aus und verschwinden im hohen Gras. Die Geräusche von Kämpfen dringen an meine Ohren, aber ich bleibe, wo ich bin. Ich bin nicht sicher, ob Nicht-Teilnehmer während des Turniers überhaupt das hohe Gras betreten dürfen. Wegen der Hitze ziehe ich meine Inliner aus und stelle sie neben mich auf den Boden. Dann hole ich mein Handy aus meiner Gürteltasche und fotografiere Sku. Zufrieden mit dem Bild lege ich das Handy neben mich auf den Fontänenrand und suche nach Caros blauem Haar. Sie ist weit weg, ihr Scherox ein grellroter Signalposten im grünen Gras. Ich greife nach meinem Handy, um den Kontrast einzufangen – und greife ins Leere. Verwirrt drehe ich mich um und schaue auf den Fontänenrand. Mein Handy ist nicht mehr da. Ich stehe auf und schaue mich um. Kein Trainer weit und breit, alle sind mit dem Turnier beschäftigt. Dann höre ich ein Geräusch. Ich schaue nach unten. Direkt neben mir steht ein kleines Habitak, mit meinem Handy im Schnabel. Als es sieht, dass es entdeckt worden ist, hüpft es ein paar Mal wild auf und ab, dann rennt es davon. „Hey! HEY!“, schreie ich, dann renne ich los und dem Habitak hinterher. Ich habe keine Chance. Kapitel 11: Pandoras Scheu (Ich werde lachen) --------------------------------------------- Ich verfolge das Habitak für fast zehn Minuten. Ab und zu bleibt es stehen und dreht sich wild hüpfend zu mir um, dann, wenn ich gerade in Reichweite komme, flattert es wild fiepend davon und schlägt ein paar Haken, bis es mich abgehängt hat. Als ich mich schließlich völlig erledigt auf meine Knie stütze und leise vor mich hin fluche, setzt sich etwas auf meinen Rücken. „Was zum-“, flüstere ich genervt und richte mich auf. Ein Fiepen, dann ein Kratzen auf meinem Rücken und ein Picken auf meinen Kopf. „Au!“, rufe ich und schlage nach dem Habitak, das sich auf meiner Schulter niedergelassen hat. Es weicht geschickt aus und ich treffe ins Leere. „Wenn ich dich in die Finger kriege…“, drohe ich und schlage wild um mich. Als ich schwer atmend aufhöre, kann ich das Habitak ein paar Meter vor mir sitzen sehen, den Kopf belustigt schief gelegt. Ich lasse die Arme sinken und wir starren uns an. „Okay“, sage ich niedergeschlagen. „Okay. Du hast gewonnen. Behalt es.“ Dann drehe ich mich um und schlurfe zurück zur Fontäne. Ich bin keine zwei Meter gegangen, da höre ich ein lautes Flattern und das Habitak sitzt schon wieder auf meiner Schulter. Ich schlage halbherzig nach ihm, aber treffe nicht. „Mach doch was du willst“, fluche ich und setze mich wieder auf den Brunnenrand. Sku hat sich keinen Millimeter gerührt. Habitak pickt gegen meinen Kopf. „Was willst du, Idiotenvogel?“, frage ich laut und der Wärter mit dem Klemmbrett wirft mir einen komischen Blick zu. „Und wo ist mein Handy?“ Das Habitak beugt sich nach vorne und schaut mich von der Seite her an. Dann kreischt es freudig, hopst von meiner Schulter runter und rennt davon. Erleichtert schwinge ich meine Beine über den Fontänenrand und lasse meine Füße ins kalte Wasser gleiten. Ich seufze und suche nach Caros blauroten Signalfarben, die sie im Gras leicht ausfindig machen lassen. Ich entdecke sie weit hinten, ganz abseits von den anderen Teilnehmern. Sie scheint gegen ein Pokémon zu kämpfen, aber ich kann nur zwei Spitzen aus dem Gras hervorlugen sehen. Hinter mir höre ich tippelnde Schritte und ich drehe mich entnervt um. Es ist das Habitak. Und es hat mein Handy im Schnabel. Ich schaue es misstrauisch an, aber es legt nur den Kopf schief, dann hüpft es ein paar Mal in meine Richtung und lässt das Handy vor mir zu Boden fallen. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, dann beuge ich mich ganz langsam nach unten, während ich ununterbrochen das Habitak beobachte. Im letzten Moment packe ich das Handy blitzschnell und lasse es sofort in meiner Gürteltasche verschwinden. Habitak krächzt mich gut gelaunt an, dann flattert es hoch und landet auf meiner Schulter. „Ehm. Danke, schätze ich“, sage ich und streichle ihm über den Schnabel, was dem Vogelpokémon und glückseliges Gurren entlockt. „Auch wenn du es mir überhaupt erst geklaut hast.“ Habitak keckert und reibt seinen kleinen Kopf an meine Wange. „War dir langweilig?“, frage ich und es reibt sich noch enger an mich. Sku macht ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Schnauben und Kichern klingt und ich ziehe ihr liebevoll am Ohr, woraufhin sie mich kritisch mit einem Auge mustert. Ein paar Minuten später pfeift der Wärter in die Pfeife, die um seinen Hals hängt und die Kampfgeräusche verklingen. Caro ist die letzte, die sich neben dem Wärter einfindet und ihm einen der Parkbälle und die Tüte zurückgibt. „Und, warst du erfolgreich?“, frage ich, als sie und Scherox sich neben uns auf dem Fontänenrand niederlassen. Die Kinder beginnen unterdessen eine angeheizte Spekulationsrunde und tauschen ihre Fänge miteinander aus. Ihre Stimmen schwappen zu uns hinüber, aber ich blende die Worte aus. Caro antwortet nicht, sie zieht eine Zigarette aus ihrer Tasche und nimmt erst mal einen tiefen Zug, dann entdeckt sie Habitak, das immer noch auf meiner Schulter sitzt. „Freund von dir?“, fragt sie und pustet dem Vogelpokémon einen Rauchring ins Gesicht. Es hustet und sträubt das Gefieder, woraufhin Scherox laut knurrt. Habitak entdeckt das rote Käferpokémon, kreischt und flattert davon. „Nicht wirklich“, sage ich und kraule Skus Kopf. „Er hat mein Handy geklaut und sich danach auf mich drauf gesetzt.“ „Hast du dein Handy wieder?“, fragt Caro und ich zeige es ihr als Antwort. Sie nickt und wir schauen den Kindern zu, die sich gegenseitig anschreien und freundschaftlich schubsen. „Ich war erfolgreich“, antwortet Caro schließlich und Scherox schnaubt und schaut zur Seite. „Sei nicht eifersüchtig“, beruhigt Caro ihn und krault seinen Hals. „Du wirst immer der einzige in meinem Leben sein.“ Scherox knurrt leise, aber es klingt nicht unversöhnlich. „An alle Teilnehmer des Käferturniers!“, erschallt es plötzlich aus einem Lautsprecher an dem Nationalparkeingang weiter südlich. „Bitte findet euch am Schalter ein, an dem ihr euch angemeldet habt. Ich wiederhole. Alle Teilnehmer des Käferturniers, bitte-“ „Dann mal los“, sagt Caro über die Stimme des Wärters hinweg und wir stehen auf. Sku schaut mich entsetzt an, als könne sie nicht fassen, dass ich von ihr verlange, aufzustehen. „Na komm“, sage ich und klatsche in die Hände. „Fette Pokémon brauchen Bewegung.“ Skus Schwanz peitscht langsam von einer Seite zur anderen, dann erhebt sie sich mühsam, springt von der Fontäne und landet auf allen Vieren. Ihr Bauch streift fast den Boden. Dann setzt sie sich in Bewegung und trottet unmotiviert hinter uns her. Ich schnappe mir meine Inliner, binde die Schnürsenkel zusammen und hänge sie mir um den Hals. Gemeinsam folgen wir den Kindern In Richtung Warthaus. Es ist größer als die üblichen und hat drei statt zwei Türen. Der Wärter steht bereits mit seinem Klemmbrett vor dem kleinen Siegertreppchen, das man in unserer Abwesenheit aufgebaut hat. Er überreicht jedem der Teilnehmer einen Turnierball, dann räuspert er sich und schaut uns an. „Den dritten Preis des heutigen Käferturniers belegt… Joshua mit einem männlichen Kokuna und 285 Punkten! Gratulation, Joshua! Dein Preis ist diese wunderschöne Tsitrubeere.“ „Wuhu!“, ruft Joshua, der Junge, der seinem Freund zuvor das Käfernetz über den Kopf gestülpt hat. Er springt auf das Treppchen, nimmt die Beere und den Turnierball entgegen und küsst beides. „Den zweiten Platz mit 302 Punkten hat erreicht… Max mit einem weiblichen Bluzuk! Gute Arbeit, Max!“ Max, der einzige Junge, der sich während der Plänkeleien seiner Freunde zurück gehalten hat grinst schüchtern und stellt sich auf den zweiten Platz. Der Wärter überreicht ihm den Turnierball und einen blassblauen, geschmeidigen Stein. „Dein Preis ist dieser Ewigstein, Max. Viel Spaß damit.“ Der Junge verbeugt sich und als seine Freunde jubeln wird er rot und schaut zu Boden. „Und schließlich, mit einer unglaublichen Punktzahl von 337 Punkten und damit Gewinner dieses Turniers ist… Caroline mit ihrem Pinsirweibchen!“ „Wuh!“, rufe ich und klopfe Caro auf die Schulter. Sie schmunzelt mich flüchtig an, dann drückt sie ihre Zigarette auf dem Mülleimer hinter uns aus, wirft sie hinein und geht zu dem Treppchen. „Bitteschön, Caroline, dein Preis. Ein Wasserstein! Nutze dieses außergewöhnliche Item weise, es wird nur noch an wenigen Orten verkauft.“ Er überreicht ihr den Stein und ihren Turnierball. Caro nickt ihm dankbar zu, dann schaut sie nach vorne in Richtung des Kameramanns, der jetzt ein Foto von den Siegern macht. Der Blitz brennt immer noch auf meiner Netzhaut, als sie schon wieder bei mir ist und gemeinsam verlassen wir das Häuschen. Als wir dem verschlungenen Weg nach Dukatia City zurück folgen, gibt sie mir den Stein. „Behalt ihn. Ich kann damit nichts anfangen.“ „Ich auch nicht!“, sage ich lachend, drehe den Stein aber bewundernd in meinen Finger. Er ist faustgroß, aber die Kanten werden zum Rand hin flacher, als hätte man scharfe Bruchstellen abgeschliffen. Er ist durchsichtig, wie milchiges Glas, und das türkisblau wird von schillernden dunkelblauen Wellen durchbrochen, die dem Stein ein Aussehen wie eine überdimensionale Murmel geben. „Kann ich den echt behalten?“, frage ich Caro und sie schaut mich genervt an. „Hab ich doch gesagt, oder nicht?“ Wir laufen an mehreren Trainern vorbei, einige von ihnen in Pokémonkämpfe verwickelt, andere sitzen gelangweilt auf dem Boden und picknicken oder dösen einfach in der Sonne. Plötzlich versteift sich Caro und  ich schaue besorgt zu ihr. „Was ist?“, flüstere ich. „Siehst du den Mann da hinten?“, fragt sie, ohne in seine Richtung zu schauen und ich bewege meine Augen über den sich vor uns erstreckenden Weg. Ein kahlköpfiger Biker steht am Zaun und schraubt an seinem Motorrad rum, aber sein Blick hebt sich ungewöhnlich oft von seiner Arbeit und schaut ungewöhnlich oft in unsere Richtung. „Ja“, sage ich leise. „Was hast du morgen vor?“, fragt Caro, als wir in Hörweite des Mannes kommen. „Ich wollte Karin besuchen“, sage ich und schaue bewusst nicht zu dem Biker. „Vielleicht trainiere ich ein bisschen mit Sku, wer weiß.“ Sku wirft mir einen ungläubigen Blick zu. Sie weiß genauso gut wie ich, dass ich sie tagsüber nicht zu anständigem Training überreden kann. „Klingt gut“, erwidert Caro. „Würdest du noch ein paar Blumen für mich ausliefern? Ich muss wahrscheinlich den ganzen Tag Blumenstraußaufträge aufarbeiten.“ „Ja, kein Ding. Mache ich gerne." Wir sind fast außer Hörweite. Das zweite Warthaus, das uns von Dukatia City trennt, ist direkt vor uns. Ich höre etwas und schaue hoch, aber da ist nichts. Als wir das letzte Häuschen hinter uns gelassen und Dukatia Citys Hauptstraße erreicht haben, atme ich erleichtert aus. „War das…“ „Ja. Einer von Robins Männern“, erwidert Caro und Scherox knurrt. Sein Blick huscht hin und her, als erwarte er jeden Moment einen Überraschungsangriff. Ich drehe mich ebenfalls um. Schlitzers Paranoia ist ansteckend und ich fühle mich tatsächlich beobachtet. Aber der Biker ist nirgends zu sehen. „Er beobachtet uns sicher schon, seit wir aus dem Kaufhaus gekommen sind“, fährt sie fort und ich wende mich wieder nach vorne. Das Gefühl verfolgt zu werden wird immer stärker. „Ich kann den Laden in den nächsten Tagen nicht verlassen, Abby. Also werde ich dich wohl oder übel für Pinsirs Training engagieren. Fang schon heute an.“ „Klar“, sage ich. „Ich muss bloß vorher ein bisschen Recherche betreiben.“ „Ich verlass mich auf dich. Bis zum Wochenende musst du Pinsir mindestens auf Level 38 bringen.“ „Krieg ich hin.“ Wir erreichen den Blumenladen, aber bevor wir eintreten, bleibt Caro stehen und hält mich fest. „Abby. Vielen Dank für deine Hilfe“, sagt sie und lächelt mich aufrichtig an. „Ich bin froh, dich kennen gelernt zu haben.“ „Ich auch“, sage ich und strahle sie an. „Wollen wir?“ „Geh ruhig schon vor.“ Sie zieht eine Zigarette aus ihrer Hosentasche und steckt sie mit ihrem Feuerzeug an. Die Gravur ist so schwer zu erkennen… Ein Wort? Ich gehe hinein und finde Linda, die an den grünen Flyertisch gelehnt in einem kleinen Taschenroman blättert. „Was liest du da?“, frage ich und sie schaut überrascht auf. Dann lacht sie und zeigt mir das Cover. „Gezeiten der Liebe?“, frage ich. „Ist das nicht diese Liebesgeschichte, die sich seit hundert Bänden hinzieht?“ „Zweiunddreißig“, korrigiert Linda mich strahlend. „Das ist der neueste Teil.“ „Sind die nicht ziemlich… kitschig?“, frage ich vorsichtig. Ich lese generell nicht viel, aber wenn ich lesen würde, dann nicht so was. „Der eine nennt es kitschig, ich nenne es hochromantisch“, erwidert Linda fröhlich. „Hat Caro was gefangen?“ „Ein Pinsir“, sage ich und lehne mich neben Linda an den Tisch. „Worum geht es in dem Buch eigentlich?“, frage ich dann. „Ich blicke bei so was nicht durch.“ Lindas Gesicht hellt sich auf. „Also“, fängt sie an und ich bereue augenblicklich, sie gefragt zu haben. „Es geht um eine Frau namens Lara und den Mann ihrer Träume. Alles scheint perfekt, aber dann verlässt er sie und Lara ist am Boden zerstört. Um ihn zu vergessen, trifft sie sich mit einem anderen Mann und verliebt sich in ihn. Aber dann kommt ihr ursprünglicher Liebhaber wieder zu ihr zurück. Sie kann sich nicht mehr zwischen beiden entscheiden und beschließt, keinen der Beiden zu nehmen, weil es dem anderen sonst das Herz brechen würde.“ „Aber das ist doch bescheuert“, sage ich stirnrunzelnd. „So bricht sie schließlich beiden das Herz.“ Linda ignoriert mich. „Sie zieht um und findet einen neuen Lover, die beiden sind glücklich und beschließen, zusammen zu ziehen, aber dann taucht seine Ex auf und er ist plötzlich unsicher. Lara ist enttäuscht und wütend und verlässt ihn, kommt aber wieder, weil sie das Leben ohne ihn nicht erträgt, allerdings ist er inzwischen wieder mit seiner Ex zusammen.“ Ich schaue Linda lange an. „Und das ist noch nicht das Ende der Geschichte“, fährt Linda gut gelaunt fort. „Da kommt noch mehr?“, frage ich ungläubig. „Natürlich. Das war gerade mal die Story bis Band 2.“ Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, schließe ihn aber wieder. Das ist mir zu viel. In dem Moment kommt Caro rein. Sie hält den Turnierball vor sich und aus dem roten Licht materialisiert sich ihr Pinsir. Es ist es ein bisschen kleiner als ich, aber das ist schon alles. Zwei gezackte Hörner wachsen aus seinem ovalen Kopf, der gleichzeitig als Körper fungiert und ragen über dreißig Zentimeter in die Höhe. Drei scharfe Klauen zieren jede der vier Gliedmaßen und die langen, schmalen Arme hängen bis zum Boden. Am grausamsten sieht allerdings der Mund aus, der sich vertikal öffnet und rippenartige Zähne freigibt, die nervös gegeneinander reiben. „Und das Ding ist weiblich?“, frage ich nochmal zur Sicherheit. Caro wirft mir einen bösen Blick zu. „Pinsir ist ein Pokémon, genau wie Sku oder Schlitzer. Beurteile sie nicht nach ihrem Äußeren. Sie wird uns noch früh genug den Arsch retten.“ Ich schaue betreten zu Boden. „Tut mir Leid, Pinsir“, sage ich und das Käferpokémon klappert mit den Kiefern. Hübsch ist es trotzdem nicht. Caro nimmt die Hände des Pinsirs und sieht ihm tief in die Augen. „Hallo, Pinsir“, sagt sie und Pinsir gibt ein gurgelndes Geräusch von sich. „Ich bin Caro. Es freut mich, dich in unsere Familie aufzunehmen. Das ist Schlitzer. Er ist mein erstes Pokémon. Ihr werdet bald zusammen kämpfen müssen, aber keine Sorge, bis dahin bist du viel stärker als jetzt.“ Pinsir blinzelt. „Das sind Linda und Abby. Sie arbeiten hier und das Skuntank ist Abbys Pokémon. Also, Pinsir, möchtest du einen Namen? So wie Schlitzer hier?“ Pinsir kneift seine Hörner zusammen und nickt leicht. „Wie wäre es mit…“ Caro sieht das Pokémon einen Moment lang an. Es kommt mir fast vor, als würde sie seinen Charakter analysieren. Kann sie das? „Penelope?“ Pinsir schüttelt den Kopf. „Patrizia.“ Wieder schüttelt Pinsir den Kopf und Caro nickt, als hätte sie die Reaktion erwartet. „Pandora.“ Pinsir zögert, dann nickt es nachdenklich. „Pandora also. Sehr gut.“ Caro lässt Pandoras kleine Krallenhände los. „Wir haben ein Problem, Pandora. Ich darf diesen Laden die nächsten Tage nicht verlassen, also wird Abby sich um dein Training kümmern. Du wirst ihr gehorchen, als sei sie dein Trainer. Und in ein paar Tagen gibt sie dich wieder an mich zurück. Ist das okay für dich?“ Pandora nickt und klappert mit den Zähnen. „Alles klar.“ Caros Stimme schenkt von ihrem freundlichen Singsang zurück zu ihrer leicht kratzigen, normalen Stimmlage. „Sie gehört dir, Abby.“ „Komm, Pandora“, sage ich und schaue das Pinsirweibchen an. Nachdem Caro mit ihr geredet hat, kommt sie mir plötzlich sehr schüchtern und verletzlich vor. Sie und Sku folgen mir hoch in Caros Wohnung. Ich setze mich auf das Sofa und Sku springt sofort auf meinen Schoß, was mir ein kurzes Stöhnen entlockt. Sie ist so schwer! Pandora steht ein wenig unsicher vor mir und ringt ihre kleinen Hände. Sie hat das Flair eines Schulmädchens und es ist so skurril. Ich ziehe meinen Pokédex aus meiner Tasche, schalte ihn an und zeige damit auf Pandora, die mich mit großen Augen ansieht. „Pinsir – das Kneifkäfer-Pokémon. Typ Käfer. Dieses furchteinflößende Pokémon benutzt seine Scheren um seine Gegner in die Mangel zu nehmen. Level 28. Spezialfähigkeit: Scherenmacht.“ Furchteinflößend. Ich schaue Pandora an. Sie sieht ängstlich aus, aber nicht furchteinflößend. Ich streiche ihr über den Chitinpanzer und tätschele ihren Kopf. Sie klappert leise mit ihren Zähnen. „Scherenmacht ist gut“, sage ich zu ihr. „Damit bleibt dein Angriff immer stark und kann nicht gesenkt werden. Mal sehen…“ Ich durchsuche die Pinsirdatenbank und vertiefe mich in meiner Recherche.   Caro findet mich ein paar Stunden später. Mehrere vollgekritzelte Zettel liegen neben mir auf dem Sofa verstreut, Pandora ist zu meinen Füßen eingeschlafen, genauso wie Sku auf meinem Schoß. Ich durchsuche den Pokédex weiterhin nach allen relevanten Informationen, rechne EV und Statuswerte aus und entwickle ein Attacken-Set, das zu Pandora passt. „Willst du was essen?“, fragt Caro leise, um die Pokémon nicht zu wecken. Scherox kommt hinter ihr die Treppe hoch, dicht gefolgt von Linda. „Gerne“, erwidere ich, ohne den Blick von meinem Pokédex zu nehmen. Agnes hatte Recht. Das neue Modell ist Goldnuggets wert. Linda und Caro gehen zum Kühlschrank und beginnen, Kochwasser aufzusetzen und Tomaten und Zwiebeln zu hacken. Scherox betrachtet unterdessen sein neues Teammitglied. Ich kann seinen Ausdruck nicht deuten, aber ich nehme an, dass ein Weibchen ihm lieber ist als noch ein Männchen. Ihre unterwürfige Art sollte zudem helfen, die Wogen zwischen den beiden zu glätten. Vielleicht wachsen sie ja wirklich noch zu einem richtigen Team zusammen. Wir essen Spaghetti mit Tomaten und frischem Käse zu Abend, während Caro den Pokémon ihre übliche monströse Portion Rührei zubereitet. Als wir fertig gegessen haben, verabschiedet Linda sich, nachdem Caro vergeblich versucht hat, sie zum Bleiben zu überreden. Ich räume gemeinsam mit Caro die Küche auf, dann verabschiede ich mich ebenfalls und schlurfe müde in mein Zimmer. Sku, mittlerweile hellwach, läuft neben mir her. In meinem Zimmer angekommen ziehe ich alles bis auf meine Unterhose aus und lege mich todmüde ins Bett. Sku wird heute Nacht alleine rumturnen müssen. Meine Gedanken kreisen um Zahlen, Attacken und Werte, aber nach einiger Zeit beruhigen sie sich und ich falle in einen tiefen Schlaf.   Ein lautes Klopfen weckt mich. Ich reiße die Augen auf, aber der Raum ist weiterhin dunkel, bis auf das Mondlicht, das durch das Fenster hinter mir auf die Dielen fällt. Ich drehe den Kopf und entdecke Sku, die neben dem Schrank sitzt, ihre roten Augen leuchten in der Dunkelheit. Ein Schatten huscht über den Boden und ich setze mich augenblicklich aufrecht hin, die Decke fest gegen meine nackte Brust gepresst. In meinem Zimmer ist nichts. Der Schatten hüpft über den Boden und ich drehe mich ganz langsam um. Am Fenster steht das Habitak aus dem Nationalpark und klopft gegen das Fensterglas. „Was zum…“, flüstere ich und lasse mich entnervt wieder ins Bett fallen. Kann man nicht eine ruhige Nacht haben? Seit ich fünfzehn bin, war jede Nacht von irgendetwas unterbrochen, verkürzt oder anderweitig gestört. Ich habe es satt. Ich schließe meine Augen, fest entschlossen, das immer wieder kehrende Klopfen direkt hinter mir zu ignorieren und einzuschlafen. Ich hätte es mir sparen können. Nur wenige Minuten später ertrage ich es nicht mehr, setze mich abrupt auf und reiße das Fenster weit auf. Habitak gurrt fröhlich, dann hüpft es an mir vorbei in mein Zimmer und bleibt auf meinem Bett sitzen. „Was willst du?“, zische ich und der rotbraun gefiederte Vogel legt den Kopf schief. „Hör zu, dummer Klopfervogel“, flüstere ich energisch und warte, bis das Habitak meinen Augenkontakt erwidert. Skus rote Augen glitzern schelmisch in unsere Richtung. „Ich habe seit zwei Nächten nicht mehr ordentlich geschlafen, also entweder haust du jetzt ab oder du bleibst hier und machst keinen Mucks, verstanden? Sonst lasse ich Sku auf dich los.“ Habitak fiept feixend, dann flattert es in die Luft und lässt sich oben auf dem Schrank nieder. Ich schaue ihm nach, aber er bewegt sich nicht und macht keinen Mucks. Also schließe ich das Fenster wieder und lege mich hin. Habitak entscheidet unterdessen, dass es lange genug still war, und beginnt wild zu fiepen und auf dem Schrank hin und her zu hüpfen. „Skuuu…“, flüstere ich und sie antwortet mit einem tiefen Schurren. „Mach es tot.“ Ich höre, wie Sku sich erhebt und stelle mir vor, wie sie ihren Schweif senkrecht in die Höhe richtet, wie sie ihren giftigen Säureschleim auf Habitak spuckt – und auf den Schrank! „Warte!“, rufe ich und reiße die Decke weg, um Skus Attacke zu verhindern. Wie erwartet ist sie bereits in Position und schaut mich verwirrt an. Soll ich nun angreifen oder nicht? „Nicht“, sage ich gequält und reibe mir die Augen. „Hey, Vogelfresse!“ Habitak schaut mich neugierig an. „Sei ruhig. Bitte.“ Habitak nickt einmal und ich schaue es skeptisch an. „Ja? Ja? Okay…“ Ich behalte Habitak im Blick, während ich mich wieder ins Bett lege, bis zu dem Moment, da ich die Augen schließe. Dann geht das Gekrächze wieder los. Sku faucht und ich packe stöhnend mein Kissen und ziehe es mir über den Kopf. Es wird eine lange Nacht.   „Schlecht geschlafen?“, fragt Caro, während sie mir Toast mit Marmelade auf den Teller häuft. Dann fällt ihr Blick auf Habitak. „Könnte man so sagen“, sage ich müde und reibe mir die Augen. Ich muss wie aussehen, als hätte mich eine Herde Rihorn überrannt. Mein Haar steht in alle Richtungen ab und ich bilde mir ein, meine Augenringe fühlen zu können. Sku schlürft geräuschvoll aus einer Milchschale neben dem Sofa und Scherox stopft sich seine erste Rühreiportion des Tages in den Mund. „Ist das der von gestern?“, fragt Caro und stupst das Habitak mit ihren schwarz lackierten Zehen an. Sie trägt eine grellpinke Pyjamahose und ein schwarzes Top, das um ihre spärlichen Kurven flattert. Ich nicke und beiße in den Toast. Die Morbbeermarmelade setzt sich überall auf meiner Zunge und meinen Zähnen ab, aber immerhin ist sie süß. „Und wie ist er hier rein gekommen?“, hakt Caro nach und lässt sich zwischen mir und Schlitzer an dem Tisch nieder, wo sie ihrerseits in den Toast beißt. Innerhalb von Sekunden ist ihr gesamter Mundraum blau. „Durchs Fenster…“, jammere ich. „Ich schwöre dir, sobald ich draußen bin, werde ich ihn töten. Ich überlasse ihn nicht mal Sku, ich werde ihm eigenhändig den widerlichen, kleinen Hals umdrehen und dann werde ich ihn an seinen Füßen aufhängen und ihm alle Federn ausreißen und mir damit ein neues Kissen stopfen und ich werde lachen.“ „Woah. Chill, Abby“, lacht Caro und legt ihren Toast ab. „Willst du dich vielleicht nochmal hinlegen?“ „Keine Zeit“, erwidere ich. „Pandora und ich haben ein straffes Programm vor uns und ich muss schließlich noch Karin besuchen und deine Blumen ausliefern. Und das Federvieh töten.“ „Viel Spaß dabei“, erwidert Caro schmunzelnd und den Rest des Frühstücks verbringen wir schweigend, auch wenn Caro immer wieder halb grinsend zu mir schaut. Irgendwann zeige ich ihr den Mittelfinger und sie fängt laut und heiser an zu lachen.   Als ich den Blumenladen verlasse, trage ich meine Inliner, um schneller voran zu kommen, außerdem meine weißen Shorts und ein in Pokéballfarben gestreiftes Top. Skus Pokéball ist an meinem Gürtel befestigt und Caros Blumen sind in einem großen Korb verstaut, den ich über meinem linken Arm trage. Oh, und das Habitak sitzt auf meiner Schulter. „Ich hasse dich, du dummes Vogelpokémon. Ein Laut von dir und ich reiße dich in Stücke“, warne ich. Habitak gurrt fröhlich und ich seufzte verzweifelt, während ich mich in Richtung erster Auslieferungsort aufmache. Kapitel 12: Ihr Feuerzeug (Alles ist illegal) --------------------------------------------- Etwa zwei Stunden später bin ich durch ganz Dukatia City gefahren und kenne jede Straße, jeden kleinen Weg auswendig. Es kommt mir vor, als wäre ich schon immer hier gewesen. Habitak hat sich irgendwann nach meinem dritten Stopp davon gemacht, aber ich bezweifle nicht, dass ich den kleinen Vogel wieder sehen werde. Ein wenig erschöpft von der Fahrerei, freue ich mich auf einen Tee mit Karin, mit der ich mich verabredet habe. Als ich am Pokécenter in ihre Straße einbiege, entdecke ich den Biker von gestern. Er steht an sein Motorrad gelehnt gleich hinter der Straßenbiegung und ich kann spüren, wie sein Blick mich durch seine Sonnenbrille hindurch verfolgt. Sie überprüfen also, was an unserem gestrigen Gespräch dran ist. Interessant. Ich ignoriere den Mann und fahre so sorglos wie möglich an ihm vorbei und zu Karins Haus. Als ich an der Tür klopfe, dauert es eine Weile, bis ich Schritte höre. Dann öffnet eine junge Frau die Tür. Kaffeebraunes Haar fällt in dichten Wellen bis über ihre ausladenden Brüste und ihr Jeans sitzt eng, wenn auch nicht unvorteilhaft. Eine hellrosa Bluse mit tiefem Ausschnitt akzentuiert ihren rosa Lippenstift und ihr kantiges Gesicht schaut mich verwundert an. „Hallo“, sagt sie und dreht sich nach hinten um. „Hier steht ein kleines Mädchen, Karin.“ „Das ist Abby, Marge, lass sie schon rein“, ruft Karin von drinnen zurück und Margret zuckt die Achseln, dann tritt sie zur Seite und lässt mich rein. „Abby, wie schön, dass du gekommen bist!“, begrüßt Karin mich enthusiastisch und umarmt mich, als sie aus dem Wohnzimmer kommt. „Marge, das ist Abbygail. Sie arbeitet seit ein paar Tagen bei Caroline.“ Margret schaut mich plötzlich sehr interessiert an. „Wie hat du Caro denn dazu überredet?“, fragt sie und lächelt, aber es erreicht nicht ganz ihre Augen. „Sie hat es vorgeschlagen, als wir uns im Magnetzug getroffen haben“, antworte ich und drücke Karin liebevoll zurück, bevor ich sie loslasse. Die alte Frau huscht in die Küche und setzt neues Teewasser auf. „Margret hat noch mehr Kekse mitgebracht“, ruft sie fröhlich. „Ich dachte, sie kommen nur Sonntags her“, sage ich vorsichtig, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Margret schaut mich immer noch ungeniert an. „Du bist ziemlich gut informiert, dafür dass du erst seit ein paar Tagen hier bist“, erwidert sie kühl und ich zucke innerlich zusammen. Nach Karins Beschreibung habe ich mir Margret irgendwie anders vorgestellt. „Sei nicht so zu der Kleinen“, kommt Karin mir zu Hilfe und stellt frische Kekse auf den Tisch. „Margret war zufällig in der Gegend und weil sie demnächst mit ihrer Familie in Urlaub fährt, kam sie mich noch einmal besuchen, bevor sie am Freitag fahren.“ Margret nickt und setzt sich auf einen der Stühle. Ich folge ihrem Beispiel, aber erst, nachdem Karin mich mit einem freundlichen Blick dazu auffordert. „Du hilfst also Caro aus“, stellt Margret fest und ich nicke. „Was machst du denn? Ich dachte, sie hätte schon eine Aushilfe.“ „Ja, Linda“, stimme ich ihr zu und unterdrücke das Gefühl, überhaupt nicht willkommen zu sein. „Ich werde auch nicht lange bleiben, höchstens ein paar Wochen“, füge ich schnell hinzu. „Ich übernehme kleinere Aufgaben, liefere Blumen aus und so weiter.“ „Verstehe“, sagt Margret und faltet ihre Hände unter ihrem Kinn. Dann schaut sie mich an. Ich erwidere ihren Augenkontakt so lange wie möglich, aber schließlich breche ich unter den dunkelblauen Augen zusammen und schaue zur Seite. Ein triumphierendes Lächeln huscht über Margrets Gesicht. Ich will schon aufstehen und auf Toilette gehen, um ihre Anwesenheit nicht mehr ertragen zu müssen, da kommt endlich Karin und Margrets Gesichtsausdruck verändert sich augenblicklich. „Wie geht es Ronya?“, fragt Karin und gießt uns allen frischen Tee ein. Dieses Mal riecht er nach frischer Sinelbeere. „Ich habe keinen Schimmer“, erwidert Margret und es sind die ersten nicht aggressiven Worte, die ich aus ihrem Mund höre. „Seit sie vor sieben Jahren von zu Hause weg ist, haben wir praktisch nichts mehr von ihr gehört, abgesehen von Geburtstagsgrüßen und vereinzelten Briefen. Ich weiß nicht mal, wo sie ist.“ „Sie ist eine Pokémontrainerin, oder?“, frage ich vorsichtig und Margret wirft mir einen genervten Blick zu, nickt aber. „Dann könnte man doch die Arenen der Region anrufen und nach ihr fragen. Die Namen von jedem, der einen Orden erhalten hat, werden von den Arenaleitern aufbewahrt, auch über mehrere Jahre hinweg.“ „Nette Idee, aber das haben wir schon ausprobiert“, sagt Margret bitter. „Wir können sie nicht ausfindig machen.“ „Aber wenn ihr wisst, wo sie schon war, dann kann man leicht herausfinden, wo sie als nächstes hingehen wird“, versuche ich es wieder. „Du verstehst nicht, was ich meine, Abby.“ Margret seufzt. „Keine Arena hat Aufzeichnungen einer Ronya, geschweige denn einer Ronya Olith. Sie hat an keinen Arenakämpfen teilgenommen und keine Orden gewonnen.“ „Vielleicht hat sie wie ich die Region gewechselt, um nicht so leicht gefunden zu werden.“ „Wenn sie nicht in irgendeine Region gegangen ist, die wir nicht kennen, dann ist das unmöglich.“ Margret nimmt einen großen Schluck Tee. „Keine einzige Arena ist je von ihr aufgesucht oder herausgefordert worden. In keiner der fünf Regionen.“ „Das ist merkwürdig“, murmele ich und starre in meine Tasse. „Aber vielleicht will sie kein Protrainer sein. Vielleicht reicht es ihr ja, zu reisen und ein Pokémon an ihrer Seite zu haben.“ Es klingt logisch, aber Margret schüttelt wieder den Kopf. „So eine ist Ronya nicht. Sie liebt den Pokémonkampf, das stärker werden, die Anerkennung, die sie von schwächeren Trainern bekommt. In all ihren Briefen schreibt sie eines ausführlich: dass sie immer stärker wird und ihre Pokémon Tag ein Tag aus trainiert. Sie ist charismatisch und unkonventionell. Sie will immer die Beste sein und sie tut alles, um ihr Ziel zu erreichen. Sie ist ganz einfach nicht der Typ, der nur auf Reisen geht.“ „Das klingt nach einem Protrainer der Extraklasse“, gebe ich zu Bedenken. Und trotzdem sammelt sie keine Orden, denke ich verwundert. „Abby, möchtest du noch einen Keks?“, fragt Karin und reicht mir einen. Ich nehme ihn dankbar und beginne, daran herum zu knabbern. Margret beobachtet mich weiterhin aufmerksam. „Also Abby, wie lange möchtest du denn hier bleiben?“, fragt Karin und lächelt mich aufrichtig an. „Ich weiß es noch nicht, ehrlich gesagt.“ Ich nibbele weiter an meinem Keks. Es ist eine gute Frage. „Vielleicht zwei oder drei Wochen.“ Karin nickt traurig. „Ich werde dich sehr vermissen“, sagt sie und es überrascht mich, wie ernst sie das meint. Wir kennen uns schließlich erst seit zwei Tagen. Margret scheint etwas Ähnliches zu denken, denn sie schnaubt ungläubig. Ich trinke meinen Tee aus, dann stehe ich auf. Karin schaut mich überrascht an. „Ich muss jetzt gehen“, sage ich. „Ich habe noch ein paar Aufträge zu erledigen. Ich komme gerne die Woche nochmal vorbei, wenn du willst.“ „Ich bitte darum“, sagt Karin entrüstet und greift nach meiner Hand und tätschelt sie. „Pass auf dich auf, Abby.“ „Ich werde vorsichtig sein, keine Sorge“, beruhige ich sie und sie nickt. Dann lässt sie mich los. Ich werfe Margret noch einen letzten Blick zu, den sie kühl erwidert, dann ringe ich mich zu einer freundlichen Verabschiedung durch. „Viel Spaß im Urlaub. Falls ich Ronya sehe, sage ich Beschied.“ Sie schnaubt wieder und ich drehe mich um und gehe. Wie erwartet hüpft Habitak auf meine Schulter, kaum dass ich die Tür hinter mir geschlossen habe. „Da bist du ja wieder, Dummvogel“, begrüße ich ihn wenig begeistert, aber nicht mehr so wütend wie noch heute Morgen. Ich habe mich mehr oder weniger mit meinem Schicksal abgefunden. Und irgendwie fällt es mir schwer, mich zu einem Kampf gegen den kleinen Kerl durchzuringen. Ich schnalle meine Inliner wieder an und fahre los in Richtung Route 34. Den Biker sehe ich nicht mehr. Habitak wandert von einer Schulter zur anderen, keckert lebhaft in mein Ohr und gurrt vergnügt, wenn ich auf gerader Strecke auf Höchstgeschwindigkeit komme. Dann schließt er die Augen, öffnet den Schnabel und lässt den Fahrtwind durch sein Gefieder flattern. Ich frage mich, ob er die Geschwindigkeit liebt, oder ihn die Bewegung einfach ans Fliegen erinnert. Nicht, dass er Fliegen könnte. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem normalen Fliegen eines Vogelpokémons und der Attacke, die es dem Pokémon erlaubt, seinen Trainer durch die Lüfte zu tragen. Theoretisch wäre das auch mit kleinen Vögeln möglich, aber eigentlich würde ich das keinem Pokémon zutrauen, auf dem ich nicht bequem sitzen kann. Golds Lugia, das ist eine andere Sache. Während ich an seinen Abgang denke, fahre ich fast gegen eine Straßenlaterne und Habitak kreischt entsetzt und flattert in die Luft. Ich brauche ungefähr zehn Minuten mit den Inlinern, bis ich die Pension und die dahinter liegenden Wildwiesen erreiche. Außer mir sind nur zwei andere Trainer da, einer der Beiden ist der große Junge von Montag. Er und sein Tyracroc kämpfen gerade gegen ein Traumato. Den anderen Jungen habe ich noch nie gesehen, aber er beobachtet das Traumato mit offenkundigem Abscheu. Warum auch immer. Ich ziehe meine Inliner aus und hänge sie mir um den Hals, dann rufe ich Pandora aus ihrem Turnierball. Sie taucht vor mir auf, ihr Blick schüchtern gesenkt. „Bereit?“, frage ich freundlich und sie klappert zustimmend mit ihrem Gebiss. Ich nicke, dann gehe ich vor ins hohe Gras und Pandora folgt mir. Das erste Pokémon, dem wir begegnen ist, glücklicherweise, auf meiner EV-Trainingsliste, die ich jetzt aus meiner Gürteltasche ziehe, zusammen mit einem Stift, den ich mir aus Caros Laden geklaut habe. Ich skizziere eine Tabelle, während das Webarak langsam auf uns zu gekrochen kommt. Pandora bringt sich vor mir in Position. „Alles klar“, sage ich und lasse den Block sinken. Habitak krächzt zustimmend. „Kontere ihn mit Überwurf.“ Pandora nickt und geht leicht in die Knie. Dann rennt das Webarak auf sie zu, seine sechs Beinchen wimmeln durch das Gras. Es springt Pandora an und kratzt sie mehrere Male, während Pandora seine Nähe nutzt und ihn packt. Dann kugelt sie ihren Rücken ein und lässt sich nach hinten rollen, wodurch das kleine Spinnenpokémon kräftig auf den Boden gerammt wird. Als Pandora es loslässt, bleibt es bewusstlos liegen. Ich mache einen Strich auf meiner Angriffs-EV Liste und grinse Pandora an, die mich unsicher anschaut. „Wunderbar. Auf zum nächsten.“   Die Zeit verrinnt langsam. Pandora muss sich kaum gegen ihre Gegner anstrengen, eine einzige Attacke reicht bei ihrem massiven Angriff meist, um die unentwickelten Pokémon zu besiegen. Nach ungefähr vier Stunden pausenlosem Training streikt sie jedoch und rührt sich keinen Zentimeter mehr. Auch Habitak ist es zu langweilig geworden, er hat sich schon vor einer Stunde aus dem Staub gemacht. Erleichtert, endlich eine gerechtfertigte Pause machen zu können, rufe ich Pandora zurück, ziehe meine Inliner wieder an und fahre zum Pokécenter. Schwester Joy von Dukatia City begrüßt mich freudig und nimmt den Turnierball entgegen. „Sie ist nicht schwer verletzt, nur erschöpft“, informiert sie mich unnötiger Weise. Ich weiß, dass Pandora von den Kratzfurien und Ruckzuckhieben keinen allzu großen Schaden erlitten haben kann. „Haben sie noch etwas zu essen?“, frage ich hoffnungsvoll und Schwester Joy nickt. „Nur noch Reste, aber dafür musst du auch nur 200 PD bezahlen.“ „Klingt super“, sage ich und lasse mich erschöpft an einem der kleinen Tische nieder, die Rand des Centers stehen. Ein paar Minuten später kommt Schwester Joy mit einem Tablett vorbei, auf dem ein Teller mit Kartoffeln, Quark und Bohnen sowie ein kleiner Pudding und eine Dose Sprudel stehen. Ich bedanke mich, dann fange ich an, mir das Mittagessen in den Mund zu schaufeln. Als ich fertig bin, bringt Schwester Joy mir Pandoras Ball an den Tisch, ich bezahle das Essen und verabschiede mich und verlasse das Pokécenter. Auf dem Rückweg zu den Wiesen entdecke ich plötzlich Miranda, die sich mit einem anderen Trainer unterhält. Ich winke ihr zu und sie erwidert die Geste, dann mache ich mich auf den Weg zu unserem Trainingsplatz, der nach vierstündiger Recherche die meisten Webarak und Rattfratz beherbergt. Ein wenig unmotiviert ziehe ich meinen Block aus der Tasche und lasse Pandora raus. Ich kann sehen, wie ihre Schultern leicht nach unten sacken, als sie ihren nächsten Gegner sieht. Ich kann es ihr nicht verübeln. Normalerweise würde ich niemals so viel Highspeed-Training betreiben, aber Caro hat mir eine Deadline gegeben und ich bin bereit, sie unter allen Umständen einzuhalten.   Am Ende des Tages sind sowohl Pandora als auch ich völlig ausgepowert. Die letzte Pokédexüberprüfung zeigt, dass Pandora um nur drei Level gestiegen ist, dafür hat sie die Käferattacke Kreuzschere erlernt und ihre Angriffs- und Initiativewerte sind in die Höhe geschossen. Je höher ihr Level, desto mehr wird sich das jetzige EV-Training auszahlen. Als wir zu Caros Blumenladen zurückkehren, wischt sie bereits die Verkaufstheke ab, während Scherox die Blumen mit neuem Wasser gießt. Die Gießkanne bereitet ihm dabei einige Schwierigkeiten, aber keinen der beiden scheint das zu stören. Als Caro mich sieht, hellt sich ihr düster dreinschauendes Gesicht eine Spur auf. „Abby“, begrüßt sie mich und kommt auf mich zu. „Du warst lange weg.“ „Training, Caro, Training“, erwidere ich erschöpft. „Ich bin oben.“ „Klar.“ Ich schlurfe die Treppe hoch, werfe meine Inliner in mein Zimmer und lasse mich auf das Sofa fallen. Dann lasse ich Sku und Pandora raus. Sku setzt sich sofort auf meinen Schoß, während Pandora es sich zu meinen Füßen bequem macht. Sie scheint mehr als erleichtert, wieder zurück zu sein. Wenig später kommt auch Caro. Sie schaut mich skeptisch an, dann geht sie zum Kühlschrank. „Hunger?“ Mein Magen fängt laut an zu rumoren und sie wendet sich schmunzelnd ab. „Wie weit bist du gekommen?“ „Drei Level und circa die Hälfte des EV-Trainings“, sage ich und ziehe den Block aus meiner Tasche. Unzählige Strichpäckchen starren mir von der durch Wind und Attacken zerfledderten Seite entgegen. „Und das heißt?“ „Das heißt, dass Pandora und ich heute gegen über zweihundert wilde Pokémon gekämpft haben und du uns eigentlich in einen Sarg stecken und begraben müsstest, aber wir haben dasselbe Programm noch zweimal vor uns, also warten wir lieber bis nach dem Wochenende.“ Caro dreht sich zu mir um, ein Zehnerpack Eier und Brot in der Hand. „Ich weiß das wirklich zu schätzen, Abby“, sagt sie mit ernster Miene und ich winke ab. „Schon okay. Danach werden mir normale Trainingseinheiten mit Sku wie ein Witz vorkommen, also hat es auch ein Gutes.“ Caro wedelt mit dem Brot in der Luft rum und schaut mich fragend an, woraufhin ich müde nicke und den Kopf an die Wand lehne, während ich abwesend über Skus weichen Schweif streiche. Es dauert nicht lange, bevor ihr Schnurren meine Beine zum Vibrieren bringt. Nach dem Essen verabschiede ich mich von Caro und obwohl es erst 20:00 Uhr ist, lasse ich mich sofort todmüde ins Bett fallen. Ich strampele noch meine Shorts weg, dann liege ich schon unter der Decke und schlafe ein.   Am nächsten Morgen überlasse ich Caro meine Tops und Shorts zur Wäsche und leihe mir eins ihrer weniger schwarzen Oberteile und einen nicht ganz so kurzen Minirock. Ich fühle mich augenblicklich wie ein anderer Mensch. Die ungestörte Nacht hat mir wohlgetan, aber kaum dass ich den Blumenladen verlasse, kann ich Habitak auf dem Dach eines der gegenüberliegenden Häuser sehen. Er kreischt freudig und fliegt auf mich zu, wo er sich auf meiner Schulter niederlässt. Ich seufzte, aber lasse ihn gewähren und fahre mit den Inlinern zur Route 34. Frisch und ausgeschlafen gehen die ersten paar Stunden vorbei wie ihm Flug. Habitak entschiedet sich, dieses Mal in der Nähe zu bleiben, wenn er auch währen der Kämpfe lieber auf den Bäumen sitzen bleibt. Als Pandora einen Volltreffer mit ihrer Kreuzschere landet, trifft der entstandene Wind Habitak mit voller Wucht und er flattert wild kreischend davon, nur um geradewegs gegen einen Laternenmast zu fliegen. Er landet unsanft auf dem Boden, setzt sich dann aber wieder auf und schaut erst den Mast verwirrt an, dann mich. Ich kann nicht anders, ich muss laut loslachen, was mir komische Blicke von den anderen Trainern beschert, aber ich könnte schwören, ein amüsiertes Funkeln in Pandoras Augen zu entdecken, also war es die Sache definitiv wert. Der Donnerstag endet nicht anders als der Mittwoch. Wir kehren völlig erschöpft zu Caro zurück, berichten über unseren Fortschritt, essen, gehen schlafen. Habitak lässt mich weiterhin nachts in Ruhe, wofür ich ihm unglaublich dankbar bin.   Freitagmorgen. Caro und ich sitzen am Frühstückstisch und ich schaufele mindestens genauso viel Toast in mich hinein wie Scherox Eier verputzt. Ich mache selbst Sku Konkurrenz, und das will schon etwas heißen. „Wirst du heute fertig?“, fragt Caro, während sie ein Glas Kuhmuhmilch trinkt und ihre Zigarette raucht. „Ich denke schon“, erwidere ich mit vollem Mund und schlucke, bevor ich weiter spreche. „Wir sind so gut wie fertig mit dem EV-Training und Dora ist schon auf Level 34. Bis heute Abend ist sie in Topform.“ Caro sagt nichts, sondern zieht nur an ihrer Zigarette, aber ich kann die Erleichterung auf ihrem Gesicht sehen. „Robin ist gestern Nachmittag vorbei gekommen“, sagt sie dann und ich halte mit dem Essen inne. „Er hat mich zu einem offiziellen Duell herausgefordert. Heute Nacht im Untergrund.“ „Nur ihr zwei?“, frage ich und Caro zuckt die Schultern. „Sagt er. Aber ich traue dem Bastard nicht. Ich würde ihm zutrauen, dass er mir eine Falle stellt.“ „Dann komme ich mit“, sage ich sofort. Caro schaut mich lange an, dann seufzt sie. „Ich hätte dich da nie mit reinziehen sollen“, murmelt sie und zieht ihren Zigarettenstummel in einem Atemzug leer. „Du bist noch zu jung. Wenn sie wirklich eine Falle gestellt haben, dann haben wir keine Chance, auch wenn du dabei bist.“ „Wir sind letztes Mal auch heil raus gekommen“, gebe ich zu Bedenken und beiße nochmal von meinem Toast ab. „Letztes Mal haben sie nicht damit gerechnet, dass Linda uns ins Kaufhaus lässt. Dieses Mal werden sie den Fehler nicht wieder begehen.“ „Kannst du nicht die Polizei einschalten oder so?“, frage ich. Caro schaut mich ungläubig an. „Alles da unten ist illegal, Abby. Was ich mache ist illegal. Ich sorge nur dafür, dass der illegale Teil nicht die Überhand gewinnt und wir auffliegen. Die Leute da unten vertrauen auf mich und meine Diskretion. Wenn ich die Polizei einschalte, kann ich meinen Titel auch gleich an den Nagel hängen.“ „Wann bist du überhaupt zu dieser Black Mantis geworden?“, frage ich vorsichtig. Mit Caro weiß man nie, ab wo ein gefährliches Gebiet beginnt. „Vor ein paar Jahren.“ „Nach…“ Ich stocke und schaue auf meinen Toast. „Ja. Danach.“ Sie zieht eine neue Zigarette aus ihrer Tasche und zündet sie mit ihrem Feuerzeug an. Sie ist ganz nah und zum ersten Mal kann ich das Wort entziffern. „Ich war noch nicht lange im Blumengeschäft und wegen meines Kleidungsstils glaubten alle möglichen Leute, der Blumenladen wäre nur eine Fassade. Sie ließen hier einen Hinweis fallen, dort einen Zettel liegen und irgendwann dämmerte mir, dass im Untergrund etwas im Gange war. Also ging ich eines Abends hin und verschaffte mir einen Überblick. Es war das reinste Chaos.“ Sie zieht an ihrer Zigarette und ihr Blick nimmt einen abwesenden Ausdruck an. „Was du am Montag gesehen hast war kein Vergleich. Überall Stände, Decken mit Schwarzmarktitems, Schreie, Prügeleien, Prostituierte und Sex an jeder Ecke.“ Ich werde knallrot. „Aber es war eine faszinierende Welt, also kam ich zurück. Wieder und wieder. Irgendwann war ich einer der Stammkunden. Ich lernte Linda kennen, die ab und zu selbst dort unten war und Items aus dem Kaufhauslager verkaufte, wenn ihr Geld zu knapp wurde. Sie war die erste, der ich half. Sie begann, bei mir zu arbeiten und etwas später auch bei mir zu wohnen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ „Und wann bist du zu ihrer Königin geworden?“, frage ich. Sie zuckt die Schultern. „Nach und nach, schätze ich. Man kannte mich, mein Kleidungsstil war auffällig und Scherox verstärkte meine Präsenz. Und ich habe einigen da unten aus einer Krise geholfen. Die Polizei ist mehr als einmal auf den Untergrund aufmerksam geworden und jedes Mal habe ich vorzeitig alle warnen können. Du glaubst nicht, wie gesprächig die Menschen werden, wenn du nur in einem Blumenladen arbeitest. Sie erzählen dir alles. Jedenfalls schlug ich irgendwann vor, das Treiben unten zu organisieren. Die Händler sollten nur an bestimmten Tagen ihren Laden aufmachen, damit der Untergrund nicht überfüllt ist, kein Sex mehr, keine Gewalt und dergleichen. Die Passage wurde ruhiger, es gingen kaum noch Beschwerden bei der Polizei ein und wir hatten unsere Ruhe. Wegen meiner Kleider und meinem Käferpokémon nannten sie mich dann irgendwann Black Mantis und so wurde ich zu der Königin des Untergrundes. Allerdings scheinen die meisten vergessen zu haben, weshalb sie mich dazu auserkoren haben.“ Sie lächelt bitter. „Robin will die alte Ordnung wieder?“, rate ich und sie nickt. „Er glaubt, früher war alles besser. Und weil er charismatisch ist, glauben ihm plötzlich alle, obwohl es unter meiner Führung keine einzige Polizeirazzia mehr gab.“ Sie bläst einen Rauchring in die Luft und starrt ihm hinter her. „Das fuckt mich ab.“ „Du hast gesagt, du hättest ihn schon einmal besiegt. Wann war das?“ „Kurz nachdem ich offiziell die Anführerin der illegalen Aktivitäten in Dukatia City wurde und veranlasste, dass jeder neue Händler sich mir erst vorstellen müsste, damit ich ihm seine Tage zuteilen konnte, an denen er verkaufen durfte. Er hielt mich für zu mächtig und forderte mich heraus. Damals besiegte ich ihn vor allen Anwesenden und meine Popularität stieg gewaltig an. Aber es scheint, dass er in den letzten Wochen ziemlich viel Werbung für sich betrieben hat. Und er hat sich ein Arkani besorgt, wo auch immer er das her hat.“ „Kanto, vermutlich“, schlage ich vor und sie zuckt die Achseln. „Kümmert mich nicht. Jedenfalls stecke ich ziemlich in der Klemme.“ „Nicht mehr“, versichere ich ihr und grinse sie selbstbewusst an. „Wenn ich mit Dora fertig bin, wird sie Arkani in den Boden rammen.“ Caro verzieht das Gesicht. „Sorry, ich komm mit dem Namen Dora nicht klar. Oh, by the way.“ Sie steht auf und kehrt mit einer Art CD zurück, die sie mir in die Hand drückt. „Die TM. Bring sie Pandora bei.“ Die TM! Die hatte ich vollkommen verdrängt. „Welche ist das?“ Caro grinst. „Schaufler.“   Bevor ich meine letzte Trainingseinheit mit Pandora angehe, mache ich einen Zwischenstopp im Kaufhaus. Die ganze Woche ist mir die Losecke nicht aus dem Kopf gegangen und jetzt habe ich mich endlich dazu durchgerungen, sie auszuprobieren. Nur einmal! Als ich das fünfte Stockwerk erreiche, lächelt mich die Dame von Montag an. „Na, hast du dich doch für einen Versuch entschieden?“, fragt sie fröhlich. Heute sind ihre Lippen knallpink geschminkt und ihr blondes Haar rollt sich in schmalen Locken über ihre Schultern. „Zu einer, ja.“ Ich gebe ihr die 300 PD, dann ziehe ich einen der kleinen Pokébälle. Darauf steht eine zweistellige Zahl. 86. „Na dann wollen wir doch mal sehen“, zwitschert die Frau gut gelaunt und greift mit ihren Pink lackierten Fingern in ihre eigene Urne. „Eine 34. Wie schade.“ Sie zieht ein zweites Mal. „86. 86? Du hast gewonnen, Kleine!“, ruft sie fröhlich, dann kommt sie um ihren Tisch zu mir herüber getippelt und umarmt mich. „Gratulation. Du hast den zweiten Preis gewonnen!“ „Was ist der Preis?“, frage ich, während ich versuche, mich aus ihrer Umarmung zu winden. „Heute ist Freitag, damit gewinnst du einen Finsterball. Mal sehen.“ Sie kramt einen Zettel aus einer der zahlreichen Schubladen ihres Tisches und sucht mit dem Finger nach etwas. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. „Der Finsterball. Bei Nacht, in Höhlen oder bei anderweitig verursachter absoluter Dunkelheit vervierfacht sich seine Wirkung. Damit ist er doppelt so effektiv wie zum Beispiel ein Hyperball. Der Wahnsinn, oder?“ Ich schaue den grünschwarzen Ball mit dem roten Mittelband interessiert an. „Ja, ziemlich“, gebe ich schließlich zu. „Mit diesem Los hast du 700 PD gespart, ist das nicht wunderbar? Willst du es nicht noch mal versuchen?“ „Nein, ich glaube, ich sollte mein Glück nicht überstrapazieren“, antworte ich lächelnd und die Losfrau macht einen Schmollmund. „Ich habe ein wirklich gutes Gefühl“, sagt sie und klimpert mit den Wimpern. Ich schüttele den Kopf, dann verabschiede ich mich und nehme den Aufzug nach unten. Als ich das Kaufhaus verlasse, sehe ich zwei Raucher, die neben einem Mülleimer stehen und sich unterhalten. Während ich meine Inliner wieder anziehe und Habitak sich auf meine Schulter setzt, muss ich unwillkürlich an Caro denken und das Wort, das auf ihrem silbernen Feuerzeug eingraviert war. Eva. Eigentlich hätte ich es mir denken können. Kapitel 13: Engel der Verfolgung (Nie mehr alte Ordnung) -------------------------------------------------------- Als ich die Wildwiese erreiche, ist sie überfüllter als die gesamte Woche. „Was ist denn hier los…“, murmele ich. „Bianka hat angekündigt, dass sie ihre Arena für die nächste Woche schließt, weil sie mit ihrem Freund in Urlaub fährt“, sagt eine Stimme direkt neben mir. Ich springe erschrocken zur Seite und starre den Jungen an, der neben mir steht. Er ist so groß wie ich und hat ein verdammt selbstgefälliges Grinsen auf den Lippen, obwohl er eher wie ein Bücherwurm oder Computerfreak aussieht. Schmal, blass, Brille mit Metallgestell und dicken Gläsern. Das einzig interessante an ihm ist die breite Narbe, die von seiner Stirn seine gesamte Wange hinunter verläuft. „Und jetzt trainieren alle auf den letzten Drücker?“, frage ich, nachdem ich mich von meinem Schock erholt habe. „Sicher. Natürlich wird es ihnen nicht viel bringen. Wer nicht regelmäßig trainiert, wird es nie zur Elite bringen.“ „Und du bist da anders?“, frage ich mit hoch gezogenen Augenbrauen und der Junge wischt sich lässig sein braunes Haar aus der Stirn. „Du hast es erfasst“, sagt er und reckt sein Kinn nach vorne. „Meine Pokémon sind stets gut trainiert und bereit für jeden Gegner.“ „Wirklich?“, frage ich mit vorgetäuschter Bewunderung und ich kann förmlich sehen, wie er seine schmächtige Gestalt ein bisschen nach oben streckt, um größer zu wirken. „Bist du auch ein Trainer?“, fragt er und schaut mich überheblich an. Ich zögere kaum. „Ja, aber kein besonders guter“, säusele ich und gebe mir große Mühe, niedergeschlagen zu klingen. „Das ist mein Habitak, aber es ist sehr schwach. Orden habe ich auch noch keine.“ Habitak verdreht den Kopf und schaut mich fragend an, dann krächzt es glücklich und flattert aufgeregt mit den Flügeln. „Nun, ich habe vor, Bianka noch heute herauszufordern, aber wenn du willst, kann ich dir vorher ein bisschen beim Training behilflich sein“, sagt er und schaut mich vielsagend an. „Das wäre super lieb von dir, eh…“ Ich schaue ihn fragend an. „Elliot. Elliot March“, stellt er sich vor und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie. „Such mich nächstes Jahr bei den Favoriten der Pokéchampionship.“ „Abbygail Hampton“, sage ich und lasse seine Hand los. „Bist du sicher, dass du das schaffst?“ frage ich dann. „Warum nicht?“, kontert Elliot. „Ich habe Ehrgeiz, Disziplin, treue Pokémon und wenn ein unscheinbarer Typ wie Raphael Berni die Medien auf seine Seite ziehen kann, dann habe ich damit erst Recht keine Probleme.“ Innerlich muss ich an Raphael denken, wie er vor zwei Jahren aussah. Groß und schlaksig, rote, auffallende Haare, runde Brille, Sommersprossen auf dem bleichen Gesicht. Tatsächlich war er nicht unbedingt der Hingucker. Aber in den letzten zwei Jahren hat er sich ziemlich verändert. Er hat Muskeln aufgebaut, seine Haut hat Farbe bekommen, wenn auch nicht viel und er trägt sein rotes Haar genauso dramatisch wie ich es ihm während des Arenakampfes gezeigt habe. Seine Brille ist zu seinem Markenzeichen geworden. Und eigentlich hat Elliot Recht. Wenn Raphael zum Frauenliebling werden kann, warum dann nicht er? Aber trotzdem habe ich bei ihm meine Zweifel. „Ich werde nach dir Ausschau halten“, sage ich daher nur und lächle ihn zuckersüß an. Elliot schluckt und räuspert sich. „Also, was soll ich dir zeigen?“, fragt er dann. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne mit dir duellieren“, schlage ich unschuldig vor. „Mein Habitak hat zwar keine große Chance gegen dich, aber ich würde jemanden wie dich gerne einmal kämpfen sehen. Außerdem sind die Wiesen fürs Erste ohnehin überfüllt.“ Ich klimpere mit den Wimpern und Elliot schaut mich sprachlos an, dann hustet er und kratzt sich am Kopf. „Ja, gerne. Kein Problem.“ Wir nehmen einige Meter voneinander Stellung. Ich schaue zu Habitak hoch. Er ist nicht mein Pokémon. Ich weiß nicht mal, ob er kämpfen wird, wenn ich es ihm befehle. „Lass mich jetzt nicht im Stich, Dummvogel…“, flüstere ich und Habitak krächzt. Dann hopst er von meiner Schulter und landet vor mir auf dem Boden. Ich kann mein Glück kaum fassen. „Hm, dann wähle ich… dich, Azumarill.“ Elliot wirft seinen Pokéball in die Luft und heraus schießt ein roter Lichtblitz. Im nächsten Moment tänzelt sein Azumarill vor ihm hin und her und wedelt aufgeregt mit seinem mehrfach geknickten Schweif. „Heuler, Habitak“, befehle ich, während Elliot „Einigler!“ ruft. Habitak beginnt, hohe, markerschütternde Töne auszustoßen, die Azumarill für einen Moment lähmen, bevor es seinen Kopf schüttelt und sich zu einer Kugel einrollt. In dem Moment fällt mir ein, dass ich überhaupt nicht weiß, welchen Level Habitak hat und welche Attacken es bereits kann. Ich krame nach meinem Pokédex und halte ihn so schnell ich kann auf Habitak. „Mach was!“, rufe ich dem Vogelpokémon zu und es schaut mich verwirrt an, dann bewegt es die Flügel auf eine Weise, die mich stark an ein Schulterzucken erinnert und springt auf das Azumarill zu, wo es mehrmals mit dem Schnabel auf das weiterhin eingerollte Pokémon einhackt. „Walzer, Azumarill!“, ruft Elliot und sein Pokémon rollt langsam los und trifft Habitak, das noch immer direkt vor ihm steht. Habitak wird zur Seite geworfen, rappelt sich aber gleich wieder auf. „… Level 19. Spezialfähigkeit: Adlerauge“, schallt es aus meinem Pokédex und ich gehe in aller Eile seine Attackenliste durch. „Habitak, Aero-Ass!“, rufe ich ihm zu und es erhebt sich flatternd in die Lüfte, während Azumarill auf dem Boden langsam an Geschwindigkeit gewinnt. Walzer ist eine gefährliche Attacke, weil sie stärker wird, je länger das Pokémon sie benutzt. Habitak schießt auf Azumarill los und fast sieht es so aus, als würde er nicht treffen, aber es ändert im letzten Moment seine Flugrichtung und trifft das Azumarill mit voller Wucht. Der Aufprall ist heftig, aber obwohl Habitak seinem Gegner eindeutig Schaden zugefügt hat, wird es von der sich rollenden Pokémonkugel weg geschleudert und ich muss hilflos mit ansehen, wie Azumarill immer schneller wird. „Habitak, zurück!“, rufe ich und Habitak schaut mich verwirrt an. Dann fällt mir ein, dass es ja gar keinen Pokéball hat und stöhne. „Komm her“, rufe ich ihm zu und klopfe auf meine Schenkel. Ich kann nicht entscheiden, wer mich blöder anschaut, Habitak oder Elliot. Ich gebe auf und setze mein unschuldigstes Lächeln auf. „Es gehorcht mir noch nicht so richtig“, gebe ich zu und knirsche innerlich mit den Zähnen. Anscheinend muss ich darauf hoffen, dass Habitak die nächsten Runden überlebt. „Schon okay“, sagt Elliot und setzt sofort wieder sein Kampfgesicht auf. „Mach weiter mit Walzer!“ „Habitak, ausweichen wenn möglich, ansonsten einfach durchhalten!“, rufe ich und Habitak nickt mit dem kleinen Kopf. Azumarill rollt auf ihn zu, Habitak hüpft zur Seite – und wird trotzdem getroffen. Diese Attacke war schon wesentlich stärker als die vorige und ich weiß, dass die nächste noch mal doppelt so stark wird. „Noch mal Aero-Ass!“, rufe ich und Habitak fliegt hoch empor, bevor es auf Azumarill nieder schießt und es mit seinem ganzen Körper trifft. Azumarill wird tatsächlich zur Seite geschoben, aber sein Drehmoment bleibt erhalten und als es jetzt um die Kurve kommt, rollt es mit solcher Gewalt, dass es den Boden unter sich aufreißt. „Weich aus!“, schreie ich verzweifelt und Habitak flattert mit den kleinen Flügeln. Azumarill explodiert in seine Richtung und ich halte den Atem an. Dann sehe ich, wie Habitak sich im allerletzten Moment in die Luft rettet und nur an den klauenbewährten Füßen von der Walzerattacke getroffen wird. Ohne den erwarteten Aufprall rollt Azumarill einfach weiter und wird stetig langsamer.  Die Attacke wurde unterbrochen und die Gefahr ist vorübergehend gebannt. Ich atme erleichtert aus, dann reiße ich meinen Arm in die Höhe und hüpfe jubelnd auf und ab. „Super, Habitak! Einfach genial!“, rufe ich. „Nochmal Aero-Ass!“ Elliot kneift wütend die Lippen zusammen, als Habitak auf das noch immer bedröppelt am Boden liegende Azumarill zuschießt und es mit voller Kraft trifft. Azumarill lässt ein tiefes Stöhnen hören, rappelt sich aber wieder auf. Seine Verteidigung ist echt nicht schlecht. „Blubbstrahl!“, ruft Elliot und Azumarill holt tief Luft, bevor es Habitak einen Blasenstrom entgegen spuckt. Die Blubberblasen explodieren bei Kontakt und Habitak tippelt geschwächt zurück. „Halt durch, du hast es fast geschafft!“, rufe ich ihm ermutigend zu und Habitak schüttelt sich, bevor es mit feurigem Blick auf Azumarill starrt. Ich will gerade eine Attacke rufen, dann flattert es so hoch empor, dass ich es kaum noch erkennen kann und wartet in der Luft. Dann holt es Schwung und schießt auf Azumarill los. Elliot beginnt zu schwitzen, dann verliert er seinen Nerv. „Azumarill, zurück!“, schreit er und hält seinen Pokéball in Richtung Azumarill, das bereits beginnt, sich zu dematerialisieren. In dem Moment beschleunigt sich Habitaks Flug und wie ein Blitz, der im einen Moment den Himmel erhellt und im nächsten schon verschwunden ist und nur einen brennenden Baum zurücklässt, verschwindet er aus meinem Sichtfeld, nur um Azumarill zu treffen,  das bereits halb dematerialisiert war. Es wird aus dem roten Licht heraus geschleudert und schlittert über den Boden. Sein Schweif zuckt noch einmal, dann wird es still. Sowohl Elliot als auch ich schauen geschockt zu seinem Pokémon und dann zu Habitak, das selbstgefällig unter seinem Gefieder herum pickt. „Beste. Verfolgung. Ever“, sage ich schließlich. Habitak hebt den Kopf und schaut mich an. Ich sehe sein Grinsen, auch wenn er sein Gesicht nicht verzieht. Dann beginnt Habitak von innen heraus zu leuchten. Sein ganzer Körper wächst, Hals und Schnabel strecken sich und seine kleinen Flügel wachsen auf die Ausmaße meines Zimmers bei Caro. Drei Meter Spannweite. Dann fällt das Licht in kleinen Schuppen von Ibitak ab und es schaut mich mit demselben Gesichtsausdruck wie zuvor an. „Hunter“, flüstere ich und greife instinktiv in meine Tasche mit den leeren Pokébällen. Ibitak breitet die gewaltigen Flügel aus und fliegt mit wenigen Flügelschlägen zu mir, wo es sich auf meinen Schultern niederlässt, ein Fuß auf jeder Seite. Er ist kaum leichter als Sku, aber er flattert mit den Flügeln und hält so nicht nur sein Gleichgewicht, sondern nimmt mir auch einiges von seiner Last. „Willst du mein Pokémon sein?“, frage ich und Ibitak krächzt freudig erregt. Ich halte meinen Pokéball mit der Öffnung zu mir nach oben und presse ihn blind gegen Ibitaks gefiederte Brust. Das Gewicht verschwindet von meinen Schultern und der Pokéball vibriert in meiner Hand. Viermal, dann leuchtet der mittlere rote Punkt auf und der Pokéball kommt zur Ruhe. „Willkommen im Team, Hunter“, flüstere ich. Elliot räuspert sich. „Ich würde den Kampf gerne als ungültig erklären“, sagt er dann und verschränkt die Arme vor seiner Brust. „Du hast dein Pokémon gerade erst gefangen. Es war nicht deine Eigenleistung.“ „Oh, du willst Eigenleistung?“, frage ich und zeige ihm ein breites Grinsen mit vielen Zähnen. „Ich bin extra mit einem untrainierten Pokémon gegen dich angetreten. Aber wenn du Eigenleistung willst…“ Elliot wird noch blasser, aber er fasst sich schnell und zieht seinen nächsten Pokéball aus seiner Tasche. „Los, Onix!“, ruft er und ich mache automatisch einen Schritt zurück. Wie erwartet materialisiert sich die neun Meter Steinschlange genau dort, wo ich eben noch gestanden habe. „Azumarill war ohnehin mein schwächstes Pokémon“, sagt er. „Ich wollte dich nicht überfordern.“ „Überaus großzügig von dir“, erwidere ich trocken und ziehe Pandoras Pokéball aus meiner Tasche. „Zeig ihm, was wir die letzten drei Tage getrieben haben, Dora!“ Pandora materialisiert sich vor mir und schaut verängstigt nach oben. Ich gebe zu, wenn ich aus meinem kuschligen Pokéball herausgerissen würde, nur um mit so was konfrontiert zu werden, dann würde ich mir auch meine Gedanken machen. Über das Leben nach dem Tod zum Beispiel. Aber ich bin zuversichtlich. „Es ist nicht so schlimm wie´s aussieht!“, rufe ich ihr aufmunternd zu und Pandora klappert nervös mit ihren Hörnern. „Fang mit einem Härtner an.“ Pandora nickt, dann beginnt ihr Chitinpanzer dunkler zu werden, während sich die Schichten vervielfachen. Onix wiegt unterdessen den gewaltigen Kopf hin und her. „Onix, zermalm ihr Käferpokémon mit deiner Felsgrabattacke!“ Onix hebt das hintere Ende seines Schweifs, dann lässt es ihn auf Pandora niederschlagen. Trotz der enormen Wucht schafft sie es, die Attacke mit den Armen abzufangen. Trotzdem kann ich die Anstrengung sehen, die es sie kostet. „Alles klar, jetzt Bergsturm!“, schreie ich über das laute Knirschen von Stein auf Chitin hinweg und Pandora antwortet mit einem tiefen, angestrengten Knurren. Dann stößt sie das Onix von sich und springt in die Luft, von wo sie mit Händen und Füßen auf das Onix eintrommelt, jeder ihrer Schläge ein Volltreffer. Onix jault und windet sich und ich wünschte, ich könnte Elliots Gesicht sehen, aber sein Pokémon ist im Weg. „Onix, Katapult!“, schreit er und Onix lässt seinen riesigen Schweif durch die Luft wirbeln, wo er Pandora erwischt und sie in hohem Bogen durch die Gegend schleudert. Sie prallt mit einem knackenden Geräusch einige Meter hinter mir auf dem Boden auf, rappelt sich aber genauso schnell wieder auf. Einige der äußeren Chitinschichten sind zerbrochen oder haben Risse, aber ihr Härtner hat sie vor dem Schlimmsten bewahrt. „Beende es mit Durchbruch!“, rufe ich ihr zu und Pandora nimmt Anlauf, wird schneller, immer schneller, bis sie mit der Schulter gegen das Onix prallt und es trotz seiner Größe einen Meter nach hinten befördert. Onix kreischt und es klingt wie ein Erdrutsch oder eine Steinlawine, die auf mich zurollt. Dann fällt sein Körper mit einem gewaltigen Rums zur Seite und eine Staubwolke türmt sich um uns herum auf. Es dauert eine Weile, bis ich wieder sehen und normal atmen kann. Das erste, was ich erkenne, ist ein roter Lichtblitz. Dann Elliot, dessen Anblick sein verschwundenes Onix wieder frei gegeben hat. Er wirkt zerknirscht. Gedemütigt. Wütend. Eigentlich tut er mir Leid. „Los, Lorblatt“, sagt er und ich erkenne sofort, warum er so guckt. Er konnte mit einem effektiven Pokémon nicht gegen Pandora gewinnen, sein vom Typ her benachteiligtest Lorblatt wird keine Chance haben. „Zauberblatt!“, ruft er, während ich Pandora den Befehl für ihre Kreuzschere gebe. Noch während Lorblatt mit dem Kopf ausholt und die kleinen bunten Blätter aus ihrem Kopfblatt sprießen, rennt Pandora schon auf sie zu und trifft Lorblatt direkt mit ihren gezackten Hörnern. Lorblatt wird zurück geschleudert, hebt den Kopf und schaut Elliot entschuldigend an, dann sackt ihr Kopf zur Seite und sie bleibt reglos liegen. Er ruft seinen Starter zurück und schaut den Pokéball lange an, dann seufzt er und kommt auf mich zu. „Das war´s dann wohl“, sagt er und drückt mir 500 PD in die Hand. „Du warst besser.“ „Wenn es dich tröstet, das Pinsir gehört mir nicht“, sage ich und grinse. Elliot schaut mich fassungslos an. „Ich habe es die letzten zwei Tage pausenlos für eine Freundin trainiert, also ist seine Stärke wohl mein Verdienst, aber technisch gesehen ist es nicht meins.“ „Tja“, sagt Elliot bitter und betrachtet Pandora, die sich schüchtern neben mir aufstellt und zu Boden schaut. „Es sagt wohl einiges über einen Trainer, wenn er mich mit einem wilden und einem geliehenen Pokémon besiegt.“ Er zwingt sich zu einem Lächeln. „Ich werde trotzdem der beste Trainer der Zukunft, verlass dich drauf.“ „Ich werde nach dir Ausschau halten“, verspreche ich, dann verabschieden wir uns und Elliot macht sich auf den Weg zum Pokécenter. Ich versorge Pandora mit zwei Tränken, dann mache ich mich mit ihr auf den Weg ins hohe Gras. Die beiden Kämpfe waren ein guter Beginn unseres Leveltrainings und ich schaue kurz auf die Uhr, bevor wir uns in den nächsten Kampf stürzen. Noch zehn Stunden bis Caro ihren Laden schließt. Zehn Stunden, bis sie ihren Titel verteidigen muss.   „Okay, Dora, das reicht!“, rufe ich ihr zu und lasse mich zu Boden fallen. Ich bin total erledigt, obwohl ich nichts gemacht habe. Pandora tapst zu mir und lässt sich neben mir auf den Boden sinken. Ich krame die TM aus meiner Tasche und drehe sie in meinen Händen. Dann halte ich sie vor den Scanner meines Pokédex und warte darauf, dass er alle Daten einliest. Anschließend halte ich den Scanner an Pandoras Kopf und warte, bis der Pokédex piept und blinkt und mir befiehlt, dem Pokémon nun die Attacke zu befehlen. „Schaufler“, sage ich laut und deutlich und der Pokédex entlädt all seine Daten auf Pandora, die mich ganz erschrocken anguckt. Ich nehme den Pokédex weg und schaue sie neugierig an. „Schaufler“, sage ich nochmal und beobachte mit kindlicher Freude, wie Pandora sich aufrichtet, ihren Kopf in Richtung Erde neigt und dann mit ihren Hörnern durch den Untergrund fräst, wo sie innerhalb weniger Sekunden verschwindet. Als sie wieder auftaucht, klatsche ich. „Ein Problem weniger“, stelle ich fest und kraule Pandoras Kopf. Sie klackert genüsslich mit ihren Zähnen. Pandora ist jetzt Level 40. Wie ich erwartet habe, ging das Leveltraining sehr schnell vorüber, nicht zuletzt wegen der vielen Trainerkämpfe, die wir gemacht haben. Wir mussten zwar öfter ins Pokécenter gehen, aber dafür hat Pandora sehr schnell viel Erfahrung in richtigen Kämpfen bekommen. Sie wird sie heute Abend brauchen. Beziehungsweise jetzt. Es ist schon 18:00 und Pandora und ich sind völlig ausgepowert und haben außer dem Frühstück noch nichts gegessen. Ich rufe sie in ihren Pokéball zurück und wische mir etwas Schweiß von der Stirn. Der August hält Dukatia City weiterhin in seinem heißen Griff und trotz der Meereswinde ist es mittags unerträglich. Ich ziehe meine Inliner an, dann starre ich entmutigt auf die Strecke, die noch vor mir liegt, einer großer Teil davon bergauf. Da kommt mir eine Idee. „Los, Hunter“, rufe ich und das große Vogelpokémon materialisiert sich vor mir in der Luft, seine gewaltigen Schwingen wirbeln den Wind genau in mein Gesicht und mein Haar fliegt in alle Richtungen. Ich zögere, dann tätschele ich seinen Kopf und Hunter krächzt fröhlich. Dann lässt er sich auf meinen Schultern nieder und plötzlich fühle ich mich wie ein Engel. „Hunter, kannst du mir ein bisschen Schub geben?“, frage ich und Hunter langer Hals dreht sich um mich, sodass er mich angucken kann. Seine schwarzen Augen glänzen. „Dann werden wir auch richtig schnell“, füge ich hinzu und spüre augenblicklich, wie Ibitak seine Flügel schlagen lässt und mir die Geschwindigkeit gibt. Zuerst rolle ich langsam los, aber nachdem Hunter seinen Rhythmus gefunden hat, schießen wir die Strecke entlang, während Passanten seinen riesigen Flügeln ausweichen müssen. Ich schreie und strecke die Arme aus, um ja nicht meine Balance zu verlieren. Ich will nicht sterben. Mit Hunters Hilfe brauche ich für die Strecke bis zu Caros Laden nicht mal sieben Minuten und als wir vor ihrer Ladentür ankommen, sind Ibitak und ich außer Atem, er vom Krächzen, ich vom Lachen. Ich entdecke Caro, die sich nach hinten lehnt, um uns zu sehen. Dann hebt sie eine Augenbraue hoch und zieht betont an ihrer Zigarette. „Wie waren deine Worte noch… Moment, ich hab´s gleich.“ Sie bläst mir einen Rauchring entgegen, als ich Hunter zurückrufe und den Laden betrete. „Ich werde ihm eigenhändig den widerlichen, kleinen Hals umdrehen und ich werde lachen? So was in der Art?“ Ich grinse und überreiche ihr Pandoras Turnierball. „Sagen wir so: Er hat mich davon überzeugt, dass er vielleicht doch kein so schlechter Kerl ist.“ Caro nimmt den Ball entgegen und schaut mich lange an, dann klopft sie mir auf die Schulter. „War wohl nur eine Frage der Zeit. Welcher Level ist sie jetzt?“ „Level 40. Offensiver Build, EV auf Angriff und Initiative. Sie kann jetzt Schwerttanz, Fuchtler, Kreuzschere und natürlich Schaufler. Du solltest ihr eine Persimbeere zum Tragen geben, damit der Nachteil von Fuchtler aufgehoben wird.“ „Ich habe noch ein paar Beeren im Garten“, erwidert Caro nachdenklich, dann dreht sie sich um. „Schlitzer!“ Scherox brummt von irgendwoher zurück. „Besorg mir ein paar Persimbeeren, ja?“ Scherox wiederholt das Knurren, dann sehe ich durch das Fenster, wie er auf die andere Seite des Gartens geht und aus meinem Sichtfeld verschwindet. Ich fege, während Caro die Abrechnung macht, dann gehen wir nach oben. Scherox folgt uns wenige Minuten später und öffnet eine seiner Scheren. Heraus kullern drei rosa Beeren, die Caro in ihre Hosentasche packt. Dann kocht sie uns schnell etwas zu essen, eine gegrillte Gemüseplatte mit geschmolzenem Käse. Himmlisch. Mit unseren vier Pokémon ist Caros Wohnung allerdings total überfüllt. Selbst wenn Sku und Pinsir, dem Caro eine der Beeren gegeben hat, sich vor das Sofa quetschen, sind Hunters Flügel überall im Weg, vor allem deshalb, weil er sich noch nicht an seine neuen Maße gewöhnt hat und dauernd wild mit seinen Schwingen schlägt und halbe Stürme entfacht. Nachdem er Caros Vase umwirft, rufe ich ihn zurück und nehme mir vor, ihn morgen früh zu füttern. Dann ziehen wir uns um. Caro trägt eine knallenge schwarze Jeans, die vorne von oben bis unten mit waagerechten Rissen versehen ist, dazu schwarze Boots mit Stahlkappen. Ihr schwarzes Korsett hat sie ebenfalls wieder an, darunter dieses Mal jedoch eine schwarze Seidenbluse, die genauso blickdicht ist wie ein farbiges Glasfenster. Über ihren Arm hat sie einen schwarzen Mantel gelegt. Ich begnüge mich mit meinen schwarzen Shorts, meinem Harpy-Top und, weil ich Caros Warnung nicht vergessen habe, meiner grauen ärmellosen Hoodie.  Als wir den Blumenladen verlassen, steht Linda neben dem Aushängeschild.Mit der rechten Hand hält sie ihr Taschenbuch hoch, während sie mit der anderen an ihrem blonden Zopf spielt. Ihre Brille hat sie sich ins Haar gesteckt. Ihr Kleid hat sie gegen einen weiten rosa Rock und eine geblümte Bluse eingetauscht. Als sie uns bemerkt, steckt sie ein geflochtenes Lesezeichen zwischen die Seiten und steckt das Buch in ihre große Umhängetasche. „Seid ihr fertig?“ Caro nickt und gemeinsam gehen wir zum Untergrund. Als wir das Schild erreichen, tritt Caro die Tür mit ihrem Monsterschuhen ein und geht ohne ein Wort hinein. Linda und ich tauschen einen Blick, dann folgen wir ihr in die schummrige Dunkelheit. In der Passage angekommen, erwarten uns bereits ein ganzer Haufen Schwarzmarkthändler, sowie jede Menge Gefolgsleute von Robin. Sie flankieren uns von beiden Seiten und als ich mich umdrehe, sehe ich auch einige, die den Weg hinter uns versperren. Ungefähr in der Mitte des Tunnels steht Robin, sein roter Bart wild geflochten und seine Augenbrauen buschig. „Willkommen, Black Mantis“, sagt er und breitet gönnerhaft die Arme aus, während Caro ihre Hüfte nach vorne schiebt und ihre Arme verschränkt. Dann holt sie tief Luft. „HALLOOOO!“, schreit sie so laut sie kann und viele um uns herum halten sich erschrocken die Ohren zu, mich eingeschlossen. Linda wirkt völlig unbeeindruckt. „Was tust du da?“, zischt Robin und schaut sich hektisch um. „Die Bullen sind um die Uhrzeit auf Patrouille.“ „Oh, tut mir leid“, erwidert Caro kühl. „Ich dachte, du wolltest die alte Ordnung wieder haben. Ein Schrei ist noch gar nichts gegen das Spektakel, das ihr vor ein paar Jahren nächtlich abgezogen habt. Wie viele Razzien pro Jahr? Zwanzig? Dreißig? Nein, warte… Ich bin ziemlich sicher, dass wir schon mal fünfzig hatten.“ „Wenn du die Polizei einschalten willst, hättest du dir das Herkommen sparen können, BM. Ich duelliere mich nicht mit Verrätern.“ „War das nicht deine große Ankündigung?“, fragt Caro unschuldig und macht einen Schritt nach vorne. „Black Mantis stürzt den Untergrund mit ihren Methoden in den Ruin, hast du das nicht jedem laut verkündet, der es hören wollte? Wissen deine kleinen süßen Gefolgsleute überhaupt, wie diese alte Ordnung aussieht, die du so anpreist?“ Robin schweigt sie eisig an. „Kommt schon, wer von euch war schon hier, als ich zum ersten Mal herkam? Los, los, ich kenne eure Gesichter. Charlie, was ist mit dir? Ist dein Arm steif geworden? Carla, Samantha, Fred. Ich kenne euch. Kein Grund, sich zu verstecken.“ Nach und nach gehen die Arme hoch. Es sind weniger als ich erwartet hätte. „Und wer von euch ist dafür, diese alte Ordnung wieder aufzunehmen?“, fragt Caro und richtet sich direkt an diejenigen, deren Arm wie ein Signal in die Höhe zeigt. Sie schauen sie an. „War doch schön“, fährt Caro in Singstimme fort. „Prügeleien, Prostitution, Vergewaltigung auf euren Ladentischen, Typen, die sich wegen 1000 PD gegenseitig abgestochen haben, eine unangekündigte Razzia alle paar Tage. Gute alte Zeiten.“ Keiner meldet sich mehr. Sie alle schauen zu Boden. Caro nickt, dann wendet sich wieder Robin zu. „Also, wie war das mit der alten Ordnung? Immer noch scharf drauf, die durchzusetzen?“ „Wir würden nicht alles rückgängig machen, BM. Das wäre dumm“, erwidert Robin kalt. „Ja, deshalb kam die Idee ja auch von dir“, erwidert Caro und hinter uns kichern die ersten. Caro zieht sie langsam auf ihre Seite. Sie redet nicht viel, aber wenn sie redet, dann reißt sie jeden mit. Robin knirscht mit den Zähnen. „Du bist zum Kämpfen, nicht zum Reden hier, Caro. Lass es uns beenden.“ „Oh, ich habe nicht vor, irgendetwas zu beenden. Nur dich“, sagt Caro und hebt ihre Stimme. „Schaut ihn euch an. Das ist euer sogenannter Anführer. Er verspricht euch die alte Ordnung, hat aber eigentlich nicht vor, sie durchzusetzen. Er wird darauf angesprochen und flüchtet sich in Themenwechsel und leere Drohungen. Ich sage euch, was Robin ist.“ Sie geht ganz langsam und bedrohlich auf Robin zu, während sie weiter spricht. „Er ist ein Schwächling, der nicht um euch und eure Freiheit besorgt ist, sondern nur darum, dass jemand anderes eine Macht über euch hat, die er nicht besitzt. Er will mein Amt nicht absetzen. Er will es neu besetzen.“ Sie bleibt kaum einen Meter vor Robin stehen. „Mit sich selbst“, sagt sie quälend langsam, dann dreht sie sich um und kommt wieder in unsere Richtung, wo sie ihre beiden Pokébälle aus ihrer Jeanstasche holt. „Ich habe euch gezeigt, dass er ein Lügner ist“, fährt sie fort und wendet sich wieder Robin zu. „Und jetzt zeige ich euch, dass er ein Schwächling ist.“ „Nightmare, reiß ihr Scherox in Stücke!“, schreit Robin und vor ihm materialisiert sich sein Arkani. Speichel trieft von seinen Lefzen und er beißt mehrere Male wild in die Luft. „Und wer hat gesagt, dass ich mit Scherox kämpfe?“, fragt Caro und hält den Turnierball in die Höhe. Ein roter Lichtblitz schießt daraus hervor und Pinsir erscheint vor ihr auf den Fliesen des Untergrunds. „Zeig ihm, wer die Insektenkönigin des Untergrunds wirklich ist, Pandora.“ Kapitel 14: Eiskalt (Blumenmädchen) ----------------------------------- Einen Moment lang stehen sich die beiden wortlos gegenüber, während ihre Pokémon sich gegenseitig beobachten. Arkani ist der erste, der sich bewegt. Er geht langsam seitwärts und Pandora folgt ihm wie ein Spiegelbild. „Nightmare, Feuerzahn!“, schreit Robin und Arkani springt in die Luft, dann rennt es auf Pinsir zu. „Pandora, Schwerttanz!“, ruft Caro und Pandora schlägt ihre Hörner wieder und wieder aneinander. Dann rammt Arkani sie und vergräbt seine feurig glühenden Zähne in Pandoras Schulter. Sie kreischt und windet sich aus seinem Griff, wodurch Arkani zurück gedrängt wird und sie wild anknurrt. „Nochmal Feuerzahn!“, ruft Robin und Arkani schleudert sich Pandora erneut entgegen. „Schaufler!“, schreit Caro und Pinsir beugt den Kopf, gräbt sich in den Boden und entgeht Arkanis Attacke um Haaresbreite. „Was?“ Robin starrt Caro an. Sie lächelt süffisant und verschränkt wieder ihre Arme. „Du hast mich einmal auf dem falschen Fuß erwischt, das gebe ich zu. Aber du hast deine Chance vertan, Robin. Eine Woche ist mehr als genug Zeit, mein Team aufzustocken.“ „Dein Pinsir kann nicht stark sein, BM,  spiel dich nicht so auf. Du magst ihm Schaufler beigebracht haben, aber ein niedriger Level wird sein Untergang sein.“ „Stimmt“, erwidert Caro und Robin sieht sie komisch an. „Warte auf Pinsirs Attacke, dann weich aus und beende es mit Feuerzahn, Nightmare.“ Arkani heult und scharrt mit den Pfoten. Ich kann Pandora nirgends sehen, sie muss tief unter der Erde sein. Caro sieht angespannt aus. Sie hält wie jeder in der Passage nach einer Erhebung im Boden Ausschau, die Pandora verraten könnte, aber da ist nichts. Plötzlich jault Arkani auf und wird mehrere Meter in die Höhe geschleudert. Aus dem Boden unter ihm schießt Pandora, die Scheren auf ihrem Kopf klappern bedrohlich aneinander. Arkani fällt mit einem lauten Knall zu Boden. Hechelnd versucht er, aufzustehen, aber seine Beine geben unter seinem Gewicht nach. Robin schaut sein Pokémon fassungslos an. „Nightmare…“, flüstert er und Arkani schaut zu ihm, dann sackt sein gewaltiger Kopf zur Seite und das Pokémon wird bewusstlos. Die Flammen auf seinem Fell schrumpfen, bis nur noch ein schwaches Glimmen übrig bleibt. „Das kann nicht sein…“ Robin starrt sein besiegtes Pokémon fassungslos an, dann zeigt er vorwurfsvoll mit dem Finger auf Caro. „Du hast nicht gewonnen! Das ist nicht dein Pokémon!“, schreit er. „Huh?“ Caro zieht eine Augenbraue hoch. „Ich habe es diesen Dienstag frisch gefangen. Einer deiner Biker-Freunde sollte mich vom Käferturnier zurückkommen gesehen haben. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du gerne eigenhändig die Dokumente einsehen. Wir können einbrechen wenn du willst.“ Sie zwinkert ihn verschwörerisch an. „Jetzt gleich, was hältst du davon?“ „Du bist ein Miststück, BM! Aber ich bin noch nicht fertig mit dir.“ „Oh, ich dachte das wärst du“, erwidert Caro gelassen und zieht eine Zigarette aus ihrer Jeanstasche. „Von hier an kennen wir nämlich schon das Ergebnis. Meine Pokémon werden dich ausradieren.“ „Das werden wir noch sehen, Mantis.“ Caro zuckt die Schultern. „Zeig, was du kannst.“ „Los, Ripper!“, schreit Robin und ein Magnayen taucht vor ihm auf, sein schwarz und grau gestromtes Fell ist aufgestellt und es faucht, während rote Augen uns in die Mangel nehmen. Caro wirkt nicht beeindruckt. „Gewissheit!“ Magnayen springt zweimal hin und her, dann läuft es auf Pinsir zu und springt hoch in die Luft. „Kreuzschere“, befiehlt Caro und als Magnayen auf Pandora zufliegt, reißt sie den Kopf in die Höhe und schleudert Magnayen mit ungeheurer Gewalt über ihren Kopf in unsere Richtung. Ich springe zur Seite, um von dem Körper nicht getroffen zu werden. Magnayen bleibt wenige Meter hinter uns liegen. Es rührt sich nicht. Robin knirscht mit den Zähnen und greift nach dem nächsten Pokéball. Aber die Hand eines seiner Gefolgsleute hält ihn fest. Der Mann mit Glatze und Tattoos auf beiden Armen schüttelt den Kopf. „Mach es nicht schlimmer als es ist“, sagt Caro entspannt und zieht ihre Zigarette in einem Zug leer, dann wirft sie den Stummel vor sich auf den Boden. „Wir beide wissen, dass du nur noch einen zweiten Unlichttyp hast. Erspar dir die Demütigung und verschwinde aus meiner Stadt.“ Ihre Stimme ist ruhig, aber es liegt so viel Abneigung darin, dass es mir kalt den Rücken runterläuft. Robin reißt sich von dem Tattoomann los und ruft Ripper zurück. „Das ist noch nicht das Ende, BM. Ich komme wieder, darauf kannst du Gift nehmen.“ „Habe ich nicht vor“, erwidert Caro und fügt leise hinzu, „Fucker.“ Robin dreht sich um und stößt jeden, der ihm im Weg steht, zur Seite. Ich erwarte, dass seine Anhänger ihm folgen, aber bis auf drei oder vier bleiben alle hier. Caro fährt sich durch ihr himmelblaues Haar und seufzt. „Bist du hier, Gregory?“, ruft sie laut und alle schauen sich verwirrt um. Dann wird es kalt. Auf Wänden und Boden bildet sich eine zarte Eisschicht, die am anderen Ende der Passage beginnt und sich unter den Füßen der Zuschauer fortsetzt, bis sie uns erreicht. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Hoodie bis ganz nach oben und die Kapuze auf, aber es hilft nichts. Neben mir zieht Caro ebenfalls ihren Mantel an. Ich zittere, als die Menschenmasse sich vor uns teilt. Aus dem Gang, der sich bildet, schwebt ein Pokémon, dicht gefolgt von seinem Trainer. Das Frosdedje summt leise und seine Stimme klingt wie das Echo eines Schneesturms gemischt mit zersplitterndem Eis. Es jagt mir eine zweite Gänsehaut über den Rücken und ich reibe instinktiv meine Arme. Der Mann, der ihm folgt, ist groß, mindestens 1,90m und hat langes schwarzes Haar, das ihm locker über die Schultern fällt. Seine Gesichtszüge sind kantig und herb, aber trotzdem faszinierend. Ebenfalls faszinierend finde ich, dass er außer einer weiten schneeweißen Baggy-Hose nichts trägt. „Ist das... der, von dem du erzählt hast?“, wispere ich und Caro schnaubt. Linda antwortet für sie. „Das ist Gregory. Er übernimmt hier das Kommando, wenn Caro mal weg ist und ist in so ziemlich allem ihre zweite Hand.“ „Und er ist mein Ex“, fügt Caro kalt hinzu. „Hey, Gregory. Ich dachte, wir hatten eine Vereinbarung.“ „Sorry, Hun“, erwidert Gregory, der weiterhin auf uns zukommt. Wieso friert er nicht verdammt noch mal? „Ich hatte zu tun.“ „Du hattest Frauen, Hun“, sagt Caro schneidend. „Du solltest auf den Laden hier aufpassen, keine Rebellion anzetteln.“ „Ich habe nichts angezettelt, duh“, verteidigt sich Gregory und schiebt seine Hüfte ein wenig nach vorne, während er sich am Kopf kratzt. „Musst du mir glauben.“ „Tja, du hast Robin auf jeden Fall nicht davon abgehalten, hier herein zu spazieren und meinen Leuten Lügen aufzutischen. Und am Montag hätten wir deine Hilfe auch gebrauchen können, nur so zur Info.“ „Heeey, chill dich, Caro. Was sollte ich denn tun?“, fragt er und tritt mit einem Fuß Eis vom Boden. Frosdedje klimpert mit eisigen Wimpern und schwebt grazil um Caro herum, deren Mantel an den Ecken zu gefrieren beginnt. „Eis ist auch nicht effektiv gegen Feuer. Außerdem bist du Black Mantis, nicht ich.“ „Es gab andere Wege“, zischt Caro und tut ihr bestes, Frosdedjes frostige Anwesenheit zu ignorieren, aber ihre Lippen sind schon blau. „Schau mal, hun, warum gehen wir nicht ein Stückchen und reden über alles?“ „Hun mich nicht, Greg“, sagt Caro kühl, setzt sich dann aber in Bewegung und Gregory grinst sie siegessicher an. Wir folgen ihm zum anderen Ende der Passage und steigen die Treppen empor. Dann verlassen wir den Untergrund und betreten eine von Dukatias Hintergassen. Ich brauche einen Moment, bis ich Karins Haus weiter südlich erkenne. Ich wusste gar nicht, dass man hier wieder rauskommt. Kaum sind wir an der frischen Luft, ruft Caro Schlitzer und kaum sieht er Gregory, knurrt er auf diese bedrohliche Art, die ich an meinem ersten Tag hier live erleben konnte. Nur zehnmal bedrohlicher, wenn das geht. Beschützend stellt er sich neben Caro, die sich inzwischen eine neue Zigarette angezündet hat und jetzt seinen Hals krault. „Jetzt können wir reden“, sagt sie zuckersüß und Gregory seufzt. „Das war schon immer dein Problem“, sagt er und steckt die Hände in die tiefen Hosentaschen. „Du lässt dich von deinem Pokémon zu sehr rumkommandieren.“ „Ich lasse mich nicht rumkommandieren“, erwidert Caro und setzt sich in Bewegung. „Ich genieße seine Begleitung einfach weit mehr als deine.“ Wir folgen Caro und Linda und ich werfen uns vielsagende Blicke zu. Gregory seufzt, dann hellt sich sein Gesicht plötzlich auf, als hätte er einen genialen Einfall. „Manche Sachen kannst du nur mit mir genießen, Caro. Du weißt schon.“ Er wackelt mit den Augenbrauen und ich muss einen Moment lang nachdenken, bevor ich knallrot werde. „Sagt wer?“, fragt Caro und dreht sich zu Gregory um. „Schlitzer war in jeder Situation eine bessere Gesellschaft als du. In jeder.“ Ihr Grinsen hat etwas von Robins Magnayen, nur Zähne und zurückgezogene Lefzen. Das nimmt Gregory nun endgültig den Wind aus den Segeln und er lässt den Kopf hängen. Frosdedje fliegt zu ihm und hält sein Gesicht in ihren Händen. „Frooos…“ flüstert sie mit ihrer Eissplitterstimme und ich muss mich unwillkürlich schütteln. Frosdedje, die meine Reaktion sieht, schwebt aufgeregt zu mir und umrundet mich mehrere Male. Ihre Nähe ist mit dem Aufenthalt in einem Schneesturm zu vergleichen, nur nicht so warm. „Komm her, Crystal“, ruft Gregory und Frosdedje lässt mich endlich in Ruhe. Ist mir egal, dass er Caros Ex ist, in diesem Moment ist er mein Held. „Also Caro, dann kommen wir eben direkt zum Geschäftlichen.“ „Ich bitte darum.“ Sie zieht an ihrer Zigarette und pustet ihm einen Rauchring ins Gesicht. Gregory ignoriert sie. „Wir haben zwei neue Händler, die sich ihre Erlaubnis bei dir abholen wollen. Du triffst sie morgen Nacht in dem ehemaligen Fotoraum.“ „Namen?“ „Joey und Mike.“ Gregory kratzt sich am Kopf, während er neben Caro hergeht. „Joey verkauft anscheinend irgend ´ne neue Popdroge, frag mich nicht, und Mike hat seltene Items aus Einall, die´s hier noch nicht zu kaufen gibt.“ „Legal oder illegal?“, fragt Caro. „Vorerst legal, aber mit dem Potenzial, nachträglich auf die schwarze Liste zu kommen. Wie immer halt mit dem neuen Scheiß.“ „Ich kümmere mich darum“, sagt Caro knapp und Scherox knurrt zustimmend. „Sonst noch was?“ „Was macht dein Brüderchen? Hab gehört, er ist ein ganz passabler Trainer geworden.“ „Keine Ahnung“, erwidert Caro kühl. „Solange er sich wohl fühlt, kann er machen, was er will.“ „Klingt fair. Hey, Caro.“ Gregory dreht sich kurz misstrauisch zu uns um, dann legt er einen Arm um ihre Schulter und zieht sie ein wenig schneller nach vorne. Scherox knurrt und klappert mit den riesigen roten Scheren. „Warum probieren wir´s nicht nochmal, hm?“, fragt er leise, als würden wir ihn dann nicht mehr hören. „War doch ´ne gute Zeit.“ „Wann genau? Als du noch nicht da warst oder als ich dich rausgeschmissen habe?“ Sie schaut ihn schneidend an. „Ach Carooo, du bist immer so kalt… Gib ´nem guten Typen ´ne zweite Chance, hm?“ Caro schüttelt Gregorys Arm ab und geht weiter gerade aus, als wäre nichts vorgefallen. „Ich gebe keine zweiten Chancen“, sagt sie und es läuft mir kalt den Rücken runter, obwohl Frosdedje mit mehreren Metern Abstand vor uns her schwebt. „Abby, wir gehen“, sagt sie dann und ich beschleunige meine Schritte, bis ich zu den beiden aufgeholt habe. Scherox steht neben mir, aber er schenkt mir keine Beachtung, was in seiner jetzigen Laune wohl ein gutes Zeichen ist. „Wir sehen uns, hun“, verabschiedet sich Gregory und Frosdedje summt eine kleine Melodie, die mir die Haare zu Bergen stehen lässt. Wenn Skus Kreideschrei ein Lied wäre, dann würde Frosdedje es singen. Wie Gregory es aushält, kann ich mir nicht erklären. An der Hauptstraße trennen er und sein Pokémon sich von uns. Linda begleitet uns noch einige Meter, bevor sie sich ebenfalls mit einem Nicken von Caro und einer warmen Umarmung von mir verabschiedet. Dann geht sie in Richtung Kaufhaus. „Wie kommt sie da nachts rein?“, frage ich Caro, während wir zurück zum Blumenladen schlendern. Es ist noch nicht ganz dunkel, aber die Sonne ist bereits untergegangen und der Himmel ist mit dicken, blauroten Wolken verhangen. „Linda hat ihre Methoden“, erwidert Caro und lässt den aufgerauchten Zigarettenstummel zu Boden fallen. „Es gibt mehr als nur einen geheimen Eingang zu den Kellern. Nicht mal die Kaufhausmanager kennen jeden Raum da unten, dafür ist das Gebäude zu alt.“ Den restlichen Teil des Weges verbringen wir in Schweigen. Als wir den Laden erreichen, lasse ich Sku raus. Ihre roten Augen leuchten im Laternenschein und sie schaut mich gespannt an. „Hey Süße“, sage ich und gehe vor ihr in die Knie, wo sie ihren Kopf an Meinen reibt und mit ihrem gigantischen Schweif unter meiner Nase entlang fährt. Caro lächelt, dann schließt sie auf und verschwindet mit Scherox im Schlepptau durch die Tür. „Lust auf einen kleinen Nachtspaziergang?“, frage ich und Sku schnurrt zustimmend. Mit ihr neben mir wirkt Dukatia City nachts nicht mehr bedrohlich oder ungewohnt. Sku hat diese ruhige, entspannte Art, die andere in ihren Bann zieht. Wir schlendern ziellos durch die Straßen, während ich Sku über alles aufkläre, was heute Abend passiert ist. Ich fühle mich schuldig, weil ich ihr in der letzten Woche kaum Gesellschaft geleistet habe. „Wir haben ein neues Teammitglied“, sage ich und Sku hebt interessiert den Kopf. „Ich zeige ihn dir gleich, keine Sorge“, lache ich und steuere ohne es zu merken das Global Terminal an. Die lange Straße, die auf das Hochhaus zuführt, ist mit mehr Straßenlaternen als gewöhnlich in Dukatia gesäumt und ich schaue sehnsüchtig zum Radioturm, der neben dem Bahnhof in die Höhe ragt. „Morgen“, verspreche ich Sku, als wir vorbei gehen und die Fontänen in Sicht kommen. „Morgen besuchen wir den Radioturm. Und niemand wird uns davon abhalten.“ Als wir das Plateau erreichen, stelle ich mich mit Sku an das Geländer, hinter dem es steil bergab geht. Seichte Wellen branden gegen die zwei Meter tiefe Klippe und Gischt spritzt mir in Gesicht. Sku stellt sich auf ihre Hinterbeine und lehnt die Vorderpfoten wie ich an das Geländer. Gemeinsam starren wir in die Dunkelheit. Trotz der nächtlichen Nebel kann ich weit entfernt die Schemen von Inselgruppen erkennen. Ich ziehe Hunters Pokéball aus der Tasche und halte ihn lose in der Hand. Rotes Licht erhellt die Nacht und Ibitak materialisiert sich vor uns in der Luft, wo er gemächlich mit den großen Flügen auf und ab schlägt, um sich in der Luft zu halten. Ich schaue neugierig zu Sku. Sie schnurrt und schaut mich ungläubig an. Wolltest du ihn nicht umbringen? scheint ihr Blick zu fragen und ich wedele wegwerfend mit der Hand. „Er hat sich als sehr nützlich erwiesen. Sku, das ist Hunter. Hunter, mein Starter Sku.“ Hunter krächzt freudig und landet mit schlagenden Schwingen auf dem Geländer, dann lehnt er sich nach vorne und klappt die Flügel ein. Er krächzt erneut und klappert leise mit dem Schnabel. Skus Fell sträubt sich einen Hauch, aber sonst bleibt sie ruhig, was ich als gutes Zeichen nehme. Irgendwann fliegt Hunter davon, seine kräftigen Flügelschläge verleihen ihm eine außergewöhnliche Geschwindigkeit und innerhalb von Sekunden ist er aus meiner Sichtweite verschwunden. Nach ein paar Minuten seiner Abwesenheit mache ich mir Sorgen, aber dann taucht seine dunkle Gestalt in der Ferne auf. In seinem langen Schnabel baumelt irgendein Fischpokémon. Er verschlingt es im Flug, noch bevor er uns erreicht. Ich verziehe das Gesicht, aber was soll man machen. Es ist schließlich nicht so, als würden sie sich in der Wildnis von Beeren und Nüssen ernähren.   Wir kehren irgendwann nachts zu Caros Wohnung zurück. Hunter ist wieder sicher in seinem Pokéball verstaut, ausgelassener und satter als zuvor und Sku hat mich irgendwann davon überzeugt, sie zu tragen. Wahrscheinlich war es mein schlechtes Gewissen, jedenfalls tut mein Rücken weh und meine Beine werden müde, als ich leise die Holztreppe hoch in die Wohnung hinauf steige. Glücklicherweise knarzen weder die Stufen noch die Eingangstür und ich kann unbehelligt in meinem Zimmer verschwinden, wo ich Sku auf mein Bett abschüttele und mich ausziehe. Nur in Unterhose und BH schleiche ich zurück, um mir schnell die Zähne zu putzen. Es hätte mich nicht verwundern sollen, dass ich Scherox auf dem Weg dorthin begegne. Wir scheinen so ein Timing zu haben, bei dem er mich immer in einem möglichst niedrigen Ankleidestatus antrifft. Glücklicherweise hebt er nur kurz den Kopf, dann lässt er sich zurück auf das Sofa sinken und ich kann ungestört ins Bad. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass Scherox in Caros Bett schläft, aber jetzt kommt mir die Vermutung idiotisch vor. Ihr Bett ist groß, aber nicht so groß. Als ich fertig bin, spüle ich meinen Durst noch schnell mit einem Glas Wasser aus der Küche runter, dann schleiche ich auf Zehenspitzen an Scherox vorbei und zurück in mein Zimmer. Erschöpft aber glücklich mache ich das Fenster weit auf und lasse mich auf das Bett fallen. Vor Habitaks Geklopfe muss ich schließlich keine Angst mehr haben und es ist nun mal wirklich warm. Selbst nachts.   Als ich am nächsten Morgen in die Küche komme, strömt mir ein wundervoller Geruch entgegen. „Morgen“, begrüße ich Caro, die gerade ein Blech dampfender Muffins aus dem Ofen holt. Auf dem Herd brutzelt eine große Portion Rührei. „Morgen.“ Sie stellt die Muffinform auf der Theke ab und zieht die Ofenhandschuhe aus. Sie trägt ein flatternden schwarzen Rock und ein violettes Tank-Top, ihr blaues Haar hat sie zur Seite geflochten. Ich setze mich an den Tisch, während Caro mir zwei Muffins und frischen Joghurt auf den Teller häuft. Dann nimmt sie den pfeifenden Teekessel vom Herd und gießt mir heißes Wasser in eine große Tasse. Mein Lieblingstee liegt bereits neben meinem Teller, also packe ich das kleine Päckchen aus und hänge den Beutel in die Tasse. Das Wasser färbt sich augenblicklich feuerrot. „Was sind das für welche?“, frage ich und zerteile einen der Muffins mit meiner Gabel, während Caro Rührei auf Scherox´ Teller türmt. „Qualotmuffins“, sagt Caro und setzt sich zu mir an den Tisch. Als ich mir den ersten Bissen in den Mund schiebe, prickelt es auf meiner Zunge. Die kleinen Beeren im Muffin sind knackig, obwohl sie gebacken wurden, schmecken süß-sauer und scharf im Abgang, aber in Verbindung mit dem zuckrig süßen Muffinteig und dem frischen Joghurt schmecken sie absolut überirdisch. „Wischo kanscht du scho gut kochen?“, frage ich mit vollem Mund und Caro grinst. „Nur so.“ Ich schaue sie schräg von der Seite an und sie lacht. Die Spannung der letzten Tage ist scheinbar nicht nur mir aufs Gemüt geschlagen. Caro wirkt gleich viel umgänglicher. „Meine Eltern haben sich sehr früh getrennt und weil mein Vater nicht besonders gut kochen kann, hat…“ Sie bricht ab und schaut den Muffin auf ihrem Teller an. Mit einem Mal ist die Stimmung gekippt. „Jedenfalls habe ich es gelernt.“ „Die sind wirklich super“, sage ich, um die Stimmung wieder aufzuheitern, aber Caro starrt weiterhin auf ihren Muffin, bevor sie langsam weiter isst. Scherox wirft ihr einen besorgten und mir einen wütenden Blick zu. „Hast du noch irgendwelche Auslieferungsaufträge für mich?“, frage ich und schiebe mir noch eine Gabel Muffin in den Mund. „Nur zwei. Und morgen ist geschlossen.“ Morgen! „Du hast nicht zufällig einen Fernseher?“, frage ich hoffnungsvoll, auch wenn ich nicht weiß, wo sie den versteckt haben soll. „Ich gucke kein Fernsehen“, erwidert Caro simpel und steht auf, um mir noch einen Muffin auf den Teller zu tun. Auch Scherox bekommt einen ab, auch wenn er misstrauisch daran riecht und mit einem metallischen Knurren das Gesicht verzieht. Abgesehen von Ei scheint er nicht so auf Menschenessen zu stehen. Ich nicke nachdenklich. „Brauchst du sonst noch meine Hilfe heute?“, frage ich. „Wenn du was vorhast, halte ich dich nicht auf Abby“, sagt Caro und sieht mich ernst an. „Du hast mir diese Woche schon mehr als genug geholfen. Mach dir ruhig ein nettes Wochenende. Linda kommt eh gleich vorbei.“ „Okay, cool.“ Ich zerteile meinen dritten Muffin und schmiere Joghurt auf die Schnittfläche, dann nehme ich den Beutel aus meinem Tee und schlürfe daran. Tamottee. Ich stehe auf, hole mir Milch und Zucker und tue von beidem reichlich in die rote Flüssigkeit. Dann nehme ich einen großen Schluck. Der Tamotgeschmack verbrennt mir fast die Zunge, aber die Süße balanciert es gerade so aus, während die Milch das Brennen stoppt. Ich liebe Schärfe. „Ich weiß nicht, wie du das Zeug trinken kannst“, bemerkt Caro und schaut mich mit mildem Interesse an, als wäre ich irgendeine Art seltener Pilz. Ich zucke die Schultern und nehme noch ein paar Schlucke, bis mein ganzer Mundraum angenehm prickelt und brennt, dann mache ich mich über den Rest von meinem Muffin her. „Ich kann nicht zufällig ein paar mitnehmen?“, frage ich. „Als Snack für später?“ „Bedien dich.“ Ich esse zu Ende, dann packe ich vier von den Muffins in eine Brotdose und nehme sie mit in mein Zimmer, wo ich sie zusammen mit meinen Inlinern in meinen Rucksack packe. Dann gehe ich ins Bad, putze mir die Zähne, lasse Sku raus, damit sie sich von Caro ihr Frühstück abschnurren kann und mache mir zwei Flechtzöpfe. Als ich fertig bin, gehe ich mit Caro runter in den Laden, fege kurz und wische die Theke ab, dann rufe ich Sku, die uns träge gefolgt und beinahe die Treppe runter gekullert ist, in ihren Pokéball zurück, nehme Caros Blumenlieferungen an und verschwinde durch die Eingangstür nach draußen. Trotz der frühen Uhrzeit ist es bereits angenehm warm, ein kühler Wind weht mir von der Meerseite entgegen und Vogelpokémon in den Bäumen zwitschern laut, ihre Stimmen gesellen sich zu dem langsam anschwellenden, geschäftigen Treiben von Johtos Hauptstadt. Ich spähe auf den Adressenzettel, den Caro an die Blumen gehängt hat. Eine der Lieferungen geht an eine Frau Maes, die in der Nähe des Fahrradladens wohnt. Weil ich ausnahmsweise Mal nicht in Eile bin, gehe ich zu Fuß. Ich durchquere die Zugüberführung, nicke Menschen zu, die ich schon mal im Blumenladen gesehen habe und biege dann links ab. Ich folge der Straße weiter südlich, während ich links und rechts nach der Nummer 16 Ausschau halte. In dem Hochhaus gleich neben dem Fahrradladen werde ich fündig. Ich gehe zur Tür, suche nach der Klingel mit der Anschrift Maes und drücke. Ich kann das Ding Dong bis nach unten hören. Die Sprechanlage geht an. „Hallo?“, fragt eine junge Frauenstimme. Im Hintergrund höre ich Geschrei. „Blumenlieferung für Frau Maes“, sage ich fröhlich. „Kann ich hoch kommen?“ Statt einer Antwort surrt die Tür und ich drücke dagegen. Als ich ins Innere trete, wird mir kalt, so stark ist die Klimaanlage eingestellt. Ich weiß nicht, in welchem Stockwerk die Frau wohnt, also gehe ich einfach los und hoffe, dass sie mir die Tür aufhalten wird. Froh darüber, die Inliner nicht anzuhaben, stiefele ich drei Treppen hoch, bis über mir das Geräusch einer sich öffnenden Tür erklingt, gepaart mit dem Geschrei aus der Sprechanlage. Ich seufze und gehe die letzte Treppe nach oben. Frau Maes ist schmal wie Caro, aber größer, mit dunklem Teint und schwarzem krausen Haar. Auf dem Arm hat sie ein genauso dunkles Baby mit Pausbäckchen und roten Augen, das ganz wie der Verursacher des Geschreis aussieht. Sie hält es in einem Arm und wiegt es auf ihrer Hüfte hin und her, während sie mit der anderen die Tür offen hält. „Tut mir Leid wegen der Treppen“, sagt sie entschuldigend. „Ich bin jung“, sage ich grinsend und suche den Blumenstrauß für sie heraus. „Soll ich den rein bringen?“ „Ja, bitte.“ Sie sieht erleichtert aus. Ich wüsste auch nicht, ob ich Blume und Baby und Geld und Tür auf einmal in der Hand haben will. Sie tritt zur Seite und macht mir Platz. Ihre Wohnung ist klein und eng geschnitten, mit schmalem Flur, kleiner Küche und zwei weiteren Zimmern, deren Türen geschlossen sind, aber alles wirkt sauber und gepflegt. Ich gehe in die Küche und stelle den Blumenstrauß auf dem Tisch ab, der mit Zeitungen und Notizzetteln gefüllt ist. Frau Maes setzt ihr Baby auf den Boden und räumt schnell die Zeitungen weg. Dann kramt sie Geld aus der Tasche ihrer weiten Baumwollhose und drückt es mir in die Hand. „Vielen Dank für die Mühe“, sagt sie. „Keine Ursache.“ Ich verabschiede mich, lächle das kleine Baby an und mache mich auf den Weg zur Treppe. Als ich den Abstieg hinter mich gebracht habe, überprüfe ich die zweite Adresse. Sie ist gar nicht weit von hier, auf der anderen Straßenseite gleich neben der Spielhalle. Auf dem Weg dorthin mache ich einen kleinen Zwischenstopp im Kaufhaus. Die letzten Tage war es so stressig, dass ich Papas Item total vergessen habe, aber jetzt habe ich schließlich Zeit. Ich gehe zur Rezeption, zeige meinen Bestellzettel vor und der Kassierer gibt mir ein kleines versiegeltes Päckchen, dass ich in meinem Rucksack verschwinden lasse. Als ich das Kaufhaus verlasse, packe ich es schnell aus. In dem Päckchen liegt dicht versiegelt ein Medaillon, dessen Rück- und Vorderseite durchlässig sind. Darin klebt ein Batzen dunkelvioletter Schleim, der glibberig hin und her wackelt. Ich hole Sku raus und ziehe ihr den Giftschleim an. Als er mit ihrem Hals in Kontakt kommt, schnurrt sie wohlig. Danach besuche ich das Pokécenter. Ich logge mich mit meiner ID an dem Computer ein und beschließe, einige meiner E-Mails zu beantworten. Es ist schließlich fast eine ganze Woche vergangen. Sicher kann es nicht schaden, Mama von meiner Lebendigkeit zu unterrichten. Auf die Gefahr hin, dass sie einen Privatdetektiv engagiert, versteht sich. Als ich mein Postfach öffne, werde ich zunächst von über zehn Nachrichte meiner Mutter überschüttert. Genervt scanne ich die ersten, aber als ich merke, dass sie in jeder dasselbe schreibt, lösche ich einfach alle und gehe direkt zu meiner Antwort über. Hallo Mama. Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen! BITTE! Ich habe einen Ort zum Schlafen, neue Freunde und bin absolut unversehrt und nicht tot. Wirklich. Vertrau mir einfach, ich kann auf mich selbst aufpassen. Setz Papa nicht unter Druck, er weiß auch nicht, wo ich bin. Ich melde mich, wenn es etwas Neues gibt. Grüß alle von mir. Abby Ich drücke auf Senden, dann logge ich mich aus und verlasse das Pokécenter wieder, während Schwester Joy mir fröhlich hinterher winkt. Ich gehe ein Stück die Straße hoch, dann biege ich beim Kasino links ab und suche nach Hausnummer 22. Ein kleines Einfamilienhaus, wenn ich das richtig erkenne, mit grauem Blechdach und brauner Ziegelsteinfassade. Ich klingle und Frau Laval öffnet wenige Sekunden später. Sie ist groß und kräftig, mit feuerroter Hochsteckfrisur und Apfelwangen. Als sie mich sieht strahlt sie und tritt zur Seite. „Komm rein, Kleine, komm rein! Bist du neu bei Caro?“ Ich folge ihrer Einladung und werde in ein üppig eingerichtetes Wohnzimmer mit großen Sofas und genauso großem Flachbildschirm geleitet. „Ja, bin ich“, beantworte ich ihre Frage, stelle die Blumen ab und setze mich auf das dunkelgraue Sofa. Die Wand hinter mir ist rot. „Möchtest du etwas trinken? Tee, Kaffee, Saft, Milch… Ich hab auch was stärkeres, wenn du willst, aber du siehst gar nicht so alt aus...“ Sie nimmt mein Kinn in ihre kräftige Hand und begutachtet mein Gesicht von allen Seiten. „Tee ist toll“, sage ich, ein wenig eingeschüchtert von der Powerfrau. „Tee, wie du magst.“ Sie eilt in die Küche und kommt wenige Momente später zurück, während ich einen Wasserkocher im Hintergrund höre. „Ich finde es ja wunderbar, dass Caroline diesen Auslieferservice anbietet, man wird ja nicht jünger und es gibt immer so viel zu tun. Naja, ich hatte schon mal mehr zu tun, gebe ich zu, seit mein Sohn weg ist, aber das Haus putzt sich nicht von alleine, nicht wahr?“ Ich überlege gerade, ob sie auf meine Antwort wartet, da spricht sie schon weiter. „Aber es ist ja gut, wenn man beschäftigt ist. Es gibt nichts Schlimmeres als Langeweile. Rumsitzen, nichts tun, ich ertrage es nicht. Lass dir einst gesagt sein, nichts ist unerträglicher.“ Sie schaut mich einen Moment lang an, dann weicht ihr Gesichtsausdruck dem von Entsetzen. „Die Kekse!“, ruft sie und springt auf, soweit das bei ihrer Figur geht. Ich würde sie nie als fett bezeichnen und sie ist schlanker als Linda, aber trotzdem ist ihr ganzer Körper kräftig. Es scheint sie nicht im Geringsten zu stören. Eine Minute später kommt sie mit einem Tablett zurück, auf dem eine Tasse Kaffee, eine Flasche Sahnelikör, mein Tee und eine große Platte ofenwarmer Schokoladenkekse stehen. Obwohl mein Frühstück höchstes eine Stunde her ist, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. „Nimm dir, nimm dir, du bist in der Wachstumsphase, da brauchst du ordentlich was zu Essen. Als Gerard noch so jung war, da wuchs er in einem Tempo, das glaubst du nicht, er ist so groß geworden… Aber ich habe ihn ja schon lange nicht mehr gesehen.“ Sie schaut nachdenklich auf das Tablett, dann zuckt sie die Achseln und gießt sich einen großen Schluck Likör in den Kaffee. Ich nehme mir in der Zwischenzeit einen der Kekse und beginne, daran zu knabbern. Warum kann ich Dukatia City eigentlich jeder so wundervoll kochen? „Wo ist ihr Sohn jetzt?“, frage ich zwischen zwei Bissen und Frau Lavals Gesicht hellt sich sofort auf. Sie scheint die Art von Frau zu sein, die für jeden Grund zu reden dankbar ist, und wenn es um das Schlafverhalten von Bummelz ginge. „Zuletzt war er auf irgendeiner abgelegenen Insel in Hoenn unterwegs, auch wenn ich nicht genau weiß, was er dort zu suchen hat. Wahrscheinlich trainiert er seine Pokémon, er ist ein Pokémontrainer musst du wissen, aber er verfolgt merkwürdige Ziele. Ich weiß nie, was in seinem Kopf vor sich geht.“ „Wieso merkwürdig?“ „Als er seine Reise vor zwei Jahren begann, wollte er der stärkste Pokémontrainer der Welt werden und ging nach Viola City, um seinen ersten Orden zu gewinnen. Aber danach ist er kreuz und quer durch Johto gereist, ohne weitere Arenen zu besuchen und schließlich hat er seine Reisen auf Kanto und Hoenn ausgeweitet. Ich weiß wirklich nicht, was er jetzt gerade macht. Aber er ist ein großer Junge, er passt schon auf sich auf.“ „Ich wünschte, meine Mutter wäre so entspannt“, sage ich und trinke einen Schluck Tee. „Du wohnst nicht hier?“, fragt Frau Laval und nimmt sich ebenfalls einen Keks, den sie in ihren Kaffee mit Schuss tunkt. „Ich komme aus Orania City“, sage ich. „Ich bin erst seit einer Woche hier.“ „Du hast also eine dieser Klammermütter… Aber nimm es ihr nicht übel. Ich hatte damals auch eine harte Zeit. Ich wusste ja nicht, was Gerard auf seinen Reisen passieren würde. Mittlerweile weiß ich, dass er gut auf sich aufpassen kann, aber eine Mutter muss erst mal dieses Vertrauen in ihr Kind bekommen. Gib ihr ein paar Wochen Zeit, melde dich regelmäßig und sie wird schon merken, dass sie sich keine Sorgen machen muss.“ Sie legt ihre fleischige Hand auf meine Schulter und drückt kräftig. „Das sind nun mal Mütter. Sie machen sich unnötig Sorgen, reagieren über, aber nur, weil sie ihre Kinder lieben. Es wird besser, keine Sorge.“ „Gut zu wissen“, erwidere ich und beiße noch einmal in meinen Keks, bevor ich meinen Tee austrinke. „Ich muss dann jetzt weiter, Frau Laval. Danke für den Tee und die Kekse, die waren toll.“ „Ach, nichts zu danken, Schätzchen, hier ist das Geld, hier ist das Trinkgeld und nimm dir noch ein paar von den Keksen mit, sonst esse ich die alle alleine auf.“ Sie steht auf und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich bedanke mich nochmal, packe ein paar von den Keksen zu den Muffins in die Dose, stecke das Geld ein und werde von Frau Laval zur Tür begleitet. „Ich heiße Abby“, sage ich und reiche ihr meine Hand. „War nett, sie kennen zu lernen.“ „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, es war schön mit dir zu plauschen. Gute Heimreise.“ Sie winkt mir nach, als ich die Straße nach Süden zu Karins Haus nehme. Es gibt da noch etwas, dass ich mit ihr besprechen möchte.   Als ich klopfe, macht Karin beinahe sofort die Tür auf. „Ich warte schon die ganze Woche auf dich“, sagt sie vorwurfsvoll und lässt mich rein. Wir setzen uns zu ihr aufs Sofa und ich erzähle ihr von den stressigen Tagen, ohne den Untergrund oder Caros zweite Identität zu erwähnen. Ich weiß nicht, wie viel Karin weiß, aber ich will nichts ausplaudern. „Ich muss mich für Margrets Verhalten entschuldigen, Abby“, sagt Karin schließlich und nimmt meine Hand in ihre eigene, runzlige. Sie ist ganz warm. „Margret war immer ein liebes Mädchen, auch wenn sie anderen gehörig ihre Meinung sagen konnte, wenn sie wollte. Aber Evas Tod hat sie verändert. Zu mir ist sie wie immer aber manchmal glaube ich, dass sie eifersüchtig wird, wenn jemand anderes in unseren engen Kreis aufgenommen wird. Als wäre Evas Andenken etwas, das man wegsperren und beschützen müsste.“ Sie seufzt. „Dazu kam sicherlich auch der Stress vor dem Urlaub, du weißt ja, wie das ist, man muss packen, alles organisieren…“ Sie schaut mich entschuldigend an. „Kein Problem“, sage ich und drücke Karins Hand. Sie lächelt. Ich löse unsere Hände, dann hebe ich den Kopf und schaue Karin direkt an. „Wäre es übrigens möglich, dass ich morgen Abend hier Fernsehen gucken könnte? So um… 20:15 Uhr?“ Karin grinst. „Das ließe sich einrichten. Ich gucke da allerdings schon eine Reportage. Wenn du also etwas Bestimmtes gucken willst…“ „Oh, Reportage klingt gut“, sage ich. „Ich persönlich finde ja, dass PCN die besten Reportagen bringt.“ Karin lächelt mich wissend an. „Da bin ich ganz deiner Meinung, Abbygail. Also, morgen Abend?“ Sie streckt mir ihre Hand entgegen und ich ergreife sie einem traditionellen Handschlag. „Abgemacht“, stimme ich zu und grinse. Der Abend ist gerettet. Kapitel 15: Kontakte knüpfen (Red XXL) -------------------------------------- Ich verabschiede mich von Karin, dann mache ich mich endlich auf den Weg zum Radioturm. Ich kann gar nicht schnell genug hinkommen, meine Schritte sind beschwingt und die Passanten schauen mich komisch an, wenn ich unbewusst vor mich hin summe. Als ich den Turm zum zweiten Mal in dieser Woche betrete, ist er weit voller als noch am Montag. Ich scheine nicht die einzige neugierige Besucherin zu sein. Ich stelle mich in der Schlange an der Rezeption an und lausche einigen der Gespräche. Die meisten sind hier, weil sie Golds Interview gehört haben und hoffen, irgendwo Spuren von ihm zu finden. Als hätte er hier absichtlich Hinweise hinterlassen. Ich denke an meinen kurzen Wortwechsel mit der Legende zurück und mir wird sofort warm ums Herz. Als ich an der Reihe bin, zahle ich 500 PD Eintritt, aber damit kann ich leben. Das ganze Trinkgeld und mein Sieg gegen Eliott haben mein Vermögen ein wenig aufgestockt. Ich bin nicht reich, aber das hier muss drin sein. Der Radioturm ist schön gestaltet. Rote Plüschteppiche auf grauen Fliesen, beige Wände mit großen Glasfenstern und Topfpflanzen, dazu Glastische mit blauen Sitzgelegenheiten. An den Wänden hängen Etagenschilder und das ein oder andere Bild von Dukatia Citys schönsten Attraktionen, dem Nationalpark oder dem Meer zum Beispiel. Sehr geschmackvoll. Ich bin so in meine Umgebung vertieft, dass ich gar nicht bemerke, wie das Mädchen vor mir stehen bleibt, bis ich in sie hinein gelaufen bin. Sie stolpert und nur meine schnell nach vorne schnellende Hand hält sie von einem Sturz ab. „Tut mir Leid! Geht es dir gut?“, frage ich geschockt und ziehe sie hoch. Sie dreht sich um und lässt ihren Blick blitzschnell über mich gleiten, dann lächelt sie gezwungen. „Ja, nichts passiert.“ Ich lasse sie los. Das Mädchen ist etwas älter als ich, mit pechschwarzem, kinnlangem Haar, einem runden Gesicht und nussbraunen Augen. Ihre Kleider sind einfach gehalten, kurze Jeans und blaues T-Shirt, dazu einfache Sneakers. Als sie mich flüchtig ansieht, erreicht ihr Blick nicht ganz meine Augen, dann dreht sie sich schnell um. Sie geht die Treppe hoch und ich folge ihr. Als wir das nächste Stockwerk betreten, geht sie schnurstracks weiter, während ich meine Schritte verlangsame und mich glücklich umsehe. Links von mir ist ein abgegrenztes Studio und am Ende des länglichen Raums stehen zwei Glastische mit Computern. Ich biege nach links ab und spähe um die Ecke ins Studio hinein. Mikrofone, Mischpulte und Computer bedecken dort den üppigen Holztisch und an den Wänden hängen Terminlisten und Codes. Neben einem der Mikrofone sitzt eine Frau mit eckiger Brille und braunem Dutt, ganz in Businessklamotten gekleidet und mit einem Telefonhörer in der Hand. Um ihren Hals ist ein rotes Halstuch gewickelt. Als sie mich sieht, winkt sie mir zu und hält sich den Zeigefinger vor die Lippen. Ich erwidere ihre Geste und setze mich ihr gegenüber. „Nein, wir können ihnen nicht entgegen kommen, tut mir Leid… Nein, da müssen sie ihn schon selber fragen. Er wird morgen live zu sehen sein, also Lavandia. Ja. Ja. Natürlich kann er ihnen das Interview verweigern, er ist eine Legende. Vielleicht sollten sie sich lieber an jemand höher Gestelltes wenden. Soll ich sie durchstellen? Ja, einen Moment.“ Sie nimmt den Hörer von ihrem Ohr, tippt ein paar Zahlen und legt auf. „Puh“, sagt sie dann. „So hartnäckig.“ „Wer war das?“, frage ich interessiert. „Ach, ein freiberuflicher Reporter aus Kanto. Wollte wissen, wo er Gold finden kann.“ Sie seufzt theatralisch. „Als wenn ich das wüsste. Er hat ein Lugia, mit dem er überall hinfliegen kann. Wie soll ich da wissen, wo er sich gerade aufhält?“ „Wie wird man freiberuflicher Reporter?“, frage ich. „Kommt drauf an“, antwortet die Frau und stützt ihr Kinn auf ihre Hände. „Wenn wir dich schon kennen und du Kontakte hast, melden wir uns bei dir und du kannst den Auftrag übernehmen oder wir geben ihn an jemand anderen weiter. Wenn du noch unbekannt bist oder erst ins Geschäft kommen willst, dann brauchst du eine richtig gute Story oder Verbindungen zu jemandem, der eine gute Story hat.“ „Wie sieht es mit Empfehlungsschreiben aus?“ „Empfehlungsschreiben?“ Sie schaut mich neugierig an. „Wieso, hast du schon eins?“ „Nicht dabei.“ „Holla, Mädchen, du bist doch kaum sechzehn Jahre alt.“ „Fünfzehn“, korrigiere ich sie grinsend. „Na, wenn du da schon jemanden so beeindruckt hast, dass er dir ein Empfehlungsschreiben gibt, dann hast du vielleicht eine strahlende Zukunft vor dir. Aber wenn ich dir einen Tipp geben darf…“ Sie beugt sich etwas nach vorne und ich reflektiere ihre Bewegung, bis unsere Köpfe ganz nah beieinander sind, als würde sie mir ein großes Geheimnis anvertrauen. „Wenn du einen Patron hast und ihn dazu benutzt, einen Auftrag zu bekommen, ist das gut und schön. Aber wenn du eine Story lieferst und danach durchblitzen lässt, dass du einen Patron hast...“ Sie macht eine Handgeste, die eine Explosion darstellen soll. „…dann bist du so was von drinne.“ „Hört sich gut an“, sage ich grinsend und die Frau mustert mich. „Ich bin Patricia Riley. Wenn du mal irgendwelche Fragen hast, ruf mich an.“ Sie kritzelt eine Telefonnummer auf einen kleinen Notizzettel und ich stecke ihn dankbar ein. Dann stehe ich auf. „Mein Name ist Abbygail Hampton“, stelle ich mich zum Abschied vor. „Sie werden bald von mir hören.“ „Das hoffe ich, Abby.“ Ich drehe mich schon um, dann ruft sie mir noch eine letzte Frage hinterher. „Nur so aus Interesse. Wer hat dir das Empfehlungsschreiben ausgestellt?“ Ich drehe mich grinsend um. „Alfred“, sage ich und Patricia klatscht begeistert in die Hände. „Ich werde wohl wirklich noch von dir hören, Abby! Mach dein Ding, Mädchen. Ich wette, du hast es drauf. Man sieht sich bald im Geschäft!“ Grinsend durchquere ich den Raum und nehme die nächste Treppe nach oben. Hier ist es schon wieder wesentlich voller, hauptsächlich deshalb, weil die meisten aus der Schlange einfach weiter gehen und nirgends länger als eine Minute bleiben. Das zweite Obergeschoss ist vollgepackt mit Schreibtischen und Computern. Nur wenige sind besetzt weil Wochenende ist, aber drei Angestellte sitzen an ihren Schreibtischen. Einer von ihnen spricht mit einem jungen Mann, der wild gestikulierend von irgendetwas redet. Als ich mich umsehe, entdecke ich das Mädchen mit dem Bopp. Sie steht etwas abseits und beobachtet die beiden anderen Angestellten. Ihre Hände sind in ihren Hosentaschen vergraben und sie sieht so aus, als wolle sie etwas sagen, sich aber nicht trauen. Ich winke ihr zu, aber sie bemerkt mich nicht, also gehe ich an ihr vorbei die Treppe hoch. Der dritte Stock ist ähnlich aufgebaut wie der erste, mit einigen Schreibtischen und einem Studio. Hier ist wohl am allermeisten los. Ich komme kaum an den ganzen Besuchern vorbei, die vor dem Studio anstehen, dem Geschrei und den diversen T-Shirts und Fotos in ihren Händen entnehme ich, dass man hier Autogramme bekommt. Ich stelle mich auf meine Zehenspitzen, um wenigstens den Reporter zu erkennen, auf den alle so abfahren, aber außer einem braunen Haarschopf kann ich nicht viel erkennen. Weil sein Haar nicht gegelt aussieht und Alfred ohnehin derzeit in Kanto sein müsste, lasse ich die Menschenmasse in Ruhe und gehe stattdessen zur letzten Treppe. Sie wird von einem schwarz gekleideten Mann mit Glatze, Sonnenbrille und Headset bewacht. Als er mich sieht, verstellt er mir den Weg, lächelt aber. „Tut mir leid, Zutritt verboten“, sagt er mit einer Stimme die so tief ist wie Schlitzers Knurren. „Oh, okay“, sage ich und drehe mich nochmal zu dem Pulk um. „Welcher Reporter ist das?“ frage ich. „Das ist Daniel. Er hat Gold interviewt, vielleicht hast du zugehört.“ „Ja, ich erinnere mich.“ Ich stelle mich wieder auf die Zehenspitzen. Ich kann eine sonnengebräunte Stirn erkennen, aber da endet mein Sichtfeld auch schon wieder. „Waren sie hier, als Gold da war?“, frage ich neugierig und schaue zu dem Türsteher hoch. Er ist mindestens 1,90m groß und gebaut wie ein Tauros. Ein breites Lächeln stiehlt sich auch sein Gesicht. „Oh ja. Mein bestes Erlebnis seit der Geburt meiner kleinen Tochter.“ „Herzlichen Glückwunsch!“, sage ich begeistert und er kratzt sich am Hinterkopf. „Wahnsinns Ausstrahlung, dieser Gold. Kam hier rein und Bumm, du spürst regelrecht, was er drauf hat. Hatte eins seiner Pokémon draußen. Ein Nachtara. Hat dich nur angeschaut, das Ding, und dir sind alle Haare zu Berge gestanden. Cooler Typ, hat Witze gemacht, sein Pokémon lief neben ihm her und du wusstest, wenn ich dem nur einen Schritt zu nahe komme, reißt mir dieses Viech die Augen aus. Würde sie wahrscheinlich auch gleich essen, wenn es schon dabei ist.“ Ich lache und er grinst. „Ich habe sein Lugia gesehen“, vertraue ich ihm an und sein Mund öffnet sich in stummer Bewunderung. „Ich dachte, jetzt ist es aus mit mir, so schnell hat mein Herz geschlagen. Es ist so riesig!“ „Hat mir mein Freund erzählt“, sagt der Türsteher nickend. „Er war draußen stationiert, als Gold seinen Abgang gemacht hat. Die Videos kursieren bereits wie wild überall herum. Wenn eins der professionellen Kamerateams da gewesen wäre, hätte der jeweilige Sender über Nacht einen neuen Status gekriegt.“ „Ohne Zweifel“, stimme ich zu. „Ich finde es schon Hammer, dass wir ihn morgen live sehen können.“ „Oh ja. Das muss man sich mal vorstellen. Der Junge ist seit acht Jahren nirgends mehr gesehen worden. Ich frage mich eh, wie man so berühmt sein kann und trotzdem einfach untertaucht. Die Einschaltquoten am Sonntag werden nicht von dieser Welt sein.“ Wir nicken schweigend und ich werfe noch einen Blick zu den Daniel- und Goldfans. Die Menge hat sich etwas gelichtet und ich kann endlich Daniel erkennen. Hübsch ist er eigentlich nicht, er hat eine sehr breite Nase und ein fliehendes Kinn, aber irgendetwas an seiner Ausstrahlung nimmt mich sofort gefangen. „Ich gesell mich mal zu den Hardcorefans“, sage ich und der Türsteher nickt. „War nett, mit dir geredet zu haben.“ „Gleichfalls.“ Ich stelle mich hinten an und warte hinter einer korpulenten Frau und einem Jungen mit der Figur eines Zweigs. Es dauert mehrere Minuten, bis ich an die Reihe komme, aber zu meiner Erleichterung bin ich die Letzte. Zu Daniels auch, denn er zückt seinen Stift und hält mir ungeduldig seine Hand hin. „Hi“, sage ich und lächle ihn an, ohne ihm irgendetwas zu geben. Daniel schaut mich gereizt an, dann lässt er den Stift sinken. „Was willst du?“, fragt er und seine Stimme klingt weit weniger enthusiastisch als im Radio. Natürlich würde ich auch weit enthusiastischer klingen, wenn ich Gold interviewen dürfte. „Reden“, erwidere ich fröhlich und gehe an ihm vorbei ins Studio, wo ich mich auf einen der Stühle setze. „Ich dachte, sie wollen vielleicht etwas Ablenkung, bevor die nächste Fanflut eintrudelt.“ Er setzt sich mir gegenüber, wirkt aber alles andere als dankbar. „Worüber willst du reden?“ „Wenn jemand hier ankommt und sagt, er hat eine Wahnsinnsstory, die er an sie verkaufen will, welche Art von Story erwarten sie dann?“ Daniels Gesicht hellt sich etwas auf. „Hast du eine Story für mich?“, fragt er und schaut mich erwartungsvoll an. „Leider nicht.“ Sein Gesichtsausdruck wird sofort wieder genervt. „Aber ich könnte irgendwann eine haben. Ich will nur wissen, wie groß sie sein müsste, um alle hier von den Socken zu hauen.“ „Das kann ich dir doch nicht einfach so sagen, Mädchen. Was weiß ich! Wenn du wüsstest, wo Red ist. Das wäre eine ziemliche Sensation. Wenn du Gold heiraten würdest. Das wäre der Hammer. Wenn du Team Rockets Hauptquartier kennst, eine neue Pokémonart entdeckst, wenn du die einzige Überlebende eines katastrophalen Desasters bist oder wenn du irgendeine neue Organisation ausfindig machst. Irgendwas Sensationelles, was die Leute interessiert. Wenn du Reporter werden willst, musst du ein Gespür dafür entwickeln, was die Leute sehen wollen. Es geht nicht um dich, es geht um sie. Capice?“ „Jap“, sage ich nickend und stehe auf. „Das war´s schon. Vielen Dank für die Hilfe.“ „Ja, bitte. Jetzt verschwinde.“ Bevor ich gehe, drehe ich mich nochmal um. „Wissen sie, wenn ich diese Unterhaltung aufgenommen hätte, wenn ich zu einem anderen Sender ginge und ihnen das Band gäbe, unter welchen Titel würden sie es veröffentlichen. Daniels wahrer Charakter entlarvt? Doch nicht so liebenswert wie seine Fans glauben?“ Daniel schaut mich mit großen Augen an. Ich drehe mich um und gehe die Treppe runter. Das Mädchen steht noch an genau demselben Ort wie zuvor. Sie muss schon über eine halbe Stunde dort stehen. Sie wirkt einen Hauch entschlossener, aber ihre Hände krallen sich weiterhin in ihre Hosentaschen. „Hey“, begrüße ich sie und sie reißt den Kopf zu mir herum. Ihre entsetzte Miene weicht sofort ihrem gezwungenen Lächeln. „Willst du die irgendwas fragen?“ Ihre Wangen werden knallrot. „Nein, alles okay“, sagt sie viel zu schnell. „Du stehst hier seit dreißig Minuten“, erwidere ich. „Brauchst du Hilfe? Soll ich jemanden etwas für dich fragen?“ Sie starrt mich eine Sekunde lang an, dann wandert ihr Blick einige Zentimeter zur Seite, sodass sie an mir vorbei in die Ferne schaut. „Hier wird die Pokémonmusik für das Radio komponiert“, sagt sie schließlich. Ihre Stimme, ist schrecklich leise, ihre Worte genau formuliert. „Ich will eine Ausbildung machen.“ „Geh einfach hin“, sage ich. „Kopf hoch, laut sprechen und nachfragen. Mach einen guten ersten Eindruck.“ Sie schaut mich an, als würde ich irgendein Kernproblem nicht verstehen. „Ich kann nicht einfach hingehen“, flüstert sie. „Was, wenn ich sie bei irgendetwas Wichtigem störe? Wenn es eine dumme Frage ist, wenn sie gar keine Auszubildenden annehmen, was wenn meine Stimme plötzlich stockt oder wenn ich falle…“ Ihre Hände beben und ich schaue sie verblüfft an. Einerseits weil sie doch reden kann und zwar ziemlich viel, andererseits, weil mir nicht einer dieser Gründe eingefallen wäre, wenn man mich danach gefragt hätte. „Soll ich sie für dich fragen?“, erkundige ich mich vorsichtig und sie schüttelt sofort den Kopf. „Das ist peinlich.“ Ich sehe sie lange an, dann werfe ich einen kurzen Blick zu den Programmierern und Komponisten. „Okay. Moment, ich bin gleich wieder da.“ Ich gehe die Treppen runter und zurück zu Patricia, die immer noch in ihrem Studio sitzt und über einigen Verträgen brütet. „Kann ich mir ganz kurz dein Halstuch ausleihen?“, frage ich höflich und sie hebt überrascht den Kopf. „Abby, du bist es.“ Sie fasst nach ihrem Halstuch. „Ich denke schon, aber wofür brauchst du es?“ „Ich muss jemandem helfen.“ „Oh, okay. Ich vertraue auf den Urteil.“ Sie öffnet den Knoten und reicht mir das Tuch. Ich bedanke mich, dann gehe ich wieder hoch. Das Boppmädchen schaut das Halstuch misstrauisch an. Ohne zu zögern wickle ich es ihr um den Hals. „Hör zu.“ instruiere ich sie. „Du bist meine Schwester, wegen einer heftigen Erkältung kannst du nicht reden, deshalb bin ich mitgekommen, um für dich nach dem Ausbildungsplatz zu fragen. Was hältst du davon?“ Sie schaut mich merkwürdig an, dann lächelt sie das erste Mal authentisch. Es ist ein schmales Lächeln, aber sie wirkt sofort viel menschlicher. „Das klingt gut“, sagt sie. „Ich heiße Ellen Myer.“ „Ellen Myer, okay. Dann bin ich jetzt Lisa Myer. Los geht´s.“ Gemeinsam gehen wir zu einem der Angestellten und ich werfe ihm ein strahlendes Lächeln zu. „Entschuldigen sie die Störung, aber meine Schwester und ich hätten ein paar Fragen an sie...“   Zehn Minuten später weiß ich alles über Bewerbungsverfahren, Versicherungen, Fähigkeitenlisten, Soft-Skills und einen Haufen Fachbegriffe, die ich alle sofort wieder vergessen habe. Ellen und ich verlassen gemeinsam den Radioturm und auf dem Rückweg bringe ich Patricia ihr Tuch zurück. Sie bedenkt sich mit einem gutmütigen Kopfschütteln, dann wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu. „Danke“, sagt Ellen und schaut mir zum ersten Mal in die Augen. „Alleine hätte ich das nicht durchgestanden.“ „Demnächst wirst du es alleine durchstehen müssen“, erinnere ich sie. Sie fängt in einigen Wochen an, aber sie schüttelt den Kopf. „Das ist dann etwas anderes. Sie erwarten mich dann.“ Ich habe keine Ahnung, wie das etwas anderes sein soll, aber Ellen wirkt wie ein sehr individueller Typ auf mich. „Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück“, sage ich und sie lächelt wieder. „Ich dir auch“, erwidert sie etwas unbeholfen, dann geht sie an mir vorbei und die Straße entlang. Nach ein paar Schritten kramt sie schwarze Kopfhörer aus ihrer Umhängetasche und setzt sie sich auf den Kopf. Merkwürdiges Mädchen, denke ich, aber es muss schließlich auch solche Leute geben. Ich würde nie im Leben Komponistin werden, das ist mal klar. Weil ich sonst nichts Besseres zu tun habe, beschließe ich, Raphael auf seine Mail zu antworten. Ich mache mich auf den Weg zurück zum Pokécenter, logge mich zum zweiten Mal an diesem Tag in den Computer ein und öffne seine Mail. Nachdem ich sie wieder durchgelesen habe, beginne ich mit meiner Antwort. Hey Raphael. Ja, das mit dem Abhauen ging nicht anders. Mama hätte mich nie gehen lassen. Jetzt spammt sie mich mit E-Mails voll, aber das ist immer noch besser, als in Orania in meinem Zimmer zu hocken. Ich bin derzeit in Dukatia City, aber ich denke, ich werde nicht mehr lange bleiben. Ich habe viele neue Menschen kennen gelernt und den Radioturm unter Beschlag genommen. Und vor ein paar Tagen habe ich sogar Gold gesehen, ist das zu fassen? Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Ordenjagd und hoffe, dass wir uns bald wieder sehen. Meld dich, wenn du von deiner Trainingsreise zurückkommst. Grüß Murphy und Penny von mir und halt die Ohren steif. Du bist jetzt ein Superstar, also mach deine Erschafferin stolz! ;) Liebe Grüße und Küsse, Abby ps. Ich habe ein neues Teammitglied. Rate was es ist! Tipp, ein Vogelpokémon namens Hunter. Bis dann! xoxo   Ich drücke auf Senden, logge mich aus und verlasse das Pokécenter. Dann ziehe ich meine Inliner an, rufe Hunter und nutze seinen Flugturbo, um mit jeder Menge Wind im Gesicht in Richtung Nationalpark zu fahren. Als wir die kleine Fontäne mit den Bänken vor den Käferwiesen erreichen, rufe ich auch Sku aus ihrem Pokéball und gemeinsam setzen wir uns auf den Boden. Ich packe die Muffins und Kekse aus und so beginnen wir unser Picknick. Die Sonne scheint, es ist warm und ein bisschen windig und ich habe das Gefühl, dass es keinen Ort gibt, an dem ich in diesem Moment lieber wäre. Es ist ein verdammt gutes Gefühl.   Pünktlich um 20:15 Uhr sitzen Karin und ich am Sonntagabend auf ihrem Sofa, Tee auf dem Tisch und eine große Schüssel Popcorn in unserem Schoß. Wenn Karin jünger wäre, würde sie glaube ich für die Rolle Abbys beste Freundin wie geschaffen sein. Sie ist einfach der Hammer.   „Meine Damen und Herren, es ist Zeit für das ultimative, das einmalige, das bisher nie dagewesene… RED XXL SPECIAL! Begrüßen sie mit mir unsere Moderatoren Alfred und… Jessy!“ „Danke Ralph, wie lieb von dir, uns anzumoderieren!“ „Keine Ursache, Alfred.“ „Hallo, liebe Zuschauer! Ich bin froh, dass sie heute eingeschaltet haben, denn was wir heute enthüllen, wird ihre Perspektive für immer verändern! Aber zunächst zu unserem Ablauf.Jessy, wärst du so gut?“ „Liebend gerne, Alfred. Nach einem spannenden, dramatischen Zusammenschnitt von Reds Leben, seinen größten Erfolgen und aufregendsten Kämpfen werden wir die Theorien diskutieren, die derzeit auf allen Netzwerken umher spuken und Reds langjährige Abwesenheit zu erklären versuchen. Aber das ist noch nicht alles! Ein Ehrengast wird heute live unsere Show besuchen und wenn sie noch nicht wissen, um wen es sich handelt, dann gebe ich ihnen einen Tipp: Er wird mit Red in einem Atemzug genannt, der Titel Legende beschreibt ihn besser als jeder andere und im Vergleich zu seinem Vorbild und Rivalen ist er vor wenigen Tagen zurückgekehrt! Na, wissen sie schon, von wem wir reden?“ „Wenn sie es wissen, rufen sie an unter 0220-999xxx und gewinnen sie ein einmaliges Geschenk, die gesammelten Kampfvideos der beiden Legenden, unterschrieben von unserem Ehrengast! Na, läuft ihnen schon das Wasser im Mund zusammen? Mir schon.“ „Ich glaube, dir läuft Speichel aus dem Mundwinkel, Alfred.“ „Oh, tatsächlich. Sie sehen es, liebe Zuschauer, dieser Preis bringt selbst hartgesottene Reporter wie mich zum Sabbern. Also, fangen wir an!“   Ein Intro startet und dann beginnt die ausführlichste Dokumentation über Reds Leben, die ich je gesehen habe. Sie fangen ganz vorne an. Zuerst wird seine Mutter interviewt, die davon berichtet, dass er schon immer Pokémontrainer werden wollte. Dass er ehrgeizig und willensstark war. Wie er mit zehn freudestrahlend das Haus verließ, um sich bei Prof. Eich sein erstes Pokémon abzuholen. Es folgt ein Schnitt zu dessen Gesicht und sein Kommentar. „Red hat die Kampftechniken intuitiv verstanden. Sein erstes Match gewann er genau hier gegen meinen Enkel, Blue.“ Die Kamera schwenkt durch das Labor und bleibt auf dem Fußboden hängen, dem Fußboden, auf dem Red seinen ersten Pokémonkampf ausgetragen hat. Das nächste Interview führen sie mit Blue und seiner Schwester. „Ich habe ihm eine Karte gegeben“, gesteht Sarah. „Obwohl mein Bruder mich gebeten hatte, das nicht zu tun. Aber er war so ein liebenswerter Junge. Viel geredet hat er nicht, aber er hatte diese Ausstrahlung.“ „Ich war ihm immer einen Schritt voraus“, erklärt Blue mit einem nostalgischen Lächeln. Er hat die Arme verschränkt und lehnt in seinen Laborkittel gekleidet an Sarahs Tisch. „Ich fing mehr Pokémon als er, gewann meine Orden früher, trainierte härter, aber wann immer ich ihn herausforderte, würde er mich besiegen. Es war zum verrückt werden.“ Die nächste Station ist Vertania City, die Stadt mit der Verbindung zur Pokéliga. „Hier habe ich ihn zum zweiten Mal getroffen“, berichtet Blue und schaut lange auf die verschlungene Route, die von dem Schild POKÉLIGA gesäumt wird. „Wie mich zog es ihn sofort hier her. Natürlich hatten wir beide einen langen Weg vor uns, bevor wir uns auf dem Indigo Plateau wiedersehen würden.“ So geht es die ganze Dokumentation über weiter. Die Arenaleiter werden interviewt, so wie ehemalige Schwester Joys und so ziemlich alle Bewohner jeder Stadt. „Er kam manchmal dutzende Male ins Pokécenter, an einem Tag“, berichtet eine Schwester Joy, die noch immer aktiv ist. „Er hat trainiert wie ein Biest. Seine Pokémon waren immer völlig ausgelaugt, aber keins von ihnen wirkte unglücklich. Red wusste, wie man eine gute Beziehung zu seinen Pokémon pflegte. Und wenn er wieder vorbei kam, waren sie jedes Mal ein bisschen stärker.“ „Er hatte die Ruhe weg. Egal, wie eng es in einem Kampf wurde, er hat immer einen kühlen Kopf bewahrt und die Situation umgedreht.“ „Er hat mir mein Leben gerettet. Ohne seine Hilfe hätte Team Rocket mich entführt, erpresst, oder getötet. Ich kann ihm nicht genug danken.“ „Als ich gegen ihn kämpfte, spürte ich diese Energie. Als würde sie ihn einhüllen wie ein Mantel.“ „Seine Pokémon liebten ihn. Manchmal lief er mit allen sechs durch die Gegend und nahm die ganze Straße ein.“ „Als er zur Siegesstraße wollte, zeigte er mir seinen achten Orden an meiner Station. Die Siegesstraße ist hart, nur wenige schafften es damals durch die Höhle. Aber er grinste und ich spürte sofort, dass ich einen außergewöhnlichen Trainer vor mir habe.“ „Die Pokéliga rief mich an, als Blue den Champion besiegt hatte und ich machte mich sofort auf den Weg. Ich war so stolz. Aber ich war kaum angekommen, da sagten sie mir, der nächste Herausforderer trete gerade gegen Blue an. Ich war überrascht, so was gibt es nicht alle Tage. Zwei Trainer, die die Liga bezwingen, und das am selben Tag? Ungehört.“ „So war es immer mit uns. Es war ein einziges Rennen. Ich lief voran und er folgte mit nur wenigen Stunden Differenz. Als er mir dann den Titel abknöpfte, gleich nachdem ich ihn errungen hatte, war ich am Boden zerstört. Das ganze Jahr über hatte ich mich auf diesen einen Moment vorbereitet. Es kam mir wie Schicksal vor, dass er immer gewonnen hatte und ich diesen einen, diesen wichtigen Sieg über ihn erringen würde. Aber es war Red. Red verliert nicht. Ich glaube, bis zu diesem Tag hat er noch nie verloren.“ „Ich war damals zu hart zu meinem Enkel. Red war eine Naturgewalt. Egal wie gut Blue war, er konnte sich ihm nicht entgegen stellen. Aber ich bin froh, dass die beiden ihre Streitigkeiten begraben haben.“ „Wir sind ewige Rivalen, aber es ist mehr zwischen uns. Ein Jahr auf diese Weise zu verbringen, das hat Freundschaft zwischen uns aufblühen lassen. Es dauerte, bis ich ihm diesen letzten Sieg gegen mich verzeihen konnte, aber als ich mich damit abgefunden hatte, stand unserer Freundschaft nichts mehr im Weg.“ Sie schneiden zurück zu seiner Mutter. Sie hat ein Taschentuch in der Hand und tupft sich die tränenfeuchten Augen. „Er kam auf seinen Reisen immer mal wieder vorbei. Aber ich sah ihn trotzdem den Großteil seines zehnten Lebensjahrs nicht wieder. Mit elf gewann er dann den Titel und ich dachte, vielleicht kommt er jetzt heim. Er besuchte mich noch einmal. Dann verschwand er. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.“ Sie schluchzt leise. „Jetzt ist er dreiundzwanzig und ich habe meinen kleinen Jungen nie erwachsen werden sehen. Ich will doch nur, dass er endlich heimkommt.“   Bei diesen Worten kommen mir auch die Tränen. Fühlt Mama sich gerade genauso? Ich wische schnell die Tränen weg und stopfe mir eine Handvoll Popcorn in den Mund. Karin bemerkt es, aber sie schweigt und ich bin ihr sehr dankbar. Ich werde Mama nicht für zwölf Jahre alleine lassen.   „So ist Red“, sagt Blue mit dem Rücken zur Kamera, sein Blick schweift über den Abgrund, der sich vor seinen Füßen auftut. Er steht auf dem Vulkan, der vor vielen Jahren auf der Zinnoberinsel ausgebrochen ist. „Er braucht keine Menschen um sich herum. Seine Pokémon sind alles, was er will. Er kann jahrelang ohne Kontakt zu anderen Menschen auskommen und wenn man ihn dann in ein Gespräch verwickeln würde, wäre er des Redens innerhalb von Minuten müde. Es ist gut für einen Trainer, wenn er das kann. Aber er verletzt damit die Menschen um sich herum. Seine Mutter leidet sehr unter seiner Abwesenheit, aber er versteht das nicht. Er braucht es ja nicht. Er würde mich ohne Zögern als seinen besten Freund bezeichnen, und das obwohl ich seit Jahren kein Wort mehr mit ihm gewechselt habe. Er lebt nur für sich selbst und Einsamkeit kennt er nicht. Manchmal beneide ich ihn.“ Blue und seine Umgebung blenden langsam in schwarz über, bevor wir wieder Signale aus dem Studio in Lavandia erhalten. Alfred hat seine Brille abgenommen und schnäuzt sich geräuschvoll mit dem grünen Taschentuch aus der Brusttasche seines lila gestreiften Anzugs und auch Jessy wischt sich Tränen aus den Augenwinkeln. „Das ist so rührend. So traurig. Eine so ambivalente Person, nicht wahr, Alfred?“ „Ja, Jessy. Aber seine arme Mutter, denk nur daran, was sie durchmacht! Ihr Kind ist erwachsen und sie hat es seit seinem elften Lebensjahr nicht mehr gesehen. Mir kommen sofort wieder die Tränen.“ „Aber, aber, Alfred. Denkst du nicht, dass Red irgendwann zurückkommen wird?“ „Ich hoffe es, Jessy, ich hoffe es inständig.“ „Wo wir schon bei Zurückkehren sind. Es gibt ja die verrücktesten Vermutungen über Reds Aufenthaltsort. Willst du sie hören?“ „Unbedingt.“ „Die meisten Redfans sowie seine Verwandten und Freunde glauben, dass Red an einen abgeschiedenen Ort gezogen ist und seine Pokémon dort unablässig trainiert. Aber es gibt auch gegensätzliche Stimmen. Maria aus Lavandia glaubt, dass Red tot ist. Sie kann sich nicht vorstellen, dass eine so bekannte Person so lange untertauchen kann und ich kann ihre Zweifel verstehen. Was hältst du von dieser Theorie, Alfred?“ „So plausibel sie klingt, ich glaube nicht daran, dass Red tot ist. Dieser Junge hat die sechs stärksten Pokémon. Er würde nicht stolpern und einfach von einer Klippe fallen. Ich glaube, Red lebt.“ „Gut. Joan aus Marmoria vermutet, dass Red Team Rocket beigetreten und der neue Anführer der Organisation ist. Das nenne ich eine interessante Wendung!“ „Es würde erklären, weshalb Team Rocket mit einem mal so stark ist und unsere Chancen extrem verringern, aber ich glaube nicht, dass Red so etwas tun würde. Er hat Team Rocket zerschlagen und Blue sagte selbst, er kümmere sich nicht um andere Menschen. Ich kann ihn mir nicht als Leiter einer ganzen Organisation vorstellen.“ „Andererseits scheint er außerordentliches Charisma zu haben. Er müsste nicht mal mit seinen Untergebenen interagieren, er schreibt seine Befehle auf Papier und schon haben wir einen Schattenanführer. Es ist schon eine reizvolle Idee, muss ich sagen.“ „Ich glaube an ein Happy End, Jessy. Mit dieser Theorie kann ich mich nicht anfreunden.“ „Willst du spannendste Theorie hören, Alfred?“ „Ich bitte darum.“ „Karlos aus Prismania glaubt, dass Red nie existierte. Er ist fest davon überzeugt, dass die Medien ihn erfunden haben, um immer ein Thema für ihre Sendungen zu haben.“ „Du hast natürlich völlig recht, Karlos! Red ist erfunden. Seine Familie, Freunde…allesamt bezahlte Schauspieler. Alle, die ihn gesehen haben? Gekauft und bezahlt. Die Arenaleiter und Top Vier? Alle erpresst.“ „Oh Alfred, du bist großartig!“ „Es geht weiter mit einer kurzen Pause, dann sehen wir uns wieder zu einem Interview mit der Legende, mit unserem Ehrengast! Rufen sie an, wenn sie wissen, wen ich meine! 0220-999xxx Wir sehen uns in ein paar Minuten.“   „Gibt es wirklich Leute die glauben, Red sei erfunden?“, frage ich und stopfe mir mehr Popcorn in den Mund. Karin folgt meinem Beispiel und zuckt mit ihren schmalen Schultern. „Wer weiß. Es gibt ja alle möglichen komischen Vögel auf der Welt“, sagt sie fröhlich und trinkt einen Schluck Tee. „Oh, da fällt mir etwas ein.“ Sie stellt ihr Popcorn auf den Tisch und ich betrachte sie neugierig, während sie aufsteht und die Treppe hoch verschwindet. Als sie wiederkommt, hat sie einen Briefumschlag in der Hand. „Das ist eine Vollmacht“, sagt sie und überreicht mir den Brief mit einem breiten Lächeln. „Du kommst aus Orania, nicht wahr? Dann ist Prismania City nicht weit. Du bist ein aufgewecktes, junges Mädchen und ich glaube, das kleine Evoli ist bei dir besser aufgehoben, als bei meinem Freund.“ Ich nehme den Umschlag ehrfürchtig entgegen. „Wow, ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Du sollst nichts sagen“, erwidert Karin fröhlich und setzt sich zurück zu mir aufs Sofa. Die Werbung plätschert leise im Hintergrund. „Du hast mir diese letzte Woche sehr versüßt. Ich hatte ganz vergessen, wie schön Besuch sein kann. Ich möchte dir als Dankeschön etwas geben und deshalb bekommst du das kleine Evoli. Sie wird nicht leicht zu handhaben sein, das kann ich dir sagen, aber ich glaube, du kannst zu ihr durchdringen.“ Sie schaut mich lange an, dann nimmt sie meine Hand. „Ich werde nicht ewig leben und dass ich dich kennen lernen durfte, war ein unvergleichliches Geschenk. Vielen Dank.“ Ich stelle das Popcorn zur Seite und umarme sie ganz fest. „Du bist eine wundervolle Person, Karin“, flüstere ich und sie streicht mir über den Kopf. „Ich bin froh, mit dir befreundet zu sein.“ Wir liegen uns eine Weile in den Armen und es fühlt sich wie ein Abschied an, aber dann geht die Erkennungsmelodie von PCN los und wir lösen uns voneinander. Man muss schließlich Prioritäten setzen.   „Und hier sind wir wieder, bei dem großen Red XXL Special. Jessy, sollen wir unseren Zuschauern endlich verraten, wer der ominöse Ehrengast ist?“ „Ich glaube, du unterschätzt unser Publikum, Alfred! Ich bin sicher, dass alle da draußen wissen, wer jetzt in diesem Moment durch die Tür kommt! Da ist er!“ „Gold, meine Damen und Herren, die lebende Legende! Begrüßen sie ihn mit mir! Gold, du siehst groß aus, bist du gewachsen?“ „Minimal Alfred, minimal. Maximal vierzig Zentimeter.“ „Also im Grunde nichts! Es ist wundervoll, dich hier zu haben. In Sachen Verschwinden stehst du Red in kaum etwas nach, lass mich dir das sagen. Aber immerhin kommst du ab und zu zurück. Wo warst du unterwegs, Gold?“ „Quer durch alle Regionen, mehr oder weniger. Ich habe meine Pokémon trainiert, neue Kampfstrategien entwickelt und bin jetzt stärker denn je.“ „Du hast in dem Radiointerview gesagt, dass du noch ein paar private Angelegenheiten klären musstest. Welche waren das, wenn man fragen darf?“ „Nichts Besonderes, wirklich. Ich habe meine Eltern besucht, Professor Lind und Professor Eich, meine Kindheitsfreundin Lyra… Mehr im Grunde nicht.“ „Meine Alarmglocken klingeln! Kann man zwischen dir und Lyra Neuigkeiten erwarten?“ „Vorerst nicht, Alfred. Aber wer weiß, ich will nichts ausschließen. Und da du ja zuschaust, hallo Lyra!“ „Hahaha, das ist köstlich, wirklich köstlich.“ „Das Herz einer Dame ist kompliziert, Gold. Du wirst dich bemühen müssen.“ „Das weiß ich Jessy, das weiß ich.“ „Zum Thema des Tages. Du hast den bisherigen Verlauf der Sendung mitverfolgt. Was hältst du von Red und von den Theorien, die sein Verschwinden umranken.“ „Zunächst einmal muss ich klarstellen, dass ich Red bei weitem nicht so gut kenne wie zum Beispiel Blue. Ich kann ihm allerdings zustimmen. Red ist ein einsamer Wolf und für ihn gibt es nichts Wichtigeres als seine Pokémon und sein Training. Er will Herausforderungen, aber er wird nicht zurückkehren. Wer sich mit ihm messen will, muss ihn finden und zu ihm gehen.“ „Wie soll man ihn finden?“ „Sowohl Blue als auch ich wissen, wo Red sich derzeit aufhält. Und bevor du fragst Alfred, wir werden kein Wort sagen.“ „Das ist wie ein Geschenk direkt vor meiner Nase und ich darf es nicht öffnen! Grausam!“ „Möchtest du uns nicht einen Tipp geben, Gold?“ „Es ist ein Ort, den niemand betreten kann, der nicht ein formidabler Pokémontrainer ist. Und niemand wird den Ort finden, wenn er nicht weiß, wo er suchen muss.“ „Wenn ich also ein wirklich starker Trainer wäre und Red herausfordern wollte, was müsste ich tun?“ „Du müsstest zuerst gegen Blue und mich antreten. Wenn wir entscheiden, dass du ein würdiger Gegner bist, finden wir heraus, wie vertrauenswürdig du bist. Wir geben Reds Aufenthaltsort nicht preis, wenn wir nicht sicher sind, dass sein Geheimnis gewahrt bleibt.“ „Wann hast du gegen Red gekämpft, Gold?“ „Nachdem ich die Pokéliga und Siegfried besiegt hatte, ging ich nach Kanto, um dort ebenfalls alle Orden zu sammeln. Weil ich bereits so ein bekannter Trainer war, kämpften alle Arenaleiter mit ihren echten Teams gegen mich. Als ich zum Schluss gegen Blue kämpfte, vertraute er mir Reds Aufenthaltsort an.“ „Kannst du uns diesen Ort nennen?“ „Red ist nicht mehr dort, deshalb ja. Er wartete auf der Spitze von Mount Silver. Es ist ein Berg zwischen Kanto und Johto. Seine Spitze wird von Schneestürmen heimgesucht und er beherbergt die stärksten wilden Pokémon der Regionen. Er ist gefährlicher als die Siegesstraße. Hinauf zu steigen kann unerfahrene Trainer ihr Leben kosten.“ „Warum hält Red sich an so einem abgelegenen Ort auf?“ „Weil er, wenn man genauer darüber nachdenkt, wie ein legendäres Pokémon denkt. Er ist stärker als die anderen. Er sucht einen echten Gegner, aber er weiß nicht, wie. Also besteigt er einen der abgelegensten und am schwersten zugänglichen Orte und wartet auf den Tag, an dem ein Trainer seinen Ansprüchen gerecht wird und ihm folgen kann.“ „Und du warst dieser Trainer?“ „Ja. Ich stieg hinauf. Er wartete auf mich inmitten des Blizzards, sein Pikachu auf der Schulter. Er sprach kein Wort. Wir kämpften und es war der härteste Kampf, den ich je führen musste. Und als ich verlor, schwang er sich auf sein Glurak und flog davon. Dank Blues Kontakt zu ihm wissen wir wieder, wo er ist, aber es hat mehrere Jahre gedauert, ihn zu erreichen.“ „Ich könnte weinen, wenn ich daran denke, dass der größte Kampf aller Zeiten auf der Spitze eines Berges ohne Publikum oder Kameras stattgefunden hat.“ Sie plaudern weiter, reden über Team Rocket, über Golds Training und über Red. Aber ich höre nicht mehr richtig zu. Ich weiß nicht warum, aber dass Red irgendwo im Nirgendwo auf einen Trainer wartet, der ihm ebenbürtig ist, macht mich traurig. Sie können sagen, was sie wollen. Aber ich glaube, Red ist einsam. Er ist einsam, weil er der stärkste ist und ein Genie ist immer irgendwie einsam. Einsam in seiner eigenen Welt. Ich bewundere ihn. Und gleichzeitig habe ich Mitleid. Kapitel 16: Das Monster des Steineichenwalds (Ich bin ein Loser) ---------------------------------------------------------------- „Caro, mir ist langweilig…“ Ich liege mit dem Kopf nach unten auf dem Sofa, die Füße gegen die Wand gelehnt. Caro schaut mich mitleidlos an, Zigarette im Mundwinkel. „Nach drei Wochen von zu Hause weg weißt du schon nichts mehr mit dir anzufangen?“ Ich gucke sie verzweifelt an und Sku brummt leise, ihr Rücken gegen meine Seite geschmiegt. „Ich kann mich nur nicht entscheiden, wohin ich als nächstes gehe.“ „Teak City? Azalea City?“, schlägt sie vor, ohne aufzusehen. „In Oliviana City gibt´s einen schönen Strand.“ „Hmm.“ Ich setze mich aufrecht hin und beobachte Caro, wie sie über der Abrechnung der letzten Woche brütet. Morgen ist wieder Montag, also wieder mehr Aufträge für mich, aber irgendetwas stört mich. Dukatia City fühlt sich immer mehr wie eine Heimat an. Und Heimat ist derzeit so ziemlich das gleiche wie Gefängnis. Ich will neue Orte sehen, neue Menschen kennen lernen. Drei Wochen in Dukatia sollten reichen. Ich krame mein Handy aus meiner Hosentasche und scrolle durch mein Telefonbuch. Neben den Nummern von Agnes, Raphael und meinen Familienmitgliedern sind viele neue Nummern dazu gekommen. CarolineZug. Eigentlich müsste ich den Namen ändern, aber irgendwie gefällt er mir. Ich habe immer noch nicht nach ihren Nachnamen gefragt. Linda. Wir sehen uns praktisch jeden Tag, deshalb habe ich ihre Nummer noch überhaupt nicht verwendet. Karin. Sie hat ein Handy, ist das zu fassen? Miranda. Inzwischen habe ich ihr eine kurze SMS geschrieben, damit sie meine Nummer auch hat. Zurück kam ein einzelner Smiley. Elliot. Ich habe ihn letzte Woche noch einmal getroffen. Er hat Bianca besiegt und ist jetzt auf dem Weg nach Teak City. Es würde mich nicht wundern, wenn er schon wie wild am Trainieren ist. Patricia Riley. Ich musste mich sehr davon abhalten, sie wieder zu besuchen. Ellens Nummer habe ich leider nie bekommen. Wir haben uns nach unserem Abschied nicht mehr gesehen, aber ich glaube, sie wäre eh nicht der Typ dafür, Nummern mit Wildfremden auszutauschen. „Hast du eine Karte von Johto?“, frage ich. Die Karte in meinem Pokédex ist nur für Kanto. Aber anscheinend kann man neue Karten einscannen. Caro schüttelt den Kopf. „Dir ist doch so langweilig. Geh ins Pokécenter, da hängt eine. Vielleicht findest du sogar einen Touristenflyer oder so was.“ Ich schaudere bei dem Wort Tourist. Ich sehe mich als Reisende. „Schon gut…“, maule ich und stehe auf. Dann schnappe ich mir Skus Pokéball, rufe sie zurück und laufe die Treppe hinunter. Ich erreiche das Pokécenter erst nach fünfzehn Minuten, weil ich trödele und in die Gegend gucke. Der August neigt sich langsam dem Ende und obwohl es weiterhin warm genug ist, um in Shorts und Top durch die Gegend zu laufen, ist der Meereswind kühler geworden und riecht nach kommendem Herbst. Dem Sonntag entsprechend ist im Pokécenter etwas mehr los als gewöhnlich. Trainer gönnen sich eine wohlverdiente Pause, nachdem sie die ganze Woche über trainiert haben und Touristen, die mit dem Mittagszug hergekommen sind, checken für ein Übergangszimmer ein oder fragen sich einfach nach den lokalen Sehenswürdigkeiten durch. Gleich drei Trainer stehen bei Schwester Joy an, ein Junge in meinem Alter, mit strohblondem Stachelhaar und Armen voller Kratzer und Blutergüsse, ein Mädchen in grünen Tarnklamotten trotz der Hitze und zwei Flechtzöpfen und ein Junge mit bulligen Schultern und raspelkurzem, schwarzen Haar. Ich zwänge mich an einem älteren Ehepaar und einer Frau in Pikachulatzhose vorbei und stelle mich vor der großen Johtokarte auf, die neben Schwester Joys Heilstation hängt. Dukatia City hat direkte Verbindungen zum Steineichenwald und damit Azalea City, Teak City und auch Viola City, wenn man nördlich geht. Es ist keine leichte Entscheidung. Jede der drei Städte hat ihre Reize. Teak City mit den beiden Türmen und den Legenden, die sich um die Gebäude ranken, den Kimonogirls und der herbstlichen Stimmung, Viola City mit dem Knofensaturm und den Alphruinen und natürlich der Flegmonbrunnen und Kurts Werkstatt in Azalea City. Eigentlich will ich überall hin. Plötzlich spüre ich jemanden direkt hinter mir und drehe mich erschrocken um. Es ist der Junge mit den malträtierten Armen. Er grinst mich entschuldigend an und lässt dabei eine klaffende Zahnlücke aufblitzen. Sein Gesicht ist mit Sommersprossen überwuchert, so als hätte ihm jemand mit einer Zahnbürste Farbe auf die Haut gespritzt. „Darf ich auch mal?“, fragt er und grinst mich wieder an. „Klar.“ Ich mache einen Schritt zur Seite und widme mich dann wieder meiner eigenen Reiseplanung. Dann seufzt der Junge auf einmal und lässt seine Stirn gegen die Karte sacken. „Ich bin so ein Versager…“, jammert er, dann dreht er den Kopf zur Seite und schaut mich mit großen, babyblauen Augen an. Ich kann nicht anders. „Warum?“, frage ich, während ich gleichzeitig versuche, nicht zu neugierig zu klingen. Es gelingt mir, naja, quasi gar nicht. Aber Probieren kostet schließlich nichts. Er grinst mich wieder mit dieser irritierenden Zahnlücke an. „Ich hab mich verlaufen“, sagt er dann und seufzt wieder. „Eigentlich wollte ich nach Azalea, bin aber in Viola City in die falsche Richtung gelaufen. Dann habe ich hier trainiert, gegen Bianca verloren, mehr trainiert und als ich sie zum zweiten Mal herausfordern wollte, war sie in Urlaub. Sie ist so stark…“ Er lässt seine Stirn wieder gegen die Karte sinken. Irgendwie tut er mir Leid. „Und was hast du jetzt vor?“, frage ich, während sich schon eine Idee in meinem Kopf zusammenspinnt. „Ich gehe wohl erst mal nach Azalea City zurück. Vielleicht habe ich bei Kai mehr Glück.“ „Bestimmt“, stimme ich ihm aufmunternd zu. „Sag mal… wie eilig hast du es mit deiner Reise?“ „Hm?“ Er richtet sich auf und schaut mich überrascht an. „Ich wollte morgen losgehen. Warum?“ Ich nehme seine Hand und ziehe ihn zu einem der freien Tische. „Weißt du…“, fange ich an und setze mich ihm gegenüber hin, die Hände unter meinem Kinn verschränkt. „Ich hatte vor, in nächster Zeit ebenfalls nach Azalea City zu gehen. Und weil ich mich alleine schnell langweile und du in dieselbe Richtung gehst, dachte ich…“ Ich schaue ihn erwartungsvoll an. Zuerst bildet sich eine Furche auf seiner Stirn, während er darüber nachdenkt, was ich meine, dann hellt sich sein Gesicht mit einem Mal auf. „Du willst mit mir reisen? Echt?“ Er wirkt so offenkundig glücklich, dass sein Grinsen einfach ansteckend ist. „Wenn es dir nichts ausmacht“, erwidere ich ebenfalls breit grinsend. „Ausmachen? Machst du Witze?“ Er schaut mich fassungslos an. „Mama hat immer gesagt, dass Trainer auf ihren Reisen neue Menschen kennen lernen und Freunde finden, aber bisher habe ich noch niemanden gefunden, der etwas mit mir unternehmen wollte.“ „Also dann. Wie heißt du?“, frage ich und nehme seine Hände. Seine Augen strahlen mich mit einer Intensität an, dass ich glaube, erblinden zu müssen. Da habe ich wohl jemandes ganze Woche gerettet. „Louis Kale. Und du bist?“ „Abbygail Hampton. Nenn mich Abby.“ „Abby.“ Sein Grinsen wird breiter und mein Blick gravitiert wieder zu seiner Zahnlücke. „Cool. Also dann morgen?“ „Morgen“, stimme ich zu. „Wir treffen uns hier vor dem Pokécenter um genau 9:00 Uhr. Alles klar?“ „Klar wie Kloßbrühe“, sagt er nickend und wischt sich mit dem Daumen über die Nase. „Du kannst auf mich zählen.“ „Abgemacht“, sage ich und stehe auf. „Dann bis morgen.“   „Du findest ja ziemlich schnell Freunde“, kommentiert Caro meinen Bericht mit hoch gezogenen Augenbrauen, während sie eine riesige Salatschüssel auf den Tisch stellt. „Im Gegensatz zu dir glaube ich an das Gute im Menschen“, sage ich fröhlich. „Ich gebe jedem eine Chance.“ „Pass nur auf, dass er dich nachts nicht ausraubt“, empfiehlt sie und setzt sich zu mir und Scherox an den Tisch. Sku und Pandora schlemmen Ofenkartoffeln vor dem Sofa und Hunter sitzt mit einem frisch gefangenen Karpador auf dem Dach. „Louis? Machst du Witze?“, kontere ich mit vollem Mund. „Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm den Vorschlag gemacht habe. Er hätte vor Freude fast geweint.“ „Klingt nicht nach jemandem, mit dem ich gerne reisen würde“, sagt Caro und schiebt sich ebenfalls Salat in den Mund. Ich deute mit meiner Gabel auf sie. „Du hast ja auch die negativste Einstellung der ganzen Welt.“ „Bezweifle ich.“ Ich will etwas Schnippisches erwidern, aber Caro zwinkert mir zu und ich lasse es darauf beruhen. „Also, was macht dieser Louis so?“, fragt sie dann. „Er ist Trainer, wenn auch nicht besonders organisiert oder talentiert wie es scheint. Er hat sich verlaufen, gegen Bianca verloren und zwei Wochen lang nicht mitgekriegt, dass sie in Urlaub ist.“ Caro schaut mich mit einem trägen Gesichtsausdruck an, den ich als gewaltiges Ne, oder? deute. Nein, Caro käme sicher nicht mit ihm klar. Ein Grinsen von ihm und sie würde ihn im Schlaf erwürgen. „Ach was, er ist okay“, sage ich fröhlich und mache mich wieder über meinen Salat her. „Er sorgt für die Unterhaltung, ich übernehme die Organisation.“ „Der Junge wird vermutlich was dabei haben, aber du hast immer noch keinen Schlafsack. Nur so nebenbei.“ „Verdammt, du hast Recht!“ „Ich übernehme die Organisation, schon klar.“ „Sei nicht so.“ Ich trinke einen Schluck Saft. „Es wäre mir schon noch eingefallen.“ „Ja, wenn ihr im Wald liegt und du mit deinem Zittern ein Erdbeben auslöst.“ „Ich gehe morgen früh noch schnell einen kaufen, mach dir keinen Kopf.“ Caro schaut mich mit einem Ausdruck an, den ich noch nie bei ihr gesehen habe. Dann schaut sie wieder auf ihren Salat. „Hast du dich schon von allen verabschiedet?“, fragt sie dann und der Moment ist vorbei. „Ich bin bei Karin und Melanie vorbei gegangen, als ich auf dem Rückweg war.“ Bei dem Gedanken an Karins innige Umarmung und ihre unterdrückten Tränen wird mir ganz mulmig. Melanie Laval hat es mit mehr Fassung getragen. Sie hat meine Besuche genossen, aber sie wird mich bald vergessen haben, da bin ich mir sicher. Aber Karin zurück zu lassen und nicht zu wissen, ob ich sie wieder sehen werde, schmerzt mich mehr als erwartet. „Wir werden uns dann wohl auch eine ganze Weile nicht mehr sehen“, sagt Caro und schiebt sich noch eine Gabel Salat in den Mund. Sie wirkt abwesend, unbeteiligt. Als wäre es ihr egal. „Ich rufe dich regelmäßig an“, verspreche ich und warte, bis Caro meinen Blickkontakt erwidert, bevor ich wie sie weiteresse. „Besser für dich“, rät sie mir und ihr altbekanntes, kühles Grinsen huscht wieder über ihr Gesicht. Nach dem Essen räumen wir gemeinsam ab und machen es uns dann auf dem Sofa gemütlich, unsere Pokémon ganz in der Nähe. Scherox sitzt zu Caros Rechten, ich zu ihrer Linken, Sku auf meinem Schoß. Wir reden nicht viel an unserem letzten gemeinsamen Abend, aber das müssen wir auch nicht. Drei Wochen und Caro ist mir schon so vertraut wie meine eigene Familie. Ich bin wirklich froh, sie getroffen zu haben.   „Pass auf dich“, sagt Caro und nimmt mich in den Arm. Es ist die erste Umarmung, die von ihr ausgeht und gleichzeitig der größte Vertrauens- und Zuneigungsbeweis, den sie mir geben könnte. „Lass dich nicht ausrauben.“ „Carooo“, erwidere ich grinsend und drücke sie fest. Ihr blaues Haar und die offene Eingangstür des Blumenladens nehmen mein ganzes Sichtfeld ein und sie riecht nach Zigarettenrauch. Als wir uns voneinander lösen, klopft sie mir auf die Schulter. „Hast du alles?“ Ich schultere meinen Reiserucksack und nicke. Klamotten, Proviant für den ersten Tag, Pokébälle und diverse Items. „Alles dabei.“ „Dann hau endlich ab und geh auf ein Abenteuer“, sagt sie, dreht mich um und schubst mich weg. „Wehe, du hast keinen Spaß.“ „Keine Sorge!“, rufe ich ihr zu, während ich schon ein paar Meter vorwärts stolpere. Dann grinse ich, werfe ihr eine Kussmund zu, den sie mit ihrem Mittelfinger kommentiert und verschwinde um die Ecke. Caro verlässt mein Sichtfeld und ich fühle mich mit einem Mal gleichzeitig leer und erfüllt. Es ist eine merkwürdige Mischung. Bevor ich Louis beim Pokécenter treffe, mache ich einen letzten Abstecher zum Kaufhaus, wo ich mich mit einer reduzierten Decke, einen billigen Schlafsack und mehreren Tränken eindecke. Ich verabschiede mich außerdem noch von der Losverkäuferin, obwohl ich nicht weiß, warum. Sie wünscht mir eine tolle Reise und empfiehlt mir, bald wieder zu kommen. Vielleicht würde sie mir dann einen Rabatt geben. Louis wartet bereits, als ich um kurz vor neun beim Pokécenter ankomme. Er hat einen dicken Rucksack auf seine Rücken geschnallt und trägt eine knielange braune Hose und ein gelbes T-Shirt. Sowohl seine Arme als auch seine Schienbeine sind mit Kratzern und blauen Flecken übersäht. „Wollen wir?“, fragt er freudestrahlend und ich werde sofort von seiner guten Laune angesteckt. Vorbei ist das Gefühl der Leere. „Los geht´s“, erwidere ich grinsend und gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Als wir die Wiesen hinter der Pokémonpension erreichen, ist außer uns nur ein anderer Trainer da. Insgesamt war es die letzten zwei Wochen eher ruhig hier, nachdem alle mitgekriegt haben, dass Bianca bis auf weiteres die Arena geschlossen hat. Wir reden über alles Mögliche und trotz meiner natürlichen Gesprächigkeit habe ich Probleme, gegen Louis´ Redefluss anzukommen. Nicht, dass es mich besonders stört. Es ist gar nicht schlecht, ab und zu anderen das Ruder der Unterhaltung zu übertragen. „Meine Mutter hat immer gesagt: Jeder kann ein Pokémonmeister werden“, sagt er gerade und wischt sich mit dem Daumen über die Nase, eins seiner Markenzeichen, wie mir jetzt bewusst wird. Er hat diese Geste innerhalb der letzten Stunde mindestens zwanzig Mal gemacht. „Zuerst habe ich ihr geglaubt, ich meine, wer waren denn die großen Trainer? Die gingen nicht auf irgendeine Akademie oder so, die kamen aus kleinen, unbedeutenden Städten. Wir haben zwar eine Schule in der Nachbarstadt, aber jeden Tag bis nach Viola ist auch nicht ohne, mit den ganzen Trainern und dem hohen Gras. Das ist nicht ungefährlich da. Jedenfalls habe ich ihr das immer geglaubt, aber seit ich selber unterwegs bin, kommt es mir so vor, als gäbe es nur Genies oder Loser. Und ich bin definitiv einer von den Losern.“ Er schaut nachdenklich gerade aus. „Ach was“, muntere ich ihn auf. „Du hast gegen einen Arenaleiter verloren, na und? Das ist schon unzähligen anderen passiert.“ „Ich habe nicht nur gegen Bianca verloren“, gesteht Louis und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Gegen Falk hatte ich auch schon große Probleme. Bei ihm habe ich drei Anläufe gebraucht.“ „Das war dein erster Arenakampf, natürlich musst du dich da erst drauf einstellen“, erwidere ich, aber mit etwas weniger Überzeugung als noch zuvor. Drei Anlaufe ist wirklich nicht wenig. „Ich verliere auch oft gegen normale Trainer.“ Er wird immer kleinlauter. „Ich sollte mich nicht Pokémontrainer nennen dürfen. Aber es ist mein Traum, weißt du? Irgendwann will ich mal etwas Großes erreichen. Ich muss ja nicht direkt der beste Trainer werden, aber wenigstens an der Championship teilnehmen, das wäre super.“ In der Ferne kommt der Steineichenwald in Sicht. Meereswind bläst meinen Zopf in alle Richtungen und lässt mein Top um meinen Bauch flattern. Salzgeschmack liegt in der Luft und weil ich glaube, es könnte ihm gefallen, hole ich Hunters Pokéball aus meiner Tasche und lasse ihn raus. Innerhalb weniger Sekunden fliegt er schon wild krächzend durch die Lüfte und lässt sich von dem Wind in alle Richtungen treiben. „Ist das ein Ibitak?“, fragt Louis mit großen Augen und schaut Hunter hinterher. „Jep. Er heißt Hunter“, stelle ich ihn vor. „Wahnsinn.“ Louis schaut ihm ehrfürchtig hinter her. „Ich wollte auch immer ein Vogelpokémon, aber ich habe immer Angst, dass es mir wegfliegt, wenn es mich nicht mag. Hast du keine Angst?“ „Dass er wegfliegt?“, frage ich lachend und schüttele den Kopf. „Er hat sich mir damals regelrecht aufgedrängt. Der fliegt nicht weg. Und wenn, dann kommt er wieder.“   Wie von mir angekündigt taucht Ibitaks Umriss am Himmel auf, kurz bevor wir den Wald betreten. Er schlägt mit den gewaltigen Flügeln und landet grazil auf meinen Schultern, wo er seinen Kopf an meine Wange schmiegt und zufrieden krächzt. Ich streichle seinen Hals, dann rufe ich ihn zurück, bevor wir das kleine Durchgangshäuschen betreten. Hinter der Theke links vom Eingang steht eine Frau in ihren Vierzigern, mit freundlichem Lächeln und einem Smettbo, das stumm neben ihr durch die Luft schwirrt. Eine zweite Frau steht vornüber gelehnt vor ihr und die beiden diskutieren angeheizt. „…ich es dir doch sage. Holger hat es mit eigenen Augen gesehen.“ „Seit wann glaubst du denn Holger, Jasmin?“, fragt die Frau mit dem Smettbo. „Der erzählt doch immer nur so wirres Zeug.“ Als sie uns bemerkt, hebt sie eine Hand zum Gruß und auch ihre Freundin dreht sich um. Sie betrachtet uns misstrauisch. „Wollt ihr nach Azalea City?“, fragt ihre Freundin und beugt sich etwas nach vorne, während sie sich auf der Theke abstützt. Ein Blick zu Louis verrät mir, dass er mehr mit ihrem Dekolleté beschäftigt ist, als zu antworten, also übernehme ich die Unterhaltung. „Mein Freund hier möchte den Arenaleiter herausfordern“, sage ich lächelnd und stupse Louis mit dem Ellenbogen an. „Nicht wahr?“ „Eh, ja, ja. Ich bin Trainer!“, sagt er übereifrig und ich verdrehe innerlich die Augen. „Dann seid aber vor Anbruch der Dunkelheit in der Stadt“, rät uns die Frau namens Jasmin. „Man weiß nie, was im Dunkeln lauert.“ „Jetzt mach den armen Kindern doch keine Angst!“, schilt ihre Freundin sie. „Nachher trauen sie sich nicht mehr hinein.“ „Wäre vielleicht besser so. Wenn Holger recht hat, dann sollten sie wirklich zu Hause bleiben.“ „Ihnen könnte auch auf dem Weg nach Hause ein Stein auf den Kopf fallen, meine Güte. Man kann nicht jede Gefahr vollständig ausschließen.“ Jasmin schiebt eine Schmolllippe, aber sie sieht uns eindringlich ein. „Trödelt nicht da drinne. Ich meins nur gut.“ „Es reicht jetzt“, sagt die andere Frau und ihr Smettbo fiept zustimmend. „Danke für den Hinweis“, erwidere ich und lächle Jasmin freundlich an. „Ich glaube nicht, dass wir so lange brauchen werden.“ „Merkt euch meine Worte…“, sagt Jasmin, dann steht sie auf und geht. Ihre Freundin seufzt, als sie die Tür hinter sich schließt. „Tut mir echt Leid, ihr zwei. Sie ist eine Tratschtante. Wahrscheinlich wollte sie sich nur wichtig machen.“ „Nur so aus Interesse…“, beginne ich vorsichtig. „Was hat dieser Holger denn gesehen?“ „Ein Monster?“, fragt Louis aufgeregt und reibt sich mit dem Daumen über die Nase. „Das wäre nämlich supercool.“ „Ich weiß nicht, ob das wirklich so cool wäre, wie du dir das vorstellst“, erwidere ich und Louis schaut etwas ernster zu der Smettbo-Frau. „Tja“, sagt sie und richtet sich auf. „Holger sagt tatsächlich, dass er im Wald ein Monster gesehen hat. Aber das hat nicht viel zu sagen. Er hat seit über zehn Jahren keinen Fuß mehr aus Azalea gesetzt. Und dann ist er einmal abends alleine im Wald und kommt sofort mit einer Spukgeschichte zurück.“ Sie schüttelt den Kopf. „Kümmert euch gar nicht drum. Das ist nur das Geschwätz eines alten Mannes mit zu viel Fantasie.“ „Vielleicht war es ein Pokémon“, schlage ich vor. „Möglicherweise. Jedenfalls ist es kein Monster, also keine Sorge ihr zwei. Abgesehen davon erreicht ihr Azalea in weniger als vier Stunden, wenn ihr euch ranhaltet. Vor Sonnenuntergang seid ihr auf jeden Fall außer Gefahr.“ Sie zwinkert uns zu und Louis seufzt theatralisch. „Ein Monster wäre echt cool gewesen.“ „Sag das nochmal, wenn ein echtes Monster auf dir herumkaut“, empfehle ich ihm grinsend und er schaut mich ein bisschen weniger euphorisch an. Dann zuckt er die Schultern und grinst mich mit seiner Zahnlücke an. „War ja nur ein Gedanke.“ „Wir gehen dann mal“, verabschiede ich mich und Louis winkt der Frau nach, während er hinter mir hergeht. Dann betreten wir den Wald und es wird augenblicklich dunkler. Das Laub der Steineichen ist so dicht, dass kaum Sonnenlicht durch die Baumkronen fällt und trotz der frühen Uhrzeit kommt es mir wie später Nachmittag vor. Vielleicht ist an Jasmins Rat wirklich was dran. Wenn es um 10 Uhr schon so düster ist, wie wird es dann erst sein, wenn die Sonne untergeht? „Wir sollten uns beeilen“. sage ich und gehe voran, während Louis gehorsam hinter mir her trottet. „Ich habe ein ungutes Gefühl.“ „Was? Warum?“ Louis holt zu mir auf und schaut mich besorgt an. „Hast du Angst vor dem Monster?“ „Nicht direkt“. erwidere ich und schaue mich misstrauisch um. Die Bäume stehen so dicht, dass man teilweise nicht erkennen kann, was sich dahinter verbirgt und das Laub unter unseren Füßen knirscht bei jedem Schritt. Der Ruf eines Hoothoots durchbricht die gespenstische Stille. „Aber wenn das, was dieser Holger gesehen hat, hier immer noch herumspukt, dann will ich es nicht darauf anlegen, es persönlich kennen zu lernen.“ „Also hast du Angst!“, sagt Louis triumphierend. Ich ignoriere seine Stichelei und versuche mich in dem dichten Wald zu orientieren. Der Pfad, dem wir folgen, schlingt sich auf unorthodoxe Weise zwischen den eng beieinander stehenden Baumgruppen hindurch und jede Abbiegung liegt verborgen. „Warum haben wir eigentlich keine Karte?“, frage ich frustriert, als wir die erste Abzweigung erreichen. „Schau mal“, sagt Louis und deutet auf ein Schild, das moosüberwuchert zwischen den Bäumen steht. Es deutet nach rechts. Wir folgen dem Wegweiser und langsam entspanne ich mich. Gut, der Wald ist ein wenig unheimlich, aber der Pfad ist jederzeit gut zu erkennen und wenn man weiß, wonach man suchen muss, lassen sich auch die Schilder leicht finden. Nach etwa zwei Stunden und unzähligen Abzweigungen machen Louis und ich eine kurze Pause. Wir setzten uns mitten auf den Weg und ich packe den Proviant aus, den Caro mir gemacht hat. Zwei große, reich belegte Sandwiches und eine Flasche Pirsifsaft. Wir lassen es uns schmecken und reden ausnahmsweise Mal nicht über alle möglichen belanglosen Dinge. Das hat auch was. Da höre ich etwas hinter mir im Gebüsch rascheln. Sofort meldet sich meine Paranoia zurück, die ich so erfolgreich verdrängt habe. Ich drehe mich langsam um. Da ist nichts. Es raschelt wieder. „Was ist?“, flüstert Louis und schaut in die Richtung der Geräusche. „Irgendwas ist da in dem Busch“, wispere ich zurück, meine Stimme ein wenig zu hoch für meinen Geschmack. Gemeinsam beobachten wir das Gestrüpp und warten. Plötzlich schießt etwas Kleines zwischen den Zweigen hervor und auf mich zu. Ich schreie und schlage wild um mich. Erst Louis´ wildes Lachen reißt mich aus meiner Panik. Das Zubat flattert wild mit den Flügeln und erhebt sich wieder in die Lüfte. Es scheint zwischen den Zweigen festgehangen zu haben. Mein Herz rast, aber ich atme mehrere Male tief durch. „Das ist nicht lustig!“, sage ich dann ernst, aber als ich Louis´ tränenverschmiertes Gesicht sehe und die erstickten Geräusche höre, die er von sich gibt, verwandelt sich meine Zurechtweisung in ein erleichtertes Lachen und gemeinsam halten wir uns die Bäuche, bis wir keine Luft mehr bekommen. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen!“, schnauft Louis grinsend und ein Blick in sein Gesicht genügt, um mir zu sagen, dass er jeden Moment wieder los prusten will. Und im Nachhinein kann ich es ihm nicht wirklich verübeln. „Jaja, ich bin ein Angsthase“, erwidere ich und haue ihm spielerisch auf den Kopf. „Zufrieden?“ „Sehr“, sagt er und ich haue ihn nochmal, nur zur Sicherheit. Wir packen alles zusammen und machen uns wieder auf den Weg. Inzwischen ist es 12:30 Uhr. Wenn die Smettbo-Frau Recht hatte, sollten wir bis drei Uhr in Azalea City sein. Ich kann es kaum erwarten. Wir gehen weiter, bis wir die nächste Kreuzung erreichen. Das Schild ist am Holzpfahl nur gering mit Moos bewachsen und zeigt nach links. Aus Interesse betaste ich den Boden. Er ist trocken. Wahrscheinlich ist der Moosbewuchs deshalb nicht so stark.   Wir gehen eine Weile gerade aus, dann biegen wir am nächsten Wegweiser wieder links ab, dann wieder rechts. Schließlich bleibe ich stehen. „Louis“, sage ich langsam und starre das Schild an. Das mit dem wenigen Moos. Es zeigt nach rechts. „Waren wir schon mal hier?“ „Wie soll ich das wissen?“, fragt er und stellt sich neben mir auf. „Ich habe mich auf einer Hauptstraße verlaufen, schon vergessen? Ich merke mir sicher nicht die Baumkonstellationen in einem Wald.“ „Ich habe ein wirklich schlechtes Gefühl“, flüstere ich und gehe zu dem Schild um es zu überprüfen. Kein Zweifel. Die Spuren meiner Finger sind immer noch in der Erde. „Jemand ist hier“, wispere ich, als Louis sich neben mich auf den Boden hockt. „Und er verdreht die verdammten Schilder!“ „Wer denn?“ Sein Gesicht hellt sich auf. „Das Monster?“ „Geh mir weg mit deinem Monster, Louis!“, zische ich. „Ich hab tierisch Angst und die solltest du auch haben! Wenn jemand die Schilder umdreht und uns folgt, dann kommen wir hier vielleicht nicht mehr raus.“ „Blödsinn“, sagt Louis und steht auf. „Da erlaubt sich bestimmt nur irgendein Köhler einen dummen Streich. Hallo! Ist da jemand!?“ „Bist du wahnsinnig!“, kreische ich leise, springe auf und halte ihm den Mund zu. „Es wird uns hören!“ Er zieht meine Hand weg. „Ich will dir wirklich keine Angst machen, Abby, aber wenn du Recht hast und uns irgendein ein Monster, Pokémon oder was auch immer verfolgt, dann weiß es eh schon, wo wir sind. Ob wir da noch schreien macht auch keinen Unterschied mehr.“ Ich will etwas Schnippisches erwidern, aber mir fällt nichts ein. Es ist keine angenehme Vorstellung, aber Louis´ Logik ist unanfechtbar. „Okay. Wir müssen ruhig bleiben“, sage ich und atme tief durch. „Wir können wir uns ohne die Wegweiser orientieren?“ „Sternbilder?“, fragt Louis und ich schaue ihn herablassend an. „Wirklich, Louis? Sternbilder?“ Ich kann es nicht fassen. „Erstens kann keiner von uns beiden Sterne lesen, nehme ich zumindest mal an. Zweitens ist das hier ein Wald mit sehr dichten Baumkronen. Da kannst du nicht einfach mal kurz in den Himmel gucken. Und drittens ist es Mittag! Du weißt schon, die Tageszeit ohne Sterne.“ „Werd nicht gleich so empfindlich“, sagt Louis und mir tun meine Worte augenblicklich leid, als ich das schlechte Gewissen in seinem Gesicht sehe. „Ich will nur helfen.“ „Tut mir Leid“, sage ich und atme tief durch, um mich zu beruhigen. „Ich habe überreagiert. Ich hab schließlich auch keine bessere Idee.“ „Naja, wenn es eben nach links gezeigt hat und wir wieder hier raus gekommen sind, warum gehen wir dann jetzt nicht nach rechts? Wenn wir Glück haben, kommen wir so weiter.“ „Wir können es versuchen“, stimme ich ihm zu. „Aber danach verlasse ich mich auf kein einziges Schild mehr. Und wenn ich jeden Gang einzeln abgehen muss.“ „Dann los.“ Wir biegen rechts ab und ich werfe immer wieder unruhige Blicke hinter mich, aber außer Louis ist dort niemand. Ist es ein Pokémon? Ein Geist? Oder hat Louis womöglich doch Recht und es ist nur ein Köhler, der sich einen bösen Scherz mit uns erlaubt? Wenn dem so ist, werde ich den Typen so was von vor Gericht bringen. Louis tippt mir von hinten auf die Schulter und ich fahre erschrocken zusammen. „Hilfe, musst du mich so erschrecken?“, stöhne ich und drehe mich zu ihm um. Mein Atem stockt. Es ist nicht Louis. Kapitel 17: Alptraum oder Wirklichkeit (Ich will hier raus) ----------------------------------------------------------- Ich höre ein dumpfes Geräusch, als etwas Schweres zu Boden fällt, dann verschwimmt meine Sicht. Spiralen bilden sich vor meinen Augen und ich kann nichts mehr klar erkennen. Gelb vermischt sich mit Grün und Schwarz und drängende Pieptöne in meinem Kopf blenden alle anderen Geräusche des Waldes aus. Plötzlich spüre ich das knisternde, piksende Laub unter meinen Handflächen, an meinen Beinen. An meiner Wange. Dann wird alles schwarz.   Als ich aufwache, öffne ich vorsichtig die Augen, aber es bleibt genauso dunkel wie zuvor. Bin ich blind geworden? Aber dann erkenne ich die Umrisse eines nahestehenden Baumes und setze mich vorsichtig auf. Mein Kopf tut weh, aber als ich ihn betaste, kann ich keine Verletzung entdecken. Ich stehe langsam auf und schaue mich mit weit aufgerissenen Augen um, um jedes bisschen Licht einzufangen. Nach einer Weile gelingt es mir sogar, meine Uhr zu entziffern. Es ist schon nach sechs Uhr. Ich war über fünf Stunden bewusstlos. Nach einer Weile gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann wieder annähernd gut sehen. „Da hast du dein Monster, Louis. Bist du jetzt zufrieden?“, frage ich und stapfe wütend den Weg entlang. „Wo bist du?“ Keine Antwort. „Louis?“ Meine Stimme wird wieder etwas panischer. Ich schließe die Augen, um mich ganz auf die Geräusche um mich herum zu konzentrieren. Hoothoot-Rufe. Wind in den Zweigen. Raschelnde Büsche. Kein Louis. „Verdammte scheiße!“, knurre ich und öffne die Augen wieder. „Verdammt, verdammt, verdammt!“ Ich betaste meinen Rücken und bin erleichtert, dass mein Rucksack noch an seinem rechtmäßigen Platz ist. Dann hole ich Skus Pokéball aus meiner Tasche und lasse sie raus. Das rote Licht erhellt für einen Moment den ganzen Wald. Dann verschmilzt ihr violettes Fell mit der Dunkelheit, während ihre hellbeigen Fellmuster mir wie Signalstreifen entgegenleuchten. Ihre roten Augen blitzen in der Dunkelheit und reflektieren das Licht so stark, dass sie wie zwei rote, stumpfe Spiegel glühen. Hunters große Flügel werden mir an diesem Ort nicht zu Gute kommen. Skus Nachtaktivität schon. Sie zischt leise und ihr Fell sträubt sich, dann läuft sie mit kurzen, flinken Beinen auf mich zu und schmiegt sich an mich. Ich gehe in die Knie und kraule ihren Kopf, unendlich froh über ihre Anwesenheit. Alleine würde ich das, was ich vorhabe, niemals schaffen. „Ein Pokémon hat Louis entführt“, flüstere ich und Sku schaut mich besorgt an. „Wir müssen ihn finden.“ Sku peitscht ihren Schwanz einmal hin und her, dann nickt sie und dreht sich um. „Kannst du irgendetwas erkennen?“, frage ich und Sku huscht über den Boden, dann richtet sie ihren Schwanz senkrecht in die Höhe. Ich gehe zu ihr und hocke mich neben ihr hin. Im weichen Waldboden, wo das Laub etwas zur Seite gewischt wurde, ist ein Fußabdruck. Er hat drei Zehen und ist ungefähr so groß wie mein eigener Fuß, aber alles andere als menschlich. „Das ist es“, flüstere ich und Sku brummt zustimmend. Sie schnuppert an dem Abdruck, dann läuft sie mit zu Boden gesenkter Nase in immer großer werdenden Kreisen. Schließlich fiept sie triumphierend und ihr Schweif schießt in die Höhe. Ich zögere nicht, ich laufe ihr sofort hinter her. Sku nimmt langsam Fahrt auf, immer wieder bleibt sie stehen, nur um mit erneuter Aufregung weiterzulaufen. Zuerst folgen wir dem Weg zurück, den wir gekommen sind, aber irgendwann kommen mir die Bäume nicht mehr bekannt vor und schließlich kommen überhaupt keine Wegkreuzungen mehr. Während Sku Louis´ Entführer sucht, versuche ich mich an die Sekunden vor meiner Bewusstlosigkeit zu erinnern. Alles hat sich gedreht und ich habe komische Geräusche gehört. Bei der Erinnerung daran beginnt mein Kopf wieder unangenehm zu pochen, als wäre allein die Erinnerung an die fiependen Töne genug, um mich bewusstlos werden zu lassen. Ich kann mich auch an den dumpfen Aufprall von etwas erinnern. War das Louis? Oder war ich es? Sku fiept aufgeregt und ich beschleunige meine Schritte, weil ich etwas zurück gefallen bin. Der Pfad wird immer schmaler und dunkler, die Bäume drängen sich dem Pfad immer enger auf  und die Fußspuren des Pokémon werden ebenfalls immer häufiger. Wir folgen ihnen noch fast eine Stunde lang. Mir ist nie in den Sinn gekommen, wie riesig dieser Wald ist. Bis jetzt. Schließlich endet der Weg und ich fluche leise. Sku muss sich verlaufen haben. Aber sie läuft stur gerade weiter – und zwängt sich zwischen einigen Bäumen hindurch. „Sku!“, rufe ich ihr leise nach, aber sie dreht sich nur flüchtig um, dann scharrt sie ungeduldig mit den Pfoten. Ich stöhne und folge ihr in das Gebüsch. Dornenranken und Kletten bleiben an meinem Top hängen und ich habe große Probleme, Skus Tempo zu folgen. Immerhin schließt das Pokémon aus, die größer sind als ich. Das ist zumindest ein bisschen beruhigend. Auch wenn ich in dem Gestrüpp das ein oder andere weiße oder gelbe Fellbüschel finde. Oh, das gefällt mir nicht. Mit den Händen schiebe ich tiefhängende Äste aus meinem Weg, während ich mit meinen Füßen den Boden vor mir nach Wurzeln oder großen Steinen abtaste. Hinfallen ist hier das letzte, was ich will. Schließlich verliere ich Sku aus den Augen, aber ich stolpere einfach immer weiter vorwärts. Ich weiß, dass sie mich nicht im Stich lassen wird. Als ich schließlich zwischen den Bäumen hindurch breche und wieder im Freien stehe, atme ich erleichtert aus. Meine Arme und Beine sind voller Kratzer und ich schwöre mir, nie wieder in Top und Shorts in den Wald zu gehen. Dann schaue ich mich um. Wie erwartet schnuppert Sku auf der kleinen Lichtung den ganzen Boden ab und winselt frustriert, als sie keine Gerüche mehr wahrnimmt. Der Platz ist klein, kaum größer als mein Zimmer zu Hause, und von drei Seiten von dichtem Baumbewuchs und undurchdringbarem Gebüsch gesäumt. Die vierte liegt an einem kleinen See. Na ja, einem großen Teich. Ich kann das andere Ende von hier aus sehen und die Lichtung dahinter scheint sich nach rechts auszubreiten. Sku taucht neben mir auf und knurrt leise, ihr Fell steht ihr zu Berge und ihr Schwanz ist bedrohlich in die Höhe gereckt. Ich kraule beruhigend ihren Rücken. „Hast du was entdeckt?“, frage ich und sie schüttelt den Kopf. Vorsichtshalber schaue ich nach oben, aber außer dicht belaubten, grünen Baumkronen ist dort nichts zu erkennen. Ein Zubat hängt kopfüber an einem der Äste und flattert raschelnd mit den Flügeln. Dann lässt es sich fallen und umkreist einige Male meinen Kopf, bevor es verschwindet. Ich gehe zum Teichufer und knie mich auf den Boden. Das Wasser ist klar und nicht sehr tief, maximal einen Meter. „Meinst du, sie sind hier durch?“ frage ich Sku und sie kommt zu mir. Als sie am Wasser schnuppert, verzieht sie das Gesicht. Natürlich kann sie ihre Spuren dort drinnen nicht wittern, aber vielleicht haben wir auf der anderen Seite mehr Glück. Ich ziehe meine Schuhe aus, dann steige ich vorsichtig ins Wasser, mein Blick auf den sandigen Untergrund fixiert, damit ich nicht versehentlich auf einen spitzen Stein trete. Im nächsten Moment springt Sku mir auf den Rücken und ich falle fast kopfüber ins Wasser. Sie krabbelt meinen Rücken hinauf und rollt sich um meinen Hals herum ein, wodurch sie mich noch tiefer in den Schlamm drückt, aber außer einem genervten Seufzen sage ich nichts. Mit Sku auf meinen Schultern mache ich mich auf den Weg auf die andere Uferseite. Als ich dort angekommen aus dem Wasser steige, bin ich bis zur Brust durchnässt. Sku springt schwungvoll von meinem Rücken zu Boden und schüttelt sich, als sei ihr der bloße Gedanke an das Wasser zuwider, dem sie nur so knapp entronnen ist. Dann senkt sie ihren Kopf und macht sich wieder auf Spurensuche, während ich vergeblich versuche, mein Top auszuwringen. Alles, was ich damit erreiche, ist es auszuleiern. Nass bleibt es trotzdem, aber immerhin tropft es mir nicht mehr die ganzen Beine hinunter. Skus euphorisches Schnurren erweckt meine Aufmerksamkeit. Sie ist nach rechts gegangen und scheint dort eine neue Spur entdeckt zu haben. Ich ziehe schnell meine Wanderschuhe wieder an, dann folge ich ihr. Der Weg ist hier wieder breiter und ein wenig heller, aber ein Blick auf meine Uhr bestätigt meine ungute Vermutung. Inzwischen ist es fast halb acht. Selbst wenn wir Louis sofort fänden, bleibt uns eine Übernachtung im Wald wohl nicht erspart. Mal abgesehen davon, dass wir erst einen Weg finden müssten, unsere Orientierung zurück zu erlangen. Die habe ich nämlich spätestens nach unserem Querfeldeintrack endgültig verloren. Plötzlich knurrt Sku alarmiert und bleibt regungslos stehen. Ich erstarre ebenfalls, obwohl ich nicht weiß, was Sku bemerkt hat. Sie setzt vorsichtig eine Pfote nach vorne und bewegt sich in Zeitlupe weiter. Ich ducke mich vorsichtshalber und folge ihrem Beispiel. Schließlich erreichen wir einen Vorsprung, hinter dem es steil bergab geht. Fast zwei Meter unter uns geht der Pfad weiter und weitet sich schließlich zu einer kleinen Lichtung aus. Es dauert einen Moment, bis ich Louis entdecke. Er liegt regungslos am Boden und hin und wieder zuckt er, als hätte er einen Alptraum. Sein Atem klingt hechelnd und er stöhnt leise. Ich kann den Anblick kaum ertragen und mache mich daran, den Abhang hinunter zu klettern, aber Sku beißt mir schmerzhaft ins Bein und zieht mich zurück. Als ich ihren Blick erwidere, schüttelt sie hysterisch den Kopf. Was gäbe ich nicht darum, jetzt ihre Gedanken lesen zu können. „Soll ich nicht zu ihm gehen?“, frage ich und sie nickt heftig. „Soll ich warten?“ wieder nickt sie. „Worauf?“, frage ich ungeduldig und sie schaut mich flehend an. Dann nimmt sie Schwung und setzt sich auf ihre Hinterbeine. Es sieht komisch aus, aber mir wird die Bedeutung ihrer Geste wie ein Schlag bewusst. Ich schaue wieder hinunter auf die kleine Lichtung. Es stimmt. Louis ist da. Aber wo ist sein Entführer? Also verstecke ich mich am Rand des Vorsprungs und warte mit Sku auf das Erscheinen des mysteriösen Pokémon, dessen Identität mir nach all dem verlorenen Fell gar nicht mehr so mysteriös vorkommt. Meine Nervosität lindert dieses Wissen jedoch kein bisschen.  Ich kann kaum still sitzen, jedes Mal, wenn Louis zuckt oder einen stummen Schrei ausstößt, schließe ich fiebrig die Augen und muss mich sehr davon abhalten, nicht alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und zu ihm zu rennen. Nur Skus Anwesenheit und wacher Blick halten mich von meinem Vorhaben ab. Plötzlich höre ich eine Art röchelndes Grunzen. Wie der Blitz reiße ich den Kopf herum und sehe das Pokémon, das Louis mitgenommen hat, zum ersten Mal richtig. Gelbes Fell bedeckt seinen gesamten Körper, um seinen Hals sprießt es dichter und heller hervor und bildet eine Art Kragen. Seine Rüsselnase ist nach vorne gebogen und seine spitzen Ohren drehen sich aufmerksam hin und her. In den Händen hält es etwas, das es unablässig reibt. Ich habe noch nie ein Hypno gesehen, aber irgendwie habe ich mir diese Psychopokémon immer freundlicher vorgestellt. Jetzt jagt mir sein Anblick nur einen Schauer über den Rücken. Sku geht es nicht anders, ihr Fell steht ihr zu Berge und ihr Schwanz ist bedrohlich über ihren Körper gebogen, wie ein Skorpionstachel. Ich stehe langsam auf. Plötzlich wünschte ich, ich hätte Skus Training nicht so vernachlässigt. Denn trotz ihres Typs kann sie keine einzige Unlichtattacke, ein Typ, der sehr effektiv gegen ein Psychopokémon wie Hypno gewesen wäre. Aber was soll´s. Es wird auch so gehen müssen. Hypno setzt sich neben Louis in den Schneidersitz und hängt sich etwas um den Hals. Dann hebt es seine Hände und hält sie wenige Zentimeter über Louis´ Kopf. Die Luft zwischen ihnen beginnt zu flimmern und dunkle Schatten strömen in Richtung Hypnos Hände. Louis wimmert leise im Schlaf und ich balle die Fäuste. Dann renne ich los und springe kurzerhand den Hang hinunter. Der Aufprall auf dem Boden tut tierisch weh, obwohl ich meine Knie stark gebeugt habe und es dauert einen Moment, bis das Gefühl in meine Waden zurückkehrt. Sku landet etwas graziler neben mir, ihr Fell knistert geradezu vor angestauter Wut. „Kreideschrei!“, schreie ich und Sku reißt ihren Mund auf, nur um im nächsten Moment mit all ihrer Macht ebenfalls zu schreien. Das Geräusch drückt auf meine Ohren und das Hypno krümmt sich vor Schmerzen, während es sich die Ohren zuhält. Dann steht es wankend auf und zieht sich das etwas von eben wieder aus. Aus nächster Nähe scheint es ein runder Anhänger an einer Kette zu sein. Eine Art Pendel? Er hält es vor sein Gesicht und beginnt, es hin und her zu schwenken, während er leise vor sich hin murmelt. Dank Skus Kreideschrei höre ich ihn nicht, aber als das Pendel zu schwingen beginnt, trifft mich das Déjà-vu wie ein Blitz. Sofort schließe ich die Augen. „Sku, schau ihn nicht an!“, warne ich. „Er wird versuchen, dich zu hypnotisieren!“ Sku knurrt zustimmend und ich öffne meine Augen einen Spalt, schaue aber stur auf den Boden. Nie mehr werde ich diesem Monster in die Augen sehen. „Jetzt Toxin!“, rufe ich Sku zu und aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Sku dem Hypno eine Ladung violetten Gifts entgegen speit. Ich kann nicht sehen, ob sie trifft, aber Hypnos tiefer Schrei spricht für sich. Jetzt heißt es nur noch durchhalten. Ich höre, wie Hypno einige Schritte auf uns zumacht und sehe gleichzeitig, wie Sku zurückweicht. Dann beschleunigt es plötzlich sein Tempo und rammt Sku mit dem Kopf. Sie wird nach hinten geschleudert und klatscht gegen die Erdwand hinter uns. „Sku!“ Ich drehe mich zu ihr um, aber sie steht schon wieder, auch wenn sie etwas wacklig auf den Beinen ist. Ihre Augen sind fest zusammen gepresst. „Greif an mit Säurespeier!“ rufe ich ihr zu und sie hechtet nach vorne und öffnet wieder ihr Maul. Die dunkle Säure trifft Hypno nur zur Hälfte, weil Sku mit geschlossenen Augen nicht richtig zielen konnte, der Rest ätzt sich in den Waldboden. „Nochmal!“, rufe ich. „Weiter rechts!“ Aber Sku kommt nicht mehr dazu. Denn Hypno hebt beide Arme und die Luft beginnt zu vibrieren. Eine unsichtbare Kraft drückt von überall auf mich ein und ich fühle mich, als müsste ich jeden Moment ersticken. Dann greift die Kraft nach meinen Augenlidern und öffnet sie mit unendlicher Gewalt. Mein Kopf hebt sich, und obwohl ich weiß, wie verheerend es sein wird, schaue ich zu Hypno und mein Blick bleibt auf seinen Augen haften. Die kleinen schwarzen Pupillen bohren sich in mich hinein und es fühlt sich so an, als würde es bis in meine Seele sehen. Mir wird schlecht und ich schlucke meinen Würgreiz hinunter. Sku geht es nicht besser. Ich höre ihr angestrengtes Keuchen, während sie gegen die Macht anzukämpfen versucht. Schließlich spuckt sie noch einmal Säure nach Hypno, doch das weicht dieses Mal grazil aus. Es lässt seine Hände sinken und beginnt wieder, sein Pendel hin und her zu schaukeln. Ich bemühe mich verzweifelt, nicht hinzusehen und tatsächlich gelingt es mir, meinen Blick ein wenig nach unten zu verlagern. Ich fühle mich zwar mit jeder Sekunde schwächer und das Piepen breitet sich wieder in meinem Kopf aus, aber ich schaffe es, wach zu bleiben. Sku hat nicht so viel Glück. Ich höre, wie sie leise winselt, dann sackt sie zur Seite und loses Laub stiebt auf, als sie zu Boden fällt. Ängstlich greife ich nach meinen Pokébällen, aber Hypnos Konfusion richtet sich nun ganz auf mich und ich fühle mich, als würde ich durch zähen Schleim waten. Ich komme kaum voran. Hypno kommt langsam auf mich zu. „Hunter…“, flüstere ich verzweifelt und taste hilflos nach meinem Gürtel. Er scheint eine halbe Ewigkeit von meinen verzweifelten Fingern entfernt zu sein. Hypno hebt sein Pendel etwas höher, um es auf meine Augenhöhe zu bringen. Wir sind fast gleich groß und mir wird zum ersten Mal richtig bewusst, wie gefährlich Pokémon sein können. Wir lassen sie bedenkenlos gegeneinander kämpfen, aber wenn sie ihre Kräfte gegen einen Menschen einsetzen, sind die Folgen verheerend. „Was willst du?“, frage ich panisch, aber meine Stimme klingt sehr weit entfernt. Meine Kehle schnürt sich zu und mein Herz hämmert panisch von innen gegen meine Rippen. Ich will nur noch wegrennen, aber ich kann mich kein Stück bewegen. Mir dämmert allmählich, wie hoffnungslos meine Situation ist. Sku und Louis sind bewusstlos, ich kann mich keinen Zentimeter mehr rühren und Hypno steht nur zwei Meter von mir entfernt, sein Pendel hoch erhoben. Noch schaffe ich es, seinem einschläfernden Gemurmel und der hypnotisierenden Wirkung des Pendels zu entgehen, aber ich spüre bereits, wie meine Augen immer wieder zufallen. Das Piepen in meinem Kopf wird lauter und alles verschwimmt vor meine Augen. Gelb in grün in Schwarz. Das war es also, was ich gesehen habe… Nein! Ich reiße meine Augen ein letztes Mal soweit auf wie ich kann und schreie so laut wie meine Kehle es hergibt. „Hunter! HILFE!“ Dann fühle ich, wie meine Muskeln nachgeben. Meine Hüfte vibriert und meine Knie schlagen schmerzhaft auf dem Waldboden auf, aber das Laub federt den Aufprall ab. Das Vibrieren wird heftiger. Ist es wirklich meine Hüfte? Oder ist es womöglich… Ein roter Lichtstrahl explodiert irgendwo unterhalb meines derzeitigen Sichtfelds und Hunter materialisiert sich in der Luft. Und plötzlich fällt mir das eine Detail ein, das ich die ganze Zeit übersehen habe. „Hunter, Verfolgung!“, rufe ich mit schwacher Stimme und Hypno reißt den gelben Kopf herum. Hunter flattert in die Höhe, dann nimmt er Schwung und schießt mit Schallgeschwindigkeit auf Hypno zu. Er trifft ihn mitten in den Rücken und Hypno wird nach vorne geschleudert, wo es mit einem lauten Geräusch gegen einen Baum prallt und zu Boden rollt. Der Bann ist mit einem Mal gebrochen und ich rappele mich auf. Hunter flattert mit den Flügeln, dann landet er auf meinen Schultern, breitet die Flügel zu ihrer vollen Spannweite aus und keift krächzend. Ich kann seine Flügelspitzen aus meinen Augenwinkeln sehen und es kommt mir so vor, als wären es meine Flügel, nicht die seinen. Ich fühle mich augenblicklich wie ein Racheengel. Ich erwarte schon, dass Hypno wieder aufsteht, aber dann pulsiert sein ganzer Körper mit Skus Gift und seine Adern treten violett hervor. Deshalb hat er es also nicht geschafft, mich so schnell zu hypnotisieren wie bei unserer ersten Begegnung. Es war durch ihr Toxin geschwächt. Es gibt ihm nun den letzten Rest. Es stöhnt und grunzt schwach, dann sackt sein Kopf zur Seite und ich sinke erleichtert auf die Knie. „Du warst meine Rettung“, flüstere ich und Hunter reibt seinen Kopf liebevoll gegen meine Wange. Das Adrenalin der Begegnung verlässt mich und ich beginne unkontrolliert zu zittern. Das war das heftigste, was ich in meiner kurzen Karriere erlebt habe. Als Hypno mich unter seiner Kontrolle hatte war ich so sicher, dass es aus mit mir war. „Ich bin wirklich, wirklich froh, dass ich dir damals nicht den Hals umgedreht habe“, sage ich etwas lauter und Hunter schaut mich verwirrt von der Seite an. „Vielleicht ist es besser, wenn du das nicht weißt“, sage ich und schaffe es, zu grinsen. Dann rufe ich Sku zurück und krabbele zu Louis, der weiterhin bewusstlos am Boden liegt. Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn und er keucht im Schlaf. Als ich seinen Arm berühre, ist seine Haut eiskalt. „Was hat es mit dir gemacht?“, wispere ich und ziehe ein Taschentuch aus meinem Rucksack, mit dem ich ihm das Gesicht abtupfe. Bei jeder meiner Berührungen zuckt er zusammen. Ich weiß nicht, ob ihn wecken oder ihn schlafen lassen soll, aber schließlich beginne ich, an seinen Schultern zu rütteln. Zunächst sanft, dann immer heftiger, aber außer dem Beben seines Körpers passiert nichts. Ängstlich schaue ich zu dem Hypno hinüber. Ich weiß nicht, wie lange es bewusstlos bleiben wird, aber eins weiß ich ganz sicher. Es muss aus diesem Wald verschwinden. Ich greife in meine Gürteltasche und ziehe einen leeren Pokéball heraus. Dann werfe ich ihn auf das Hypno. Ein roter Lichtstrahl saugt das Pokémon hinein und der Ball rollt ein paar Mal hin und her, bevor er schließlich blinkend zum Stillstand kommt. Zum ersten Mal seit wir den Wald betreten haben, lasse ich mich vollkommen fallen und atme tief und erleichtert durch. Das Monster ist gebannt und alles andere wird sich morgen klären. „Macht es dir was aus, wenn du heute Nacht draußen schläfst?“, frage ich Hunter und er krächzt fröhlich. „Dachte ich mir“, sage ich und streichle sein weiches Gefieder. Dann ziehe ich meinen Schlafsack und die Decke aus meinem Rucksack, hebe Louis an und wickle ihn in die Decke, bevor ich seinen Kopf auf den weichsten Teil seines Rucksacks bette. Dann krabbele ich in den Schlafsack und Hunter lässt sich an unseren beiden Kopfenden zu Boden sinken, wo er seine Flügel gegen seinen Körper schmiegt und den Hals auf seinem Brustgefieder einrollt. Sein rhythmisches Atmen beruhigt mich und es dauert nicht lange, bis ich schläfrig werde. Die Hypnose scheint mich stark beeinflusst zu haben, denn im Grunde habe ich heute mehr geschlafen als irgendetwas sonst. Trotzdem fallen meine Augen in Rekordschnelle zu und ich schlafe beruhigt ein.   Als ich aufwache, fällt einer der wenigen Sonnenstrahlen, der es durch die Baumkronen der Steineichen schafft, genau in mein Gesicht. Ich stöhne und rolle mich zur Seite. Hunter krächzt leise und ich blinzele ihn dankbar an. „Gut geschlafen?“, frage ich und er schaut mich glücklich an. „Ich bin immer noch verwirrt wegen gestern“, gestehe ich und betrachte Hunter nachdenklich. „Ich bin sicher, dass ich deinen Pokéball nicht berührt habe. Wie konntest du dich befreien?“ Hunter krächzt ratlos. „Vielleicht war der Pokéball defekt“, überlege ich laut. „Oder es hat damit zu tun, dass du dich nicht gewehrt hast, als ich dich gefangen habe?“ Ich runzele die Stirn, dann lasse ich es darauf beruhen. In jedem Falle ist es eine ziemlich hilfreiche Fähigkeit, sollte ich nochmal von einem Hypno angegriffen werden. Ich öffne den Schlafsack und winde mich daraus hervor, dann krabble ich zu Louis hinüber. Er sieht besser aus, der Schweiß und die angestrengte Atmung sind verschwunden und sein Mund ist halb geöffnet, während er leise schnarcht. Ich lege meine Hand auf seine Wange und tätschele ihn sanft. Es dauert nur wenige Sekunden, dann verändern sich seine Bewegungen und er öffnet schläfrig die Augen. „Wo bin ich?“, fragt er müde und ich grinse ihn erleichtert an. „Auf irgendeiner Lichtung irgendwo im Steineichenwald“, sage ich und stehe vorsichtig auf. Meine Arme und Beine tun weh und als ich sie unter Beschlag nehme, entdecke ich überall blutige Kratzer, die inzwischen verkrustet sind. Louis setzt sich auf und schaut sich desorientiert um. „Was ist passiert?“, fragt er dann und will den Arm heben, aber der bleibt unter der Decke hängen. Ich habe ihn fest eingewickelt. Als er die Decke bemerkt, bildet sich ein merkwürdiger Ausdruck auf seinem Gesicht. „Naja, wir sind von einem durchgedrehten Hypno überwältigt worden, es hat dich entführt, ich habe euch verfolgt, nachdem meine Hypnose abgeklungen ist und dann habe ich gegen es gekämpft, es besiegt und in einen Pokéball eingesperrt“, erkläre ich. „Sonst eigentlich nichts.“ „Du… hast mich gerettet“, sagt Louis und schaut weiter auf die Decke. „Natürlich“, sage ich und gehe neben ihm in die Hocke. „Das wäre ja noch schöner, wenn ich dich mit diesem Wahnsinnigen alleine gelassen hätte.“ „Danke.“ „Keine Ursache.“ Er schaut mich immer noch nicht an. „Louis“, sage ich und lege behutsam eine Hand auf seine Schulter. „Alles okay mit dir?“ „Ich, ich weiß nicht…“ Er zieht die Decke weg und legt seinen Kopf in seine Hände. Er sieht aus wie ein Häufchen Elend. „Ich dachte, du hättest mich zurück gelassen.“ „Was?“ Ich starre ihn entsetzt an. „Warum?“ „Ich bin ohnmächtig geworden, aber dann war ich wieder wach. Aber vielleicht war ich auch nicht wach, vielleicht habe ich das nur geträumt…“ Er krallt seine Finger in sein strohblondes Haar und kneift die Augen zusammen. „Ich war gefangen und du warst da und als du mich gesehen hast, da hast du dich umgedreht und bist gegangen.“ „Louis.“ Ich zögere einen Moment, dann nehme ich ihn in die Arme. Er zittert und ich halte ihn so fest ich kann, bis er sich etwas beruhigt. „Ich bin dir sofort gefolgt. Du hast geträumt. Hypno hat deine Träume gefressen. Wahrscheinlich hat er dir Alpträume beschert oder so was. Ich habe dich nicht im Stich gelassen. Okay?“ Louis nickt, aber sein Brustkorb hebt und senkt sich rapide und unregelmäßig. Er weint. „Alles ist gut“, flüstere ich und streiche ihm über den Kopf. „Alles ist gut.“ Es dauert eine Weile, bis Louis sich beruhigt hat. Als er sich von mir löst und den Kopf abwendet, damit ich sein tränenverschmiertes Gesicht nicht sehe, krame ich ein Taschentuch aus meiner Tasche, gebe es ihm und stehe auf. Dann rufe ich Hunter zurück und hole Sku aus ihrem Pokéball. Sie landet schlaftrunken auf dem Boden, eingerollt und mit ihrem Schweif über ihrem Kopf. Ich wecke sie behutsam auf. Als sie wach ist, atme ich erleichtert aus. Jetzt ist der Spuk endgültig gebrochen. Ich werfe einen Blick zu Louis, der weiterhin sehr mitgenommen aussieht. Na ja, fast gebrochen. „Sku, meinst du, du findest den Weg zurück? Auf den Hauptpfad meine ich.“ Sie schnurrt und geht auf ihre Hinterbeine, um ihre Vorderpfoten auf meine Brust legen zu können. Dann reibt sie ihren Kopf gegen meinen. „Das nehme ich dann mal als Ja“, flüstere ich grinsend und kraule ihren Kopf, woraufhin sie sich weit nach hinten lehnt, damit ich auch genau die richtige Stelle erwische. „Komm“, sage ich und stehe auf. „Ich möchte Azalea City gerne noch heute erreichen. Jetzt haben wir schließlich keine Ausrede mehr.“ Erleichtert sehe ich, dass Louis mich angrinst. Er hat immer noch Ringe unter den Augen, aber die werden verblassen. Für jetzt sieht er wieder stabil aus. „Also dann.“ Sku läuft voran und zu meinem großen Bedauern bleibt sie vor der Erdwand stehen. „Da hoch?“ frage ich und schaue die zwei Meter hinauf. Nicht unmöglich, aber zum Klettern bin ich eigentlich nicht zu gebrauchen. Louis taucht neben mir auf und läuft die Wand ab, während er mit den Augen die ganze Fläche absucht und hier und da mit seinen Händen die Erdkonsistenz prüft. Dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er reibt sich über die Nase. „Kein Problem“, sagt er und stellt sich mit verschränkten Händen und gehockt vor die Wand. „Was wird das, wenn´s fertig ist?“, frage ich misstrauisch und er verdreht die Augen. „Räuberleiter, Abby. Wir müssen dich da schließlich hoch befördern.“ Ich gehe misstrauisch zu ihm. „Und du?“ „Lass das mal meine Sorge sein.“ Ich zucke die Achseln, dann steige ich auf seine Hände, drücke mich ab und erreiche, mit Louis´ Hilfe, problemlos die obere Kante. Es dauert ein bisschen, bis ich mich hoch gehievt habe, aber dann stehe ich auf und schaue zu Louis runter. „Wenn du darauf spekulierst, dass ich dich hochziehe, muss ich dich enttäuschen“, sage ich und verschränke die Arme. „So stark bin ich nicht.“ Louis grinst, dann geht er ein paar Schritte zurück, nimmt Anlauf und springt gegen die Wand. Oder besser, an der Wand hoch. Ich sehe nicht genau, was er macht, aber im nächsten Moment hängt er schon an der Kante. Dann strampelt und zieht er sich hoch und sitzt im nächsten Moment neben mir, seine Schuhe voller loser Erde, genauso wie seine Hände, aber sonst nicht mal außer Atem. „Und ich dachte schon, du bist zu nichts zu gebrauchen“, sage ich und er lacht. „Na ja, Klettern ist nicht gerade die Nummer eins Fähigkeit, die man als Pokémontrainer braucht.“ „Woher kannst du das?“, frage ich, während ich Sku zurück rufe und sie bei uns oben wieder rauslasse. Dann gehen wir los. „In Rosalia ist eine kleine Bucht“, erklärt er. „Wenn man ein bisschen ins Wasser hineinwatet, kommt man zu einer kleinen Insel. Die führt zu einer steilen Felswand. Ich wollte immer wissen, was sich dahinter verbirgt, also bin ich jeden Tag dorthin und habe Klettern geübt. Ich bin nicht professionell oder so, aber ich komme gut mit den meisten Vorsprüngen und Felswänden klar.“ „Praktisch“, stimme ich ihm zu. Als wir den kleinen Teich erreichen, verzieht Louis das Gesicht. „Müssen wir da durch?“, fragt er, während ich schon meine Schuhe ausziehe. „Der Teich ist in Ordnung“, erwidere ich und grinse ihn an. „Warte, bis wir durchs Dickicht müssen.“ Sku springt wie schon gestern Abend auf meine Schultern und ich stöhne, lasse sie aber gewähren. Dann waten Louis und ich durch das kalte Wasser. Als wir auf der anderen Seite herauskommen, schüttelt Louis sich. „Kalt“, wimmert er und reibt seine Arme. Er hat Recht. Da es noch früh am Morgen ist und die Sonne kaum in den Wald eindringt, hat die Luft hier ihre nächtliche Kühle noch nicht verloren. Und unsere nassen Klamotten helfen nicht gerade dabei, uns aufzuwärmen. Ich ziehe meinen Rucksack aus und krame meine ärmellose Kapuzenjacke, mein langärmliges schwarz-weiß gestreiftes Shirt und eine Strumpfhose hervor. Dann schaue ich Louis erwartungsvoll an. Er erwidert den Blick, verdattert. Ich mache eine kreisende Bewegung mit der Hand. „Du ziehst dich um, ich ziehe mich um. Wir drehen uns um und gucken nicht. Dann geht´s weiter.“ Louis läuft rot an und schaut die Klamotten in meinem Arm an. „O-okay.“ Er fischt einen Pulli aus seinem eigenen Rucksack, dann dreht er sich mit dem Rücken zu mir. Ich zögere einen Moment, dann tue ich es ihm gleich und ziehe so schnell ich kann meine Shorts und mein Top aus. Dann rolle ich meine Strumpfhose auf, schlüpfe hinein und ziehe meine Shorts drüber. Als nächstes stülpe ich mir mein Shirt über den Kopf, dicht gefolgt von meiner Hoodie. Dann ziehe ich mir noch dicke Socken an, damit ich in den Wanderschuhen keine Blasen kriege. Als ich mich umdrehe, schaut Louis mich bereits an. „Hast du geguckt?“, frage ich misstrauisch und er verzieht keine Miene. „Nein, habe ich nicht“, sagt er und irgendetwas sagt mir, dass er lügt wie gedruckt. „Ach, was soll´s.“ murmele ich und folge Sku in Richtung Bäume. „Hier lang?“, frage ich sie und Sku hebt zustimmend den Schweif. „Ne, oder?“, fragt Louis und taucht neben mir auf. „Da durch?“ „Was kann ich dafür, wenn dieses Hypno hier lang gelaufen ist“, erwidere ich und mache den ersten Schritt ins Dickicht. Innerhalb von wenigen Metern ist meine Strumpfhose an mehreren Stellen aufgerissen. „Na toll.“ „Wie weit ist es noch?“, fragt Louis nach nicht einmal einer Minute. „Vielleicht zwanzig Minuten“, schätze ich und diese ernüchternde Enthüllung raubt nicht nur Louis seine Motivation. „Ich glaube, ich muss mich nochmal für gestern bedanken“, sagt er nach einer Weile, während er sich von einer sehr hartnäckigen Dornenranke befreit, die sich in seiner Haut, seinen Haaren und seinem Pulli verheddert hat. Besser hätte sie ihn nicht erwischen können. „Du bist ja quasi durch die Hölle für mich gegangen.“ „Zahl mich zurück, wenn wir in der Stadt sind“, erwidere ich grinsend und ziehe einige Kletten aus meinem Zopf. Er ist mittlerweile völlig aufgelöst. „Ich mag Tamottee.“ „Ist notiert“, stöhnt er, dann stößt er einen frustrierten Schrei aus. „Und jetzt lass mich los, du verflixte Scheißranke!“ Ich kann nicht anders, ich muss laut loslachen. Gestern war dieser Weg nicht unbedingt leichter zu bewältigen, aber ich muss gestehen, dass ich rumschreiende Gesellschaft bevorzuge. Die Angst um Louis war nicht besonders berauschend. „Abby, hilf mir…“, jammert er und ich gehe stöhnend zu ihm zurück. Er ist wirklich völlig verheddert. „Das war nie im Leben die Ranke“, sage ich, als ich beginne, die Dornen einzeln aus den diversen Louisteilen zu entfernen. „Wahrscheinlich hast du mit deinem Gezappel alles noch schlimmer gemacht.“ Ich brauche mehrere Minuten, bevor Louis endlich weiter gehen kann. „Tamottee“, ermahne ich ihn und er wischt sich grinsend über die Nase. „Wenn wir in Azalea sind, kriegst du eine ganze Tonne von dem Zeug.“ „Zu großzügig.“ Aber jeder Alptraum hat ein Ende und nach fast dreißig Minuten, dank Louis´ kleinen Dornenduellen, brechen wir schließlich aus dem Unterholz heraus. Louis stützt sich schnaufend auf seine Knie. „Ich hasse diesen Wald…“, murmelt er, dann richtet er sich auf und hält seine Hände wie einen Trichter an seinen Mund. „Hörst du mich, Wald?! Ich hasse-“ Weiter kommt er nicht, denn sein Geschrei hat einen Schwarm Bibor aufgeschreckt, die in einem der Baumwipfel geschlafen haben. Jetzt preschen sie genau auf uns zu. „RENN!“, schreie ich und Louis muss sich das nicht zweimal sagen lassen, wir beide drehen auf der Stelle um und rennen in entgegen gesetzter Richtung immer tiefer in den Wald hinein. Ich frage mich langsam wirklich, wie wir hier je wieder lebend rauskommen sollen. Kapitel 18: Neckereien (Biborsenfieber) --------------------------------------- „Hier lang, Sku?“, frage ich müde. Inzwischen habe ich mir meine Hoodie und die Strumpfhose wieder ausgezogen. Louis´ Pulli hängt lose um seine Schultern. Sie nickt schläfrig und wedelt ein bisschen mit ihrem Schweif. Es ist Mittag, es ist warm und wir sind alle drei total erschöpft. Seit fünf Stunden kämpfen wir uns schon durch den Steineichenwald. Wir sind von Dornen zerkratzt, von Bibors gejagt und von Hoothoot angeschissen worden. Und wir wissen immer noch nicht, wo wir sind. Sku hat uns zwar irgendwie in die richtige Richtung dirigiert, aber langsam weiß sie auch nicht mehr weiter. Ich kann es ihr nicht verübeln. Alles sieht gleich aus. Louis lässt sich zu Boden fallen und murmelt irgendwas von wegen Schicksal und Selbstmord. Ihn hat es schlimmer getroffen als mich. Eins der Bibor ist ihm zu nahe gekommen und hat ihn in den Arm gestochen. Jetzt ist die Stelle rot und zu doppelter Größe angeschwollen. „Komm schon, wir sind bestimmt fast da.“ murmele ich wenig überzeugend, aber als er sich keinen Zentimeter rührt, lasse ich mich ebenfalls zu Boden sinken. Wir sitzen auf einem der etwas breiteren Pfade. Einer Sackgasse. Hinter uns geht es zurück dorthin, von wo wir gekommen sind und vor uns sind nichts als Bäume. Gut, einer wirkt etwas kleiner und schwächer, aber ein Baum ist ein Baum. „Meinst du, wir werden sterben?“, fragt Louis, die Augen in Richtung Blätterdach gerichtet. Ich seufze theatralisch. „Keine Ahnung. Aber wenn ich schon sterben muss, dann bitte nicht hier.“ „Genau deiner Meinung“, stimmt er mir zu und für ein paar Minuten bleiben wir einfach sitzen und suhlen uns in Selbstmitleid. Plötzlich höre ich eine Stimme. Ich springe auf und drehe mich im Kreis. Woher kommt sie? „-lo? Hallo?“, ruft jemand. Ein Mann. Und die Stimme kommt von hinter den Bäumen. „HIER!“, schreie ich so laut ich kann und renne zu dem Baum. Ich rüttele verzweifelt an den Ästen. „WIR SIND HIER!“ Louis springt jetzt ebenfalls auf, seine Müdigkeit vergessen. Gemeinsam schreien und rütteln wir an dem kleinen Baum, bis die Stimme näher kommt. „Hallo?“, ruft der Mann und plötzlich sehe ich ihn. Er ist groß, muskelbepackt, gebaut wie ein Schrank, mit dichtem Vollbart und einer Axt in der Hand. Ich möchte vor Erleichterung weinen. Als er uns sieht, läuft er zu uns. „Da seid ihr ja“, stöhnt er und hebt seine Axt. „Geht mal ein Stück zurück ihr Zwei.“ Wir folgen seiner Anweisung und im nächsten Moment hackt er auf den kleinen Baum ein. Er braucht nur drei Schläge, bis der schmale Stamm in unsere Richtung kippt. Wir springen zur Seite. „Seid ihr die zwei von gestern, von denen Maria erzählt hat?“, fragt er und reicht mir seine große Hand, um mir über den Baumstumpf zu helfen. Ich war noch nie so froh, einen Erwachsenen zu sehen. „Ja, die sind wir“, stimme ich ihm zu und klettere mit seiner Hilfe über den Stamm. „Wir hatten ein paar… Probleme.“ „Könnt ihr gleich von berichten“, sagt der Holzfäller und hilft nun auch Louis über den Baumstamm. Als er seinen Stich sieht, zieht er scharf die Luft ein. „Wie frisch ist der?“ fragt er und befühlt die Schwellung. „Ein paar Stunden“, antwortet Louis und zuckt zusammen, als der Mann darauf herum drückt und Eiter aus der Einstichstelle läuft. „Uhh“, sage ich und betrachte mit angeekeltem Interesse die Wunde. „Die alte Luna wird sich das mal ansehen müssen“, grummelt der Mann in seinen Bart hinein und lässt Louis los. „Mit Biborstichen ist nicht zu spaßen. Entzünden sich schnell, die Dinger. Habe mal einen gekannt, der hat ihn nicht behandeln lassen. Hat seine Hand verloren, der arme Hund.“ Louis wird kreidebleich und ich klopfe ihm gutmütig auf die Schulter. „Sei tapfer, Krieger“, sage ich und grinse ihn mit einem raubtierhaften Grinsen an, das ich mir von Caro abgeguckt habe. „Ein Arm mehr oder weniger…“ Er schlägt meine Hand weg, immer noch kreidebleich. „Das ist nicht lustig, Abby!“, faucht er, aber ich lache nur herzlich. Dann schaue ich mich flüchtig um. Neben uns steht ein roter Holzschrein, zu dessen Füßen Blumen und abgebrannte Räucherstäbchen liegen. Wir folgen dem Köhler, der sich als Reagan vorstellt, durch den Wald. Hier sind keine Schilder, aber Reagan scheint sie auch nicht zu brauchen. Mit sicheren Schritten führt er uns zwischen den Bäumen hindurch und ich merke, wie die Baumkronen immer durchscheinender werden. Auf dieser Seite wirkt der Wald geradezu idyllisch. Als wir schließlich das kleine Durchgangshäuschen entdecken, das den Wald von der Stadt trennt, fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. Vielleicht war es auch ein Berg. Als wir hineingehen, kommen uns gleich zwei Frauen und ein anderer Köhler entgegen. „Sind sie das?“, fragt der Mann und begutachtet uns kritisch. Seine Augenbrauen sind so dicht, dass sie zusammenstoßen, wenn er die Stirn runzelt und sein Haar ist schlohweiß und zu einem Zopf nach hinten gebunden. Seine Arme sind massig und an seiner Hüfte hängt eine gewaltige Axt. „Hab sie beim Schrein aufgelesen. Sind von der falschen Seite gekommen.“ Der Andere schaut uns jetzt regelrecht wütend an. „Wir haben nicht umsonst die Schilder aufgestellt, verdammt. Und so was nennt sich Trainer. Die können froh sein, dass sie überhaupt den Weg gefunden haben.“ „Können wir wirklich“, zische ich ihn an, jetzt sehr gereizt. „Die Schilder wurden von einem Hypno verdreht, mein Freund und ich wurden hypnotisiert und entführt und mussten die Nacht im Wald verbringen. Dass wir querfeldein zurücklaufen mussten und von einem Schwarm wild gewordener Bibor gejagt wurden mal ganz ausgenommen.“ Ich schaue ihm in die Augen. „Ja, wir hatten wirklich verdammtes Glück, dass wir den Weg gefunden haben.“ Darauf wissen sie nun wirklich keine Antwort und ich bin ziemlich stolz, dass der alte Holzfäller etwas kleinlauter wirkt. Geschieht ihm Recht. Die Frau mit kurzen, dunkelbraunem Haar und großer Hornbrille ist die erste, die sich von meiner Enthüllung erholt. „Ein Hypno?“, fragt sie und schaut mich überrascht an. „Was macht ein Hypno in unserem Steineichenwald?“ „Das würde ich auch gerne wissen“, stimme ich ihr zu. „Jedenfalls haben wir das Rätsel um Holgers Monster gelöst. Und es wird keinen Ärger mehr machen, dafür haben wir gesorgt.“ „Naja, Abby hat dafür gesorgt“, wirft Louis gerechter Weise ein. „Ich war bewusstlos.“ „Das ist doch Unsinn“, sagt die zweite Frau, ihre wohl manikürten Fingernägel akzentuieren ihren roten, sehr knappen Rock und blonde Locken fallen dicht über ihre Schultern. „Der alte Holger hat sich da nur was zusammengebauscht. Es gibt kein Monster.“ „Nein, aber es gab ein sehr echtes Hypno“, kontere ich. „Ich hab´s gefangen. Willst du es sehen?“ Sie schaut mich schräg an, sagt aber nichts mehr. „Jetzt lasst die Kinder doch mal verschnaufen“, wendet die kurzhaarige Frau ein und nimmt mich beschützend bei den Schultern. „Was auch immer im Wald vorgefallen ist, sie haben einiges durchgemacht. Reagan, bringst du sie zu Luna? Der Arm von dem Jungen sieht nicht gut aus.“ Reagan nickt, dann schiebt er uns vor sich her und aus dem Häuschen hinaus. Als wir draußen sind, bleibt er stehen und schaut mir in die Augen. „Ist das wahr?“, fragt er und seine grollende Stimme lässt mir alle Haare zu Berge stehen. „Seid ihr von einem Hypno entführt worden?“ „Ja, sind wir“, erwidere ich so ernst ich kann. „Ich sage die Wahrheit.“ „Und du hast es gefangen?“ „Ich hab es dabei.“ Er grunzt zufrieden und richtet sich wieder auf. „Gut. Ich glaube euch.“ „Danke“, sage ich und ich meine es so. Daran, ob man uns unsere Geschichte glauben würde, habe ich überhaupt nicht gedacht. Aber ich kann die Reserviertheit der Anwohner verstehen. Sie müssen nicht nur akzeptieren, dass ein alter Spinner die Wahrheit gesagt hat, im Steineichenwald gibt es eigentlich gar keine Hypnos. Es gibt dort nicht mal Traumatos. Wir gehen weiter und ich schaue mich interessiert um. Azalea City wirkt wie ein typisches Kaff. Ich kann die Häuser an zwei Händen abzählen und bis auf das Pokécenter, die Arena und den kleinen Supermarkt sind alle Häuser mit Stroh und gebrannten Ziegeln gedeckt. Festgetretene Pfade führen von einem Haus zum nächsten und aus der Ferne kann ich den Geruch von Holzkohle und Rauch wahrnehmen. Als wir einem der Pfade folgen, begegnen wir mehreren Menschen, von denen Reagan jeden mit Namen begrüßt. Wir kommen außerdem an schätzungsweise zehn Flegmons vorbei. Kurts Werkstatt ist links von dem Pokécenter auf einem kleinen Hügel gebaut, in seinem Garten stehen Obst- und Aprikokobäume. „Was macht der Arm?“, frage ich Louis besorgt und er zuckt mit den Schultern. Er ist ungewöhnlich still, seit wir angekommen sind. „Ich werd´s überleben, denke ich mal“, sagt er, aber er wirkt wenig überzeugt. „Da sind wir“, sagt Reagan und bleibt vor einer windschiefen Hütte stehen. An der Tür hängt der Schädel eines Flegmons. Reagan verzieht keine Miene, als er den Türklopfer unter dem Schädel bedient und wir warten geduldig mehrere Minuten, bis die Tür sich einen Spalt breit öffnet. Zuerst kann ich niemanden sehen, aber als ich den Blick senke, entdecke ich die kleinste und verhutzelteste Frau, die mir je in meinem Leben untergekommen ist. Karin wirkt gegen sie wie ein junges Mädchen. Ihr Gesicht besteht aus mehr Furchen als glatter Haut, ihre Augen sind glasig und von Tränensäcken umrahmt und ihr Kopfhaar besteht aus einzelnen, fast dursichtigen Strähnen, die müde ihren Kopf hinunter hängen. Als sie Louis und seinen Arm sieht, murrt sie leise und öffnet die Tür. Reagan muss sich bücken, um durch die Tür zu passen. Ihr Haus ist klein und besteht aus einem einzigen Raum. Alles ist dunkel, die Fensterläden sind geschlossen und außer dem Kamin in der Ecke und einigen Kerzen gibt es kein Licht. Die Luft riecht muffig und stinkt nach Schweiß und alter Wäsche. Und nach Kräutern. Die ganzen Wände und die Decke hängen voll mit getrockneten Pflanzen, Kräutern, Wurzeln und Pilzen und auf dem Kaminfeuer hängt ein Kessel, in dem eine verdächtig wirkende Flüssigkeit eifrig vor sich hin blubbert. Auf dem Bett, das an eine Wand gelehnt steht, liegt ein Flegmon und schaut uns träge an. „Setz dich auf das Bettsen da“, sagt Luna mit einer Stimme, die genauso runzlig klingt wie sie aussieht. Louis befolgt ihren Befehl ohne mit der Wimper zu zucken und setzt sich zu dem Flegmon aufs Bett. Reagan und ich bleiben an der Tür stehen. Luna nimmt eine Kerze in einem Metallhalter vom Tisch und geht damit zu Louis. Ein Blick genügt ihr und sie schnauft wissend. „Biborsen, was? Armer Junge.“ Sie tätschelt unbeholfen seine Hand und wenn Louis nicht so elendig aussehen würde, hätte ich ihm ein Grinsen zugeworfen. Aber der Kerzenschein zeigt mir, was die Sommersonne versteckt hat. Die Ringe unter seinen Augen sind dunkler geworden und sein Gesicht hat eine sehr ungesunde Farbe angenommen, irgendetwas zwischen käsig und grün. Sie stellt die Kerze auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett und wuselt ein wenig durch das Zimmer, während sie auf diverse Hocker steigt und Kräuter aus den Bündeln an der Decke und den Wänden zupft. Schließlich kommt sie mit einer Hand voll zurück, nimmt den Kessel kurzerhand vom Feuer und stellt ihn einfach neben sich auf den Boden. Erst jetzt fallen mir die verkohlten Ringe auf dem Holz auf und ich komme zu dem Schluss, dass Luna sich nicht viel um den Zustand ihres Fußbodens kümmert. Sie hängt einen kleineren Topf ins Feuer, legt die Kräuter hinein und verschwindet dann nach draußen. Als sie mit einem Holzeimer randvoll mit Wasser zurückkommt, mache ich einen Schritt auf sie zu. „Kann ich helfen?“, frage ich und strecke meine Hand nach dem Eimer aus, aber sie reißt das Behältnis aus meiner Reichweite und schaut mich drohend an. Wasser schwappt auf den Boden. „Was denn, Mädchen, was denn? Ich komme alleine zurechtsen, keine Sorge.“ Dann torkelt sie zu dem Kamin, während sie genervt vor sich hin murmelt. Sie steigt auf einen kleinen Hocker, dann schüttet sie Wasser in den Topf. Ein paar Tropfen gehen daneben und fallen zischend ins Feuer. „Was dennsen?“, zischt sie und schaut das Feuer vorwurfsvoll an. Dann wendet sie sich uns zu. „Gehts doch schon“, sagt sie und wedelt mit den Händen. Unglücklicher Weise hat sie den Wassereimer noch in der Hand und Wasser spritzt in alle Richtungen davon, während sie auf dem Hocker hin und her torkelt und versucht, ihr Gleichgewicht zurückzuerlangen. Schließlich hopst sie von dem Holzgestell hinunter und lässt den Eimer neben sich fallen. Er landet polternd und überschwappend auf den Dielen. „Kommt später wieder.“ Reagan nickt, dann dreht er sich um und geht. „Ich würde gerne bleiben“, sage ich und schaue Luna herausfordernd an. „Nein, geh, Mädchensen, geh!“, sagt Luna und deutet mit dem Zeigefinger in meine Richtung. Ich bleibe hartnäckig an der Tür stehen. Einige Sekunden lang schauen wir uns gegenseitig wütend in die Augen, dann kommt Luna auf mich zu und baut sich bedrohlich vor mir auf. Sie reicht mir kaum bis zur Brust. „Geh jetzt“, sagt sie und ihre Stimme wird einen Hauch eisiger. Ich verschränke die Arme. „Ich bleibe.“ Sie kneift die Augen zusammen und für einen Moment glaube ich, dass sie mich gewaltsam durch die Tür schieben wird, aber dann reißt sie nur die Arme in die Höhe und murrt leise vor sich hin. „Setz dich da auf den Hockersen“, sagt sie und ich hole ihn mir, bevor ich ihn neben dem Bett aufbaue. Louis ist inzwischen völlig weggetreten und starrt mit glasigem Blick auf die Hände in seinem Schoß. „Was ist mit ihm?“, frage ich und nehme seine Hand. Sie ist eiskalt. „Er hat Biborsenfieber“, sagt Luna und stellt sich neben mich, dann tupft sie mit einem in braune Flüssigkeit getränkten Tuch seinen Stich ab. „Der Stichsen hat sich entzündet. Ihr seids gerade noch rechtzeitig hergekommen.“ „Wird er wieder gesund?“, Luna drückt mir den Lappen in die Hand und geht zum Kamin, wo die Flüssigkeit, die sie angesetzt an, inzwischen lebhaft kocht. Dann taucht sie einen neuen Lappen hinein und kommt wieder. Als sie das heiße Wasser auf seine Wunde tropft, zischt Louis und sein Blick wird wieder etwas klarer. Er beobachtet Lunas Hände mit zusammen gebissenen Zähnen. „Natürlich wirds er das“, sagt Luna, als sei es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt. Ich beobachte Luna, während sie immer wieder zu dem Kessel zurück geht, den Lappen in der Kräutermischung tränkt und Louis´ Wunde damit auswäscht. Nach einigen Minuten fließt der Eiter ungehemmt und ich verziehe angewidert das Gesicht. Louis scheint es immerhin langsam besser zu gehen. Sein Blick ist wieder fokussiert und er beginnt sogar, sich interessiert in Lunas Hütte umzuschauen. Nach etwa einer Stunde legt Luna den Lappen beiseite und überprüft ein letztes Mal den Stich, dann nickt sie zufrieden. „Ist jetzt saubersen“, sagt sie dann und steht auf, um in einem ihrer Regale zu wühlen, die voller Glasphiolen und kleiner Tontöpfchen vollstehen. Schließlich findet sie, was sie sucht, kommt zurück und beginnt, die Wunde mit einer braunen Paste einzustreichen. Dann wickelt sie einen Verband dicht um Louis´ Bizeps und drückt mir das kleine Töpfchen und zwei Rollen Verband in die Hand. „Wechsel das jeden Morgen und jeden Abendsen“, erklärt sie und schaut mich scharf an. „Nicht vergessen.“ „Dann können wir jetzt gehen?“, frage ich hoffnungsvoll und Luna macht eine scheuchende Bewegung. „Gehts schon ihr zwei. Husch, husch.“ Ich nicke und stehe auf. Louis erhebt sich ebenfalls, auch wenn er ein bisschen wacklig auf den Beinen ist. Als wir bereits in der Tür stehen, drehe ich mich nochmal um. „Vielen Dank, Luna“, sage ich und sie wedelt ungeduldig mit der Hand. „Jaja, jetzt gehtsen schon. Los, los!“ „Wie geht´s dir?“, frage ich besorgt, kaum dass ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Louis verzieht das Gesicht. „Nicht ideal, aber besser als vorher. Mein Arm brennt, aber das ist alles.“ „Pokécenter?“, frage ich und er nickt. „Ich bitte darum.“ Das Pokécenter ist nur zwei Minuten von Lunas Hütte entfernt und als wir hinein gehen, entdecke ich die blonde Frau von eben und einen jungen Mann mit blass violettem Haar. Sie unterhalten sich mit gedämpften Stimmen, aber die Atmosphäre ist alles andere als freundschaftlich. Sie scheinen zu streiten. Ich krame meine Pokébälle hervor und gehe zu Schwester Joy. Als der Mann mit den violetten Haaren mich sieht, hellt sich sein Gesicht auf. „Seid ihr die zwei, die im Wald verloren gegangen sind?“, fragt er und ich nicke. Haben wir jetzt so was wie einen VIP-Status in Azalea? Vielleicht sollte ich versuchen, den Zimmerpreis etwas runterzuhandeln. „Das sind wir“, bestätigt Louis und lächelt den Mann matt an. „Gibt´s ein Problem?“, frage ich, eine Spur gereizt, obwohl er mir nichts getan hat. „Ihr seid müde, das verstehe ich.“ Er nickt wissend. „Warum kommt ihr nicht später zu mir nach Hause? Ich habe da ein paar Fragen, die ich gerne aus erster Hand beantwortet hätte.“ Ich schaue fragend zu Louis. „Klar, kein Problem“, sagt er. „Mit wem haben wir das Vergnügen?“ „Ich bin Kai“, sagt er und lächelt. Wenn er so sanft guckt, könnte er glatt als Mädchen durchgehen. „Ich bin der Arenaleiter von Azalea City. Ich hoffe, ihr könnt uns eure Probleme im Wald verzeihen.“ Ich verschlucke mich fast. Das ist Kai? „Uns müssen sie überhaupt nichts verzeihen“, wendet die blonde Frau ein. „Amelie, bitte“, stöhnt Kai und schaut sie genervt an. „Musst du dich immer wie ein eingeschnapptes Kleinkind benehmen?“ Amelie schaut ihn geschockt an, dann packt sie ihre schwarze Lacktasche und rauscht mit einem giftigen Blick an uns vorbei. „So redest du nicht mit mir!“, ruft sie Kai hinterher, dann verschwindet sie aus dem Pokécenter. „Es tut mir so unendlich leid“, sagt Kai und ich kann an seiner Stimme erkennen, dass ihm der Vorfall zutiefst peinlich ist. „Sie ist mit einem der Köhler hier verlobt. Sie liebt ihn abgöttisch, aber mit dem Rest von uns hat sie sich noch nicht angefreundet. Ich glaube, sie nimmt es der ganzen Stadt übel, dass Ben nicht für sie in die Großstadt ziehen wollte.“ „Ah“, sage ich wenig intelligent. „Danke für die Information.“ Kai lächelt grimmig, dann verabschiedet er sich. „Mein Haus ist das letzte dieser Straße. Kommt heute einfach irgendwann vorbei“, sagt er noch, dann verlässt er ebenfalls das Pokécenter. Louis und ich schauen uns ratlos an. Bisher wirkt Azalea sehr… durchwachsen. „Willkommen im Pokémoncenter“, sagt Schwester Joy und lächelt uns fröhlich an. „Wollt ihr eure Pokémon heilen lassen?“ „Das wäre super“, sage ich und lege Hunters und Skus Pokébälle auf die Theke. Sie nimmt die Bälle entgegen und legt sie in die Maschine. „Kann ich sonst noch etwas für euch tun?“, fragt sie und wir schauen uns an. „Zwei Zimmer für die Nacht und ein Mittagessen wäre klasse“, sage ich und Louis nickt. Mein Magen knurrt und erinnert mich wütend daran, dass ich seit gestern Mittag nichts mehr gegessen habe. Schwester Joy nickt und verschwindet in einem Hinterraum. „Das Essen kommt gleich.“ „Danke.“ Sie tippt etwas in ihren Computer, dann verändert sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich. „Es tut mir so leid!“, entschuldigt sie sich und senkt den Kopf. „Wir haben nur noch ein Zimmer frei.“ „Warum das?“  „Azalea City erwartet nie viele Trainer“, erklärt Schwester Joy und schaut mich entschuldigend an. „Deshalb haben wir nur vier Zimmer hier, drei Einzel- und ein Doppelzimmer. Aber heute Morgen sind drei Trainer gleichzeitig eingecheckt. Ich glaube, sie reisen zusammen.“ „In anderen Worten, sie haben nur ein Doppelzimmer?“, frage ich. „Leider ja.“ „Einzelbetten?“ „Nein.“ „Absolut kein Problem“, räumt Louis freudestrahlend ein. „Wir nehmen das Zimmer.“ „Wirklich?“, frage ich mit hoch gezogenen Augenbrauen. „Sagt wer?“ „Sagt der arme, verletzte Junge, der heute Nacht unbedingt ein Bett braucht.“ „Wir können Luna fragen, ob sie-“ „Nein. Absolut nein.“ Er kreuzt die Arme vor der Brust. „Schlag dir das sofort wieder aus dem Kopf, Abby.“ „Dann schlag du dir das Doppelbett aus dem Kopf“, kontere ich und verschränke die Arme. „Stell dich nicht so an, ich hab dich eh schon in Unterwäsche gesehen.“ Ich werde knallrot. „Ich wusste es! Also hast du doch geguckt!“ Ich hole übertrieben weit aus, aber Louis hält beschützend seinen verbundenen Arm in die Höhe. „Du wirst doch keinen Krüppel schlagen!“, winselt er und schaut mich mit flehenden, blauen Augen an. „Ich sehe keinen Krüppel, nur einen Spanner“, erwidere ich, aber irgendwie ist mein Zorn verraucht. Eigentlich war er nie wirklich da. Wir haben allein in den letzten zwei Tagen so viel zusammen durchgemacht, dass mir alles andere banal vorkommt. „Meinetwegen“, seufzte ich theatralisch und werfe Louis einen letzten mahnenden Blick zu, bevor ich mich der amüsiert wirkenden Schwester Joy zuwende. „Wie viel kostet das Zimmer?“ „1200 pro Nacht. Aber ich denke, ich kann euch einen Rabatt geben. Zimmer und Essen zusammen… 1000 PD.“ „Klingt perfekt. Louis, Geld her.“ „Jaja“, murmelt er und kramt seine Geldbörse aus seinem Rucksack. Dann drückt er mir einen 500er Schein in die Hand und ich ergänze ihm mit meinem. Meine Geldbörse ist jetzt bedrohlich leer. Ich werde irgendeinen Weg finden müssen, schnell an ein paar Hundert Pokédollar zu kommen. Wir nehmen den Schlüssel, den Schwester Joy uns reicht und setzen uns erschöpft an einen der Tische. Ein paar Minuten später kommt unser Essen, Pilzauflauf mit Beerenkompott und frisch gebackenem Brot. Nie hat mir etwas besser geschmeckt. Als wir fertig sind, seufzen Louis und ich synchron und müssen laut lachen. „Mann“, sage ich und lehne den Kopf gegen die Wand. „Das waren zwei Tage.“ „Kannst du laut sagen.“ Wir schweigen, dann stehe ich schließlich auf und Louis und ich gehen hoch in unser Zimmer. Es ist klein und spärlich möbliert, aber sauber, ganz nach Pokécenterart. Wir lassen unsere Rucksäcke auf den Boden fallen und während Louis sich auf das Bett wirft, gehe ich ins Bad und dusche mich flüchtig, dann hole ich meine Körperpflege nach und ziehe schließlich ein frisches Top und meine zweite Shorts an, bevor ich zu Louis zurückkehre. Er grinst mich frech an und ich werfe mein nasses Handtuch nach ihm. „Wenn du dich auch duschen willst, mach’s jetzt, damit ich die Sachen zum Waschen runter bringen kann.“ „Jaja…“, murrt er, dann steht er auf, zieht sein T-Shirt aus und wirft es nach mir, genauso wie das Handtuch und seinen Pulli. Während ich mich noch aus dem Kleiderbündel befreie, verschwindet er ihm Bad und innerhalb von Sekunden folgen seine Socken, seine Hose und seine Unterwäsche. „Du willst mich wohl verarschen!“, schreie ich ihm hinterher, dann höre ich sein lauthalses Lachen und den Wasserstrahl der Dusche. „Dummer Idiot“, murmele ich, dann klaube ich die restlichen schmutzigen Klamotten auf, werfe meine zerrissene Strumpfhose in den Müll und verlasse das Zimmer. Ich werde ihm das noch heimzahlen, denke ich, während ich die Treppen hinunter laufe. Und als Schwester Joy die Unterhose mit hoch gezogenen Augenbrauen hochhebt und ich knallrot anlaufe, bin ich mir sicher. Ich werde mich so was von rächen. Kapitel 19: Wahrheit oder Pflicht (Bitte lächeln) ------------------------------------------------- Als ich in unser Zimmer zurückkehre, liegt Louis frisch geduscht und angezogen quer auf dem Bett, die Augen geschlossen. Ich schließe die Tür hinter mir und seine Augen öffnen sich schlagartig. Er hebt den Kopf und grinst mich an. Seine Zahnlücke blinkt mir spielerisch entgegen und ich verschränke die Arme vor der Brust. „Fühlst du dich fit für einen Besuch beim Arenaleiter?“, frage ich und betrachte ihn aufmerksam. Er wirkt wieder ganz gesund, aber das kann täuschen. „Mir geht´s gut“, sagt er nickend, dann steht er auf und gemeinsam verlassen wir das Pokécenter. Inzwischen ist es früher Nachmittag und die Sonne brennt auf uns herab. Wenigstens endet der August bald. Ich kann den Herbst kaum noch erwarten. Es dauert nicht lange, bis wir Kais Haus finden. Es steht weit hinten in Azalea, wie er gesagt hat und davor steht ein Schild mit der Aufschrift: Hier wohnt der Arenaleiter von Azalea City, Kai. Ich klopfe und Kai öffnet beinahe augenblicklich. „Da seid ihr ja!“, begrüßt er uns und lässt uns hinein. „Ich bin froh, dass ihr es geschafft habt.“ „Nicht der Rede wert“, erwidere ich kurz angebunden und Kai wirft mir einen schnellen, prüfenden Blick zu. In Gedanken ermahne ich mich daran, meine Stimme etwas besser unter Kontrolle zu halten. Ich bin heute von Grund auf gereizt. Kais Haus ist sehr geschmackvoll eingerichtet, dunkle Holzbalken zieren die Decke und im Wohnzimmer knistert ein gemütliches Feuer im Kamin. Die Sofas sind rot und weich und auf dem Esstisch steht eine dampfende Tasse. Als wir ihm ins Wohnzimmer folgen, entdecke ich außerdem ein Bücherregal voller Käferpokémonbücher. Wir setzen uns und Kai bietet uns Kaffee und Saft an. Als wir gemütlich sitzen, schaut Kai uns erwartungsvoll an, sein violettes Haar bedeckt geradeso seine Ohren. „Es kommt nicht oft vor, dass Trainer den Steineichenwald von Dukatia City aus durchqueren“, sagt er dann. „Die meisten kommen aus unserer Richtung. Sie werden von unseren Köhlern durch die erste Hälfte des Waldes begleitet und finden den Weg danach sehr gut alleine. Deshalb melden uns die Durchgangshäuschen auf der anderen Seite immer, wenn ein paar Trainer zu uns kommen wollen, damit wir ihnen Leute schicken, die sie abholen. Gestern hat Maria uns angerufen und euch angekündigt. Sie sagte, ihr würdet irgendwann am frühen Nachmittag ankommen. Also habe ich Reagan geschickt, um euch abzuholen.“ „Aber wir sind nicht gekommen“, rate ich und Kai nickt, dann faltet er seine Finger zusammen. „Reagan hat bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet, aber dann ist er zurückgekehrt. Heute Morgen ist er bei Sonnenaufgang wieder los. Als ihr immer noch nicht am normalen Durchgang wart, hat er begonnen, unsere gesamte Waldhälfte abzusuchen. Wir haben uns riesige Sorgen gemacht. Glücklicherweise hat er euch dann am Schrein gefunden. Früher sind die Trainer da oft entlang gegangen, aber mittlerweile nehmen sie eine andere, einfachere Route.“ „Einfach war leider keine Option für uns“, sage ich müde und trinke einen Schluck Saft. „Wir waren froh, dass wir überhaupt aus dem Wald gekommen sind.“ „Was ist euch passiert?“, fragt Kai und schaut mich genauso ernst an wie Reagan heute. „Ich will die ganze Geschichte hören. Die Gerüchte entwickeln in so kleinen Städten gerne ein Eigenleben.“ Ich erzähle ich ihm alles. Wie Jasmin uns vor dem ominösen Monster gewarnt hat und wir es als Spukgeschichte abgetan haben. Wie ich aufgewacht bin, Stunden später und alleine. Wie ich mich querfeldein durch den Wald geschlagen habe, um Louis zu finden. Wie ich das Hypno besiegt und es sicherheitshalber gefangen habe. Und wie wir den gesamten nächsten Morgen durch den Wald geirrt und von Bibor gejagt worden sind. Kai hört aufmerksam zu. Als er mich nach dem Hypno fragt, drücke ich ihm den betreffenden Pokéball in die Hand. „Behalte es“, sage ich und schaue den Ball angewidert an. „Ich will nichts mehr mit dem Viech zu tun haben.“ Kai nickt verständnisvoll, dann steckt er den Pokéball ein. „Das war ziemlich mutig von dir“, sagt er dann an mich gewarnt und ich spüre nun auch Louis´ Blick auf mir. „Ich kenne viele Menschen, die lieber weitergegangen und nachträglich Hilfe geschickt hätten.“ „Ach was…“, murmele ich und schaue schnell zur Seite. „Ich hatte tierische Angst.“ „Das macht es umso mutiger“, erwidert Kai und lächelt mich an. „Wie geht es deinem Arm, Louis?“ „Viel besser, dank Luna.“ „Und was wollt ihr zwei in Azalea City?“, fragt Kai und lehnt sich auf seinem Sessel zurück. „Ich reise durch Johto“, sage ich und trinke noch etwas Saft. „Ich sammle Orden“, sagt Louis und überspielt seine Unsicherheit mit einem breiten Grinsen. Kai erwidert die Geste und nippt an seinem Kaffee. „Dann freue ich mich auf deine Herausforderung. Die Arena ist jeden Tag von 9:00 bis 18:00 Uhr geöffnet.“ Louis nickt und einige Sekunden lang herrscht entspanntes Schweigen. „Ich frage mich immer noch“, fährt Kai schließlich fort, „wie ein Hypno in unseren Wald gekommen ist.“ „Vielleicht ist eins der Traumato hinein gekommen“, schlägt Louis vor. „Die leben ja gleich vor dem Wald in Mengen.“ Aber Kai schüttelt den Kopf. „Maria und die anderen Durchgangswärter sind rund um die Uhr aktiv. Der Durchgang bleibt nie unbesetzt. Kein Pokémon, das nicht in einem Pokéball transportiert wird, kommt ungesehen hinein. Ein Vogelpokémon könnte sich vielleicht durch die Baumkronen zwängen, aber kein Traumato.“ „Vielleicht hat ein Trainer es dort freigelassen“, vermute ich und Kai schaut mich interessiert an. „Das könnte in der Tat möglich sein“, stimmt er mir zu. „Normalerweise sollen Pokémon entweder an ihrem Heimatort freigelassen oder an das Pokécenter abgegeben werden, damit sie artgerecht ausgewildert werden können. Aber natürlich kann man das nicht immer kontrollieren.“ „Es war ziemlich stark, zumindest für ein wild lebendes Pokémon“, sage ich nickend und eine Weile hängen wir alle unseren eigenen Gedanken nach. „Was mir zu schaffen macht, ist folgendes“, sagt Kai dann und Louis und ich schauen interessiert auf. Er hat die Hände vor dem Gesicht gefaltet und betrachtet die braune Oberfläche seines Kaffees. „Vor kurzem hat ein Trainer mit einem Hypno gegen mich gekämpft. Er hat gewonnen, aber sein Hypno hatte gegen meine Käferpokémon keine große Chance.“ „Verständlich“, sage ich nickend. „Psycho ist schwach gegen Käfer.“ „Er war sehr erregt. Er hat sein Pokémon angeschrien, es schwach genannt und war insgesamt trotz seines Sieges sehr unzufrieden. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich ihm alleine deshalb den Orden verweigert, aber ich mache leider nicht die Regeln.“ „Denkst du, er hat es aus Frust freigelassen?“, fragt Louis und ich erschauere. Kein Wunder, dass es so schlecht auf Menschen zu sprechen war. „Es ist möglich“, stimmt Kai hm zu. „Pokémon sind Menschen gegenüber friedlich oder neutral gesonnen. Letztendlich kommt es darauf an, welche Erfahrungen sie mit uns machen. Speziell mit ihren Trainern. Ein schlechtes Erlebnis kann selbst das gutmütigste Pokémon verderben.“ „Dieser Typ ist doch krank“, fluche ich leise. „Der sollte lieber mal seine Typenkenntnisse auffrischen, anstatt seine eigene Unfähigkeit an seinen Pokémon auszulassen.“ Kai nickt. „Ich kann das gesamte Prinzip des Freilassens ohnehin nicht verstehen. Zumindest nicht bei Pokémon, die man trainiert und aufgezogen hat. Man hat eine Verantwortung ihnen gegenüber. Eine Bindung. Sie einfach wegzuwerfen, wenn sie einem nicht mehr in den Kram passen… widerlich.“ Louis zuckt zusammen und ich schaue ihn besorgt an. „Alles okay?“ „Ja, ja, mir geht´s gut“, versichert er hastig, aber er kommt mir wieder eine Spur blasser vor. „Es ist nur der Arm.“ „Wir sollten gehen“, sage ich und Kai nickt verständnisvoll. „Du solltest dich erholen, Louis. Wir sehen uns.“ Er zwinkert ihm zu und Louis grinst, aber es wirkt gekünstelt. Wir trinken unseren Saft aus, dann verabschieden wir uns von Kai und verlassen sein Haus. Auf dem Weg zurück zum Pokécenter werfe ich Louis immer wieder besorgte Blicke zu. Seit wir Kais Haus verlassen haben, ist er wieder so still. „Ist wirklich alles okay?“, frage ich zum dritten Mal und dieses Mal zischt Louis ein gereiztes „Mir geht´s gut, verdammt!“ zurück. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, sage aber nichts mehr, bis wir im Pokécenter sind. Ich drücke Louis den Schlüssel in die Hand und er verschwindet ohne ein Wort nach oben. „Geht es ihm gut?“, fragt Schwester Joy vorsichtig und ich seufze. „Nicht wirklich“, gestehe ich und gehe zu ihr an die Theke. „Vielleicht braucht er einfach etwas Zeit für sich und jede Menge Schlaf.“ Joy nickt, dann lächelt sie mich wieder fröhlich an. „Was kann ich für dich tun?“, fragt sie und ich lehne mich über den Tresen zu ihr. „Ich bin inzwischen ziemlich knapp bei Kasse“, gestehe ich und verziehe den Mund. „Gibt es hier eine Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen? Ich bin nicht wählerisch.“ „Hmm.“ Sie legt einen Zeigefinger an ihre Lippen und überlegt einen Moment. „Du kannst die Köhler fragen, ob sie Hilfe brauchen. Das wäre hauptsächlich körperliche Arbeit, deshalb weiß ich nicht, ob sie dich dafür nehmen würden. Kurt arbeitet mit Maisy zusammen, braucht also keine Hilfe, Luna wird nicht bezahlt und bezahlt niemanden… Wenn du natürlich nur um eure Unterkunft hier besorgt bist, kann ich dir ein Angebot machen.“ „Ich bin immer für Angebote zu haben“, sage ich und Joy lächelt wissend. „Wenn du willst, kannst du eure Essens- und Zimmerkosten hier bei mir abarbeiten. Du würdest in der Küche helfen, Wäsche waschen, die Zimmer aufräumen und jeden Abend hier alles auf Vordermann bringen. Ein paar Stunden pro Tag, nicht mehr. Die restliche Zeit kannst du selbstverständlich durch Azalea stromern.“ „Bieten das alle Pokécenter an?“, frage ich, als sich mir einige völlig neue Perspektiven ermöglichen. „Na ja…“ Sie lacht peinlich berührt. „Nein, eigentlich nicht. Aber wie gesagt, normalerweise haben wir nicht so viele Trainer hier. Meine Mitarbeiterin, Tanja, ist in Urlaub und für mich alleine wird das hier sehr schwer zu stemmen sein. Ich hätte wahrscheinlich ohnehin rumgefragt, ob jemand die Arbeit für freie Kost und Übernachtung übernehmen möchte, aber du hast mir die peinliche Fragerei erspart.“ „Wunderbar. Soll ich sofort anfangen?“ „Moment.“ Sie holt etwas aus einer Schublade und drückt mir dann die beiden 500er PD-Scheine in die Hand. „Jetzt kannst du anfangen“, sagt sie dann und ich lache.   Den restlichen Nachmittag verbringe ich damit, Kartoffeln zu schälen und in Schieben zu schneiden, Wäsche zu waschen und aufzuhängen und das Erdgeschoss zu wischen. Es ist keine leichte Arbeit, aber Schwester Joy unterhält mich mit Klatsch aus der Stadt und so vergeht die Zeit wie im Flug. Als es schließlich Abend wird, weist Joy mich an, den Rest des Abendessens vorzubereiten. Die drei Trainer hätten sich bereits für heute Abend angemeldet und würden in ungefähr einer halben Stunde eintreffen. Ich verschwinde in der Küche, werfe die Kartoffelscheiben in das heiße Öl, das in der monströsen Pfanne auf dem Herd blubbert. Während die Bratkartoffeln vor sich hin brutzeln, kümmere ich mich um das Gemüse und die Eier. Als ich fast fertig bin, höre ich plötzlich das Aufgehen der elektrischen Türen und werfe einen schnellen Blick durch das kleine,runde Fenster in der Küchentür. Wie Joy gesagt hat sind es drei Trainer. Ein Mädchen mit kurzem, feuerrotem Haar und zwei Jungen, einer drahtig, der andere eher auf der wohlgenährten Seite. Mehr kann ich auf die Schnelle nicht erkennen. Ich bereite drei Teller vor und fülle alle reichlich mit Kartoffeln, Brokkoli und gekochten Eiern, dann stelle ich sie zusammen mit drei Gläsern Saft auf ein Tablett und drücke die Küchentür mit meiner Hüfte auf. „Dreimal Abendessen wie bestellt“, kündige ich fröhlich an und stelle das Tablett auf dem Tisch ab, den die drei Trainer belegt haben. Das Mädchen schaut mich abschätzig an und rümpft ihre lange schmale Nase. „Wo haben sie dich denn aufgesammelt?“, fragt sie dann und nimmt mir unwirsch den Saft ab, den ich ihr lächelnd hinhalte. „Auf der Müllhalde?“ „Wieso, kennst du die Leute von da gut?“, frage ich scharf zurück und sie spießt mich mit Blicken auf. „Komm schon, Ruth, lass die Zicke.“ „Du hast Recht, Markus“, sagt Ruth zu dem drahtigen Jungen mit den kurzen dunklen Locken und betrachtet ihren Teller kritisch. „Sie ist es nicht wert.“ „Hast du das gekocht?“, fragt sie dann und spießt vorsichtig eine Bratkartoffel mit der Gabel auf, bevor sie daran schnuppert. Einen Moment lang überlege ich, einfach zu lügen, nur damit sie mich in Ruhe lässt, aber meine Gereiztheit von heute Morgen steigt mir bei ihrem Anblick wie Galle wieder hoch und ich stütze mich mit beiden Händen auf den Tisch. „Stimmt. Und wenn du´s nicht essen willst, sag’s mir lieber jetzt, bevor du die Kartoffeln mit deinem scheiß Charakter ansteckst.“ „Abby? Kommst du mal bitte?“, ruft Joy und ich werfe Ruth einen letzten mahnenden Blick zu, bevor ich mich umdrehe, das leere Tablett unter den Arm geklemmt und zu Schwester Joy hinüber gehe. „Wenn du dich unseren Kunden gegenüber nicht benehmen kannst, platzt unser Deal“, sagt sie leise und ohne Umschweife und mir klappt die Kinnlade herunter. „Aber du hast gehört was sie gesagt haben! Wie kannst du-“ „Abby.“ Joy schaut mich scharf an, dann schmilzt ihre Wut von ihrem Gesicht und wird von einem sanftmütigen, freundlichen Lächeln ersetzt. „Wenn du in einem Pokécenter arbeitest, gibt es nur eine Regel für das Personal“, sagt sie fröhlich und ich kann nicht glauben, dass sie dieselbe Person von vor ein paar Sekunden ist. „Sei immer freundlich und lächle zu jedem Zeitpunkt. Es ist mir egal, was sie sagt. So lange es bei Worten bleibt, spielst du deinen Part. Verstanden?“ „Verstanden“, murmele ich und Joy nickt mir zu. „Und jetzt lächelst du und entschuldigst dich. Der Rest wird sich schon zeigen.“ Ich sage nichts mehr, sondern setze mein breitestes und gekünsteltes Lächeln auf, drehe mich um und gehe zurück zu dem Tisch mit den Trainern. „Ich möchte mich für mein Fehlverhalten entschuldigen“, sage ich zuckersüß und starre Ruth eiskalt in die Augen, während mein Mund sich zu einem breiten und vermutlich sehr gruseligen Lächeln verzieht. „Ich habe mich ungebührlich verhalten. Es tut mir Leid.“ Ruth schaut mich ungläubig an, dann lacht sie laut. Sie quietscht dabei wie ein kleines Kind und hält sich den Bauch. „Na, hast du Anschiss gekriegt?“, fragt sie und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Schon schade, wenn man so ein armer Schlucker ist, nicht wahr?“ Ich lächle sie unentwegt an. Ich blinzle nicht einmal. Ruth erholt sich langsam, dann wirft sie einen schnellen Blick zu Schwester Joy. Was sie sieht, scheint ihr zu gefallen, denn ein fieses Grinsen bildet sich auf ihrem Gesicht. Sie hebt eine der Kartoffeln mit spitzen Fingern in die Höhe. „Die schmecken scheußlich“, sagt sie und schnippt die Kartoffelscheibe in meine Richtung. Sie prallt an meiner Wange ab und fällt zu Boden. Mein Lächeln gefriert – aber es hält. „Einen schönen Aufenthalt wünsche ich.“ Und mit diesen Worten drehe ich mich um und verschwinde in der Küche. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und starre an die gegenüberliegende Wand. Ich bin wütend, aber da ist auch etwas anderes. Demütigung. Dafür wird diese Zicke noch büßen. Ich krame mein Handy aus der Tasche und rufe Louis an. Nach dem dritten Klingeln hebt er ab, seine Stimme klingt rau und verschlafen. „Was ist?“ „Essen ist fertig. Du musst nicht bezahlen“, sage ich und zupfe an meinem Top herum. „Aber wenn du ein paar richtigen Giftzwergen entgehen willst, solltest du erst später runterkommen.“ „Was für Giftzwerge?“ „Die drei Trainer, die Joy erwähnt hat.“ „Wo bist du?“ „Unten in der Küche.“ „Was machst du in der Küche?“ Er klingt verwirrt. „Ich arbeite jetzt hier, Louis. Irgendwer muss unseren Aufenthalt ja finanzieren.“ Er schweigt, dann höre ich ein komisches Rauschen. „Ich komme jetzt runter.“ „Sicher?“ „Sicher.“ Dann legt er auf. Ich kann nicht anders, ich muss grinsen. Louis mag zu nicht viel zu gebrauchen sein, aber trotzdem fühlt es sich an, als könnte man sich immer auf ihn verlassen. Nur eine Minute später öffnet sich die Tür zur Küche und Louis kommt rein. Er wirkt noch etwas verschlafen, sein Haar ist zerzaust und steht in alle Richtungen ab, aber die Ringe unter seinen Augen sind verschwunden und seine Wangen haben eine gesunde Röte. Er sieht wieder so aus, wie ich ihn von unserer ersten Begegnung in Erinnerung habe. „Wer ist die Zicke?“, fragt er, kaum dass die Tür wieder geschlossen ist. „Die Rothaarige?“ „Wie viele Mädchen hast du da drin gesehen?“, frage ich grinsend und Louis grinst unbeholfen zurück. Seine Zahnlücke blitzt mir aufmunternd entgegen. „Geht´s dir wieder besser?“, frage ich und gehe zu ihm, um seinen Arm zu betasten. Die Schwellung ist abgeklungen und sein Arm weist nur noch eine kleine Wölbung auf. „Mir geht´s super“, sagt er und tätschelt mir den Kopf. „Keine Sorge.“ Ich schlage spielerisch nach seiner Hand. „Wer macht sich Sorgen?“, frage ich, aber er wackelt mit den Augenbrauen und ich muss lachen. „Mann, hör auf mich immer zum Lachen zu bringen!“, beschwere ich mich und lehne mich gegen die Küchentheke. „Ich will wütend sein. Du hilfst nicht gerade dabei.“ „So besser?“ Er verzieht das Gesicht zu einer bösartigen Grimasse, aber sie sieht einfach nur lächerlich aus und ich schüttele schmunzelnd den Kopf. „Nicht wirklich.“ „Verdammt.“ Wir schweigen einen Moment, dann gehe ich zur Küchentür und spähe durch das kleine Fenster nach draußen. „Tut sich was?“, fragt Louis und schaut ebenfalls aus dem Fenster. Mehrere Sekunden lang starren wir wie zwei Stalker mit aneinander gepressten Wangen nach draußen. „Sie sind gleich fertig, glaube ich.“ „Musst du abräumen?“ „Jep.“ Ich ziehe eine Grimasse. „Aber ich werde lächeln und alles ignorieren, was sie sagt. Und heute Nacht schleiche ich mich in ihr Zimmer und stranguliere sie mit meinen Socken.“ „Klingt nach einem Plan“, stimmt Louis mir zu und wir beobachten die Vorgänge noch einen Moment länger. Ruth und Kumpanen legen gerade ihr Besteck hin und Ruth schaut ungeduldig in meine Richtung, als müsste sie schon seit Stunden auf mich warten und nicht erst seit ein paar Sekunden. „Ich geh dann mal“, sage ich und öffne die Tür. „Gib mir Rückendeckung.“ Dann schnappe ich mir mein Tablett und gehe zu Ruth und ihren Freunden. „Hat es euch geschmeckt?“, frage ich freundlich und Ruth imitiert als Antwort einen Würgreiz. Markus sagt nichts und der etwas Dickere öffnet den Mund, schaut dann aber unsicher zu Ruth und schließt ihn wieder. „Das freut mich“, sage ich offenkundig fröhlich und sammle die Teller ein. „Wir hatten heute eine Spezialzutat in den Kartoffeln. Ich hoffe, ihr habt das Zehennagelpulver herausschmecken können.“ Ruths Gesichtszüge entgleisen, dann verdüstert sich ihr Gesichtsausdruck. „Du bluffst.“ „Eine gute Nacht wünsche ich.“ Ich hebe das volle Tablett hoch, zwinkere Joy zu als ich mich umdrehe und verschwinde dann in der Küche. Kaum ist die Tür hinter mir geschlossen und das Tablett abgestellt, wende ich mich strahlend Louis zu. Er hebt seine flache Hand und ich schlage ein. „Nett gelöst“, sagt er grinsend und ich erwidere sein Grinsen bis über beide Ohren. „Bedien dich mit den Resten“, sage ich und häufe mir ebenfalls einen ordentlichen Teller voll. Wenn ich eines in den letzten Tagen gelernt habe, dann dass man nie weiß, wann es die nächste Mahlzeit geben wird. Und so sitzen wir auf dem Küchenboden, die Teller auf unseren Knien und genießen das üppige Abendessen. „Abby“, sagt Louis schließlich und stellt seinen leeren Teller neben sich. Dann umarmt er seine angezogenen Knie und schaut mich mit seinen babyblauen Augen von unten her an. „Ich habe ein schlechtes Gewissen.“ „Warum?“, frage ich und stelle meinen Teller ebenfalls zur Seite. „Naja, zuerst erklärst du dich dazu bereit, mit mir zusammen zu reisen, dann setzt du Himmel und Hölle in Bewegung um mich vor diesem Hypno zu retten, bleibst die ganze Zeit bei mir, als Luna mich behandelt und jetzt arbeitest du auch noch, damit wir hier kostenlos unterkommen. Ich hab das Gefühl, dass du alles machst und ich dir mehr im Weg stehe als helfe.“ „Naja…“ Ich schaue zur Seite. „Ich gebe zu, die letzten Tage waren schon ziemlich krass und ich habe mir unseren Trip weniger gefährlich vorgestellt, aber…“ Ich zucke mit den Achseln. „Mir macht es nichts aus. Gestern hast du meine Hilfe gebraucht und ich habe dir geholfen. Dass wir hier umsonst unterkommen ist in unser beider Interesse, vermutlich sogar eher in meinem, je nachdem wie viel Geld du noch hast. Außerdem, wenn ich mal Hilfe brauche, dann kann ich schließlich auch auf dich zählen. Oder?“ Er grinst mich an. „Auf jeden Fall.“ „Siehst du, dann ist doch alles geklärt.“ Ich werfe ihm ein schelmisches Grinsen zu. „Wenn du mir aber wirklich so unbedingt helfen willst, könntest du den Abwasch machen, während ich mal kurz frische Luft schnappen gehe? Ich bekomm langsam Kopfschmerzen von dem Muff hier drinne.“ „Klar, kein Problem.“ Er steht auf und nimmt die Teller mit. Ich schaue ihm dankbar hinterher, dann erhebe ich mich ebenfalls und verschwinde aus der Küche. Ruth und Markus gehe gerade die Treppe hoch. Nur der dicke Junge steht noch bei Schwester Joy und scheint seine Pokémon heilen zu lassen. Er sieht mich und sein Blick folgt mir, während ich durch die Eingangstür nach draußen verschwinde. Kaum atme ich die abkühlende Abendluft, fühle ich mich augenblicklich viel besser. Ich rufe Sku raus und sie krabbelt meinen Rücken hoch, wo sie sich auf meinen Schultern nieder lässt. Ihr Unterleib ist um meinen Hals gewickelt, ihr Schweif hängt meine Brust hinunter und ihr Oberkörper schlängelt sich meinen Kopf entlang, bis ihre Vorderpfoten auf meiner Stirn aufliegen. Ihr Schnurren sendet Vibrationen durch meinen ganzen Kopf. Ich gehe ein paar Schritte den kleinen Weg vor dem Pokécenter entlang, da höre ich plötzlich das Sirrender elektrischen Pokécentertür und drehe mich um. Es ist der dicke Junge. Er schaut sich suchend um, dann entdeckt er mich und kommt auf mich zugelaufen. Kaum ist er aber nur noch einen Meter von mir entfernt, wird er langsamer und wirkt plötzlich sehr verlegen. „Ehm, hi“, sagt er und schaut überall hin nur nicht in mein Gesicht. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Hi.“ „Ich wollte nur sagen, dass-“ Er holt tief Luft und fängt neu an. „Mir hat dein Essen sehr gut geschmeckt.“ Ich schaue ihn ein paar Sekunden lang perplex an, dann bildet sich ein aufrichtiges Lächeln auf meinen Lippen. „Das ist lieb, danke.“ „Ja, ehm.“ Er schaut hilflos zur Seite. „Das, ehm, das war´s eigentlich auch schon.“ Er schaut wieder zu mir und dieses Mal bleibt sein Blick auf einen Punkt über meinem Kopf hängen. Sku gibt zur Begrüßung ein grollendes Maunzen  von sich und der Junge kneift die Augen zusammen. „Ist das dein Skuntank?“, fragt er dann und ich nicke. „Aber die entwickeln sich doch erst auf Level 34“, sagt er dann und ich grinse ihn an. „Gut erkannt.“ „Dann bist du ja total stark“, sagt er bewundernd und sein Blick huscht zwischen Sku und mir hin und her. „Naja, sie ist das einzige Pokémon in meinem Team auf diesem Level.“ „Trotzdem. Du bist doch viel zu stark für Kai.“ „Ich kämpfe nicht gegen Kai. Ich begleite nur einen Freund von mir. Er sammelt die Orden, nicht ich.“ „Ich dachte immer, sie wäre die einzige…“, murmelt er und ich schaue ihn verwirrt an. „Wer?“ „Oh, niemand. Eine Freundin meiner Schwester. Sie kommt aus Kanto, aber sie reist durch alle möglichen Regionen. Sie ist stark, ich meine, wirklich stark. Wenn sie wollte, könnte sie bestimmt bei der Pokéchampionship mitmachen. Aber sie sammelt keine Orden.“ „Warum nicht? Wenn sie so stark ist.“ „Naja, du sammelst doch auch keine.“ Er schaut mich überrascht an. „Ja, aber nur, weil ich zu faul bin“, sage ich lachend. „Ich werde Sku vielleicht noch ein paar Level höher bringen, aber das war´s dann auch. Ich bin nicht dafür gemacht, Tag und Nacht zu trainieren.“ „Oh.“ Er runzelt die Stirn. „Nein, Chris ist da anders. Sie trainiert pausenlos. Ihr Team ist total krass drauf. Sie lebt für den Pokémonkampf.“ „Und trotzdem sammelt sie keine Orden?“, frage ich und plötzlich pocht etwas in meinem Hinterkopf, eine wichtige Erinnerung. Irgendwie kommt mir das Muster der Geschichte bekannt vor, aber ich weiß nicht… „Naja, ich muss jetzt rein, sonst kommen sie mich noch suchen.“ Er dreht sich um und will gehen, aber ich halte ihn am Arm fest. „Warte. Du hast mir deinen Namen noch gar nicht gesagt.“ „Oh, richtig.“ Er lacht verlegen und schaut zur Seite. „Ich heiße Nick.“ „Nick.“ Ich wiederhole seinen Namen mit einem Lächeln. „Danke für das Gespräch. Ich bin Abby.“ „Ich weiß.“ Als ich ihn verwirrt anschaue, lacht er wieder verlegen. „Schwester Joy hat dich doch gerufen.“ „Oh. Du hast recht.“ Ich grinse und lasse ihn los. „Dann gute Nacht Nick. Vielleicht sprechen wir uns ja nochmal.“ Er nickt, dann dreht er sich um und geht zurück. Ich bleibe noch ein bisschen draußen und laufe Sku spazieren. Erst als es windiger und kühler wird, gehe ich ebenfalls rein. Louis ist bereits mit dem Abwasch fertig, er steht an der Theke und unterhält sich mit Schwester Joy. Als er mich sieht, verabschiedet er sich von ihr und gemeinsam gehen wir hoch. In unserem Zimmer angekommen lasse ich mich auf das Bett fallen. Sku springt gerade noch rechtzeitig von meinem Rücken, bevor sie unter mir erdrückt wird und rollt sich lasziv über das Bett. Dann wirft sie Louis einen für ein Pokémon sehr koketten Blick zu und ich kriege einen hysterischen Lachanfall, als ich Louis´ Gesichtsausdruck sehe. Es dauert eine Weile, bis ich mich wieder einigermaßen im Griff habe, aber als Louis genervt ein Kopfkissen nach mir wirft, kommen mir wieder die Tränen und ich rolle mich verzweifelt und dem Erstickungstode nahe auf dem Bett herum. Schließlich beruhige ich mich, was damit zusammen hängt, dass Louis im Bad verschwindet um mir keinen erneuten Lachanlass zu geben. Als er zurückkommt, gluckse ich zwar, kann mich aber beherrschen und Louis atmet erleichtert aus. „Ich wollte dich schon zu Luna schleppen“, sagt er grinsend und ich gluckse wieder. „Gott, ich könnte auf der Stelle einschlafen…“, murmele ich und schließe die Augen. Ein weiteres Kissen landet auf meinem Kopf und ich schaue Louis wütend an. „Wofür war das denn bitte?“ „Jetzt wird nicht geschlafen, alte Frau. Es ist noch nicht mal neun Uhr.“ „Anders als ein gewisser jemand hatte ich kein erholsames Mittagsschläfchen.“ „Anders als einem gewissen jemand sind dir deine Träume nicht von einem psychopathischen Hypno gefressen worden.“ „Touché.“ Ich seufze. „Also gut, dann schlafe ich eben nicht. Was schlägst du vor?“ Ein gespenstisches Glitzern breitet sich in Louis´ Augen auf. „Mir gefällt dein Blick nicht“, füge ich hinzu und Louis grinst nur noch breiter. „Wahrheit oder Pflicht“, sagt er und ich stöhne auf und lasse mich wieder nach hinten aufs Bett fallen. „Ohne mich. Du kannst mit Sku spielen.“ „Komm schon, das wird lustig! Wir haben schon so viel zusammen durchgemacht, aber eigentlich kennen wir uns noch überhaupt nicht.“ „Du könntest mich einfach etwas fragen“, schlage ich vor, aber Louis schnaubt nur verächtlich. „Langweilig. Komm schon Abby, nur heute Abend. Nur dieses eine Mal.“ Er blinzelt mich mit seinen Babyaugen an und ich seufze ergeben. „Meinetwegen.“ „Yay!“ „Aber nur, weil du ein Krüppel bist.“ Er grinst. „Damit kann ich leben.“   Wenige Minuten später sitzen wir uns gegenüber auf dem Bett, Louis in seinem blauen Pyjama und mit frisch verbundenem Arm und ich in Top und Unterhose. Erstaunlich, wie schnell meine Hemmgrenze gesunken ist. Dann wiederum spielen wir Wahrheit oder Pflicht. Niveauloser kann es schließlich nicht mehr werden. Und trotzdem. Irgendwie freue ich mich auf das Spiel. „Wahrheit oder Pflicht?“, fragt Louis und ich verdrehe die Augen. „Wahrheit.“ „Gut, fangen wir locker an“, sagt er grinsend. „Aus welcher Stadt kommst du?“ „Ursprünglich aus Orania City in Kanto. Wahrheit oder Pflicht?“ „Pflicht.“ „Geh zu Ruth ins Zimmer und erdrossele sie mit meinen Socken. Oder nein, warte, nimm deine Unterhose.“ „Abby, du musst das Spiel ernsthaft spielen.“ „Ich spiele ernst“, erwidere ich und schaue Louis tief in die Augen. „Todernst.“ „Ich passe. Ich töte niemanden.“ „Du bist langweilig.“ „Nimm was anderes.“ „Fein“, maule ich und überlege kurz. Dann hellt sich mein Gesicht auf. „Gib Sku einen Kuss auf die Schnauze.“ „Was?!“ Louis schaut mich entsetzt an und Sku hebt gelangweilt den Kopf. „Du wolltest spielen, nicht ich. Jetzt musst du es auch durchziehen.“ „Mann ey…“ Louis seufzt, dann beugt er sich zu Sku hinunter, kneift die Augen zusammen, und küsst sie auf die Schnauze. Ich klatsche in die Hände, während er sich den Mund mit seinem Ärmel abwischt und Sku mich abfällig ansieht. „Das zahle ich dir heim“, murmelt Louis und ich grinse ihn breit an. „Pflicht. Ich bin bereit.“ „Häng einen deiner BHs draußen an die Klinke.“ „Du wirst ster-ben“, säusele ich mit meiner lieblichsten Singstimme, dann stehe ich auf, ziehe einen meiner BHs aus meinem Rucksack und hänge ihn blitzschnell draußen hin. „Nur damit das klar ist, ich hole ihn wieder rein, bevor wir schlafen gehen. Sonst klaut Ruth ihn mir noch.“ „Meinetwegen.“ „Wahrheit. Hmm…“ Plötzlich fällt mir etwas ein. „Als wir von Kai zurückgekommen sind, da warst du komisch drauf. Warum?“ „Kann ich die überspringen?“ Ich schaue ihn scharf an und Louis seufzt. „Es war nichts, wirklich, ich-“ „Louis.“ Ich sehe ihm tief in die Augen. „Egal was du zu sagen hast, schlimmer als die Sache mit meinem BH kann es nicht mehr werden.“ „Du wirst mich hassen.“ „Lass mich das entscheiden.“ „Weißt du noch, worüber ihr geredet habt?“, fragt er dann und ich überlege einen Moment. „Es ging darum, Pokémon freizulassen, wenn sie nicht die Erwartungen des Trainers erfüllen, glaube ich. Warum?“ „Ich hab dir gesagt, wie schlecht ich bin, oder?“ „Ja, mehrmals.“ „Ich hab es immer auf meine Pokémon geschoben. Speziell auf eines. Es war immer frustriert mit sich selbst und mit mir und ich war genervt, weil es nie gewann. Weil ich es trainierte und trainierte und es einfach nicht stärker wurde.“ Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. „Hast du es freigelassen?“, frage ich leise, aber Louis schüttelt den Kopf. „Ich wollte. Ich hatte den Pokéball schon in der Hand.“ Er kneift die Augen zusammen. „Aber es hat mich angesehen… Es sah so verletzt aus, als hätte ich sein Vertrauen für immer gebrochen. Ich hab es nicht über mich gebracht!“ Er ist den Tränen nahe und ohne zu Zögern beuge ich mich zu ihm nach vorne und umarme ihn, so wie heute Morgen. Unglaublich, dass es erst so kurz her ist. Der Wald kommt mir schon wieder vor wie eine halbe Ewigkeit. „Du hast es nicht freigelassen.“ flüstere ich. „Das ist die Hauptsache.“ Louis nickt, dann rückt er mich sanft weg. „Hör auf, mich immer zu umarmen, das wird mir langsam unangenehm. Du musst mich für ein totales Weichei halten.“ Ich schüttele den Kopf. „Ich halte dich für jemanden, der in sehr kurzer Zeit sehr viel durchgemacht hat. Außerdem kannst du immer alles auf dein Biborsenfieber schieben.“ Louis gluckst und ich grinse ihn breit an. „Ich nehme Wahrheit.“   Als wir zwei Stunden später nebeneinander im Bett liegen, schnarcht Louis leise und regelmäßig. Meine Augen fallen immer wieder zu, während mein Kopf auf meinen Arm gebettet ist. Aber jedes Mal, wenn ich die Augen schließe und gerade weg döse, hallen Gespräche in meinen Gedanken wieder…   „Nein, Chris ist da anders. Sie trainiert pausenlos. Ihr Team ist total krass drauf. Sie lebt für den Pokémonkampf. Sie ist stark, ich meine, wirklich stark. Wenn sie wollte, könnte sie bestimmt bei der Pokéchampionship mitmachen. Aber sie sammelt keine Orden.“ „Keine Arena hat Aufzeichnungen einer Ronya, geschweige denn einer Ronya Olith. Sie hat an keinen Arenakämpfen teilgenommen und keine Orden gewonnen. Sie liebt den Pokémonkampf, das stärker werden, die Anerkennung, die sie von schwächeren Trainern bekommt. Sie will immer die Beste sein und sie tut alles, um ihr Ziel zu erreichen. Sie ist ganz einfach nicht der Typ, der nur auf Reisen geht.“ „Als Gerard noch so jung war, da wuchs er in einem Tempo, das glaubst du nicht, er ist so groß geworden… Aber ich habe ihn ja schon lange nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich trainiert er seine Pokémon, er ist ein Pokémontrainer musst du wissen, aber er verfolgt merkwürdige Ziele. Als er seine Reise vor zwei Jahren begann, wollte er der stärkste Pokémontrainer der Welt werden und ging nach Viola City, um seinen ersten Orden zu gewinnen. Aber danach ist er kreuz und quer durch Johto gereist, ohne weitere Arenen zu besuchen und schließlich hat er seine Reisen auf Kanto und Hoenn ausgeweitet. Ich weiß nie, was in seinem Kopf vor sich geht.“   Dann greift der Schlaf nach mir und ich lasse ihn gewähren. Kapitel 20: Ignoranz (Aufeinandertreffen der Parteien) ------------------------------------------------------ Louis ist am nächsten Morgen der Grund dafür, dass ich aufwache. Ich rolle mich im Halbschlaf tiefer unter der Decke ein und genieße die letzten paar Minuten, bevor mein Handywecker mich zu meiner Frühstücksschicht wach klingelt. Plötzlich reißt mir jemand die Decke weg und ich höre einen spitzen, erschrockenen Schrei. Halb benommen greife ich nach dem Deckenzipfel, aber der ist bereits mitsamt Louis über den Bettrand verschwunden. „Aua…“, stöhnt er und ich öffne die Augen, wenn auch unwillig. Als ich zur Bettkante robbe und Louis von oben herab mustere, ist er völlig unter der Decke begraben. Nur sein Arm und einer seiner Füße schauen darunter hervor, aber ich kann seinen Umriss unter dem roten Stoff herum wuseln sehen. „Ich hatte noch mindestens zwanzig Minuten“, beschwere ich mich und schlage spielerisch nach einer Erhebung, die verdächtig nach Louis´ Kopf aussieht. Er gibt einen überraschten Laut von sich, dann schießt sein Arm unter der Decke hervor, packt mein Handgelenk und zieht mich ebenfalls vom Bett. Ich lande mit einem dumpfen Laut auf der Decke und Louis´ Kopf taucht irgendwo am Rand auf. „Mein Fehler“, sagt er selbstgefällig und ich seufze. „Schlaf ich halt hier weiter…“, murmele ich und bette meinen Kopf auf die nächstbeste Erhebung, die sich sehr nach einer Schulter anfühlt. „Nein, warte!“, ruft Louis entsetzt und windet sich unter mir. „Du bist schwer verdammt!“ Ich hebe den Kopf und schaue ihn scharf an. „Das sagt man niemals zu einer Lady.“ „Ich sehe keine- Au!“ „Selber schuld“, sage ich und rolle mich noch ein bisschen auf ihm herum, bevor ich mich seines Stöhnens schließlich erbarme und aufstehe. „Danke…“, japst er und atmet mehrere Male tief aus, bevor er aufsteht und sich hektisch an mir vorbei zum Bad schlängelt. Ich schaue ihm überrascht hinterher, dann zucke ich die Achseln und nutze die Zeit, um mich umzuziehen. Ich muss wirklich anfangen, meine Sachen mehrere Tage hintereinander zu tragen, denke ich noch, als ich mein einziges sauberes Top anziehe. Doch dann werfe ich einen Blick aus dem Fenster und entscheide mich spontan um. Es regnet. Na ja, eigentlich schüttet es im Weltuntergangsstil. Außer grau und schwarz kann ich am Himmel nichts erkennen. Noch immer halb im Schlafanzug gehe ich zum Fenster hinüber und schaue durch das leicht beschlagene Glas nach draußen. Alle Pfade sind zu Matschstraßen geworden und trotz der Uhrzeit ist es immer noch ziemlich düster. Adieu Top. Ich ziehe meine Shorts an (denn meine Strumpfhose ist ja kaputt) und darüber meinen gelben, Po-langen Wollpulli und meine graue, ärmellose Hoodie. Dann noch Socken und meine fingerlosen Handschuhe und fertig bin ich. Apropos fertig. „Wie lang brauchst du noch?“, frage ich, während ich an die Badezimmertür klopfe. „Moment!“ Ich seufze und beginne, das Zimmer etwas aufzuräumen. Die Decke landet wieder auf dem Bett, wo ich sie mehr oder weniger ordentlich falte, dann widme ich mich meinem Rucksack. Als Louis immer noch nicht auftaucht, kämme ich mir schon mal meine Haare und ziehe meine festen Wanderschuhe an. Ich bin gerade am Überlegen, ob ich mich zum Fenster rauslehnen soll, um mir mein Gesicht zu waschen, da öffnet sich das Schloss des Bads und Louis kommt raus. „Wurde aber auch Zeit“, sage ich und verschwinde ebenfalls im Badezimmer. Im Gegensatz zu ihm bin ich nach zwei Minuten fertig. Ich wechsele schnell noch den Verband an seinem Arm und trage die braune, übelriechende Salbe auf dem Stich auf. Zu meiner großen Erleichterung ist die Schwellung weiter zurückgegangen. Zufrieden gebe ich ihm einen Klaps auf den Rücken. „So, wollen wir?“, frage ich und Louis nickt. Er hat sich ebenfalls mit Pulli und langer Hose eingedeckt. „Ich brauche auch so eine“, sage ich, während wir die Treppen runter steigen. „Außer meiner Strumpfhose hatte ich nichts für kalte Tage.“ Auf sein Gesicht stiehlt sich ein breites Grinsen. „Wir können Luna fragen, ob sie-“ „Louis!“ zische ich ihn an, aber als er mich mit unterdrücktem Grinsen anguckt, muss ich loslachen und er lacht automatisch mit. So viel wie mit Louis habe ich glaube ich noch nie in meinem Leben gelacht. Er umarmt mich von hinten und ich habe Probleme, die Treppe herunterzusteigen, weil er mit mindestens seinem halben Gewicht gegen mich drückt und sich von mir hinunter ziehen lässt. „Ich hab dich trotzdem lieb“, flüstert er mir ins Ohr und ich versuche ihn abzuschütteln, aber vergebens. „Na, wen haben wir denn da? Zwei Turteltäubchen von der Müllhalde?“ Wir haben den Treppenabsatz erreicht und im Hauptraum des Pokécenter stehen, wer sonst, Ruth und Gefolge. Ich schaue mich flüchtig um, aber Schwester Joy ist nirgends zu sehen. Vielleicht kümmert sie sich gerade um eins der schwerer verletzten Pokémon. Manchmal reicht die Maschine alleine nicht aus. „Dir auch einen guten Morgen, Ruth“, sage ich und schaffe es endlich, Louis von meinem Rücken abzuschütteln. Als mein Blick auf Nick fällt, schaut er schnell weg. „Schlecht geschlafen wie immer?“ „Hüte deine Zunge“, zischt sie, dann zupft sie eine ihrer roten Haarsträhnen zu Recht. Gestern ist es mir nicht aufgefallen, aber sie trägt, wie ihre beiden Freunde, nur Markenklamotten. Pokéat und Gyarafashion. Sie ist also nicht nur ein Miststück, sondern auch noch reich. Die Kombination geht nie gut, zumindest meiner bescheidenen Meinung nach. „Wir wollen euch nicht stören“, meldet sich Louis zu Wort. „Wir wollten uns nur um euer Frühstück und eure Zimmer kümmern, dann sind wir schon weg.“ „Willst du mir drohen, Waldjunge?“, fragt Ruth und verschränkt die schlanken Arme. „Nicht im Traum“, erwidert Louis, aber er lässt es so klingen, als würde er es in der Realität durchaus in Erwägung ziehen. Ruth setzt zu einer scharfen Antwort an, aber in dem Moment steht Nick auf und flüstert ihr etwas ins Ohr. Ruth nickt. Dann hören wir Schritte. Sie dreht den Kopf abrupt zur Seite und ich folge ihrem Blick. Schwester Joy taucht gerade aus einem der Hinterzimmer auf, zwei Pokébälle in den Händen. Als sie uns sieht, lächelt sie, aber ihre Augenbrauen sind trotzdem misstrauisch hoch gezogenen. Ich setze mein breitestes Lächeln auf und wende mich Ruth zu. „Wir werden sofort mit dem Frühstück beginnen. Habt noch einen Moment Geduld.“ „Wie liebenswert von euch, vielen Dank“, sagt Ruth, die sich sofort auf meine Schiene einlässt. Ruth mag den Vorteil haben, aber sie weiß genauso gut wie ich, dass Schwester Joy letztendlich jeden rausschmeißen kann, den sie als Störenfried erachtet. Und das kann sich schnell auch auf die Arenakämpfe auswirken. Ich habe es noch nicht oft erlebt, aber Trainer, die sich in unserem Pokécenter in Orania schlecht benommen haben, hatten oft sehr viel größere Probleme bei ihren Kämpfen gegen Major Bob. Ein Junge brauchte mal zehn Anläufe, und dass obwohl er immer damit prahlte, bisher jeden Arenaleiter beim ersten Versuch besiegt zu haben. Und so heißt es gezwungener Waffenstillstand für uns beide, zumindest solange Joy in der Nähe ist. Ich werfe Louis einen vielsagenden Blick zu und er setzt ebenfalls ein bereites Grinsen auf, das bei ihm weit echter wirkt als bei mir. Gemeinsam verschwinden wir in der Küche. „Du hast nicht übertrieben“, gesteht Louis und macht sich daran, Brot zu toasten und Marmelade aus dem großen Kühlschrank zu holen, während ich Eier koche. „Immerhin hält sie sich zurück, wenn Schwester Joy in Hörweite ist“, sage ich und klaue mir eine der Toastscheiben, die gerade perfekt gebräunt aus dem Toaster springt. „Sie hält sich noch zurück?“, fragt Louis überrascht und ich nicke. „Aber so lange ich sie nur während der Mahlzeiten sehe, kann mir der Rest egal sein.“ Ich hole Teller und Besteck aus den Schränken. „Was hast du heute überhaupt vor?“ „Ich wollte mich eigentlich in der Umgebung umsehen, aber bei dem Wetter…“ „Vielleicht hört es ja gleich auf“, sage ich, wenn auch wenig überzeugt. Dann halte ich Louis nacheinander die Teller hin und er wirft auf jeden zwei Toasts. „Hast du kein Wasserpokémon?“ frage ich dann und lade gekochte Eier, Käse und Marmelade auf die Teller. „Na ja, doch, aber es kann keine Wasserattacken.“ „Trotzdem. Im Regen fühlt es sich bestimmt wohler als in der Hochsommerhitze.“ „Meinst du?“ „Auf jeden Fall. Ich habe Sku früher immer nur nachts trainiert, weil sie nachtaktiv ist und pralle Sonne nicht gut abkann.“ „Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, gesteht Louis kleinlaut und schüttet Saft in die Gläser auf dem Tablett. „Überleg´s dir einfach. Ich werde hier eh noch ein paar Stunden beschäftigt sein, also kannst du ruhig schon vorgehen.“ „Ich lasse dich hier nicht alleine schuften!“, widerspricht Louis, aber ich lege beruhigend meine Hand auf seinen Arm. „Wenn du Kai besiegen willst, musst du trainieren. Ich muss niemanden besiegen. Wann wir weiter ziehen, hängt ganz von dir ab, also kümmere du dich um deine Verantwortungen und ich kümmere mich um meine.“ Er setzt zu einem Widerspruch an, aber dann seufzt er und nickt. „Wie du meinst.“ „Gut.“ sage ich fröhlich und hebe das Tablett ächzend hoch. „Dann bedien dich hier. Bin sofort wieder da.“ „Viel Glück.“ Ich schiebe die Tür mit meiner Hüfte auf, werfe einen prüfenden Blick zu Joy, die an der Theke steht und mir zulächelt, dann setze ich ebenfalls mein Arbeitslächeln auf und gehe zu Ruths Tisch. Die drei sitzen bereits und Ruth schaut mich ungeduldig an. „Das war ein ziemlich langer Moment, findest du nicht?“, fragt sie, als ich das Tablett auf dem Tisch abstelle. „Du hast vollkommen Recht, Ruth. Meine Schuldgefühle sind kaum in Worte zu fassen“, erwidere ich mit gespieltem Schmerz in der Stimme. Sie schaut mich scharf an, dann winkt sie mich näher. Ich zögere, aber meine Neugierde überwiegt und ich beuge mich ganz nah zu ihr herunter, bis ihr Mund gleich neben meinem Ohr platziert ist. „Nick hier sagt, er hätte gestern mit dir gesprochen. Stimmt das?“ Ich werfe einen prüfenden Blick zu Nick, der mir unmerklich zunickt. „Ja, das stimmt. Wir haben uns kurz unterhalten.“ „Er sagt auch, dass du nicht zum Orden sammeln hier bist. Aber du trainierst Pokémon, ja?“ Langsam geht mir ein Licht auf. „Ich habe Pokémon, aber ich trainiere sie nicht wirklich…“ gebe ich zu. „Das ist mir zu viel Arbeit.“ Ruth zieht den Kopf zurück, dann lacht sie laut. „Man sieht sich“, sagt sie dann und beendet so die Unterhaltung. Ich werfe Nick einen letzten, fragenden Blick zu, beschließe aber, ihm zu vertrauen. Er scheint irgendeinen Plan zu haben. Einen Plan, in dem ich eine Rolle spiele. Naja, wenn ich damit Ruth eins auswischen kann, dann kann ich auch mit ein bisschen Spontanität leben. Als ich in die Küche zurückkomme, sitzt Louis bereits auf einer der Arbeitsflächen und schiebt sich haufenweise Toast in den Mund. Als er mich sieht, hellt sich sein Gesicht auf und er grinst mich breit an. „Was hast du denn mit Ruth besprochen?“, fragt er und schaut mich neugierig an. Ich erzähle ihm von meinem Gespräch mit Nick gestern Abend und dann von Ruths Frage. „Glaubst du, er will sie reinreiten?“, fragt Louis nachdenklich und beißt in ein Ei. „Keine Ahnung“, erwidere ich und hieve mich neben ihm hoch. Er reicht mir einen mit Marmelade bestrichenen Toast und ich beiße dankbar hinein. „Jedenfalls kommt er mir in ihrer Clique sehr fehl am Platz vor. Er wirkte ziemlich schüchtern gestern, aber auch nett. Beides kann man von Ruth nicht gerade sagen.“ „Nein, nicht wirklich.“ Er stopft sich das restliche Ei in den Mund und spült mit Pirsifsaft nach. „Aber trotzdem. Ich meine, er reist mit ihr. Wenn sich herausstellt, dass er sie belogen hat, dann wird Ruth ihm doch sicher die Hölle heiß machen. Er könnte vermutlich nicht mehr mit ihr reisen.“ „Vielleicht ist das sein Plan“, mutmaße ich und nehme Louis den Saft aus der Hand. „Ich würde auch alles tun, um Ruths Gesellschaft zu entgehen. Stell dir vor, du müsstest mit ihr reisen.“ Einen Moment lang schweigen wir, während die grausame Vorstellung durch unsere Köpfe pulsiert, dann machen wir synchron ein Würggeräusch, schauen uns an und bekommen einen hysterischen Lachanfall. „Schau uns nur an…“, japse ich und halte mir den Bauch, während ich mit der anderen Hand den Saft durch die Luft schwenke. „Wir müssen völlig verrückt aussehen.“ „Mit dir zusammen bin ich gerne verrückt“, sagt Louis, schnappt sich noch ein Ei und hält es mir entgegen. Ich stoße mit dem Saftkarton dagegen. „Auf uns!“, sage ich lachend und Louis grinst breit. Dann beißt er in sein Ei. „Auf verrückte Zeiten.“ „Auf Ruths Demütigung.“ „Und auf Unterwä– Au!“   Ich wische mir mit einer behandschuhten Hand über die Stirn und strecke meinen Rücken. Das letzte Zimmer ist sauber und damit meine Arbeit vorerst erledigt. Joy hat mir für heute Mittag freigegeben, ich werde erst wieder zum Abendessen gebraucht. Ich packe meine Putzutensilien weg und bringe sie runter. „Schon fertig?“, fragt Joy und ich nicke. „Nicht schlecht. Willst du nicht hierbleiben? Ich könnte jemanden wie dich gut gebrauchen.“ „Nein danke“, sage ich grinsend, dann schnappe ich mir meinen Rucksack, den ich in der Küche untergestellt habe und verschwinde aus dem Pokécenter. Louis ist bereits vorgegangen, er trainiert bei irgendeiner Höhle östlich von Azalea. Joy meinte zwar, der Wald wäre näher, aber keiner von uns beiden hat vor, in nächster Zeit auch nur einen Fuß hinein zu setzen. Es gibt anscheinend auch noch den Flegmonbrunnen, aber von dem hat sie uns bei diesem Wetter abgeraten. „Es gibt da drin viele kleine Seen und Bäche. Bei diesem Wetter kommt man da unten kaum durch.“ Ich seufze, als ich meine Kapuze über meinen Kopf ziehe und durch den Regen stapfe. Vielleicht kann ich Kai fragen, ob irgendjemand in dieser Stadt ein Radio hat. Ich würde schon gerne mal wieder die Nachrichten hören. In den letzten zwei Wochen sind die Team Rocket Sichtungen immer häufiger geworden, auch in Städten wie Marmoria City. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Maya, aber als ich sie letzte Woche angerufen habe, wusste sie nichts von Team Rocket und es ging ihr blendend. Nach dem Vulkanausbruch auf der Zinnoberinsel haben die Wissenschaftler ihre Fossilwiederbelebungsstation nach Marmoria verlegt und Maya ist total wild darauf, endlich eine mitzuerleben. Vielleicht sollte ich mich in ein paar Tagen nochmal bei ihr melden, nur zur Sicherheit. Es wundert mich sowieso, dass Team Rocket bei seinem stark wachsenden Einfluss noch nicht auf Johto übergegriffen hat. Speziell jetzt, da sowohl Noah als auch Gold ihnen den Krieg erklärt haben und beide auf der Suche nach ihnen ganz Kanto auf den Kopf stellen. Ich gehe mit gesenktem Kopf in Richtung Osten, wo die Stadt aufhört, aber selbst durch den plätschernden Regen kann ich plötzlich laute Stimmen hören. Ich hebe den Kopf und blinzele, als Regen mir die Sicht nimmt. Gleich außerhalb der Stadt steht eine Menschengruppe. Angeführt von Ruth. Fast will ich umdrehen, aber dann entdecke ich Nick. Ist es soweit? Ich betaste automatisch die Pokébälle an meinem Gürtel. Und so beginnt es also. Ich verlangsame meine Schritte, täusche Unsicherheit vor. „Was machst du denn hier?“, frage ich bissig, mit nur einem Hauch Angst in der Stimme. Sie muss schließlich das Gefühl haben, die Oberhand zu haben. „Abby, welch Überraschung, dass du hier vorbeikommst“, säuselt sie. Dann wird ihr Blick hart. „Nicht.“ „Was willst du, Ruth? Ich muss da durch“, sage ich gereizt und bleibe wenige Meter vor ihr stehen. Sie ist umgeben von einer Gruppe Jugendlicher, von denen die wenigsten so aussehen, als kämen sie von hier. „Tja, wenn du hier durch willst, wirst du gegen mich kämpfen müssen, Schätzchen“, sagt sie selbstgefällig. „Die Stadt endet hier. Leute wie du sind ab jetzt Frischfleisch.“ „Du willst gegen mich kämpfen?“, frage ich und schaue sie zornig an. „Nachdem du von Nick erfahren hast, dass ich keine Orden sammle?“ „Pass auf, was du sagst“, zischt sie. „Ist das dein wunder Punkt, ja?“, hake ich grinsend nach. „Traust du dich nur zu kämpfen, wenn dein Gegner schwach ist?“ „Du bist ziemlich arm, oder?“, fragt sie und ich presse meine Lippen zusammen. „Wenn du gegen mich verlierst, wie viel Prozent deines Geldes müsstest du dann an mich abtreten?“ Ich schweige. Einmal, weil es sie nichts angeht, aber auch, weil ich nicht zugeben will, dass 500 PD derzeit fast fünfzig Prozent meines Geldes ausmachen. Man muss schließlich kein Öl ins Feuer gießen. „Was, wenn ich nicht kämpfen will?“ „Oh, dann kommst du wohl in nächster Zeit nicht aus der Stadt raus. Dein Freund trainiert da drüben oder?“ Sie deutet auf den Weg hinter sich. „Ein paar meiner Freunde nehmen ihn gerade in die Mangel. Willst du ihm nicht helfen?“ „Miststück!“, fluche ich und greife nach meinem Pokéball. „Das wirst du bereuen.“ „Das wird sich noch zeigen.“ „Mach sie nieder, Hunter!“, rufe ich Ibitak zu, der sich mit wild schlagenden Flügeln einige Meter über mir materialisiert und aufgeregt krächzt. „Ein Ibitak, wie ordinär“, kichert Ruth und zieht ihrerseits einen Pokéball aus der Markentasche an ihrem Gürtel. „Aber was habe ich erwartet.“ Sie wirft ihren Pokéball mit einer leichten Drehung ihrerseits in die Luft und der rote Lichtblitz spiegelt sich in tausenden Regentropfen wieder. Dann landet ein Snubbull vor ihren Füßen, seine schwarzen Äuglein schauen mich finster an und es kaut schmatzend mit seinen Reißzähnen, die oben aus seinem Maul herausragen. „Hunter, Heuler!“, rufe ich ihm zu und Ibitak beginnt, kratzig und ohrenbetäubend zu heulen. Snubbull windet sich, fängt sich aber schnell wieder. „Fee, setzt deinen Charme ein“, ruft Ruth und zwinkert mir gehässig zu. Ich beiße mir auf die Lippen. Ich hätte angreifen sollen. Snubbull beginnt, mit den Augen zu klimpern und eine niedliche, liebevolle Aura geht plötzlich von ihm aus. Hunter sinkt langsam aus dem Himmel herab. „Fall nicht darauf herein!“, rufe ich ihm zu, aber dafür ist es schon zu spät. Hunter kann sich kaum noch effektiv in der Luft halten, so stark ist seine Kraft gesunken. Entschieden, meinen Fehler wieder gut zu machen, befehle ich Hunter sein Aero-Ass. Er schüttelt den Kopf, dann steigt er weit in die Höhe. „Versuch auszuweichen, Fee!“, ruft Ruth ihrem Pokémon zu, doch ich lächle nur abschätzig. Aero-Ass verfehlt sein Ziel niemals. Wie erwartet schießt Ibitak aus dem wolkenverhangenen Himmel herunter und ich kann ihn fast nicht sehen, so dicht fällt der Regen. Aber ich muss ihn auch nicht sehen. Ich habe kaum den Kopf in seine Richtung gehoben, da schießt er schon an mir vorbei und trifft Snubbull mit all seiner übrigen Kraft im Rücken. Snubull kreischt, torkelt einige Schritte, bleibt aber stehen. Dann reißt es den Kopf herum und bleckt seine unteren Reißzähne. Sie müssen mindestens so lang wie mein kleiner Finger sein. „Donnerzahn, Fee, los!“, ruft Ruth und mir sackt das Herz in die Hose. Hunter flattert verzweifelt mit den Flügeln, aber er ist Snubbull einfach zu nah. Das Pokémon springt mit ausgestreckten Pfoten auf Ibitaks Rücken und vergräbt seine Hauer in Hunters Gefieder. Dann lädt sich sein Mundraum mit Elektrizität auf und Hunter wird von dem Strom kräftig durch geschüttelt. Geschwächt tänzelt er über den matschigen Boden und Schlammspritzer fliegen in alle Richtungen. Nach einigen Sekunden lässt Snubbull ihn los, nur um sich das Regenwasser aus dem Fell zu schütteln und geifernd Position aufzunehmen. „Nochmal Aero-Ass!“, rufe ich Hunter zu und er erhebt sich schwerfällig in die Lüfte. „Mach dich bereit für einen weiteren Donnerzahn“, befielt Ruth, aber sie überschätzt ihr Pokémon, denn als Hunter zum zweiten Mal auf Snubbull hinunter schießt, trifft er es mit voller Wucht. Snubbull fliegt ein kleines Stück durch die Luft und bleibt zitternd in Schlamm liegen. Regen peitscht auf sein rosa Fell herab, während es sich mühsam erhebt, nur um erneut zu Boden zu fallen. „Komm schon Fee!“, ruft Ruth ihm zu. „Blamier mich nicht!“ Snubbull winselt, aber es kann nur noch den Kopf heben und Ruth entschuldigend ansehen, dann sackt es besiegt zu Boden. Ruth knirscht mit den Zähnen und ruft es zurück. „Die erste Runde geht dann wohl an mich“, sage ich und Ruth wirft mir einen mörderischen Blick zu. „Wir sind noch lange nicht fertig, Schätzchen“, erwidert sie und zieht einen zweiten Pokéball aus ihrer Tasche. „Los, Lilli!“ Himmel, ihre Spitznamen sind ja genauso schlimm wie die meiner Mutter. Lilli entpuppt sich als kleines, durch den Matsch wuselndes Evoli, mit einer pinken Schleife um den Hals und perfekt getrimmtem beigebraunen Fell. Als es Hunter entdeckt, hält es in seiner Springerei inne und bauscht sein Fell auf. Ruth grinst gehässig. „Dein Ibitak ist Geschichte. Lilli, erledige es mit Ruckzuckhieb.“ Und, so traurig es ist, das war es dann wirklich. Evoli schießt auf Hunter zu, der ihren Bewegungen kaum noch folgen kann, dann trifft es ihn genau auf der Brust und Hunter stolpert mit einem röchelnden Krächzen einige Schritte nach hinten, bevor es zu Boden sinkt. Ich rufe ihn wortlos zurück. Dann grinse ich. Ich habe lange nicht mehr mit Sku gegen einen anderen Trainer gekämpft. „Dein Auftritt, Sku“, rufe ich und sie materialisiert sich in einem Schauer aus roten Regentropfen vor mir im Schlamm. Sie schüttelt ihr Fell, dann reckt sie ihren bauschigen Schweif bedrohlich in die Höhe. Ein Raunen geht durch die Trainer um uns herum und ich kann nur vermuten, dass einige von ihnen von Skus Entwicklungsstufe auf ihren Mindestlevel geschlossen haben müssen. Ruth jedenfalls scheint nicht dazu zu gehören. Sie schaut sich genervt und auch ein bisschen verwirrt um, wendet sich dann aber wieder dem Kampfgeschehen zu. „Lilli, nochmal Ruckzuckhieb“, ruft sie ihrem Evoli zu und ich lasse die beiden kommen. Einen Ruckzuckhieb kann Sku nicht überholen, egal wie gut ihre Initiative ist. Evoli nimmt Anlauf, verschwindet aus meinem Sichtfeld und taucht im nächsten Moment direkt vor Sku auf, die ihren Angriff bereits erwartet. Evoli prallt in ihren üppigen Körper hinein, aber anstatt Sku zurück zu stoßen, prallt Evoli ab und wird selbst zurück geworfen. Ruths Gesichtszüge erstarren, was ich mit äußerstem Genugtun beobachte. Es wird Zeit, die dumme Zicke auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Reicher bedeutet nicht gleich stärker. „Sku, Säurespeier“, befehle ich und Sku holt tief Luft, dann spuckt sie Evoli eine Ladung violetter Flüssigkeit entgegen, die auf Evolis nassem Pelz kleben bleibt und sich tief in ihr Fell hinein ätzt. Evoli kreischt herzzerreißend und es tut mir fast ein bisschen leid. Ruth ist inzwischen aschfahl geworden, eine Farbe, die ihr sehr gut steht, wie ich finde. Evoli wimmert und winselt, dann macht es ein paar Schritte auf Sku zu, die sie mit mütterlicher Härte begutachtet. Dann knicken ihre Beine unter Lilli ein und sie landet wenig grazil im Matsch. Ruth schaut ihr Pokémon entsetzt an, als könnte sie nicht fassen, dass ich es mit einer Attacke besiegt habe. Inzwischen bezieht Sku ein wenig Energie aus dem Giftschleim, der um ihren Hals hängt und gähnt gelangweilt. Dann schüttelt sie sich wieder. Ein großer Fan von Regen ist sie nicht. „Lilli, zurück.“ Ruth schaut noch einige Sekunden auf die Stelle, an der Evoli sich dematerialisiert hat, dann greift sie nach ihrem nächsten Pokéball. „Gina, du bist dran!“ Ein kleines, braun-schwarz gestreiftes Ganovil materialisiert sich vor uns im Schlamm. Als es den Matsch unter seinen Füßen spürt, plantscht es aufgeregt mit dem Schwanz darin herum. „Gina, Sandgrab!“ „Kreideschrei, los!“ Gina springt in die Höhe und landet mit einem gewaltigen Platsch auf dem Boden, woraufhin sich die Erde um Sku herum langsam auftürmt. Sie lässt ihren gewaltigsten Kreideschrei los und Ganovil beginnt, den Kopf hin und her zu werfen. Ihre Attacke wird trotzdem nicht unterbrochen. Die Erdwände um Sku türmen sich weiter auf, bis sie ihr eigenes Gewicht nicht mehr unterstützen, dann krachen sie zusammen und begraben Sku unter sich. Ich lecke mir nervös über die Lippen, aber Skus Kopf taucht bereits wieder unter den Erd- und Schlammmassen auf und sie kämpft sich mühsam nach oben. Im Freien angelangt schüttelt sie sich angewidert die Erde aus ihrem dichten Fell. „Jetzt Schlitzer!“, rufe ich ihr zu und Sku rennt nach vorne in Richtung Ganovil, das immer noch wimmernd den Kopf hin und her wirft. „Nochmal Sandgrab!“, ruft nun auch Ruth, aber Sku ist schneller. Sie hebt ihre klauenbewerte Pfote und reißt eine tiefe Wunde in Ganovils Panzer. Durch den Kreideschrei unfähig, sich zu verteidigen, trifft die Attacke Ganovil mit gefährlicher Präzision. Ganovil kreischt nun ebenfalls, bleibt aber stehen. Es zittert und es wimmert, aber es steht. Dann erhebt sich der Boden um Sku herum und begräbt sie unter sich. Ich halte den Atem an. Gina hechelt und ringt nach Luft, während sie sich um ihre verwundete Seite herum krümmt. Erde spritzt in die Höhe, als Skus Pfote aus dem Schlammmeer herausbricht und ich höre Ruths wütendes Zischen. Sie hatte gehofft, dass die zweite supereffektive Attacke Sku erledigen würde, aber sie unterschätzt den Unterschied, den 15 Level machen können. Schließlich taucht auch Skus Kopf auf und sie krabbelt wütend aus dem Erdhaufen. Der ganze Kampfplatz ist inzwischen das reinste Schlachtfeld. Der Boden ist überall aufgebrochen, Schlamm bedeckt jeden Zentimeter und Löcher im Boden füllen sich langsam mit schmutzigen Wasserpfützen. Unsere Zuschauer sind mehrere Schritte zurückgegangen, um nicht über und über mit Schlamm bedeckt zu werden. Eine gute Idee, wie mir jetzt auffällt. Ich schaue flüchtig an mir herunter. Meine Beine sind bis zu den Oberschenkeln braun gesprenkelt und auch meine Hoodie hat den ein oder anderen dicken Fleck abbekommen. Verdammt. „Sku, Schlitzer“, sage ich genervt und schaue Ruth in die Augen, um den Moment ihrer Niederlage gebührend zu genießen. Gina versucht, ihren Klauen zu entkommen, aber Sku ist schneller und trifft Ganovil mit einer weiteren, kraftvollen Attacke. Dieses Mal ist es aus. Gina winselt, dann sackt sie zu Boden und ihre gelbbraunen Augen blinken ein letztes Mal in Skus Richtung, bevor sie sich schließen. Ruths Mund ist zu einem dünnen, weißen Strich mutiert und ich genieße den Moment zutiefst. Speziell deshalb, weil Ruth so sicher war, zu gewinnen. So sicher, dass sie all ihre Freunde und Speichellecker eingeladen hat um ihren Sieg mitanzusehen. Jetzt ist sie zum Gespött geworden. Das Geraune um uns herum wird immer lauter. Alle warten darauf, dass Ruth ihr nächstes Pokémon ruft, dass sie mich besiegt. Ich sehe ihr an, dass sie kein Ass mehr im Ärmel hat. Ganovil war ihre letzte Chance und es war nicht mal eine schlechte. Sku schaut mich vorwurfsvoll an, genervt, dass ich sie in diesem grottigen Wetter habe kämpfen lassen. Ich kann mir den Zeitpunkt doch auch nicht immer aussuchen. Eine halbherzige Entschuldigung murmelnd rufe ich Sku zurück. Ruth tut es mir gleich, dann stapft sie los und durch den Schlamm an mir vorbei. Das Geraune wird lauter, als klar wird, dass Ruth tatsächlich gegen mich verloren hat. Hier und da mischt sich ein Kichern mit in das Getuschel und Ruth zuckt zusammen. Als sie an mir vorbei geht, wirft sie mir das Geld vor die Füße. Nach einigen Sekunden läuft Markus ihr hinterher, genauso wie Nick. Er wirft mir ein dankbares, verlegenes Nicken zu, dann ist auch er verschwunden und ich bin allein mit den zehn Trainern, die mir immer noch den Weg zu Louis versperren. Ich beschließe, es auf die altmodische Art zu versuchen. „Entschuldigung?“, sage ich breit grinsend und mache ein paar Schritte nach vorne. „Ich müsste hier jetzt durch.“ Der Junge, der mir am nächsten steht, hat pechschwarzes langes Haar und trägt wie Ruth nur Markenklamotten, wenn auch in weniger auffälligen Farben. Er muss schon an die fünfzehn sein, denn der Schatten eines Bartes akzentuiert seinen Kiefer und als er mir antwortet, ist seine Stimme tief und rau. „Guter Kampf“, sagt er ausdruckslos. „Aber du weißt schon, dass Ruth sich rächen wird, oder?“ „Ja, weiß ich“, erwidere ich und schaue an ihm vorbei auf den Weg, der zu Louis führt. Hoffentlich geht es ihm gut. Der Junge schaut mich einen Moment länger an, dann grinst er mich wölfisch an und geht zur Seite. „Nein, ich glaube, du hast keine Ahnung.“ Kapitel 21: Ein niederschmetternder Pokédexeintrag (VIP und so) --------------------------------------------------------------- Ich lasse Ruths Freunde hinter mir und laufe so schnell es der weiche Untergrund zulässt an dem Flegmonbrunnen vorbei, den Weg entlang und biege schließlich zu den Wiesen vor der Höhle ein, die sich wie ein kleiner Berg im Hintergrund erhebt. Schwer atmend komme ich zum Stehen, während irgendwo in der Ferne der Donner rollt. Louis hat mich nicht gesehen. Er ist in einen Kampf vertieft und hat die Lippen zusammengepresst. Sein Gegner ist ein wildes Griffel, sein violettes Fell ist pitschnass und es hüpft auf seinem handförmigen Schwanz auf der Stelle. Keine Trainer weit und breit. „Sie hat mich reingelegt…“, murre ich leise, aber letztendlich hat sie sich selbst ins Fleisch geschnitten, also ist es mir egal. Ich will Louis schon etwas zurufen, aber er hat mich immer noch nicht gesehen und der immer stärker werdende Regen blendet die meisten Geräusche aus. „Los, Ethan!“, ruft Louis und wirft seinen Pokéball in die Höhe. Ich verstecke mich hinter einem Baum und schaue dem Vorgehen genau zu. Ich weiß schließlich immer noch nicht, was für Pokémon er hat. Der rote Lichtblitz verglüht und ich senke meinen Blick auf den Boden, wo sein Pokémon sich materialisiert hat.  Lidlose, weiße Augen schauen mir entgegen, als das Karpador hilflos mit den Flossen schlackert und sich dabei mit Schlamm bedeckt, bis seine roten Schuppen kaum noch sichtbar sind. Ich blinzele. Immerhin ist damit das Mysterium um seine vielen Niederlagen geklärt. Ethan platscht im Matsch herum und gibt röchelnde Laute von sich. „Ethan, Tackle!“, ruft Louis seinem Pokémon zu. Na, immerhin kann es Tackle. Das war nicht selbstverständlich. Karpador holt Schwung, indem es mit dem Schwanz mehrfach auf den Boden schlägt, dann drückt es sich ab, fliegt in hohem Bogen durch die Luft und landet in Griffels Gesicht. Griffel kreischt und schlägt mit den kleinen Händen nach Ethan, doch der ist schon längst wieder zu Boden gefallen. Dann keckert es und katapultiert sich in Richtung Karpador, das jetzt hilflos am Boden liegt. Seine Kratzfurie trifft Ethan mitten im Gesicht und Karpador heult verzweifelt auf. „Gut, komm zurück. Los, Winry!“, Karpador verschwindet in dem roten Lichtstrahl und statt ihm materialisiert sich ein extrem langes, extrem flauschiges Pokémon vor Louis´ Füßen. Auch wenn es mit der Flauschigkeit bald vorbei ist, denn der Regen drückt sein braun und beige gestreiftes Fell eng an den schlanken Körper. Das Wiesenior schüttelt sich und fiept leise, dann setzt es sich auf seine Hinterbeine und schaut aufgeregt zu Louis. Griffel betrachtet es belustigt, dann springt es wieder nach vorne und greift dieses Mal Wiesenior mit seiner Kratzfurie an. Winry winselt, fängt sich aber wieder genauso schnell wieder. „Winry, du auch Kratzfurie!“, ruft Louis und Wiesenior schießt nach vorne und kratzt Griffel mehrmals durch das kleine Affengesicht. Und so geht es weiter. Wieder und wieder attackieren sich die beiden mit ihren Kratzfurien, bis Griffel schließlich erschöpft zu Boden sinkt. Wiesenior wirkt noch relativ fit, aber Louis gibt ihr trotzdem sicherheitshalber einen Trank. Danach sieht sie wieder frisch aus und fiept glücklich. Dann klettert sie sein Hosenbein hoch und bleibt über seine Schulter guckend an seinem Rücken hängen, ihr langer Schweif mehrfach um seinen Bauch gewickelt. Längenmäßig ist sie größer als wir beide. Ich nutze den Moment, um aus meinem Versteck herauszukommen und gehe auf Louis zu. Als ich näher komme, dreht er sich überrascht um. „Abby! Seit wann bist du hier?“, fragt er misstrauisch und ich zucke die Achseln. „Seit ein paar Minuten“, sage ich vage und Louis schaut betreten zur Seite. „Tja, dann weißt du ja, wie es um mich und den Orden steht.“ „Ach was“, sage ich mit mehr Überzeugung als ich fühle. „Dein Karpador kann immerhin schon Tackle. Wenn du es weiter trainierst, hast du bald das coolste Garados überhaupt.“ „Das habe ich auch gedacht, als ich es gefangen habe, aber das Training ist so mühsam…“ Er schaut mich verzweifelt an und Winry legt den Kopf schief. „Ich trainiere ihn jetzt schon so lange, jeden Tag und er wird einfach nicht stärker! Als er Tackle gelernt hat, war ich total euphorisch, aber er ist immer noch genauso nutzlos wie vorher.“ „Hast du mal seinen Level überprüft?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Ich habe nur das ganz alte Modell. Das zeigt dir den Level nicht an.“ „Soll ich mal?“, frage ich und Louis zuckt die Achseln, dann ruft er Ethan aus seinem Pokéball. Ethan landet platschend auf dem Boden, seine Glubschaugen wandern von Louis zu mir und wieder zurück. Dann nimmt er mit seinem Schwanz Schwung – und katapultiert sich genau in Louis´ Gesicht. Louis schreit und schlägt unbeholfen nach seinem Pokémon, doch Ethan liegt längst wieder auf dem Boden und keucht ihn wütend an. „Er wird mir nie vergeben…“, flüstert Louis und schaut Karpador mit offenkundigem Schmerz in der Stimme an. „Ich weiß nicht mal, ob ich ihn wirklich entwickeln soll. Als Karpador platscht er mir ins Gesicht, aber wenn er erst mal ein Garados ist, könnte er mich genauso gut aufessen.“ „Tja, da ist was dran“, sage ich ohne zu überlegen und Louis wirft mir einen wütenden Blick zu. „Danke auch. Sehr hilfreich.“ „Sorry.“ Wir betrachten Ethan für eine Weile, dann krame ich meinen Pokédex hervor und halte ihn auf Karpador. „Karpador, das Fisch-Pokémon“, schallt es aus dem Pokédex. „Typ Wasser. Die urzeitlichen Vorfahren dieses Pokémon waren sehr viel stärker als ihre heutigen Nachkommen. Es ist nutzlos, was Kraft und Geschwindigkeit angeht, deshalb ist es als das schwächste und erbärmlichste Pokémon der Welt bekannt. Man sollte niemals große Hoffnungen auf Karpador setzen, da es nur platschen kann. Level 19. Spezialfähigkeit: Wassertempo.“ „Tja“, sage ich und Louis lässt den Kopf hängen. „Das ist noch schlimmer, als ich erwartet hatte.“ „Aber hey, Level 19! Es könnte sich jeden Moment entwickeln“, sage ich aufmunternd und unsere Blicke wandern zu Karpador, das wild platschend im Schlamm liegt und uns mit seinen großen, lidlosen Augen anstarrt. „Naja, nicht jeden Moment“, verbessere ich mich und Louis seufzt, bevor er sein Pokémon zurückruft. „Ich bin fertig mit Trainieren für heute“, sagt er mürrisch und ruft auch Winry zurück, die protestierend fiept. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Es ist noch nicht mal vier Uhr und außer Trainieren fallen mir nicht viele Dinge ein, die man in Azalea unternehmen kann. Zumindest nicht bei diesem Wetter. Wie um meine Gedanken zu bestätigen, höre ich wieder das Donnergrollen, dieses Mal näher. „Wir können Schwester Joy fragen, ob sie uns ein Kartenspiel ausleihen kann“, schlage ich vor und Louis zuckt gleichgültig die Achseln. Ich hätte das mit dem Pokédex nicht vorschlagen sollen. Auf dem Weg zurück zum Pokécenter berichte ich Louis knapp von Ruths Herausforderung und Niederlage. Das zaubert immerhin ein Grinsen auf sein Gesicht. „Geschieht ihr Recht, dieser Zicke“, sagt er mit einem gehässigen Lächeln. Die ersten Häuser Azaleas kommen in Sicht und ich bin erleichtert, dass die übrigen Trainer verschwunden sind. „Da ist nur etwas, das mich beunruhigt…“, murmele ich und denke an die Warnung des Teenagers mit dem wölfischen Grinsen zurück. „Was meinst-“ „Himmel, Kinder, kommt schnell rein!“, ruft Schwester Joy uns wild winkend aus dem Pokécenter zu. Sie steht einige Schritte vor der Tür und ihre pinken Zopfe hängen schwer auf ihre Schultern. Sie ist völlig durchgeweicht. Louis und ich im Übrigen auch. Wir beginnen zu rennen, was in diesem Matsch keine leichte Angelegenheit ist und als Louis stolpert, schaffe ich es gerade so, ihn vor einem sehr schlammigen Sturz zu bewahren. Gemeinsam schlittern wir in Richtung Pokécenter. „Was ist denn?“, keuche ich, als wir endlich im Trockenen sind und Schwester Joy uns in Decken einwickelt. „Ihr müsst eure nassen Klamotten ausziehen“, befiehlt Joy streng und ich werfe einen schnellen Blick zu den Tischen. Ruth ist nirgends zu sehen, aber Markus und Nick sitzen dort in trockenen Kleidern und brüten über etwas, das von weitem wie Hausaufgaben aussieht, aber das wäre lächerlich. Kein Pokémontrainer macht Hausaufgaben. „Wir ziehen uns gleich oben um“, beruhige ich Joy und sie reibt uns über die Arme. „Was ist denn plötzlich los?“, fragt nun auch Louis, der immer wieder misstrauisch zu unseren beiden Zuhörern hinüber schaut. Meine Meinung. Der Regen war schließlich eben auch schon da. Er ist etwas stärker geworden, aber sonst? „Luna ist eben vorbei gekommen“, erwidert Joy und ich schaue sie überrascht an. „Sie hat vor einem schlimmen Sturm gewarnt, der in den nächsten Minuten hier sein wird.“ „Ist sie jetzt auch noch Wetterfrosch?“, frage ich und Louis setzt zu einer Antwort an, aber in genau dem Moment kracht es und das ganze Pokécenter wird in gleißendes Licht gehüllt. Ich drehe mich ruckartig zu einem der Fenster und sehe gerade noch den Blitz, der irgendwo in den Wäldern eingeschlagen hat. Gefährlich nahe der Stelle, an der Louis und ich noch vor wenigen Minuten standen. „Ich nehme alles zurück“, wispere ich voller Staunen und schaue dabei zu, wie der nächste Blitz etwas weiter links einschlägt, begleitet von ohrenbetäubendem Donner. Das Unwetter ist direkt über uns. „Ihr solltet euch umziehen“, sagt Schwester Joy und schiebt Louis und mich in Richtung Treppe. „Wenn ihr gleich runter kommt, gebe ich allen eine heiße Schokolade aus.“ Louis Augen beginnen zu glühen und er läuft die Treppe schneller hoch, als ich Pokémoncenter sagen kann. Ich schaue ihm einen Moment lang belustigt nach, dann folge ich. Als ich oben ankomme, steckt der Schlüssel noch immer im Schloss und ich trete mit zusammen gekniffenen Augen ein, um nichts zu sehen, was ich nicht sehen soll. Wie erwartet steht Louis halbnackt in unserem Zimmer und wühlt in seinem Rucksack nach frischen Klamotten. Er schaut nicht mal auf, als ich reinkomme, also mache ich mich ebenfalls auf die Suche nach frischen Kleidern. Ich ziehe mein einzelnes frisches Top hervor und begutachte es kritisch, dann lege ich es neben mir auf einen Stapel. Als nächstes suche ich nach meinem langärmligen Shirt – vergebens. Es ist ja noch in der Wäsche und als ich heute Mittag nachgeguckt habe, war es noch nicht mal ansatzweise trocken. Warum müssen die Bonzenkinder auch haufenweise Markenklamotten mitbringen, die ich dann waschen muss? „Ehm, Louis?“, frage ich, aber er schaut mich nicht an. Ich seufze, verschwinde im Bad und ziehe meine nassen Sachen aus. Die Hoodie ist komplett durchgeweicht, keine Chance. Der Pulli ebenfalls und meine Shorts… naja. Abgesehen davon ist alles schlammbespritzt. Ich ziehe schnell mein Top über, dann mache ich die Badezimmertür auf. „Louis“, sage ich mit aller Ernsthaftigkeit, die ich zustande bringen kann. „Ich brauche ein paar von deinen Klamotten.“ Das erweckt nun endlich sein Interesse. Er richtet sich auf, ohne sich umzudrehen. Als er schließlich zu mir schaut, grinst er mich mit diesem unverschämt perversen Zahnlücken-Grinsen an. „Geht doch auch so“, sagt er und ich verschränke die Arme vor der Brust. Wieso hab ich nur schon alle Sachen ausgezogen? Weil er dich eh schon in Unterwäsche gesehen hat, Abby, reg dich ab. Tief durchatmen und böse gucken. „Louis“, sage ich in lang gezogenem, drohenden Tonfall, aber Louis muss meine glühenden Wangen bemerkt haben, denn er presst die Lippen zusammen, um sich einen Lachanfall zu verkneifen und wendet sich ganz schnell wieder seinem Rucksack zu. Dann wirft er mir einen roten Strickpullover und eine Jeans zu und ich schlüpfe schnell hinein. Der Pulli passt gut, aber die Hose ist mir etwas zu lang. Macht nichts. Ich krempele die Hosenbeine ein paar Mal um, dann ziehe ich meinen Gürtel wieder an und so fest ich kann zu, damit die Jeans nicht rutscht. Ein kurzer Blick in den Spiegel bestätigt meine Vermutung: Ich sehe ziemlich bescheuert aus. Aber immerhin sind die Sachen frisch und trocken, auch wenn sie nach Gras und Erde riechen. Als Louis sich zum zweiten Mal umdreht, hat er sich ebenfalls umgezogen. „Steht dir“, sagt er und zwinkert mir zu. Ich gehe zur Tür, schlage ihm im Vorbeigehen noch auf den Hinterkopf und drücke dann die Türklinke nach unten. Dann sehe ich ihn betont ungeduldig an und er hastet an mir vorbei und die Treppe runter. Ich seufze belustigt und folge ihm. Als wir unten ankommen, stehen bereits zwei dampfende Becher für uns bereit. Leider hat Joy sie zu den beiden Jungs gestellt. Nick stört mich nicht, aber Markus ist auf Ruths Seite und ich bezweifle, dass Nick sich so geben wird wie gestern Nacht, als wir alleine waren. Denn obwohl ich Ruth besiegt habe, ist er immer noch Teil ihrer Gruppe. Wir geben schnell noch unsere Pokébälle bei Joy ab und lassen sie heilen, dann wenden wir uns wieder dringlicheren Problemen zu. Louis zögert, aber die Anziehungskraft der Schokolade ist zu groß für ihn, denn er setzt sich kurzerhand zu den beiden Anderen auf die Bank und hebt die Tasse mit einer ehrfürchtigen Bewegung zu seinem Mund. Dann schließt er die Augen und schlürft vorsichtig an dem heißen Getränk. Ein Ausdruck purer Glückseligkeit breitet sich auf seinem Gesicht aus und ich muss unwillkürlich schmunzeln. Ich habe Tee, er hat Schokolade. Ich werfe Joy noch einen flehenden Blick zu, doch sie nickt nur lächelnd in Richtung Tisch, auch wenn das Lächeln etwas Eisiges hat. Ich seufze und lasse mich neben Nick auf die Bank sinken, dann lege ich meine Hände auf beide Seiten der Tasse. Die Wärme zieht direkt durch meine Hände meine Arme hinauf und ich atme glücklich aus. Dann werfe ich einen neugierigen Blick auf die Unterlagen, über denen die beiden bis eben noch gebrütet haben. Jetzt schaut Markus demonstrativ aus dem Fenster und Nick schaut mich entschuldigend und dankbar zugleich an, wenn er glaubt, unbeobachtet zu sein. Bei den Unterlagen handelt es sich um Briefe oder Rechnungen wie es scheint, jedenfalls sind es haufenweise Text, Zahlen und Tabellen. Nichts für mich. Ich schaue zu Louis, aber der ist voll und ganz auf seine Tasse konzentriert und trinkt seine Schokolade in tiefen, regelmäßigen Schlucken. Mein Blick gleitet weiter zur Treppe. Wo ist Ruth? Verunsichert und gelangweilt nehme ich ebenfalls einen Schluck von meinem Tee. Er ist brühend heiß und ich verbrenne mir die Zunge, aber der feurige Schärfe ist absolut himmlisch. Wie die anderen beobachte ich das stürmische Treiben durch das Fenster neben unserer Sitzecke. Plötzlich höre ich Schritte. Ich bin nicht die einzige. Zeitgleich mit mir drehen Markus und Nick den Kopf in Richtung Treppe, deren Knarzen Ruths Ankunft verrät. Sie trägt jetzt einen dunkelblauen Rollkragenpullover, der ihre Figur stärker betont als das stylische T-Shirt von gestern und darunter eine ebenfalls knallenge Jeans. Ihre Füße stecken in gefütterten Stiefeletten und ihr kurzes Feuerhaar liegt in wohlgeordneten Strähnen auf ihrem Kopf. Als sie mich sieht, verfinstert sich ihr Blick und ihre schwach geröteten Augen huschen zu Joy hinüber. Als die Schwester ihr zulächelt, erwidert sie die Geste mit sichtlicher Mühe. Dann geht sie zu ihr an die Theke und bestellt sich einen Cappuccino. Nur nicht das gleiche Getränk wie das gemeine Volk, schon verstanden. Ich wende den Blick ab und schaue wieder aus dem Fenster. Ein Seufzen gleich neben mir schreckt mich hoch und ich schaue genervt zu Ruth hoch. Ihre Augen sind wirklich rot. Hat sie geweint? Sie schaut noch einmal zu Joy hinüber, die uns allesamt mit drohender Freundlichkeit beobachtet. „Würde es dir etwas ausmachen, den Platz mit mir zu tauschen, Abby?“, fragt sie mit kalter, rauer Stimme und lächelt mich steif an. Sie hätte mir genauso gut das Gesicht abbeißen können. „Ich würde gerne bei meinen Freunden sitzen.“ Ich stehe ohne ein Wort auf und nehme meine Tasse mit, während ich mit der anderen Louis von seinem Platz ziehe. Er scheint Ruths Ankunft kaum bemerkt zu haben. Dann gehen wir zu Schwester Joy, leihen uns ein Kartenspiel aus und verschwinden damit oben in unserem Zimmer. Ich schaue kurz auf mein Handy. Halb fünf. Noch knapp eine Stunde, bis meine Abendschicht beginnt. Fast freue ich mich auf die Arbeit, dann habe ich immerhin etwas zu tun. Den restlichen Nachmittag verbringen Louis und ich damit, unsere heißen Getränke zu schlürfen und Karten zu spielen. Louis verliert am laufenden Band, aber wenn er mich einmal schlägt, dann reißt er die Arme in überbordender Begeisterung in die Luft und vollführt kleine Freudentänze auf dem Bett. Irgendwie ist es niedlich. Pünktlich um halb sechs verschwinde ich nach unten, kümmere mich um die Wäsche, das Abendessen und wische das Erdgeschoss. Ruth wirft mir bei jeder Gelegenheit einen eisigen Blick zu, aber irgendwann scheint ihr selbst das zu doof zu werden und sie vertieft sich in leise Gespräche mit ihren beiden Begleitern. Nicks Gesichtsausdruck ist nur schwer zu deuten, aber was immer sie mit den beiden bespricht, es scheint ihm nicht zu gefallen. Ob es um mich geht, kann ich nicht erkennen, denn Ruth bedenkt mich zu diesem Zeitpunkt bereits mit weniger Beachtung als die Luft um sie herum und mir kann das nur Recht sein. Als ich den dreien ihr Abendessen serviere, eine herzhafte Käselauchsuppe mit dicken Scheiben Brot, schweigen sie so lange, wie ich anwesend bin. Und als ich mich mit meinem eigenen Teller zu Louis an den Tisch auf der anderen Seite des Centers setze, kann ich außer einzelnen Wortbrocken nichts mehr verstehen. Ich stecke mir gerade einen Löffel Suppe in den Mund, da kommt Schwester Joy vom Tisch der anderen drei zu uns hinüber und bedankt sich bei mir für meine Hilfe. Dann faltet sie die Hände vor ihrer weißen Schürze und lächelt uns mit schief gelegtem Kopf an. „Was habt ihr zwei denn morgen vor?“, fragt sie und ich kann Ruths Blick in meinem Nacken spüren. „Trainieren, vermutlich“, sagt Louis, wenn auch wenig begeistert. Dabei hat er es doch jetzt fast geschafft. Ein Level noch, und er ist bereit für Kai. Ein Garados wird seinem Team einen gewaltigen Pusch geben. „Und du?“, wendet Joy sich an mich und ich stecke mir ein Stück Brot in den Mund, um etwas mehr Nachdenkzeit zu gewinnen. „Vielleicht schaue ich mich mal in der Stadt um. Wenn das Wetter gut ist, kann ich ja den Flegmonbrunnen unter die Lupe nehmen.“ „Sei dann aber vorsichtig“, empfiehlt sie und zwinkert mir zu. „Du solltest wasserdichte Schuhe mitnehmen, das ist sicher.“ „Werde ich.“ Ich tunke noch etwas Brot in meine Suppe und schaue es Gedanken verloren an. Dann fällt mir etwas ein. „Schwester Joy?“ „Ja, Abby?“ „Haben sie eigentlich eins dieser Videotelefone? Ich würde gerne meine Schwester anrufen, ich habe sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.“ „Ich glaube, wir haben noch ein altes im Nebenraum“, überlegt Joy laut und legt nachdenklich einen Finger an die Lippen. „Aber ich weiß nicht, ob es noch sehr zuverlässig ist.“ „Wir probieren es einfach aus.“ „Gut, ich schließe es schnell an. Gegen sieben Uhr sollte es laufen.“ Sie dreht sich um und geht. „Warum willst du deine Schwester anrufen?“, fragt Louis verwirrt und wischt mit seinem Brot den Rest Suppe aus seinem Teller. Dann stopft er es sich in den Mund und beginnt, zufrieden darauf zu kauen. „Ich muss sie da etwas fragen…“   Eine halbe Stunde und einige SMS später sitzen Louis und ich in dem kleinen Kommunikationsraum des Pokécenters vor einer geräuschvoll laufenden Maschine, die wie ein Spielautomat mit eigebautem Computerbildschirm und Telefontasten aussieht. Ich gebe die Nummer ein, die Maya mir in ihrer letzten SMS geschrieben hat, und rücke ein wenig auf meinem Stuhl hin und her. Dass ich sie so lange nicht gesehen habe stimmt, aber vermissen tue ich sie nicht wirklich. Nur weil sie jetzt in einer anderen Stadt wohnt, macht das noch keine Vorzeigeschwester aus ihr. Der Bildschirm flackert, dann taucht Mayas Gesicht auf und schaut mich griesgrämig an. Ihr langes, nussbraunes Haar fällt ihr in einem dichten Pony ins Gesicht und wird an den Seiten von zwei pinken Schleifen nach hinten gehalten. Sie trägt blassen Lipgloss und Mascara, ist aber sonst ungeschminkt und an ihren Ohren baumeln Ohrringe, die wie kleine Kiesel an einer Kette aussehen. Ihr Gesicht nimmt den größten Teil des Bildes ein, im Hintergrund erkenne ich nur jede Menge hochtechnologische Gerätschaften und ein Fenster. Im Gegensatz zu hier ist in Marmoria City noch strahlender Sonnenschein. In der unteren Bildschirmecke kann ich Louis und mich sehen, so wie wir für Maya sichtbar sind. Ich winke ihr zu und sie stützt ihr Kinn auf eine Hand, deren Nägel pink lackiert sind. „Was gibt’s?“, fragt sie brüsk und ich grinse innerlich. Sie hat sich kein Stück verändert. Nur der Pony und die Ohrringe sind neu. „Ich wollte mich nur kurz mit dir unterhalten“, erwidere ich und rutsche etwas zur Seite, damit Louis besser ins Bild passt. Mayas Augen blitzen. „Wer ist das denn? Dein Freund?“, fragt sie und ich spüre, wie Wärme in meine Wangen steigt. Komischerweise ist es nicht viel und Maya scheint mein Erröten nicht mal zu bemerken. Huh. Vielleicht bin ich langsam abgehärtet. „Das ist Louis, wir reisen derzeit zusammen.“ „Und wo, wenn ich fragen darf?“ „Darfst du, aber ich werde dir nichts sagen“, sage ich und strecke ihr die Zunge raus. „Meine Güte, du mit deiner Geheimniskrämerei“, mault Maya und bläst ihren Pony in die Höhe. „Mama ist krank vor Sorge und du spielst Verstecken. Sehr erwachsen.“ „Um dich hat sie sich auch Sorgen gemacht, Maya, tu nicht so.“ „Ich bin immerhin nicht mitten in der Nacht abgehauen“, kontert sie. „Ich kann nicht glauben, dass du noch nicht in Schwierigkeiten geraten bist.“ Louis prustet los und ich schaue ihn wütend an. Wenn Maya erfährt, in was für einem Haufen von Schwierigkeiten wir schon gesteckt haben, erfährt Mama es ebenfalls und dann Gnade mir Gott. Maya schaut misstrauisch in Louis´ Richtung, fragt aber glücklicherweise nicht weiter nach. „Also, warum rufst du an? Du willst dich hoffentlich nicht nach meinem Wohlergehen erkundigen, dann lege ich nämlich sofort auf.“ Ja ja. Das ist Maya, wie sie leibt und lebt. Plötzlich höre ich wieder Donner, der direkt über unseren Köpfen davon rollt und Maya kneift die Augen zusammen. Dann wird der Bildschirm mit einem Mal schwarz, bevor weiße, flimmernde Linien darüber knistern. „Verdammt…“, murmele ich und schaue den Apparat wütend an. „Lass mich mal“, sagt Louis, steht auf und tritt mit voller Wucht dagegen. Ich unterdrücke einen Schrei und reiße ihn zurück auf seinen Stuhl. „Weißt du, wie teuer so ein Ding ist?!“ frage ich entsetzt, während der Bildschirm pechschwarz wird. „Was, wenn du ihn kaputt gemacht hast? Ich kann den nicht bezahlen!“ Louis will zu einer Antwort ansetzen, da flackert der Bildschirm und Maya schaut uns wieder an. „Alles in Ordnung bei euch?“, fragt sie und schaut mich mit hoch gezogenen Brauen an. „Ihr wart plötzlich weg.“ „Gewitter. Aber egal. Hör zu.“ Ich will nicht wieder von einer der Störungen unterbrochen werden. „Wie sieht es bei euch mit Team Rocket aus?“ „Deshalb rufst du an?“, fragt Maya und schaut mich jetzt genervt an. „Das wolltest du doch schon letzte Woche wissen!“ „Letzte Woche“, stimme ich ihr zu und sie seufzt energisch. „Ja, wir hatten einen kleinen Zwischenfall“, gibt sie schließlich zu und ich sehe sie triumphierend an. Sie bemerkt meine Aufregung und bedenkt mich mit einem kritischen Blick. „Du bist so sensationsgeil, weißt du das, Abby? Du freust dich regelrecht darüber. Da hätten Menschen sterben können, das ist dir klar, ja?“ Ihre Worte erzielen die gewünschte Wirkung. Ich schaue zerknirscht zur Seite. Sie meinte schließlich klein. Wenn jemand umgekommen wäre, hätte das Radio hundertprozentig davon berichtet. „Wie gesagt, kleiner Zwischenfall“, fährt Maya ungerührt fort. „Eins unserer Fossilbergungsteams hat drei ihrer Mitglieder im Mondberg gefunden. Sie waren wohl nicht die einzigen, aber selbst die drei Entdeckten sind entkommen, bevor jemand sie festnehmen konnte. Außer ein paar blauen Flecken gab es keine Verletzungen, aber was sie in der Höhle getrieben haben, weiß auch niemand.“ „Habt ihr die Polizei informiert?“, frage ich und sie schaut mich ungläubig an. „Natürlich, wir sind schließlich nicht blöd. Officer Rockey und Noah sind aufgetaucht, haben uns ausgefragt und sind dann durch die Höhle. Aber außer ein paar ungewöhnlichen Löchern in den Wänden und der Decke haben sie nichts gefunden. In ein paar Tagen kommt es wahrscheinlich in den Nachrichten, aber wie gesagt, es war nichts Großes.“ „Du hast Noah getroffen?“, frage ich ungläubig und starre sie mit großen Augen an. Sie bedenkt mich mit einem abschätzigen Blick. „Was glaubst du wohl. Nein, habe ich nicht. Ich war schließlich keiner von den Zeugen. Außerdem hatte ich zu tun. Ich weiß sowieso nicht, was du an all diesen Protrainern findest. Raphael ist cool, okay, aber Noah kennst du überhaupt nicht.“ Jetzt ist es an Louis, ungläubig zu gucken. Er packt mich an den Schultern und dreht mich, sodass ich ihn anschaue. „Du kennst Raphael Berni?“, fragt er, halb entsetzt, halb begeistert. Maya prustet. „Machst du Witze?“ fragt ihre Stimme aus dem Gerät und wir wenden uns beide in ihre Richtung. „Die beiden sind beste Freunde. Ich warte nur noch auf den Tag ihrer Verlobung.“ „Ach halt die Klappe, Maya!“ „Schon klar.“ Sie wendet sich Louis zu. „Sie kannte ihn, noch bevor er so berühmt wurde. Aber er ist schon wirklich ein cooler Typ.“ „Das reicht jetzt“, sage ich genervt. „Also hat Team Rocket sich bis nach Marmoria durchgeschlagen.“ „Himmel Herr Gott, ja, hat es. Zufrieden? Bald sind sie in Johto oder sonst wo und werden die Weltherrschaft an sich reißen, viel Spaß bei der Berichterstattung. Wenn es das war, ich hab zu tun.“ „Wie geht´s denn Ursula?“, frage ich noch schnell, bevor Maya mich wegdrücken kann. „Der geht es gut. U, hey! Komm mal her.“ Maya rutscht zur Seite und neben ihr taucht ein brauner Bauch mit beigem Ring auf. Dann bückt sich Ursula und ihr großer Kopf nimmt fast den ganzen Bildschirm ein. Als sie mich sieht, bleckt sie die Zähne zu einem fröhlichen Grinsen und knurrt leise. Ich winke ihr und sie winkt zurück. Dann richtet sie sich wieder auf und verschwindet. Maya rutscht zurück auf ihren Platz. „Dann viel Spaß noch.“ „Dir auch.“ Sie schaltet zuerst aus und ich folge ihrem Beispiel, dann fahre ich mir mit den Fingern durch mein Haar. Ich schaue zu Louis, der stur gerade aus guckt. „Was ist?“ frage ich. „Ich kann nicht fassen, dass du mit Raphael Berni befreundet bist.“ sagt er und ich grinse. Tja. VIP und so. Kapitel 22: Ein Zubat, zwei Zubat, Gefangen (Geheime Mission) ------------------------------------------------------------- Als wir in den Hauptraum zurückkommen, begrüßt Joy uns und erkundigt sich nach meiner Schwester. Ich tische ihr die typischen Klischees auf und schaue mich unruhig um. Ich hatte gehofft, Nick noch einmal abfangen zu können, bevor wir uns trennen, aber sowohl von ihm als auch von Ruth und Markus fehlt jede Spur. Seufzend fahre ich mir durchs Haar. Es ist immer noch klamm. „Abby, würdest du mir noch mit dem Aufräumen helfen?“, fragt Joy und ich nicke. Louis meldet sich ebenfalls und so verbringen wir den restlichen Abend damit, Wäsche aufzuhängen, die Küche auf Vordermann zu bringen und das Unwetter durch die Fenster zu beobachten. Es ist ein wenig abgeflaut, aber der Regen prasselt weiterhin ungerührt auf Azalea City herunter. Verdammter Vorherbst. Außerdem geht mir Nicks beunruhigter Blick nicht aus dem Kopf. Ich habe Louis immer noch nichts von dem Jungen mit dem Grinsen erzählt, aber vielleicht ist es auch egal. Obwohl, wenn ich mir Ruths Geheimnistuerei vor Augen führe… Nervös geworden lehne ich mich zu Schwester Joy über die Theke und warte, bis sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkt. „Was haben eigentlich Ruth und die anderen morgen vor?“, frage ich unschuldig. „Sie haben doch mit ihnen gesprochen, oder?“ „Ja, habe ich.“ Joy lächelt. „Ruth erzählte mir, sie wolle ihr Glück gegen Kai versuchen.“ Hat sie das, so, so. „Hoffentlich gewinnt sie“, sage ich und erwidere Joys Lächeln aus vollem Herzen. Ich muss ja nicht erwähnen, dass ich Ruth nur von der Backe haben will. Wenn es weiter so zwischen uns brodelt, wird noch etwas passieren. Es staut sich langsam auf und wenn wir nicht bald getrennte Wege gehen, wird es zu einer großen, unschönen Entladung kommen. Ihre ernüchternde Niederlage gegen mich hat sie nur noch mehr zum Brodeln gebracht. „Ich glaube, du hast keine Ahnung.“ Jetzt hör schon auf, Abby, ermahne ich mich wütend und wische heftiger als nötig über einen der Tische. Nachdem Louis und ich mit Putzen fertig sind, schmuggeln wir noch eine Tafel Schokolade mit nach oben und verkriechen uns dann in unserem Zimmer. Der Regen trommelt leise auf das Dach, wie nervöse Finger auf einen Tisch und der Donner klingt längst weit entfernt. Wir ziehen unsere Schlafsachen an, dann kuscheln wir uns in unsere Decken, teilen die Schokolade möglichst krümelfrei unter uns aus und verbringen den restlichen Abend damit, Karten zu spielen. Und obwohl ich versuche, bei der Sache zu bleiben, schweifen meine Gedanken immer wieder zu Ruth. Ruth, gehässig. Ruth, gedemütigt. Ruth mit verweinten Augen. Ruth, verschwiegen. Kein Wunder also, dass Louis eine Runde nach der anderen für sich entscheidet. Na ja, es sei ihm gegönnt. Sein Tag war ernüchternd genug. Als wir zwei Stunden später neben einander im Bett liegen und an die Decke starren, bricht Louis auf einmal das Schweigen. „Dass du mit Raphael zusammen bist, war das ernst gemeint?“ „Was? Nein!“ Ich schaue ihn entgeistert an. „Das war Mayas Spinnerei, das ist alles. Wir sind nur Freunde.“ Er schweigt, aber als ich den Kopf drehe, wirkt er zufrieden. Trotz der Dunkelheit kann ich das kleine Lächeln auf seinen Lippen erkennen. Dann sackt sein Kopf zur Seite und er beginnt, leise zu schnarchen. Ich drehe mich auf die Seite und starre an die Wand. Ich taste auf dem Boden nach Skus Pokéball, aber ich komme nicht dran. Er liegt wie meine anderen Sachen am anderen Ende des Zimmers. Kann man nichts machen.   Das nächste, was ich merke, ist Louis´ Hand in meinem Gesicht. Schlaftrunken und genervt drehe ich mich unter ihm um und erkenne im frühen Morgenlicht Louis´ Umriss, der kreuz und quer über dem Bett verteilt liegt. Sein eines Bein hängt über den Rand und sein Arm in meinem Gesicht. Ich schiebe seinen Arm weg, klettere aus dem Bett und ziehe mir (frische!) Kleider an. Ein Blick nach draußen bestätigt meine Vermutung. Der Sturm ist vorübergezogen und außer regennassen Dächern, Schlammpfützen und überraschend sauberen Hauswänden ist nichts von ihm geblieben. Trotz der frühen Stunde ist es bereits angenehm warm, ein weiterer heißer Spätsommertag also. Nach gestern kommt mir das gar nicht mal so unangenehm vor. Ich schaue auf die Uhr. Gerade mal halb sieben. Bestimmt ist noch niemand wach. Ich werfe einen wütenden Blick zu Louis. Wäre ich auch nicht, wenn ein gewisser jemand sich nicht auf mir ausgebreitet hätte. Ich hole Skus Pokéball und lasse sie raus. Sie hat noch viel zu wenig von Azalea gesehen, wenn man mich fragt. Als sie sich in dem roten Lichtblitz materialisiert, blinzelt sie gegen die Sonne, die schräg durchs Fenster fällt, klettert mein Bein hoch und wickelt sich um meine Schultern und meinen Hals. Ich protestiere, aber sie schnurrt wohlig und eigentlich stört es mich nicht. Sie ist nur so furchtbar schwer! Als würde man ein Kind auf den Schultern tragen. Nur flauschiger. Ich setze mich mit Sku ans Fenster und gemeinsam schauen wir dem langsam anschwellenden Treiben auf den Wegen zu. Köhler und andere Arbeiter laufen hin und her, verschwinden in Hütten und schleppen Holz von einem Ort zum anderen. Vor hier aus kann ich sogar das Stückchen Wald sehen, hinter dem Louis trainiert hat. Und die Senke weiter links… kein Zweifel, das ist der Flegmonbrunnen. Eigentlich war ich noch nicht sicher gewesen, aber plötzlich habe ich tierische Lust, die kleine Höhle genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich werfe einen Blick zu Louis. Gestern sagte er, er wolle trainieren. War das Show? Oder will er wirklich nicht mitkommen? Jetzt wo ich darüber nachdenke, wirklich zugesagt hat er bei der Aktion nicht. Ich habe ihn ja noch nicht mal gefragt. Sku brummt leise an meinem Ohr und ich stütze mein Kinn auf meiner Handfläche ab, den Ellenbogen gegen das Fenstersims gelehnt. Jemand taucht hinter dem Wald auf. Drei Gestalten, dunkel aus dieser Entfernung. Ich kann sie nicht gut erkennen. Louis grummelt im Schlaf und schaue zu ihm hinüber. Seine Decke ist hoffnungslos verdreht und wenn er seine Position nicht bald ändert, wird er ganz andere Probleme als blaue Flecken und Kratzer haben. Speziell mit seiner Wirbelsäule. Ich drehe den Kopf etwas zur Seite. Ich wusste nicht mal, dass diese Haltung möglich ist. Als ich wieder aus dem Fenster gucke, sind die Gestalten verschwunden. Wahrscheinlich Trainer oder Wanderer, die durch den Einheitstunnel gekommen sind. Die Armen, die ganze Nacht in der Höhle und dann nicht mal ein freies Zimmer im Pokécenter? Pech muss man haben. Azalea ist aber auch überfüllt diese Woche. Welchen Tag haben wir überhaupt? Donnerstag? Freitag? Louis grummelt wieder leise vor sich hin. Donnerstag. Ich verschwinde im Bad und spritze Sku spaßeshalber Wasser ins Gesicht, woraufhin sie fauchend und spuckend von meiner Schulter springt und zu Louis ins Bett flieht. Ich rufe Sku zurück, bevor sie ihn aufweckt und mache mich alleine auf den Weg nach unten. Auf dem Gang vor unserem Zimmer kommt mir Nick entgegen. Als er mich sieht, schaut er sich hektisch um, dann kommt er auf mich zu. „Nick?“, erschallt Ruths unverkennbare Stimme und sie steckt den Kopf aus einer Tür weiter hinten im Gang. Als sie mich sieht, verdüstert sich ihre Miene. Nick wird unterdessen kreidebleich und dreht sich schnell zu ihr um. „W-was ist?“, fragt er und selbst aus dieser Entfernung kann ich Ruths Misstrauen spüren. „Ich dachte, du könntest mir vielleicht bei etwas helfen.“ Etwas, sehr präzise. Ich werfe Nick einen Da-kann-man-nichts-machen-Blick zu, dann gehe ich alleine nach unten. Wie erwartet sitzt Schwester Joy schon wieder an der Theke. Ich frage mich wirklich, wie sie es schafft, mit so wenig Schlaf auszukommen, schließlich kann man sie jede Nacht wachklingeln. Dann wiederum gibt es nicht allzu viele Trainer, die nachts trainieren. Unwillkürlich muss ich an die arme Schwester Joy aus Orania denken, die mich jede Nacht mit roten Augen und geduldigen Lächeln erwartete. Sie hatte eine Aushilfe, aber das Heilen übernahm trotzdem meistens sie. Ihre Kaffeeausgaben müssen immens gewesen sein. Ich winke Joy flüchtig zu, verschwinde in der Küche und bereite das Frühstück vor. Und wenn es kalt ist, bis Ruth runter kommt, soll mir das Recht sein.   „Du willst wirklich nicht mit?“, frage ich Louis zum dritten Mal. Wir stehen vor dem Pokécenter. Ruth und die anderen sind bereits zur Arena aufgebrochen und ich habe Louis gebeten, mich zum Flegmonbrunnen zu begleiten. Er schaut betreten zu Boden. „Ich weiß nicht, Abby, ich muss noch trainieren und außerdem…“ Er stockt. „Was?“ Er holt tief Luft. „Ich habe Platzangst. Der Wald war okay, aber eine Höhle ist was anderes. Hast du den schmalen Schacht gesehen?“ Ich lege den Kopf schief. „So schmal ist er nicht“, kontere ich, aber Louis schaut immer wieder nervös nach Osten, also gebe ich es auf. „Na gut. Aber bis dorthin bringen kannst du mich, oder?“ Er grinst. „Klar.“ Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Nach einigen Minuten erreichen wir den Brunnen, ich umarme Louis flüchtig zum Abschied, dann steige ich die spiralförmige Absenkung hinunter zum Schacht. Als ich vor dem Brunnen stehe, beuge ich mich über den Rand und schaue nach unten. Er ist vielleicht vier Meter tief und die Dunkelheit nicht so vollkommen, wie ich zuerst erwartet habe. Ich denke an die Taschenlampe, die Joy mir vorsorglich geliehen hat und die jetzt sicher in meinem Rucksack verstaut ist. Ich befühle die Leiter, aber sie sieht sehr stabil aus, also klettere ich auf den Brunnenrand und steige hinunter. Ich brauche kaum eine Minute, bis ich den Grund erreiche, obwohl ich hin und wieder stehen bleibe und die Sprossen unter meinen Füßen begutachte. Als mein Schuh schließlich auf Wasser statt Holz trifft, springe ich von der letzten Sprosse nach hinten ab und drehe mich um. Das Wasser steht fast knöcheltief und ich bin unsagbar froh, meine wasserdichten Wanderschuhe anzuhaben. Ein kleines Flegmon sitzt auf einem Stein auf der anderen Seite des Brunnens und schaut mich mit umso größeren Augen an. Es legt den Kopf ein wenig schief,  atmet angestrengt ein und aus und legt den Kopf auf die andere Seite. Kurz denke ich darüber nach, wie es wäre, eins der rosa Pokémon im Team zu haben. Ein Wassertyp ist schließlich immer hilfreich. In dem Moment macht das Flegmon einen Schritt nach vorne, verliert den Halt und fällt kopfüber in die Wasserlache. Dort bleibt es für fast eine halbe Minute stecken, während seine Rute träge hin und her schlackert, bevor es das Gleichgewicht wieder verliert und über kippt, sodass es platt auf dem Rücken liegt. Röchelnd schnauft es nach Luft und wedelt hilflos mit dem Schweif. Vielleicht doch kein Flegmon. Ich hebe das drollige Pokémon auf und setze es richtig herum auf seine kleinen Füße, dann gehe ich weiter zum Höhleneingang, der gleich um die Ecke liegt und mich wie ein schwarzes Loch verschluckt, kaum dass ich eintrete. Im trüben Licht des Brunnens  suche ich schnell nach meiner Taschenlampe, dann knipse ich sie an und ein bläulicher, schmaler Lichtstrahl trifft die Höhle vor mir. Ich sehe mich um. Links neben mir sackt der Boden sofort ab, stattdessen glitzert die Oberfläche eines pechschwarzen Sees im Schein meiner Taschenlampe. Ich lasse den Lichtstrahl weiter nach rechts wandern, entdecke eine Art kleinen Hügel in der Mitte der Höhle, dessen Wände so steil und schroff sind, dass man ihn nie im Leben einfach so erklimmen könnte. Vor mir liegt ein steiniger Pfad, der sanft ansteigt, bis er eine kantige Erhebung erreicht, die an natürliche Treppenstufen erinnert. Weiter reicht mein Strahl nicht, also gehe ich staunend los. Zubat hängen von der Decke und blinzeln, wenn mein Lichtstrahl sie trifft und überall sitzen, liegen oder laufen Flegmon. Sogar ein Karpador sehe ich, dass wild platschend aus dem See zu meiner Linken empor springt und zurück im Wasser landet. Die Oberfläche kräuselt sich und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ich hoffe nur, diese Höhle beherbergt nicht auch ein wild gewordenes Hypno. Nach einigen Minuten langsamen Gehens erreiche ich die Treppen und steige hinauf. Es sind nicht wirklich Treppenstufen, aber die regelmäßigen Absprünge funktionieren genauso gut und befördern mich gut einen Meter in die Höhe. Unruhig schaue ich nach oben. Die Zubat sind mir bereits gefährlich nahe, nicht mal zwei Meter trennen mich von dem Höhlengewölbe. Vielleicht war es wirklich klug von Louis, nicht herzukommen, wenn er Platzangst hat. Ich folge dem Vorsprung, links von mir fällt der Weg jetzt steil ab und grüngraue Steinbrocken versperren meine Sicht. Plötzlich höre ich etwas. Leise zunächst, dann lauter. Stimmen. „-gesehen?“, fragt eine Stimme. Eine zweite antwortet, aber ich kann sie nicht verstehen. Wer ist außer mir hier? Ich gehe weiter und senke vorsichtshalber den Strahl meiner Taschenlampe. Als ich tiefer in die Höhle gehe, kann ich weit hinten Licht sehen. Zwei dunkle Gestalten stehen neben einer Laterne, die auf dem Boden steht. Ich kann nur ihre Umrisse erkennen. Die Stimmen werden jetzt deutlicher. „-wo er ist. Sollte bald zurück sein.“ „Wir müssen das Hauptquartier kontaktieren“, sagt die zweite, weibliche Stimme. Vorsichtig lasse ich mich zu Boden sinken und schalte meine Taschenlampe aus. Wer ist das? „Ich kann diese Höhle nicht mehr sehen“, flucht die Männerstimme und als ich über einen großen Stein luge, sehe ich, wie einer der Gestalten sich hinsetzt. „Wir sollten nicht zu lange bleiben“, sagt die Frau. Vorsichtig bewege ich mich vorwärts. Irgendetwas ist faul an diesen Beiden, das spüre ich bis in die Knochen. Hauptquartier? Könnten sie tatsächlich… Ein Kreischen reißt mich aus meinen Gedanken und mein Kopf schnellt in die Höhe. Die Zubat an der Höhlendecke scheinen beschlossen zu haben, dass ich sie störe. Eines nach dem anderen spreizen sie ihre ledrigen Flügel und fallen wie eine blaue Wolke über mich her. Ich schlage wild um mich, aber sie kommen von allen Seiten, ihr Flügelschlagen erfüllt die ganze Höhle und ich muss all meine Willenskraft aufbieten, nicht zu schreien. Kleine Zähne ritzen meine Haut auf und einige besonders hartnäckige Zubats verbeißen sich sogar in meinen Armen und meinem Hals. Eins nach dem anderen reiße ich sie von mir und schleudere sie  davon, aber es kommen immer neue nach. Schließlich verteilen sie sich und ich sinke erleichtert auf die Knie. Zu meinen Füßen liegen zwei oder drei, die noch etwas benommen von meinem Angriff sind, aber abgesehen davon kann ich keine mehr sehen. Ich atme tief durch, dann luge ich an dem grüngrauen Fels zu meiner Linken vorbei zu den beiden ominösen Gestalten. Sie sind verschwunden. Außer der Laterne ist nichts zu sehen. „Pack sie!“, ruft die weibliche Stimme, viel lauter und näher als eben noch. Ich reiße den Kopf herum und sehe gerade noch, wie ein gigantisches Arbok auf mich zuschießt und sich blitzschnell um mich wickelt. Sein kräftiger Schlangenkörper presst mir die Luft aus der Lunge und drückt meine Arme so eng gegen meinen Körper, dass ich sie keinen Millimeter mehr bewegen kann. Ich schreie, aber das Arbok drückt nur noch fester zu, bis ich nicht mal mehr Luft bekomme. Verdammt! Verzweifelt strecke ich meine Finger nach Skus oder Hunters Pokéball aus, nach irgendetwas, aber sie tasten durchs Leere und ich ringe mühsam nach Luft. Arbok lässt nicht locker und als ich den Kopf drehe, entdecke ich die Gestalten von eben, jetzt näher. Sie tragen schwarz. Schwarze Hosen, schwarze Schuhe und Handschuhe. Der Mantel der Frau ist aufgegangen. Auf ihrer Brust prangt ein rotes R. Ich höre noch, wie sie ihrem Partner etwas zuruft, dann bleibt mir die Luft endgültig weg und mein Kopf sackt kraftlos zur Seite.   Als ich aufwache, bin ich gefesselt, geknebelt und ohne Rucksack. Mein Blick, immer noch verschwommen, wandert über meine Brust, meine Beine, den Boden vor mir und schließlich zu den beiden Team Rocket Mitgliedern, die im flackernden Schein der Laterne mit dem Rücken zu mir stehen und leise diskutieren. Als ich den Kopf zur Seite sacken lasse, entdecke ich Arbok, das sich nur einen Meter von mir entfernt auf dem Boden eingerollt hat und mich mit wachsamen, schlitzförmigen Augen beobachtet. Die violette Nackenhaut mit den roten und gelben Zeichnungen ist ausgebreitet und seine geschlitzte Zunge flackert hin und wieder aus seinem Maul hervor. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war, aber mein Mund ist trocken und meine Rippen schmerzen höllisch. Hoffentlich sind sie nicht gebrochen. Ich winde mich ein bisschen, um die Festigkeit meiner Fesseln zu überprüfen, aber da habe ich kein Glück. Sie sind eng genug, um mir schmerzhaft in die Haut zu schneiden und reichen von knapp über meinen Brüsten bis hinunter zu meiner Taille. Meine Fuß- und Handgelenke sind separat gefesselt und meine Finger streifen rauen Stein, an dem ich lehne. Durch die Position meiner Arme sind meine Schultern und mein Rücken bereits steif und mein rechtes Bein kribbelt wegen der mangelnden Blutzufuhr. Mein Rucksack steht etwas abseits, bei den beiden Rockets. Als Arbok meine Bewegungen merkt, zischt es bedrohlich und die beiden drehen sich zu mir um. Die Frau hat eine gebogene, hakige Nase und blondes hochgestecktes Haar, das sie sich mit einer Unzahl Spangen aus dem Gesicht hält. Sie stützt eine Hand auf ihre Hüfte und schaut mich mit einem unzufriedenen Blick an. Ihr Partner ist kleiner, mit kurzem pechschwarzem Haar und einer Narbe unter dem linken Auge. Auch er wirkt nicht glücklich, seine Lippen sind bereits blutig gekaut. „Du kannst es ihm gerne erklären“, sagt die Frau und sieht genervt zu ihm hinüber. „An mir wird´s nicht liegen.“ „Dann mach du es doch“, zischt er zurück, seine Stimme tiefer als ich erwartet habe. „Niemand hält dich davon ab.“ „Warten wir lieber auf Lee“, erwidert sie und verzieht das Gesicht. „Er wird wissen, was zu tun ist.“ „Immer warten“, murrt der andere, aber er widerspricht nicht. Stattdessen kommt er auf mich zu und geht einen Meter vor mir in die Hocke. Er zieht den Knebel aus meinem Mund und hält ihn in der rechten Hand. „Wie heißt du?“, fragt er. Ich zögere. Ich will ihm nicht antworten, aber die Frau durchbohrt mich mit einem Blick, der mich sehr an Harpy erinnert und mir wird meine Situation mit einem Mal nur allzu deutlich bewusst. Ich werde gefesselt in einer Höhle gefangen gehalten, meine Pokémon sind außer Reichweite und zwei Mitglieder des Team Rockets haben mich in ihrer Gewalt. Louis wird mich nicht vor dem Abend suchen kommen. Bis dahin können sie schon wer weiß was mit mir angestellt haben. Alles in allem halte ich es für besser, mein Schicksal nicht unnötig auf die Probe zu stellen. „Abbygail“, erwidere ich heiser und huste. „Tja, Abby, du bist in einen ziemlichen Schlamassel geraten“, sagt er und stopft mir den Knebel wieder in den Mund. „Du hast Dinge gesehen, die geheim bleiben sollten. Vielleicht auch Dinge gehört, die geheim bleiben sollten. Du weißt sicher, dass wir da kein Risiko eingehen können, nicht wahr?“ „Was soll das, Teal?“ Seine Partnerin verschränkt die Arme und schaut mich scharf an. „Du musst nicht mit ihr reden.“ „Schon gut, schon gut.“ Er steht ächzend auf. „Wollte nur ein bisschen plaudern.“ „Lass sie einfach.“ Und damit ist die Konversation beendet. Der Mann namens Teal schaut immer wieder zu mir rüber und manchmal huscht so etwas wie milde Beunruhigung über sein Gesicht, aber er redet nicht nochmal mit mir und für die Frau könnte ich genauso gut Luft sein. Die Zeit verstreicht langsam und ich muss immer wieder würgen, weil Teal den Knebel zu fest in meinen Mund gedrückt hat. Meine Zunge fühlt sich wie ein pelziger Fremdkörper an und wird gegen meinen trockenen Gaumen gedrückt. Ich bilde mir ein, dass es dunkler wird, aber sicher bin ich nicht. Manchmal schnappe ich Gesprächsfetzen der beiden Rockets auf, aber ich kann keinen Zusammenhang erkennen. Einmal fällt der Name Atlas, woraufhin die Frau Teal wütend ansieht, der nur mit den Schultern zuckt. „Als wenn sie mit dem Namen was anfangen kann“, murmelt er und die Frau zischt. „Sie nicht, aber genug andere“, faucht sie zurück und Arbok zischelt zustimmend, sein Kopf richtet sich auf und wiegt bedrohlich hin und her. „Und wenn, Mel. Sie kommt hier ´eh nicht raus.“ Er schaut wieder zu mir und ich wende den Blick ab. Ich kann seine grünen Augen nicht ertragen. Plötzlich höre ich laute Stimmen und hebe hoffungsvoll den Kopf. Ein Suchtrupp? Vielleicht sogar Louis? Aber dann sehe ich Mel und Teal, die sich langsam aufrichten und meine Hoffnung schwindet. Stimmt, sie warten ja auf diesen Lee. Lee entpuppt sich als schlaksiger Typ mit starken Armen und einen aschblonden Haarschopf, der in alle Richtungen von seinem Kopf absteht. Die Schreie stammen allerdings nicht von ihm. Er hält ein Mädchen im Klammergriff. Ein Mädchen mit feuerrotem, kurzem Haar und einer verdammt nervigen Stimme. Ich beobachte entsetzt, wie er Ruth auf den Boden schubst und Arbok sich blitzschnell um sie wickelt, wie zuvor auch um mich. Als Ruth mich sieht, wird sie kreidebleich und senkt schnell den Blick, nur um im nächsten Moment in eine aufrechte Position gezwungen zu werden. Arboks Körper wickelt sich mehrmals um ihren Oberkörper und ihr Kopf wippt bedrohlich hin und her. „Was, ihr auch?“, fragt Lee und zieht eine Zigarette aus seiner schwarzen Hosentasche. „Und ich dachte, ich wäre der einzige Tollpatsch heute.“ „Wo hast du sie aufgegabelt?“, will Mel wissen und betrachtet Ruth mit offensichtlichem Abscheu. „Hey.“ Teal hebt einen Fuß an und drückt ihn bestimmt gegen Ruths Kehle. Sie zuckt zurück, aber Arbok hält sie fest an ihrem Platz und Teals Schuh drückt ein wenig fester auf ihren Hals. „Kennst du die da?“ fragt er und deutet in meine Richtung. Ruths Augen huschen in meine Richtung, dann nickt sie. „Flüchtig“, sagt sie leise und schluckt. Teal nickt und lässt den Fuß sinken. „Verdammt“, murmelt er und kratzt sich am Kopf. „Was machen wir mit ihnen, Lee? Wir können nicht zwei Kinder umbringen. Eins wäre vertretbar gewesen, aber zwei am selben Tag fallen auf. Wenn sie sich untereinander kennen, dann kennt man sie bestimmt auch im Dorf. Wer weiß, ob sie Freunde haben, die schon nach ihnen suchen.“ „Das ist echt nicht gut“, stimmt Lee ihm zu. „Aber wir haben keine große Wahl. Ich weiß ja nicht, was eure weiß, aber der Rotschopf hier hat mich bei der Montierung erwischt. Nicht gut, wenn das rauskommt, schon gar nicht nach dem Debakel in Marmoria.“ „Shit“, flüstert Mel und Arboks Zunge zischelt Ruths Ohr entlang. Sie zuckt zusammen und windet sich verzweifelt, aber das Giftpokémon klammert sich nur noch fester um sie, bis Ruth außer einem Wimmern keinen Laut mehr hervorbringt. „Atlas wird uns degradieren.“ „Wir sollten ihn kontaktieren“, sagt Teal. „Fragen, wie wir vorgehen sollen. Dann sind wir nicht für alles verantwortlich, was ab jetzt schief geht.“ „Hättest du nicht vorsichtiger sein können, Lee?“, wendet Mel sich nun an ihn. „Du weißt, wie wichtig unsere Mission ist.“ „Was kann ich dafür?“, fragt er zurück. „Ich habe den Gang abgesperrt, mehr kann ich jetzt echt nicht tun. Sie ist trotzdem reingekommen.“ Aber warum? Ich betrachte Ruth sorgsam. Heute Morgen hat sie sich zur Arena aufgemacht. Was wollte sie im Einheitstunnel? Ruth scheint meinen Gedankengang verfolgt zu haben, denn sie durchbohrt mich mit Blicken und tastet mit ihren Fingern verzweifelt nach ihrem Gürtel. „Ich rufe jetzt Atlas an“, verkündet Teal und zieht ein Handy aus seinem Mantel, das mit mehreren Kabeln und Geräten vernetzt ist. Dann verschwindet er tiefer in der Höhle, während er auf die Tasten tippt. Jede Zahl wird von einem hohen Piepton begleitet. „Wir sollten die beiden weiter reinbringen“, schlägt Lee vor. „Nur für den Fall, dass man nach ihnen sucht.“ „Du nimmst unsere. Arbok übernimmt den Rotschopf.“ Als Arbok Ruth in die Höhe hebt und sich langsam mit ihr vorwärts bewegt, beginnt sie plötzlich wie am Spieß zu schreien. „HILFEEEE! HIL-!“ Ein gezielter Schlag von Mels Faust lässt sie abrupt verstummen, ihr Kopf lallt zur Seite und Arbok zischt dankbar. Lee kommt auf mich zu, hebt mich kurzerhand hoch und wirft mich über seine Schulter wie einen Kartoffelsack. Ich winde mich in seinem Griff, aber meine Fesseln verhindern jede Fluchtmöglichkeit und schließlich lasse ich es sein. Während Lee mich hinter Arbok herträgt, merke ich mir die Umgebung. Ich habe vor, hier lebend wieder rauszukommen, ganz egal was dieser Atlas sagt. Nach ungefähr zehn Minuten erreichen wir einen von hohen Wänden und Felsbrocken umschlossenen Bereich. Lee lässt mich zu Boden fallen und wendet sich dann Ruth zu, die noch immer benommen in Arboks Klammergriff hängt. Mel lässt meinen Rucksack neben sich auf den Boden fallen und wirft Lee dann ein paar Seile zu, die er aus der Luft fängt und sich damit über Ruth hermacht. Innerhalb weniger Minuten ist sie genauso gut verpackt wie ich. Nur der Knebel fehlt, aber mit Sicherheit nicht mehr lange. Ein paar Minuten später stößt Teal wieder zu uns. Er wirkt zerknirscht. Ich schaue schnell zu Ruth. Sie wirkt noch immer schlapp, aber ihre Augen huschen zwischen den drei Rockets hin und her, also nehme ich an, dass sie mehr oder weniger bei Verstand ist. „Atlas war alles andere als erfreut“, beginnt er und kratzt sich genervt am Kopf. „Lee, du sollst zurück gehen, mögliche Spuren verwischen und deinen Job zu Ende bringen. Mel und ich bleiben hier und passen auf die Beiden auf. Eine sollen wir heute Nacht töten und die Leiche im Einheitstunnel verstecken, die zweite morgen Nacht irgendwo hier.“ Wie auf ein unsichtbares Signal drehen sich die drei zu uns um und schauen uns an. Kalt, berechnend. „Ich sage, wir töten die Rote zuerst“, sagt Mel. „Sie fuckt mich ab mit ihrem Geschrei.“ „Stimmt“, sagt Lee nickend und betrachtet Ruth mit verschränkten Armen. "Das können wir uns echt nicht leisten." Auch ich werfe ihr einen raschen Blick zu. Ihre Augen sind geweitet, ihr Blick entsetzt zu Boden gerichtet und ihre gefesselten Hände zittern. Sie ist aschfahl. „Bitte nicht…“, flüstert sie und hebt den Kopf. „Bitte, ich tue alles, was ihr sagt, nur bitte-“ Weiter kommt sie nicht, Mel scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Ruth im Zaum zu halten, denn sie hebt ihren rechten Fuß, der in einem hoch geschlossenen schwarzen Stiefel steckt und drückt ihn fest in Ruths Gesicht. „Schnauze“, zischt sie bedrohlich und als sie den Fuß wieder sinken lässt, kann ich Tränen in Ruths Augen glitzern sehen. Ich atme konzentriert durch meine Nase ein und aus und zwinge mich, nicht ebenfalls die Kontrolle zu verlieren. „Bitte…“, wimmert sie und sieht nun verzweifelt zu Teal und Lee. Ihre Stimme klingt hektisch, schwach, als würde sie jeden Moment einen Nervenzusammenbruch. „Meine Eltern sind reich, ihr könnt Lösegeld einfordern, bitte, ich werde nichts sagen, nur bitte, tötet mich nicht!“ Teal kaut auf seiner Lippe herum und Lee zieht an seiner Zigarette. Er ist es, der antwortet. „Sorry Kleine, aber dieses Mal geht es um mehr als Geld. Wir können die Mission echt nicht gefährden.“ „BITTE!“, schreit Ruth und Tränen fließen ungehemmt ihre Wangen hinunter. Ich kann es ihr nicht verübeln. Mel stöhnt, kommt zu mir, presst meine Wangen zusammen und zieht den Knebel mit einem Ruck zwischen meinen Zähnen hervor. Dann stopft sie ihn Ruth in den Mund, so fest, dass sie hustet und würgt und wimmernd den Kopf hin und her wirft. Als sie fertig ist, schaut Mel mich eisig an. Ihre braunen Augen sind bar jeder Wärme. „Wenn du auch so ein Theater veranstaltest wie deine Freundin hier, dann reiße ich dir die Zunge raus und gebe sie Arbok zum Frühstück. Verstanden?“ Ich öffne den Mund um zu antworten, dann überlege ich es mir anders und nicke nur. Mel kneift misstrauisch die Augen zusammen, dann nickt sie und richtet sich auf. „Was hat Atlas sonst noch gesagt?“ „Nicht viel. Dark war bei ihm“, erwidert Teal und setzt sich wo er steht auf den Boden, wo er sein Kinn gelangweilt auf seiner Handfläche abstützt. „Wollte sich wohl nicht lange mit dir aufhalten“, sagt Lee wissend und wirft seine Zigarette auf den Boden. „Ich kann es ihm nicht verübeln. Der Junge gefällt mir echt nicht.“ „Lass ihn das nicht hören“, warnt Teal und Lee macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ach was, der Boss weiß, dass sein Sohn nicht bei uns rein passt.“ „Er sollte dankbarer sein“, zischt Mel und geht neben Arbok in die Hocke. Sie streicht abwesend mit zwei Fingern über ihren violetten Schuppenhals und Arbok züngelt sie liebevoll an. „Alles was er hat, hat er von uns. Ich kann undankbare Kinder wie ihn nicht ausstehen.“ „Kinder?“ Teal lacht. „Er ist fünfzehn, Mel. Der ist kein Kind mehr.“ „Nein, er ist ein Scheißteenager. Das sind die schlimmsten.“ Sie wirft einen Blick zu mir. „Wie alt bist du?“, fragt sie mit harter Stimme und ich hoffe inständig, dass das keine Fangfrage ist. „Fünfzehn“, sage ich mit heiserer Stimme und unterdrücke einen Hustenreiz. Mein Mund ist trockener als Sandpapier. „Sei froh, dass wir euch den Rest ersparen. Wird nicht besser“, sagt Mel und steht auf. „Du solltest los, Lee. Es ist schon nach Mittag, wenn du Glück hast, sind gleich alle mit Essen beschäftigt. Mittag also. Dann kann ich maximal ein oder zwei Stunden bewusstlos gewesen sein. Lee hebt ergeben die Hände in die Luft, dann dreht er sich um und verschwindet hinter den Steinwänden. Mein Bein beginnt wieder zu kribbeln, aber ich wage nicht, meine Position zu ändern. Mein Blick fällt auf meinen Rucksack, während ich meinen Kiefer hin und her bewege, um ihn zu entspannen. Ruth ist inzwischen leise am Schluchzen, aber der Knebel dämpft die Geräusche. Wo ist überhaupt ihr Rucksack? Sie würde doch wohl nicht ohne ihre Pokémon in den Einheitstunnel gehen, oder? Nachdem Lee verschwunden ist, wird es stiller. Teal passt auf uns auf, während Mel die Laterne holt und sie zu uns bringt. Irgendwann später, es könnte eine Stunde gewesen sein, hören wir leise Stimmen, aber sie sind weit entfernt und verschwinden genauso schnell wieder, wie sie gekommen sind. Vermutlich Leute, die am Brunnen vorbei gehen. Irgendwann beginnen Teal und Mel, Würfel zu spielen und um Geld zu wetten. Nach einer weiteren Stunde hat Mel ihn völlig abgezockt und Teal blättert zerknirscht in seinem Geldbeutel, während er irgendetwas murmelt, das sich stark nach Mannsweib anhört. Mel grinst nur und streicht eine blonde Haarsträhne hinter ihr Ohr. Immer wieder schaut sie zu mir rüber, als könne sie nicht glauben, dass ich immer noch kein Wort gesagt habe. Selbst Ruth ist lauter als ich, und sie ist immerhin geknebelt. Sie wimmert und winselt und schluchzt tonlos. Hustet. Scharrt mit den Füßen verzweifelt über den Boden. Heute Nacht. Vielleicht wäre ich auch so verstört, wenn mein Tod nur noch wenige Stunden entfernt wäre, aber irgendwie fühle ich mich ganz ruhig. Abwesend. Gleichgültig. Vielleicht habe ich auch einfach noch nicht verstanden, was hier vor sich geht. Aber immerhin ein Mysterium ist aufgeklärt – der ominöse Teenager, den man die letzten Wochen immer wieder bei Team Rocket gesichtet hat, ist also Atlas´  fünfzehnjähriger Sohn Dark. Und Atlas scheint irgendein hochrangiger Team Rocket zu sein. Wenn ich hier wieder rauskomme, muss ich das unbedingt Alfred sagen. Wenn. Kapitel 23: Weiter, immer weiter (Jede Menge Blut) -------------------------------------------------- „Lee lässt sich aber ziemlich Zeit“, beschwert Mel sich nach einiger Zeit und schaut missmutig in Richtung Höhleneingang, der aus unserer Position verdeckt ist. „Vielleicht hebt er ein Loch aus, damit er die Leiche verstecken kann“, erwidert Teal und lehnt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen gegen einen Felsen. „Sie darf nicht zu schnell gefunden werden.“ Bei dem Wort Leiche schießen Ruth augenblicklich wieder die Tränen in die Augen, aber entweder ist sie zu müde oder sie hat aufgegeben, denn statt wie zuvor die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und stumm um ihr Leben zu betteln, lässt sie einfach den Kopf hängen, während ihre Tränen im Boden versickern. Ich lasse meinen Blick verzweifelt durch die Gegend schweifen. Es muss doch einen Weg geben, lebendig von hier zu verschwinden! „Teal, hast du eigentlich deine Pistole dabei?“, fragt Mel schließlich und Ruth zuckt zusammen. Nicht die Nerven verlieren, denken, Abby, denken…. „Ich hatte nicht damit gerechnet, sie zu brauchen“, gibt Teal zurück. „Hast du deine wieder nicht dabei?“ „Ich benutze keine Pistolen.“ „Wir können auf Lee warten, er hat seine immer dabei.“ Mel nickt abwesend, hebt dann den Kopf und schaut skeptisch an die Höhlendecke. „Vielleicht sollten wir doch keine benutzen“, sagt sie nach einigen Sekunden und Teal folgt ihrem Blick, genauso wie Ruth und ich. „Vielleicht hast du Recht“, gibt er zu und kratzt sich genervt am Kopf. „Mann. Eine Woche ohne Zwischenfälle und dann gleich zwei an einem Tag.“ Mel fasst unter ihren Mantel und zieht etwas heraus. Ich brauche einen Moment, bis ich das Jagdmesser erkenne. Warte, sie wird doch nicht… Ruth zieht scharf die Luft ein. Mel spiegelt die Klinge im gelben Schein der Laterne und Teal wirft ihr einen trägen Blick zu. „Jemand könnte den Schuss hören“, sagt sie nachdenklich. „Außerdem habe ich keine Lust darauf, dass uns die Höhle auf den Kopf fällt.“ „Noch nicht“, sagt Teal grinsend, aber Mel bringt ihn mit einem scharfen Blick zum Verstummen. Dann seufzt sie und geht auf Ruth zu, deren Augen weit aufgerissen sind. „Ich gehe dann mal für kleine Rockets“, sagt Teal und steht auf. „Feigling“, erwidert Mel und wiegt das Messer in ihren Händen. Teal zuckt die Schultern und verschwindet um die nächste Ecke. Einige Sekunden später höre ich einen Wasserstrahl und Teals erleichtertes Aufatmen. „Dann wollen wir mal…“, murmelt Mel, packt Ruths Haarschopf und zieht ihr den Kopf grob in den Nacken, bis ihre Kehle völlig entblößt ist. Sie hebt das Messer. Oh Gott, sie wird es tun, sie wird es tun… Plötzlich steht die Zeit still. Ich sehe, wie Mels Messer sich auf Ruths Hals hinabsenkt, sehe Ruth, die ihre Augen zusammen presst, sehe meinen Rucksack mit den Pokébällen. Die Situation kommt mir sehr bekannt vor. Erinnerungen explodieren in meinem Kopf, Hypno, der mich mit seiner Konfusion davon abhält, Hunters Pokéball zu aktivieren, die Verzweiflung, die Angst… „HUNTER!“, schreie ich so laut ich kann und Mels Kopf wirbelt in meine Richtung. Ihr Messer schrammt haarscharf an Ruths Halsschlagader vorbei und ritzt ihr stattdessen harmlos durch die Haut. Und als der Blutstropfen aus der Wunde hervorquillt und in Ruths Oberteil versickert, erfüllt ein roter Lichtblitz die Höhle und Hunter materialisiert sich in seiner vollen Pracht direkt über Mel, die geschockt zu ihm aufschaut. „Furienschlag!“, schreie ich und Hunter schießt nach unten, hackt auf Mel ein, die kreischt und schreit, während Blut in alle Richtungen spritzt. Als Hunter von ihr ablässt, hält sie eine Hand über ihr rechtes Auge und presst fest dagegen. Blut fließt in Strömen über ihr Gesicht. Das Arbok reißt sein Maul auf und schießt in die Höhe, wo es seine Giftzähne in Ibitaks dünnen Hals schlägt. Er kreischt und trudelt flügelschlagend zu Boden. Das Messer, das Mel in der Hand gehalten hat, ist zu Boden gefallen und sie tastet blind danach. Aber sie ist nicht schnell genug. Mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung lasse ich mich zur Seite fallen, um meine Füße frei zu bekommen, dann reiße ich mit ihnen das Messer an mich. Hunter hackt wie wild auf Arbok ein  und ich hoffe nur, dass er sie ablenken kann, so lange ich noch mit dem Messer kämpfe. Von dem Lärm angelockt taucht nun auch Teal auf. Kaum dass er die Situation erkennt, bleckt er die Zähne und rennt auf mich zu, nur um von einem Pokémonknäuel zu Boden gerissen zu werden. Die Luft wird aus seinen Lungen gepresst, als Arbok und Hunter über ihn rollen. Als Hunter einer von Arboks Bissattacken ausweicht, treffen ihre Fänge stattdessen in Teals Schulter und er heult wütend auf. Ich habe mich inzwischen aufgerichtet und zur anderen Seite fallen lassen, um mit meinen auf den Rücken gebundenen Händen an das Messer zu kommen. Als ich es endlich in den Fingern habe, ist es glitschig mit Blut und ich lasse es beinahe fallen. Ruth winselt neben mir, aber es ist wieder Leben in sie gekommen, sie reißt an ihren Fesseln und wirft sich hin und her. Ich positioniere das Messer so gut es eben geht in meiner Hand um und beginne, mit der Klinge durch das Seil an meinen Handgelenken zu schneiden. Es dauert nur wenige Sekunden, dann lösen sich die Fesseln und ich schneide mich schnell komplett frei. Dann krabbele ich zu Ruth und befreie sie ebenfalls. Sie reißt den Knebel aus ihrem Mund, wirft ihn auf Mel, die immer noch nach dem Messer sucht, die Augen fest zusammengekniffen, dann springt sie auf und rennt los. Ich folge ihrem Beispiel, packe meinen Rucksack im Vorbeirennen und stopfe mir Skus und Hunters Pokébälle in die Hosentasche. Dann heißt es rennen, rennen, rennen. Ich habe keine Zeit, mich nach Hunter umzusehen, aber wenig später höre ich sein Flügelschlagen, spüre den Wind, der mir in den Rücken peitscht. Ob er das Arbok besiegt hat oder einfach bei mir bleiben wollte, weiß ich nicht, aber es ist mir auch egal. Nur vorwärts, immer vorwärts. Wir sprinten den langen, gewundenen Gang entlang, biegen rechts ab, links, rennen die Treppe hoch… Ich kann mich kaum noch an den Weg erinnern, den ich mir heute Mittag hatte merken wollen, aber Ruth und ich bleiben trotzdem nicht stehen. Hinter uns höre ich bereits Schritte. Teal vielleicht, oder auch Mel, wenn sie die Blutung in den Griff bekommen hat. Meine Beine brennen von dem unebenen Terrain und Ruth keucht laut und heiser. Keiner von uns hat seit heute Morgen etwas gegessen oder getrunken und das spüren wir jetzt. Seitenstiche machen mir das Rennen schwer, aber ich bleibe nicht stehen. Nur weiter, immer weiter. „Wie viel Uhr ist es?“, schreit Ruth und ich würde sie am liebsten erdrosseln. „Wen kümmert´s?!“, schreie ich zurück und packe meine Seiten. „Irgendwann abends halt!“ „Mich, weil wir hier nicht mehr rauskommen, falls es nach 15:00 Uhr ist!“ Ich bin versucht, stehen zu bleiben, renne aber tapfer weiter. Hunter fliegt direkt hinter mir und sein Flugwind treibt mich vorwärts. „Warum?“, schreie ich. Ruth wirft mir einen bitteren Blick zu. „Weil sie dich… einsperren sollten!“, ruft sie atemlos zurück. „Sie haben die Leiter… entfernt. Deshalb ist Lee… noch nicht zurück.“ „Du willst mich verarschen“, keuche ich tonlos und beschleunige meine Schritte. Ich will sie schlagen, sie schubsen, ihr das rote Haar ausreißen, jede Strähne einzeln, aber die Erinnerung an Mel und das Messer hält mich davon ab. Stattdessen laufe ich weiter, tiefer in die Höhle, Stufen hinauf. „Da ist der Ausgang!“, rufe ich, als ich den Weg zum Brunnen auf der anderen Seite des Sees erkenne. Vor uns ist der Höhlenabschnitt, an dem ich Team Rocket das erste Mal gesehen habe. „Das bringt uns leider gar nichts!“, keucht Ruth und setzt zu einer weiteren Erklärung an, lässt es dann aber doch bleiben. Sie hat keine Luft mehr, Und ich weiß ja schließlich, dass die Leiter weg ist. Verdammt, verdammt, verdammt. Wenn Hunter doch nur schon fliegen könnte! Und da passiert es. Als wir gerade die nächste Treppe erreicht haben, knicke ich um und ein stechender Schmerz breitet sich in meinem rechten Knöchel aus. Ich stöhne, werde langsamer, Ruths Vorsprung immer größer. Hinter mir werden die Schritte lauter. Ich zwinge mich, weiter zu laufen, aber mein Fuß gibt immer wieder nach und schließlich spüre ich spitze Zähne, die sich in mein Fleisch bohren. Ich schreie, als Arboks Fänge sich in meinem Knöchel verhaken und Blut in meine Schuhe sickert. Hunter ist sofort zur Stelle. Er stürzt sich wild kreischend auf Arbok, das von mir ablässt und sich ihm zuwendet, aber als ich mich hochkämpfe, verliere ich sofort wieder den Halt. Ruth ist inzwischen schon gute zwanzig Meter vor mir. Als sie den anschwellenden Lärm hört, dreht sie sich um. Rennt weiter. Dreht sich wieder um. Ihre Augen huschen in Richtung Teal, der auf mich zurennt. Sie zögert. Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und rennt zu mir zurück. Ich gebe mir keine Mühe, die Überraschung aus meinem Gesicht fern zu halten, als Ruth mich unter den Achseln packt, mich hochhievt und halb über ihre Schulter zerrt. Gemeinsam humpeln wir los, viel zu langsam, aber zusammen. Als ich zu ihr hochschaue, ist ihr Blick stur geradeaus gerichtet. Sie ist nur auf unser Ziel konzentriert. Dank Hunters Eingreifen gelingt es uns, die Distanz zu halten, auch wenn Teal immer noch gefährlich nahe ist. Dann erreichen wir den Brunnenschacht und mein Herz sackt mir endgültig in die Hose. Ruth hatte Recht, die Leiter ist nirgends zu sehen. Dafür grinst mich das Flegmon von heute Morgen träge an. Als ich hochschaue, kann ich den Himmel erkennen. Es ist noch nicht dunkel, aber die Sonne erreicht den Brunnenboden nicht mehr und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es stockduster wird. „Das war´s für euch.“ Wir drehen uns um und schauen Teal an, dessen Arme zahllose Kratzer aufweisen. Seine Schulter blutet, wo Arbok ihn versehentlich gebissen hat, aber seine grünen Augen bohren sich tief in mich hinein und mir wird eiskalt. Ich ziehe meinen Pokéball, Hunter ist immer noch mit Arbok beschäftigt. Ohne die Anweisungen ihrer Trainer scheinen Pokémon sich weniger auf ihre Attacken zu verlassen als auf einfacherer Angriffsmethoden. Teal tut es mir gleich, er zieht gleich zwei Pokébälle und hält sie beidhändig vor sich. Rotes Licht erfüllt den Brunnenschacht mit ungewohnter Intensität, als sich unsere drei Pokémon gleichzeitig materialisieren. Skus Schweif schießt bedrohlich in die Höhe, als sie ihre Gegner sieht und das Blut riecht, dessen Geruch klebrig und dick in der Luft hängt. Vor Teal flattert ein Golbat, und obwohl es nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebt, ist es so groß wie ich. Sein gigantisches Maul ist weit aufgerissen und seine scharfen Eckzähne leuchten weiß. Neben ihm sitzt, etwas kleiner aber nicht weniger bedrohlich, ein Sengo. Verfilztes Fell bedeckt seinen ganzen Körper, die fingerlangen Krallen trommeln gelangweilt auf den Steinboden und die roten, blitzförmigen Fellmuster zeichnen sich krass gegen das Weiß seines Körpers ab. Es seufzt genervt und wirft seinem Trainer einen vorwurfsvollen Blick zu. Da hat wohl jemand keine Lust auf einen Kampf. Als es Sku entdeckt, zuckt eins seiner Ohren, aber sonst rührt es sich nicht. Golbat hingegen schlägt wild mit den Flügeln und Geifer trieft aus seinem Maul. „Sku, Kreideschrei!“, rufe ich und Sku öffnet ihr Maul, doch bevor sie einen Laut von sich geben kann, unterbricht Teal sie mit seinem eigenen Kommando. „Sengo, Scanner, Golbat, Konfustrahl.“ Sengo hebt gelangweilt eine klauenbewehrte Pfote und als Sku schließlich schreit, prallt ihr Angriff an einer Art unsichtbaren Barriere ab, die sich um ihn gebildet hat. Sengo gähnt und lässt die Pfote wieder sinken. Golbat reißt sein Maul noch weiter auf und stößt mehrere, schrille Töne aus, die ich kaum hören kann. Sku schon. Sie schleudert ihren Kopf verwirrt hin und her, weiß nicht, wie ihr geschieht. Ruth stöhnt. „Du musst gewinnen!“, zischt sie. „Ich weiß, verdammt!“, keife ich zurück. „Sku, Toxin auf sein Sengo.“ „Sengo, komm ihr zuvor mit Zermalmklaue, Golbat, Kreideschrei.“ Ich zische, aber es hilft nichts. Sengo springt blitzschnell auf, sprintet auf Sku zu, verschwindet für einen Moment und taucht dann direkt vor ihr auf, wo seine Pranken sie von beiden Seiten treffen. Sku kreischt, windet sich, kann Sengos Griff aber nicht entgehen. Als es sie schließlich loslässt, sackt sie ein wenig ein, ihr Schweif schleift über den Boden. Als Golbat dann mit seinem Kreideschrei nachlegt, krümmt sie sich nur noch hilflos. Ich werde verlieren. Ich weiß es. Sku ist völlig wehrlos. Ein Tackle würde sie jetzt wahrscheinlich besiegen. „Hunter!“, rufe ich, aber ich höre nur sein Krächzen in der Ferne. Ist er auch besiegt? Ich wage nicht, ihn zurück zu rufen, aus Angst, damit Arbok die Chance zu geben, sich ebenfalls in den Kampf einzumischen. Nicht, dass es noch einen Unterschied machen würde. Sku bemüht sich um eine Toxinattacke, aber sie ist geschwächt und verwirrt. Statt Sengo zu treffen spuckt sie das Gift in Richtung Flegmon, das weiterhin auf dem Stein sitzt. Als es die violette Flüssigkeit bemerkt, die sich rasend schnell auf es zubewegt, rollt Flegmon verzweifelt zur Seite und fällt mit einem Platschen von seinem Stein herunter in die Wasserlache. Ruth zieht mich etwas höher auf ihre Schulter und ich spüre, dass ihre Hände zittern. Ob jemand das rote Licht gesehen hat? Immerhin ist es schon annähernd dunkel. „Hast du kein Handy?“, fragt Ruth verzweifelt und ich denke an das Gerät, das hinten in meinem Rucksack liegt. „Probier es aus“, meine ich, bevor ich mich wieder Sku zuwende. „Ich glaube aber nicht, dass wir hier unten Empfang haben.“ Während Ruth in meinem Rucksack herumkramt, befehle ich Sku eine Säurespeierattacke auf Sengo. Diesmal trifft sie, aber Sengo ist schnell und weicht ihrer Attacke zum größten Teil aus. „Sengo, nochmal Zermalmklaue!“, ruft Teal, ein siegessicheres Grinsen im Gesicht. Ich befehle Sku, auszuweichen, aber es ist zu spät. Sengo schießt nach vorne, seine Klauen graben sich ins Skus Fell und sie stößt ein letztes, schmerzvolles Stöhnen aus, bevor sie kraftlos zu Boden sinkt und liegen bleibt. Ruth murmelt etwas unverständliches. Also kein Empfang. War ja klar. Ich rufe Sku zurück und frage mich, wie wir hier jemals wieder lebend rauskommen sollen. Eigentlich kann uns nur noch ein Wunder- „Abby?“ Ich reiße den Kopf hoch, genauso wie Ruth. Über uns, am Brunnenrand, lugt Louis´ sommersprossiges Gesicht in den Schacht hinunter. Er kann Teal nicht gesehen haben, denn der steht noch ganz nah am Höhlenrand. „Wo ist die Leiter?“ „Louis!“, schreie ich und schlucke Tränen der Erleichterung hinunter. „Ruf die Polizei! Team-“ „Sengo, Trugschlag!“, unterbricht Teal mich mit eisiger Stimme und es dauert einen Moment, bis ich den Zusammenhang zwischen dem Befehl und dem plötzlichen, pochenden Schmerz in meinem Bauch verstehe. Ich werde ein Stück in die Höhe gehoben und knicke ein, als Sengo seine Pfote aus meiner Magengrube entfernt und leichtfüßig zurückspringt. Alles dreht sich und ich muss würgen, spucke Galle auf den Boden. Ruth lässt mich los, wahrscheinlich kann sie nicht mein ganzes Gewicht tragen. Tränen steigen mir in die Augen und ich hebe den Kopf. „Hol die Polizei, verdammt!“, schreit nun auch Ruth, aber ich höre keine Schritte. Keine Handygeräusche. Louis bleibt stehen wo er ist. „Was ist los bei euch?“, ruft er hinunter und ich muss nicht aufsehen, um mir Ruths Gesichtsausdruck vorzustellen. „War das ein Pokémon?“ „Sei einmal hilfreich und ruf verdammt nochmal die verfickte Polizei, oder ich schwöre dir, dass ich-“ „Golbat, Horrorblick.“ Ruth verstummt und ich hebe vorsichtig den Kopf. Sie ist erstarrt, ihr Körper zittert und bebt, aber ihr Mund bleibt unbeweglich und sie macht keinen Mucks mehr. Als ich ihrem entsetzten Blick folge, dreht sich auch mir der Magen um. Golbats Augen sind weit aufgerissen und starren genau in ihre Richtung. Er hält sie mit seinem Blick gefangen. Alles wird ruhig. Louis, der nicht sieht, was vor sich geht, schwingt ein Bein über den Brunnenrand und beginnt, langsam den Schacht hinunter zu klettern, während ich versuche, mich aufzurichten, aber jetzt ist es nicht mehr nur mein Fuß, der streikt, sondern auch alles andere. Der einzige, der weiterhin entspannt wirkt, ist Flegmon. Es watschelt träge in Richtung Teal, der genervt das Gesicht verzieht und das Pokémon mit einem gezielten Tritt aus seinem Sichtfeld schleudert. Ich schaue nochmal zu Louis. Er ist bereits zwei Meter nach unten geklettert und lässt sich jetzt das letzte Stück runterfallen. Als er Ruth sieht, zieht er die Augenbrauen hoch. Und als er Teal sieht, weiten sich seine Augen. „Team… Rocket wolltest du sagen?“, fragt er perplex und ich ziehe mich mühsam an seinem Arm hoch. Als er merkt, dass ich mich kaum alleine auf den Beinen halten kann, geht er schnell in die Hocke, zieht mich über seine Schulter und richtet sich vorsichtig auf. „Was ist passiert?“, flüstert er. „Tja, einer mehr macht auch keinen Unterschied mehr“, murmelt Teal und fährt sich durch sein dunkles Haar. „Sengo, Zer-“ Flegmon jault laut auf und strampelt mit den kleinen Beinchen, während es sich auf seinem Rücken wälzt und mit der Rute wedelt. Teal stockt und schaut zu dem Wasserpokémon hinunter, sichtlich verwirrt. Ich schüttele nur noch den Kopf. Hat es erst jetzt bemerkt, dass Teal es getreten hat? Dann passieren zwei Dinge gleichzeitig. Hunter taucht flügelschlagend und krächzend im Höhleneingang auf, das besiegte Arbok in seinem Schnabel, dessen Körper über den schroffen Höhlenboden schleift. Er flattert schwerfällig auf mich zu, dann reißt er den Schnabel auf und lässt das bewusstlose und zerkratzte Pokémon zufrieden vor meine Füße fallen. Und Flegmon richtet sich auf seine Hinterbeine und gähnt Teal an. Die beiden beobachten einander aufmerksam, bis Teal die Konsequenzen dieser Attacke mit einem Mal bewusst werden. Er reißt die Augen auf, dreht sich blitzschnell um und rennt auf uns zu. Dann fallen seine Augen zu und er sackt bewusstlos in sich zusammen. Zufrieden watschelt Flegmon an ihm vorbei und verschwindet in der Höhle. Golbat schaut verwirrt zu seinem Trainer, während Sengo erleichtert seufzt und sich wieder auf den Boden setzt. Ruths Starre löst sich, jetzt, da der Horrorblick gebrochen ist. Sie zittert und lässt sich, wo sie steht, auf die Knie sinken, aber sonst scheint es ihr gut zu gehen. Erleichtert rufe ich Hunter zurück. „Ist er… tot?“, fragt Louis und ich schüttele den Kopf. „Er schläft, glaube ich.“ Ich setze meinen Fuß auf und belaste ihn unglücklicherweise etwas zu sehr, denn ich knicke sofort ein und atme tief durch, um nicht loszuheulen. Ich kann nicht mehr. Ich will hier nur noch raus. Für einige Momente bleiben wir erwartungsvoll stehen. Ich rechne damit, dass Golbat und Sengo sich auf uns stürzen werden, aber nichts passiert. Sengo scheint einfach erleichtert zu sein, in Ruhe gelassen zu werden und kratzt mit seinen Krallen im Höhlenboden herum, während Golbat verwirrt zu seinem Trainer schaut und sich dann flatternd aufmacht, das Flegmon zu verfolgen. „Das war knapp“, murmele ich und lehne mich an Louis´ Schulter. Mein Fußgelenk pocht höllisch. „Jetzt müssen wir hier nur noch raus, bevor Teal aufwacht.“ „Oder Mel uns findet“, meint Ruth mürrisch und steht langsam wieder auf, dann wischt sie sich den Staub von den Knien. Ihre rote, perfekt gestylte Frisur ist völlig hinüber. „Was ist hier überhaupt passiert?“, fragt Louis und legt einen Arm um meine Taille, damit er mich besser stützen kann. „Dieser Typ ist von Team Rocket, oder? Das wolltest du doch sagen.“ „Ja, wollte ich“, sage ich bissig. „Ich wollte auch, dass du die Polizei rufst! Wie sollen wir hier jetzt bitte rauskommen?“ „Genau“, sagt Ruth und wirft Louis einen vernichtenden Blick zu. „Hier ist kein Handyempfang.“ Sie wirft mir mein Handy zu und ich fange es etwas ungeschickt mit beiden Händen auf. „Du hattest Recht.“ Louis blinzelt zweimal, dann schaut er zwischen Ruth und mir hin und her. Ich kann es ihm nicht verübeln. Wir beide sind zu ausgelaugt, um unsere Feindseligkeit aufrechtzuerhalten. „Ich kann hochklettern und Hilfe holen“, schlägt er schließlich vor. „Reagan hilft uns bestimmt.“ „Du müsstest Nick finden“, sage ich. „Er und Markus wissen, wo die Leiter versteckt ist. Und du musst die Polizei rufen.“ „Moment Mal.“ Ruth kommt zu uns rüber und schaut mich wütend an. „Du willst ihn doch nicht ernsthaft wegschicken, oder? Was, wenn Teal in der Zwischenzeit aufwacht? Dein Pokémon ist besiegt, zumindest das Starke und dein Ibitak hat gegen sein Sengo keine Chance.“ Wir schauen beide zu dem Pokémon hinüber, das weiterhin gelangweilt auf dem Boden hockt. Solange Teal ihm nichts befehlen kann, ist es ungefährlich, aber wenn es erstmal zu kämpfen beginnt… „Die wollen uns umbringen, falls es dir entgangen ist, Abby“, zischt Ruth und fährt mit der Hand unwillkürlich über den blutigen Schnitt an ihrem Hals. Ich schlucke. „Egal was wir machen, wir sollten es schnell erledigen", sage ich müde. "Der Gähner wird nicht ewig halten. Teal könnte jeden Moment aufwachen.“ „Bis wir Verstärkung geholt haben, dauert es zu lange“, flüstert Ruth und die Angst, die Louis´ plötzliches Erscheinen von ihrem Gesicht gewaschen hat, nimmt es wieder in eisigen Griff. „Es ist völlig egal, was wir jetzt machen, wir werden so oder so sterben.“ „Jetzt reiß dich zusammen“, zische ich sie an. „Wir finden schon einen Weg. Wir können Teal mit einem Stein bewusstlos schlagen oder so was.“ „Mit einem- bist du jetzt völlig übergeschnappt?“, unterbricht Ruth mich sofort. „Wenn wir ihn zu hart treffen, stirbt er vielleicht, wenn wir nicht hart genug schlagen, dann könnte er aufwachen! Und was ist mit Sengo? Woher wissen wir, dass es uns nicht doch angreift, wenn wir auf seinen Trainer losgehen?“ Wir schweigen. Dann hellt sich Louis Gesicht auf. „Wie hoch ist der Brunnen, was denkt ihr?“ „Keine Ahnung, an die fünf Meter schätze ich.“ Ich schaue ihn neugierig an. „Warum?“ „Ich hätte da eine Idee…“ Während Louis uns am Rand des Brunnens beim Höhleneingang positioniert, werfe ich immer wieder besorgte Blicke in Richtung Teal. Er zuckt hin und wieder. Wir haben vielleicht noch maximal eine Minute, eher weniger. „Okay, dann los“, murmelt Louis, der vor uns steht. Er zieht einen Pokéball aus seiner Tasche und mir geht ein Licht auf. „Warum hast du das nicht vorher gesagt?“, frage ich sofort, jetzt hoffnungsvoll.  Louis wirft mir ein schiefes Zahnlückengrinsen zu. „Wirst du gleich sehen. Los, Ethan!“ Der rote Lichtblitz erhellt den Brunnenschacht nicht nur, er füllt ihn auch aus. Das Licht wächst und wächst, bis es den Großteil des Schachtes einnimmt. Louis´ frisch entwickeltes Garados materialisiert sich, windet sich in die Höhe und brüllt, die gewaltigen Kiefer aufgerissen. Dann verschwindet sein Kopf im Schacht. „Wow…“, flüstere ich ehrfürchtig und betaste zaghaft die blauen Schuppen seines Körpers, der vor uns leicht eingerollt auf dem Boden liegt. Ruth, über deren Schulter ich inzwischen hänge, pfeift anerkennend. Da kommt Bewegung in Ethan. Sein sechs Meter langer Körper krümmt sich und sein Kopf taucht wieder in unserem Sichtfeld auf. Als er Louis sieht, werden seine Augen zu Schlitzen. Sein Schweif hebt sich – und schnellt in Richtung Louis, der nach hinten geworfen wird und unsanft gegen die Höhlenwand prallt. Garados brüllt ein weiteres Mal und Teal zuckt zusammen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Louis steht mühsam auf, dann hebt er die Arme in einer unterwürfigen Geste. „Ethan, ich weiß, du bist derzeit nicht gut auf mich zu sprechen und das hat seine Gründe.“ Garados brummt zustimmend und es klingt, als würde die ganze Höhle zusammenbrechen. „Aber wir müssen hier sofort raus. Meine Freunde sind in Gefahr und wir brauchen deine Hilfe, um sie aus dem Brunnenschacht nach oben zu bringen. Wenn du dich streckst, kannst du das Ende des Brunnens erreichen.“ Garados streckt sich und sein Kopf verschwindet. Einige Sekunden später taucht er wieder auf. Es nickt, aber seine Augen sind immer noch zu Schlitzen verengt und sein Schweif zuckt hin und her. „Du darfst mit mir machen, was du willst, sobald wir in Sicherheit sind, aber erst müssen wir hier raus. Bitte hilf uns, Ethan.“ „Das ist sein Pokémon“, flüstert Ruth unwirsch. „Warum muss er es erst überreden, ihm zu gehorchen?“ „Die beiden sind nicht ganz auf einer Wellenlänge“, erkläre ich leise. „Wenn Louis nicht vorsichtig ist, beißt es ihm noch den Kopf ab.“ „Einen feinen Trainer hast du da aufgegabelt“, murmelt Ruth und zieht mich etwas höher. „Warum zur Hölle seid ihr überhaupt zusammen? Er ist ein totaler Loser.“ „Louis ist kein Loser!“, zische ich und schaue Ruth böse an. „Und wer sagt überhaupt, dass wir-“ „Abby? Ethan wäre soweit“, unterbricht Louis mich und Ruth grinst mich vielsagend an. Gemeinsam stapfen wir vorwärts. Garados hat seinen Kopf zu uns nach unten auf den Boden gelegt und wartet geduldig, bis Louis sich auf seinen Nacken gesetzt hat. Ruth setzt sich direkt hinter ihn, dann ziehen die beiden mich gemeinsam hoch. Obwohl Garados flach auf dem Boden liegt, ist sein Nacken fast einen Meter hoch. Irgendwie fällt es mir plötzlich schwer, mich mit so einem großen Pokémon vorzustellen. Es ist fast so imposant wie Golds Lugia. Aber nur fast. Oben angelangt ist es ziemlich eng. Ethans zackigen Rückenflossen drücken mir von hinten in die Wirbelsäule, aber immerhin bietet seine schuppige Haut genug Möglichkeiten, sich festzuhalten. Ich klammere mich an einem der blauen Auswüchse fest, aber kaum hebt Ethan ruckartig den Kopf, schlinge ich stattdessen instinktiv meine Arme um Ruths Taille. Da sie nichts sagt, gehe ich davon aus, dass sie unbewusst dasselbe bei Louis gemacht hat. Ich schaue seitlich nach unten und sehe, wie sich der Brunnengrund langsam von uns entfernt. Garados bewegt sich in Zeitlupe, damit es uns nicht versehentlich runterwirft. Und dann höre ich es. Ein wütendes, verzweifeltes Schreien. Ein weibliches Schreien. „Schneller!“, rufe ich noch, doch im nächsten Moment taucht auch schon Mel im Höhleneingang auf. Ihr rechtes Auge ist nur noch ein blutiges Loch, aber ihr linkes ist weit geöffnet. Als sie uns sieht, kreischt sie, rennt los und springt in die Höhe. Ihre Finger packen mein Fußgelenk mit aller Macht und ihre Fingernägel graben sich schmerzhaft in meine Haut. Ich schreie, rüttele mit dem Bein hin und her, aber Mels Griff lässt nicht nach und als ihre Füße endgültig vom Boden abheben, zieht ihr Gewicht mich zur Seite. Ruth spürt meinen Zug, hört meinen Schrei und als sie sich umdreht und Mel sieht, wird sie wieder aschfahl. Aber statt wie zuvor die Nerven zu verlieren, lässt sie mit einem Arm Louis los, schlingt ihn um mich und zieht mich zurück in die andere Richtung. Mel strampelt und kreischt während ihre Fingernägel sich unerbittlich in mein Fleisch graben. Ich rutsche immer weiter zur Seite, obwohl Ruth ihr Bestes tut, mich auf Garados´ Nacken zu halten. Und als Ethan einer kleinen Steinchenkaskade ausweicht, die sich durch das ganze Geschrei gelöst hat, verliere ich endgültig den Halt. Ich rutsche zur Seite. Ruths Hand schnellt nach unten und packt mein Handgelenk. Es fühlt sich an, als würde man mich in zwei Hälften reißen. Louis hält inzwischen Ruth mit der einen und Garados mit der anderen Hand fest. Wenn das so weiter geht, werden wir noch alle runterfallen. Ich strampele mit meinem Bein und versuche, Mel im Gesicht zu erwischen, aber selbst dann lässt sie nicht locker. Stattdessen zieht sie sich an mir wie an einem Seil hoch, packt mit der einen Hand meine Wade und greift mit der anderen nach meinem freien Arm. Als sie ihre Zähne in mein Bein gräbt und zubeißt, kreische ich auf und trete wild in jede erdenkliche Richtung, aber Mel hat sich inzwischen schon halb an mir hochgezogen. „Lass los!“, schreie ich sie an, aber es hilft nichts. Mein Gezeter macht es Ruth nicht gerade einfacher, mich festzuhalten. Mel kämpft sich immer weiter nach oben. Warum ist Garados nicht schneller? Plötzlich schnellt ein Fuß an mir vorbei und trifft Mel mit voller Wucht im Gesicht. Ich höre das scharfe Knirschen, als ihre Nase bricht, dann lässt Mel mich abrupt los und fällt fast zwei Meter zu Boden, wo sie sich winselnd auf dem Boden krümmt. Ich atme tief durch, während Ruth  mich schwerfällig in die Höhe zieht. Als ich wieder sicher hinter ihr sitze, schaue ich noch einmal nach unten. Teal hat sich inzwischen verschlafen aufgesetzt. Als er Mel sieht, kriecht er zu ihr. Dann hebt er den Kopf und schaut uns hinter her. Mehr sehe ich nicht, denn der Brunnenschacht blockiert meine Sicht. Ethan hebt den Kopf aus dem Brunnen und vor Erleichterung kommen mir die Tränen. „Wir haben es geschafft…“, flüstere ich ungläubig und Ruth dreht sich zu mir um. Ich erwarte eine schnippische Bemerkung, aber sie lächelt nur matt und nickt. Kapitel 24: Verhöre und Geständnisse (Jack und Holly) ----------------------------------------------------- Louis rutscht als erster von Garados´ Nacken und reicht erst mir die Hände, um mich hinunter zu ziehen, dann, nach kurzem Zögern, auch Ruth. Sie wirft ihm einen strafenden Blick zu, dann schiebt sie seine Hände beiseite und schwingt sich selbstständig von Ethans Rücken. Sein gewaltiger Kopf dreht sich im Brunnenschacht und seine dreieckigen Augen blitzen bedrohlich in Louis´ Richtung, der ihn schnell zurückruft und dann erschöpft ausatmet. „Mann ey…“, murmelt er und fährt sich durch das strohblonde Stachelhaar. „Ich bin total erledigt.“ „Mein Mitleid hält sich in Grenzen“, erwidert Ruth scharf und Louis schaut betreten zu Boden. Ich lasse die beiden mit ihrem Geplänkel alleine und setze mich etwas abseits vorsichtig auf den Boden, wo ich mein Handy aus der Tasche ziehe. Dann wähle ich die 01010 und warte, bis das Freizeichen in mein Ohr piept. Es folgt ein Knacken und die Stimme einer Frau. „Polizeiwache Dukatia City, mit wem spreche ich?“ „Abbygail Hampton, ich rufe wegen eines Notfalls an. Team Rocket Mitglieder sind östlich von Azalea City aufgetaucht.“ „Wie alt sind sie?“, fragt die Stimme nach einer kurzen Pause. „Fünfzehn.“ „Wo genau und wie viele?“ Ich kann allein an ihrer Stimme erkennen, dass sie mir nicht glaubt und ich bezweifle nicht, dass sie schon früher Falschaussagen bekommen hat, aber solange sie mir hilft, ist mir das egal. „Drei Mitglieder. Zwei sind verwundet und vorläufig in dem Flegmonbrunnen gefangen, der dritte versteckt sich vermutlich im Einheitstunnel.“  „Ich werde einen Trupp losschicken“, sagt die Frauenstimme schließlich. „Ist jemand verletzt?“  Ich werfe einen Blick zu Ruth. Außer dem Kratzer an ihrem Hals ist sie unversehrt. Am schlimmsten hat es wohl mich erwischt. „Nicht schwer.“ „Gut, dann geht zum nächsten Pokécenter. Wir kümmern uns darum. Mischt euch nicht weiter ein, haltet euch von dem Brunnen fern. Ihr solltet euch außerdem auf eine lange Nacht vorbereiten, wir werden euch verhören müssen.“ „In Ordnung. Wir sind im Pokécenter.“ Sie legt auf und ich lasse das Handy in meiner Tasche verschwinden. Dann stehe ich mühsam auf. Als ich drohe, einzuknicken, ist Louis sofort zu Stelle um mich aufzufangen und wieder über seine Schulter zu ziehen. Ich fühle mich wie ein Sack Kartoffeln. Mit seiner Hilfe humpeln wir zurück in die Stadt. Mittlerweile ist es schon schummrig, aber noch nicht ganz dunkel. Immer wieder werfe ich einen ängstlichen Blick zurück zum Brunnen. Ich weiß nicht, wie lange die Polizei brauchen wird oder ob Teals Golbat Fliegen kann. Wenn, dann werden sie über alle Berge sein, bevor irgendjemand sie einfängt. Vielleicht haben sie mit Lee mehr Glück. Wenn Teal und Mel sich beeilen müssen, haben sie hoffentlich keine Zeit mehr, ihn zu warnen. Als wir das Pokécenter erreichen, öffnen sich die elektrischen Türen mit einem Sirren und wir treten ein. Schwester Joy hebt den Kopf. Sie lächelt, aber als sie mich sieht, entgleist ihre Miene und sie rauscht auf mich zu. Weiter hinten im Raum werden wir nun auch von Markus und Nick bemerkt, die entsetzt zu uns schauen. Vor allem Nick sieht so aus, als würde er sich am liebsten umbringen wollen, die Schuldgefühle sind ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Was ist denn mit euch passiert?“, fragt Joy entsetzt und hilft Louis, mich auf eine der Bänke zu setzen. Sie hebt meine Füße an und betastet meinen geschwollenen Knöchel. Als ich zischend zusammenzucke, verdüstert sich ihre Miene. Sie dreht meine Gelenke sanft in ihren Händen und begutachtet die blutigen Fingernägelspuren, die Bisswunden. Dann hebt sie den Kopf und entdeckt augenscheinlich Ruths Halswunde, denn sie presst die Lippen zusammen. „Ich nehme nicht an, dass ihr zwei gestürzt seid“, sagt sie schließlich und ich muss plötzlich prusten. „Nein“, antwortet Ruth für mich. „Wir wurden…“ Sie zögert. Ja, was wurden wir? Entführt? Bedroht? Beinahe umgebracht? „Team Rocket ist hier“, sage ich stattdessen und Joy zuckt zusammen. „Wie kann das sein?“, flüstert sie tonlos. „Keine Ahnung.“ Ich zucke die Achseln. „Jedenfalls scheinen sie sich seit einer Woche im Flegmonbrunnen versteckt zu haben.“ „Wir müssen sofort die Polizei rufen!“ „Schon passiert“, sagt Ruth. „Die sind unterwegs.“ Joy zögert, dann nickt sie und verschwindet in einem ihrer Behandlungszimmer. „Ruth, was ist passiert?“, fragt Markus verdattert und kommt auf sie zu. Sie schaut zu mir hinüber, dann zu Boden. „Ich muss gleich ohnehin alles der Polizei erzählen“, sagt sie schließlich. „Warte bis dahin.“ „Abby?“ Ich hebe den Kopf und sehe einen verzweifelt wirkenden Nick vor mir. „Es tut mir so leid! Ich wollte nicht, wir…“ Er schaut hilflos zu Ruth. „Es war meine Idee“, sagt sie und lässt sich mir gegenüber auf die Bank sinken. „Er wollte es mir ausreden, aber ich habe nicht auf ihn gehört.“ „Schon okay“, murmele ich und schließe die Augen. „Wir hatten schließlich beide was von der Erfahrung.“ Ruth schnaubt, aber es klingt eher amüsiert als verächtlich. Ich öffne die Augen. Ruth öffnet den Mund, als wollte sie etwas sagen, aber da taucht Schwester Joy wieder auf und kommt mit raschen Schritten auf mich zu. In den Armen hat sie eine Schüssel mit dampfendem Wasser, Handtücher, Bandagen, Pflaster und Desinfektionsmittel. Sie kniet sich vor mir auf den Boden und beginnt, meine Wunden zu reinigen, die blutigen Stellen zu desinfizieren und zu verbinden. Dann schmiert sie eine kalte Salbe auf meinen Knöchel und verbindet ihn ebenfalls. Als sie den Kopf hebt, schaut sie zwischen Louis, Ruth und mir hin und her. „Ich hoffe, noch die ganze Geschichte von euch zu hören“, sagt sie dann und ich seufze. „Die Polizei wird heute Nacht herkommen, um uns zu verhören. Dann hören sie alles im Detail.“ Sie nickt und erhebt sich. „Dann mache ich uns allen am besten eine große Kanne Kaffee.“ Es dauert nicht mehr lange, bis die Polizei im Pokécenter auftaucht. Von dem Sechs-Mann-Trupp ist nur einer für unser Verhör abgestellt worden, aber er wirkt zu entspannt. Der Polizist hat kurzrasiertes, rauchschwarzes Haar und trägt die blaue Uniform der Rocky Spezialeinheit, die sich auf Team Rocket spezialisiert hat. Außerdem hat er ein kleinen Bierbauch und einen Dreitagebart, den er sich gedankenverloren kratzt, während er uns von seinem herbei gezogenen Stuhl aus betrachtet. „So, wer von euch hat denn angerufen?“, fragt er und ich hebe eine Hand. „Dann bist du also Abbygail Hampton, ja?“ „Stimmt.“ „Gut, und die anderen?“ Wir stellen uns der Reihe nach vor und als wir fertig sind, nickt der Polizist und reibt sich wieder mit einem kratzigen Geräusch über den Bart. „Ich bin Jack Ryle“, sagt er. „Ich bin schon viele Jahre dabei und ich warne euch jetzt gleich vor, ich kann erkennen, wenn jemand lügt.“ Er tippt sich an die Stirn. „Mir entgeht nichts. Ich sehe Dinge, von denen ihr nicht mal wisst, dass es sie gibt. Also kommen wir gleich zur Sache. Fangen wir mit dir an, Abby. Was ist heute passiert?“ Also erzähle ich. Ich berichte von den drei Gestalten, die ich früh morgens durchs Fenster beobachtet hatte und die plötzlich einfach verschwunden waren, ohne in der Stadt aufzutauchen. Ich fahre fort, bis ich die Stelle erreiche, in der Team Rocket mich entdeckt und gefesselt hat. „Warum haben sie dich nicht sofort umgebracht, wenn sie die Möglichkeit hatten?“, fragt Jack und ich überlege kurz. „Sie waren nicht einig, wer mich töten sollte, also wollten sie erst auf ihren Komplizen warten, bevor sie eine Entscheidung treffen.“ „Lee“, fügt Ruth hinzu. Jack nickt. „Was ist dann passiert?“ „Sie haben eine ganze Weile miteinander geredet, ich habe nicht alles verstanden, aber es ging wohl um ihren Boss.“ Jacks Blick hellt sich augenblicklich auf und beugt sich zu mir. „Ihren Boss, sagst du? Hast du zufällig seinen Namen aufgeschnappt?“ Ich nicke. „Atlas.“ „Atlas!“, ruft Jack und schlägt sich mit der Faust in die offene Hand. „Dieser Bastard! Hat er es doch tatsächlich wieder geschafft.“ „Ist er bekannt?“, fragt Louis und lehnt sich von oben über die Banklehne, auf der ich sitze. „Und wie“, sagt Jack und kratzt sich wieder am Kinn. „Atlas war Teil des ursprünglichen Team Rocket Vorstands und Giovannis rechte Hand. Als Giovanni von Red gestürzt wurde, verbrachte Atlas drei Jahre damit, die Team Rocket-Reste zusammen zu kratzen und die Organisation wiederaufzubauen. Gold machte seinen Plan schließlich zu Nichte und es gelang uns, einen Großteil der Rockets unschädlich zu machen, aber Atlas und die anderen Vorstandsmitglieder entkamen. Er ist untergetaucht und wir haben nichts mehr von ihm gehört, aber wenn Abby Recht hat, dann ist er wieder da.“ „Jedenfalls tauchte nach einer Weile Lee auf“, fahre ich fort. „Aber er war nicht alleine. Ruth war bei ihm.“ „Du warst bei ihm?“, fragt Jack und nimmt nun Ruth ins Visier. „Dann berichte uns doch mal deinen Tag bis dahin.“ Ruth schaut zur Seite. „Ich war wütend auf Abby, weil sie mich gestern in einem Kampf besiegt hat, also wollte ich mich rächen“, beginnt sie dann und ich spitze die Ohren. Jetzt erfahre ich endlich, was sie im Einheitstunnel verloren hatte. „Ich wusste, dass sie heute den Flegmonbrunnen unter die Lupe nehmen würde und ich wusste, dass sie ziemlich knapp bei Kasse war, immerhin hilft sie seit ein paar Tagen hier bei Joy im Pokécenter aus. Ich dachte, wenn ich verhindere, dass sie ihren Pflichten nachkommt, dann würde Joy den Vertrag auflösen und Abby müsste das Pokécenter verlassen.“ Ich schaue hinüber zu Joy, die schweigend etwas abseits sitzt und zuhört. Sie verzieht keine Miene, aber ich kann sehen, dass ihre Augen förmlich Funken sprühen. „Also habe ich einen Plan ausgeheckt“, fährt Ruth fort. „Ich würde morgens Kai herausfordern, danach meine Pokémon heilen und dann in den Einheitstunnel gehen, um zu trainieren. Abby und Louis haben heute Morgen darüber geredet, dass er Platzangst hat und lieber trainieren will, deshalb würde er mich in die Höhle gehen sehen und ich hätte ein Alibi.“ „Ein Alibi wofür?“, hakt Jack nach. „Wir sollten die Leiter verstecken“, gesteht Nick kleinlaut und Jack schaut ihn an. „Die Leiter, die in den Brunnen führt?“, fragt er und Nick senkt den Kopf. „Ihr wolltet Abby also in dem Brunnen einsperren, ohne Essen, ohne Licht, ohne Handyempfang?“ „Ich wollte, Nick war dagegen“, sagt Ruth, ohne Jack anzusehen und ich kann nicht umhin, sie für ihre Ehrlichkeit zu bewundern. Gut, sie wollte mich da unten verrotten lassen, aber sie spricht gerade mit der Polizei! Joy ist dabei. Wenn es richtig schlecht für sie läuft, könnten alle weiteren Orden so gut wie unerreichbar für sie werden, aber trotzdem nimmt sie Nick in Schutz, der sie mehr oder weniger verraten hat, als er mir geholfen hat, gegen sie zu gewinnen. Sie könnte die Schuld abwälzen und auf die Gruppe verteilen, aber sie sagt es, wie es ist. „Und wie lange wolltet ihr Abby da drin lassen?“, fragt Jack eisig nach. „Mindestens bis morgen früh, vielleicht auch noch bis zum Abend. Es gibt Wasser da unten, verdurstet wäre sie nicht.“ Joys Augenlid zuckt. Sie sieht aus, als wolle sie Ruth am liebsten schlagen, aber sie dreht sich nur um und verschwindet wortlos in der Küche. Ruth beißt sich auf die Lippen und schaut wieder aus dem Fenster. „Aber wenn Louis auf der Wiese vor dem Tunnel trainiert hat, wie konnte Lee dann ungesehen mit dir verschwinden? Und warum hat er dich überhaupt entführt?“ „Ich habe ihn gesehen“, sagt Ruth. „Ich bin eine andere Route als sonst gegangen, weil überall komische Schilder hingen, eine Umleitung wegen Einsturzgefahr oder so. Ich wollte eigentlich die Umleitung nehmen, aber dann habe ich Geräusche gehört und bin dem Weg gefolgt. Dann habe ich Lee gesehen. Er trug die schwarze Team Rocket Uniform und hat Löcher in die Wände gebohrt. Ich wollte wegrennen, aber er hat mich gesehen und eingeholt, bevor ich die Höhle verlassen konnte. Er hat mich notdürftig gefesselt und rumgejammert, so was würde immer ihm passieren.“ „Und wie seid ihr an mir vorbei gekommen?“, fragt Louis und Ruth schaut ihn abfällig an. „Du hast mit dem Rücken zu uns gestanden. Lee hat seinem Alpollo Hypnose befohlen, du bist müde geworden und dann hast du ein Nickerchen gemacht.“ Louis stutzt, dann weiten sich seine Augen. „Deshalb war ich plötzlich so müde!“, sagt er und sieht beinahe fasziniert aus. „Ich habe mich schon gewundert.“ „Also gut, Lee bringt Ruth nach unten in den Flegmonbrunnen, dessen Leiter immer noch intakt ist“, sagt Jack und schaut uns erwartungsvoll an. „Es muss mittags gewesen sein“, sagt Markus. „Wir sollten die Leiter um fünfzehn Uhr entfernen.“ Also berichte ich weiter. Wie Teal Atlas angerufen hat und wie Ruth und ich weiter in die Höhle geschleppt wurden. Als ich zu dem Teil komme, als Mel ihr Messer zückt, erbleichen Markus und Nick und Louis legt seine Hände beruhigend auf meine Schulter. „Ist daher der Schnitt?“, fragt Jack und deutet auf Ruths Hals. Sie nickt. In dem Moment kommt Joy zurück und setzt sich zurück auf ihren Stuhl. Ihre Augen sind auf Jack und mich fixiert, Ruth würdigt sie keines Blicks. Ich öffne den Mund, aber Ruth fängt schon an, zu reden. „Ich dachte, ich werde sterben“, sagt sie und schaut weiter aus dem Fenster. „Aber dann hat Abby mich gerettet.“ Ich schließe den Mund wieder, Louis´ Hände streicheln beruhigend über meine Schultern. „Wie das?“, fragt Jack. „Sie hat ihr Ibitak gerufen, obwohl sie den Pokéball nicht in der Hand hatte. Ibitak hat Mel attackiert, Abby hat sich das Messer geschnappt und uns befreit. Dann sind wir losgerannt. Als wir den Schacht erreicht hatten, sind wir-“ „Moment mal!“, unterbreche ich sie. „Du bist zu mir zurück gerannt, als ich umgeknickt bin und nicht mehr laufen konnte. Alleine wärst du schneller im Brunnen gewesen.“ Joys Augen blitzen. „Abby, meine Pokémon waren noch im Einheitstunnel. Lee hat mir den Rucksack abgenommen. Ich brauchte dich.“ „Trotzdem hast du mir geholfen“, widerspreche ich und sie seufzt. „Jedenfalls hat Teal uns im Schacht eingeholt, Abby hat gegen ihn verloren, dann hat ein Flegmon ihn eingeschläfert und wir sind auf Louis Garados aus dem Brunnen getragen worden.“ Sie steht auf. „Kann ich jetzt gehen? Ich würde gerne meinen Rucksack holen.“ „Nirgends wirst du hingehen“, sagt Joy bestimmt. „Herr Ryle hier wird seinen Kollegen Bescheid sagen, die können deinen Rucksack bergen.“ „Lee ist vielleicht noch dort“, füge ich hinzu und Ruth zuckt leicht zusammen. „Ich bin müde“, sagt sie, aber Joy drückt ihr nur eine Tasse Kaffee in die Hand. „Du bleibst.“ Eine metallische Melodie erschallt und ich schaue mich erschrocken um, aber Jack hebt beruhigend eine Hand und zieht sein Diensthandy aus seiner blauen Weste. „Jack hier“, antwortet er und wartet. Dann weiten sich seine Augen. „Niemand?“ Ich schaue unsicher zu Louis, der mit den Schultern zuckt. „Was habt ihr gefunden?“ Er lauscht lange, nickt ab und zu, dann steht er auf und wandert ziellos durchs Pokécenter. Nach einer Weile scheint das Gespräch beendet zu sein, denn er legt auf und setzt sich wieder zu uns an den Tisch. „Sie sind entkommen“, sagt er und fährt sich durchs Haar. „Was?“, fragt Ruth entsetzt und lässt sich zurück auf die Bank sinken. „Das kann nicht sein! Mel war so schwer verletzt, und Lee wusste überhaupt nicht, dass wir entkommen sind!“ „Das ist die schlechte Nachricht“, nickt Jack. „Die Gute ist, dass sie Blutspuren am Grund des Brunnens gefunden haben, so wie auch jede Menge Fußabdrücke und ein paar große blaue Schuppen. Die sind wohl von deinem Garados, Louis.“ Er nickt. „Zusammen mit euren Verletzungen und der Geschichte, die ihr mir gerade erzählt habt… haben wir keinen Grund, euch nicht zu glauben. Aber das macht die Sache nur umso problematischer.“ „Warum das?“, fragt Markus und Jack seufzt. „Weil es bedeutet, dass Team Rocket bis nach Johto vorgedrungen ist, dass sie von jemandem geführt werden, der weiß, was er tut und dass ihr Plan beide Regionen einschließt.“ Er trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. „Und jetzt?“, fragt Louis und Jack zuckt die Achseln. „Jetzt warten wir auf meine Kollegin. Sie ist auf dem Weg.“ Wir verbringen die folgenden Minuten in angespanntem Schweigen. Draußen wird es immer dunkler und die Kaffeekanne leert sich zusehends, bis Joy schließlich aufsteht und mit einer neuen Platte Kekse zurückkommt. Als ich den süßen Geruch wahrnehme, wird mir mit einem Mal bewusst, dass ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen habe und ich stürze mich auf die Kekse. Ruth geht es nicht anders und so stopfen wir uns einen nach dem anderen in den Mund, ohne auf die Blicke der anderen zu achten. Als mein Mund gerade so voll ist, dass ich kaum noch schlucken kann, öffnet sich die Pokécentertür plötzlich mit einem leisen Sirren und unser alle Augen richten sich auf den Eingang. Eine kleine, muskulöse Frau mit rasiermesserscharfen Gesichtszügen und genauso scharf geschnittenem braunen Bopp tritt ein. Ihr Blick wandert gelassen von einer Ecke des Raums zum anderen, bis er an Jack hängen bleibt. Sie überbrückt die Distanz zwischen uns mit raumgreifenden Schritten und bleibt direkt hinter Jack stehen. „Wo sind deine Mitschriften?“, fragt sie brüsk und Jack zuckt zusammen. „Holly, ich habe mir alles gemerkt, ich schwö-“ „Ein Stück Toast könnte deine Arbeit besser erledigen als du. Gott, kannst du dich nicht einmal in deinem Leben an die Vorschriften halten?“, unterbricht sie ihn und schlägt ihm gegen den Hinterkopf. Jack macht ein unglückliches Gesicht, sagt aber sonst nichts. Holly fischt inzwischen einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Innentasche ihrer Uniformjacke, klappt ihn auf und hält uns ihre Polizeimarke hin, bevor sie umblättert und ihren Stift auf das Papier setzt. „Also, wer von euch ist Abbygail Hampton?“ Ich hebe die Hand. Ihre Hand beginnt in Rekordtempo über den Block zu huschen, während sie uns alle nach einander nach unserem Namen, Alter, Herkunft und Grund für unseren Aufenthalt fragt. Dann geht die Fragerei von vorne los.   Es ist bereits mitten in der Nacht, als Holly endlich mit ihrem Verhör fertig ist. Nicht nur stellt sie uns eine Unzahl von Fangfragen, damit wir uns in einem möglichen Lügengeflecht verhaken, sie besteht auch auf Einzelgespräche, in denen jeder ihr seinen Tagesablauf haarklein beschreiben muss. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn Jack nicht dazu angehalten wäre, uns davon abzuhalten, jegliche Art der Konversation zu betreiben, was in gähnender Langeweile unsererseits resultiert. Louis und ich spielen nach einer Weile Wasser-Feuer-Pflanze, während Ruth auf der Bank döst und Joy ziellos durch den Hauptraum läuft, Staub wischt und die Kasse aufräumt. Irgendwann nach Mitternacht ist Holly schließlich auch mit Nicks Befragung durch, die beiden kommen aus dem Telefonraum zurück und Nick sieht aus, als wäre er gerade zehn Jahre gealtert. Ich kann es ihm nicht verübeln. Holly bringt einen dazu, seinen eigenen Erinnerungen zu misstrauen. „Das wäre es für heute“, sagt sie, während Nick sich auf die Bank zu Ruth setzt und sie sanft weckt. „Wir werden unter Umständen in den nächsten Tagen weitere Fragen an euch haben, also verlasst die Stadt nicht, bis ihr die ausdrückliche Erlaubnis meinerseits oder eines Höherrangigen erhaltet. Verstanden?“ „Ja…“, murmeln wir im Chor und Hollys Gesicht verdüstert sich. „Wir gehen, Jack.“ „Sofort.“ Sie sind schon halb aus der Tür, da dreht Holly sich noch einmal um. „Eins noch. Ruth, wir haben deinen Rucksack gefunden. Er sollte spätestens morgen früh hier ankommen.“ „Entschuldigung?“, rufe ich ihr hinterher und sie dreht sich ein zweites und sichtlich genervteres Mal zu mir um. „Was?“, fragt sie trocken. „Was passiert jetzt mit den drei Team Rockets?“ „Dank eurer genauen Beschreibungen sind wir nicht ganz ahnungslos. Wir werden euch in den nächsten Tagen einen Phantombildzeichner vorbeischicken. Dann werden wir Steckbriefe anfertigen lassen und sie in alle Städte und Dörfer Johtos und Kantos verschicken. So leicht werden sie nicht noch einmal davonkommen.“ Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und verschwindet mit Jack in der Dunkelheit. Kaum sind die Polizisten verschwunden, geht ein Seufzen durch unsere Reihen. Joy schickt uns sofort auf unsere Zimmer, damit wir uns von dem anstrengenden Tag erholen können und niemand beschwert sich. Oben im Flur will ich schon in unserem Zimmer verschwinden, da dreht Ruth sich zu mir um und winkt mich zu sich. Ich tausche einen Blick mit Louis, der die Achseln zuckt, nicke ihm zu und humpele Ruth hinterher, die mich ans Ende des Gangs führt, bevor sie stehen bleibt. „Ich habe mich noch nicht bedankt“, sagt sie und ich traue meinen Ohren nicht. „Wofür?“, frage ich. Sie sieht mich wütend an. „Du hast mir das Leben gerettet. Ohne deine Hilfe hätte Mel mir in der Höhle die Kehle aufgeschlitzt.“ Ihre Finger wandern zu der verbundenen Wunde. „Du hast mir auch das Leben gerettet“, erinnere ich sie. „Du warst es, die Mel ins Gesicht getreten hat, als sie mich von Ethan runterziehen wollte. Danke.“ Wir sehen uns lange an, dann lacht Ruth humorlos auf. „Schau uns an…“, murmelt sie und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nur damit das klar ist, ich kann dich immer noch nicht leiden.“ „Da bin ich ja erleichtert“, sage ich, aber ein schmales Grinsen spielt um meine Lippen. Ich strecke ihr meine Hand entgegen. „Also, sind wir quitt?“ Ruth zögert, seufzt schließlich jedoch und erwidert die Geste. „Vorerst. Ich schlage Waffenstillstand vor, solange die Ermittlungen laufen.“ „Und wenn wir uns wieder begegnen…“, beginne ich. „…dann heißt es Krieg“, beendet sie meinen Satz und drückt schmerzlich fest zu.   Als ich neben Louis im Bett sitze und an die Wand starre, fühlt sich alles sehr unwirklich an. Meine Schürf- und Bisswunden pochen unter den Pflastern und Verbänden und ich frage mich, wie wir es innerhalb von einer Woche geschafft haben, zweimal in Lebensgefahr zu geraten. Vielleicht lag Mama mit ihrem schlechten Gefühl gar nicht so falsch. Louis unterbricht die Stille mit einem Seufzen und ich drehe den Kopf. In der Dunkelheit sieht sein Haar grau aus, außer dem Rand seines Gesichts liegt alles im Schatten. „Abby?“ „Hm?“ „Werd nicht sauer, wenn ich das jetzt sage.“ Ich schaue ihn verdutzt an. „Warum sollte ich?“, frage ich und er lacht leise. „Ich mag dich. So richtig.“ Mein Herz macht einen Satz. Was? Was? Ich öffne den Mund, weil es sich so anfühlt, als müsse ich etwas sagen, aber ich bringe kein Wort heraus. Louis schaut zu mir und grinst mich müde an. „Ist schon okay. Ich weiß, dass du… Ich wollte es nur sagen, das ist alles.“ „Ich…“ „Mach dir nichts draus.“ Er rutscht tiefer unter die Decke, bis er darunter verschwindet, dann dreht er sich um und rührt sich nicht mehr. Ich schaue ihn lange an. Kapitel 25: In den Abgrund (Charmanter Gegner) ---------------------------------------------- Die nächsten zwei Tage verstreichen ereignislos. Ruth bekommt ihren Rucksack zurück, ich nehme meine Arbeit im Pokécenter wieder auf und Louis erwähnt sein Liebesgeständnis mit keinem Wort mehr, verhält sich aber auch nicht anders als sonst, also beschließe ich, den Vorfall zu vergessen. Am Freitagnachmittag kommt Holly noch einmal vorbei, um zu überprüfen, ob wir auch noch alle da sind, aber ansonsten passiert nichts. Die Monotonie wird erst unterbrochen, als ich am Sonntagmittag beschließe, dass wir lange genug sinnlos herum gehockt haben. „Abby, bitte!“, fleht Louis, als ich ihn am Handgelenk aus dem Pokécenter zerre und in Richtung Arena schleife. „Ich weiß nicht, ob Ethan schon so weit ist!“ „Er wird nicht besser, wenn du ihn in seinem Pokéball verrotten lässt“, antworte ich. Es stimmt. Seit Ethan uns aus dem Brunnen geholfen hat, hat Louis ihn kein Mal aus seinem Pokéball gelassen. Er hat Angst, das ist klar, aber er kann nicht ewig vor seinem Pokémon davonlaufen. Als ich ihm das sage, stöhnt er laut auf und reißt sich los. „Du wirst ja auch nicht gefressen, wenn etwas schief geht…“, murmelt er und ich massiere ihm versöhnlich die Schultern, während wir durch das sonnengetränkte Azalea stapfen. Der Wind weht die ersten bunten Herbstblätter vor unsere Füße. Bis zu der Arena sind es kaum zwei Minuten. „Ruth hat den Orden auch bekommen“, sage ich und Louis schnaubt. „Wenn es nach Joy ginge, hätte man ihr den sofort wieder aberkannt.“ Ich denke an Joys Wutausbruch zurück, als sie Ruth fast geschlagen hätte und dann in einem der Hinterzimmer verschwunden ist. Wir wissen nicht mit Sicherheit, was passiert ist, aber als am nächsten Tag Kai auftauchte und Ruth um ein Gespräch unter vier Augen bat, war die Sache mehr oder weniger klar. „Stell dich nicht so an“, sage ich und lasse seine Schultern los, um mich danach bei ihm unter zu haken. Als Louis nicht antwortet, schaue ich zu ihm und entdecke gerade noch seine Überraschung, bevor er breit grinst und meinen Armdruck erwidert. Das Bild von seinem mondbeschienenen Profil taucht ungebeten in meinem Kopf auf und ich will seinen Arm fast reflexartig loslassen, entscheide mich jedoch dagegen. Es ist immer noch Louis, verdammt! Die Arena ist das größte Gebäude in ganz Azalea, was an sich kein großes Kunststück ist, aber die braune, panzerartige Kuppe ist trotzdem eindrucksvoll. Als wir eintreten, säumen Laubbäume und hohes Gras die mit Holz ausgekleideten Wände. Schmale Holzbalken verbinden drei Flächen des Raumes, dazwischen liegen zwei gähnende Abgründe, mehrere Meter tief. Nur zwei gigantische Spinnennetze aus Tau schützen vor einem möglichen Sturz. Kai sitzt am anderen Ende der Arena auf einem dicken, umgekippten Baumstamm und unterhält sich mit einer Vortrainerin. Als er uns sieht, winkt er und klopft dem Mädchen auf die Schulter, das sich umdreht, uns sieht und dann aufgeregt davonrennt, um über die Balken zu balancieren und auf der zweiten Plattform auf einem Baumstumpf Platz zu nehmen. Louis schaut mich unglücklich an, aber ich lächele ihm aufmunternd zu und schiebe ihn vorwärts. Resigniert lässt er den Kopf hängen, dann atmet er tief ein und lässt sich vorwärts kutschieren. Als wir den ersten Abgrund erreichen, werfe ich einen vorsichtigen Blick hinunter. Zum Glück haben wir keine Höhenangst, denn sonst würde das hier ein tierischer Höllentrip werden. Ich lasse Louis den Vortritt, der sorgsam einen Fuß vor den anderen setzt und gekonnt über den Holzbalken balanciert. Er stellt sich wirklich nicht schlecht an. Nachdem er das andere Ende erreicht hat, dreht er sich zu mir um und grinst mich an, Zahnlücke prominent wie immer. „So schlimm ist es nicht!“, ruft er und ich schlucke. Dann folge ich ihm. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und bin heilfroh, dass die Streben aus Holz sind und nicht aus Tau, so wie die Sicherheitsnetze unter mir. Mit ausgebreiteten Armen komme ich langsam auf Louis zu, der mir auf dem Balken einen Schritt entgegen kommt und die Hand hinhält. Kaum bin ich in Reichweite, lasse ich mich von ihm in Sicherheit ziehen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Die Streben sind zwar aus Holz, aber kaum 10 Zentimeter breit. „Puh“, sage ich und werfe Louis einen erleichterten Blick zu. „Das ist doch mal originell.“ „Schön, dass es dir gefällt“, sagt die Vortrainerin von eben und steht von dem Baumstumpf auf. „Die meisten Herausforderer sind da anderer Meinung.“ Ich wende mich dem Mädchen zu. Sie ist kleiner als ich, mit dichten Augenbrauen und noch dichterem braunen Haar, das ihr bauschig über beide Schultern fällt. Ihre Augen glühen. „Ich bin Katrina“, stellt sie sich vor. „Als erste Vortrainerin nehme ich deine Herausforderung an.“ Ich grinse und deute mit dem Daumen auf Louis, der immer noch hinter mir steht und gar nicht unglücklich dreinschaut, als Katrina uns verwechselt. „Er will den Orden, nicht ich“, sage ich und Katrina beugt sich zur Seite, um an mir vorbei zu Louis gucken zu können. „Mein Fehler“, lacht sie und zieht einen Pokéball aus ihrer Jeanstasche. „Wollen wir?“ „Wenn ich verliere, ist es deine Schuld, Abby“, sagt Louis geknickt, als er zu mir aufschließt und ebenfalls einen Pokéball in die Hand nimmt. Auf seinen Druck vergrößert er sich und schwillt zu Faustgröße an. „Ich bin unschuldig“, verteidige ich mich gut gelaunt, dann klopfe ich ihm auf die Schulter und verkrümele mich zum Rand der Plattform, den Rücken sicher an einen der Bäume gelehnt. Nicht, dass ich im Eifer des Gefechts noch runter falle. „Die Regeln sind wie immer“, sagt Katrina. „Wir sind drei Vortrainer. Wenn du uns besiegst, darfst du gegen Kai antreten. Wenn du vorher ins Pokécenter gehen willst, ist das auch okay.“ „Das ist doch mal was…“, murmelt Louis, dann atmet er tief durch. „Los geht´s.“ „Mit dem größten Vergnügen.“ Wie auf ein unsichtbares Zeichen schießen zwei rote Lichtblitze in die Höhe und erhellen die Arena mit grellem Licht. Im nächsten Moment stehen sich die Pokémon der beiden Kontrahenten gegenüber. Louis hat Winry gerufen, sie sitzt aufrecht auf den Hinterbeinen, ihr ellenlanger Körper leicht verschlungen. Katrinas Hornliu reicht ihrer Trainerin dagegen kaum bis zum Knie. „Winry, starte mit Einigler!“, ruft Louis seinem Wiesenior zu, das sich daraufhin eng zusammenrollt und Hornliu kaum noch Angriffsfläche bietet. „Lass dich davon nicht beeindrucken!“, Katrina deutet auf Winry. „Geh in die Offensive! Käferbiss, jetzt!“ Käferbiss? Nicht schlecht. Hornliu katapultiert sich nach vorne, indem es seinen gegliederten Raupenkörper zusammenzieht und rapide wieder auseinander schnellen lässt. Als es auf Winry trifft, öffnet es das kleine Maul und versenkt spitze Giftzähne in ihrem Fell. Winry winselt leise, bleibt aber ansonsten unbeschadet. „Erwidere mit Kratzfurie!“, befiehlt Louis und Wiesenior entrollt sich blitzschnell, dann schlägt es zwei, drei, viermal mit den klauenbewehrten Pfoten nach Hornliu, das laut fiept und gegen Katrinas Brust geschleudert wird. Als es zu Boden fällt, stöhnt es leise, kämpft sich aber wieder hoch. „Giftstachel!“, ruft Katrina, ihre Stimme jetzt viel ernster als noch vor einer Minute. Hornliu hebt müde sein Hinterteil und bevor Winry ausweichen kann, schießt es einen dünnen Stachel nach ihr, der geradewegs in Wieseniors Seite landet. Sie zuckt kurz zusammen und für einen Moment halten wir alle den Atem an. Aber Winry schaut nur auf den Einstich herab und als sie auch nach einigen Sekunden kein Anzeichen einer ernsthaften Vergiftung zeigt, atme ich erleichtert aus. Das wäre ein verdammt bescheidener Start gewesen. „Beende es mit Ruckzuckhieb“, sagt Louis und Winry schießt gehorsam nach vorne, ihr Körper schlängelt sich in Rekordtempo über den Boden, bevor sie Hornliu frontal trifft und zurück in die Arme seiner Trainerin befördert. Die wiegt das besiegte Käferpokémon einige Momente sanft in ihren Armen, dann ruft sie es zurück. „Nicht schlecht“, sagt sie und zieht den nächsten Pokéball hervor. „Aber du musst mehr draufhaben, um gegen Kai anzukommen.“ „Keine Sorge“, sage ich grinsend und Louis wirft mir einen bösen Blick zu, den ich mit einem halbherzigen Schulterzucken erwidere. Ich persönlich freue mich schon sehr auf Ethans Auftritt, auch wenn ich weiß, dass Louis diese Arena am liebsten nur mit Winry abarbeiten würde. „Los, Kokuna!“, kündigt Katrina ihr nächstes Pokémon an. Hornlius Weiterentwicklung ist ungefähr doppelt so groß und ganz in einen goldgelben Chitinpanzer gehüllt. Seine schwarzen Käferaugen funkeln Winry bedrohlich an, aber die schaut nur zu Louis, der ihr zunickt. Er wirkt etwas selbstbewusster als noch zuvor. Hoffentlich behält er sich diese Einstellung bei. Schaden kann es jedenfalls nicht. „Ruckzuckhieb!“ „Härtner!“ Winry schießt erneut nach vorne und trifft Kokuna mit dem Kopf. Das Pokémon wird nach hinten gedrückt, aber es hinterlässt tiefe Spuren im weichen Arenaboden. Durch seinen Panzer muss es viel schwerer sein als Hornliu. Als Winry zurückspringt, um aus Kokunas Angriffsradius zu gelangen, beginnt Kokuna metallisch zu glänzen. Der Härtner verstärkt seinen Panzer von innen, so ähnlich wie Schlitzers Eisenabwehr. „Kratzfurie“, ruft Louis, während Katrina ihrem Pokémon erneut einen Härtner befiehlt. Winry schlägt zweimal schnell auf Kokuna ein, doch das bildet bereits seine nächste Panzerschicht aus. Schon jetzt ist Winrys Attacke viel uneffektiver. Und es wird nicht besser. Der Kampf zieht sich immer weiter in die Länge. Kokuna greift nicht an, sondern verstärkt seine Verteidigung ganze sechs Mal. Winry keucht, als sie ihren Ruckzuckhieb zum Abschluss bringt. Kokuna ist kaum nach hinten gewichen. Lange wird es nicht mehr durchhalten, da bin ich sicher, aber Katrinas Taktik ist aufgegangen. Winry ist völlig aus der Puste und wenn mich nicht alles täuscht, wartet nach Kokuna noch ein drittes Pokémon auf uns. Und ich würde Sku darauf verwetten, dass es ein Bibor wird. „Fadenschuss“, befiehlt Katrina und Kokuna schießt einen langen, klebrigen Faden in Winrys Richtung, die gerade zu einer Kratzfurie ausgeholt hat. Sie verfängt sich in dem Netz und winselt, als es ihr flauschiges, braunes Fell zusammenklebt und ihre Bewegungsgeschwindigkeit einschränkt. „Ruckzuckhieb!“, ruft Louis und Winry sprintet, trotz der verklebten Glieder auf Kokuna zu, das die Augen schließt und sein Schicksal stumm akzeptiert. Es fällt mit einem satten Bong zu Boden und bleibt regungslos liegen. Winry atmet schwer und setzt sich für einen Moment auf ihre Hinterpfoten, während Katrina ihr Pokémon zurückruft und wie erwartet einen dritten Pokéball zückt. Louis hat die Augenbrauen zusammengezogen und betastet unschlüssig Ethans Pokéball. Dann materialisiert sich das Bibor. Seine speerähnlichen Stacheln hängen schwer zu Boden und die roten Facettenaugen starren Winry an, die sich langsam wieder erhebt. Dann erzittern seine Flügel, nehmen Geschwindigkeit auf und befördern Bibor schließlich schwankend in die Luft. Seine schmalen Insektenbeine zittern und als es den kleinen Mund öffnet, entweicht ihm ein vibrierendes Fauchen. Louis verzieht angewidert das Gesicht und reibt sich über seinen Arm, dort, wo er selbst von einem Bibor gestochen wurde. Der Stich ist inzwischen völlig verheilt, aber angenehm war er nicht. „Bibor, Giftstachel!“, ruft Katrina und ich befürchte das Schlimmste, als das Insektenpokémon nach vorne schießt und Winry mit einem seiner vorderen Stacheln trifft. Die Arme kann kaum ausweichen, so verklebt in Kokunas Fadenschuss ist sie. Als der Stachel sich durch ihre Haut bohrt, kreischt sie und schlägt wild um sich. „Ganz ruhig, du schaffst das!“, ruft Louis ihr zu. „Kratzfurie!“ Winry schlägt erneut nach Bibor, dieses Mal gezielter. Bibor summt und taumelt in der Luft, bis es sich wieder fängt. „Gut, jetzt Ruckzuckhieb!“, befiehlt Louis, aber als Winry einen Schritt nach vorne macht,  windet sie sich plötzlich. Sie schüttelt sich, kann das Zittern aber nicht unter Kontrolle bringen. Gift färbt das Fell um Bibors Einstichstelle violett und Louis kneift ein Auge zusammen. „Komm schon, gleich hast du´s geschafft!“ Winry zwingt sich zu einem Ruckzuckhieb, aber ihr fehlt ihre gewöhnliche Wucht und Bibor lässt den Angriff unbekümmert über sich ergehen. Dann kontert Katrinas Pokémon mit einem Furienschlag. Wieder und wieder sticht es auf Winry ein, die inzwischen kraftlos am Boden liegt. Ich kann es kaum mit ansehen. „Winry, bitte…“, flüstert Louis und es zerreißt mir fast das Herz. Ja, er hat noch Ethan, aber ich will nicht, dass er sein Selbstbewusstsein schon wieder verliert. Diesen Kampf muss Winry gewinnen, egal wie. „Kratzfurie, komm schon!“ „Bibor, Energiefokus“, ruft Katrina. „Wir beenden es danach mit deinem Furienschlag.“ Bibor senkt gehorsam en dreieckigen Kopf, dann beginnt sein Körper von innen heraus rotorange zu glühen. Seine Flügel schlagen immer schneller, bis sie nur noch sirrende Schlieren in der Luft sind. Winry rafft sich in der Zwischenzeit auf und holt tief Luft, dann springt sie auf Bibor zu und reißt es mit sich zu Boden, wo sie mehrmals mit krallenbewerten Pfoten auf ihren Gegner einschlägt. Ich kann Louis zusammen gekniffene Lippen sehe und spüre förmlich, wie Winry alles aus sich herausholt, was sie noch hat. Bibor reißt sich schließlich von ihr los, aber es sieht plötzlich sehr viel geschwächter aus. Diese Kratzfurie hatte es in sich. „Los, Bibor, beende es jetzt!“, schreit Katrina. „Ruckzuckhieb!“ Louis Stimme ist zittrig, aber stark. Winry reißt ihren Körper in die Höhe und schießt mit letzter Kraft auf Bibor zu, dessen Furien schon in ihre Richtung schnellen. Winry trifft zuerst. Sie prallt mit voller Wucht gegen Bibor und die Beiden kugeln über den Kampfplatz und gegen einen der Bäume, wo sie reglos liegen bleiben. Bibors Flügel zucken noch ein paar Mal, dann sinken sie kraftlos zu Boden. Winry hebt den Kopf und winselt leise in Louis´ Richtung, dann schüttelt das Gift ihren Körper und ihr Kopf sackt zur Seite. Die beiden Trainer rennen zu ihren Pokémon. Ich bin gleich hinter Louis, der neben Winry kniet und ihren Kopf streichelt. „Du warst super“, flüstert er. Katrina ist die Erste, die ihr Pokémon zurück ruft und aufsteht. Louis tut es ihr gleich. Sie reicht ihm die Hand. „Das war ein sehr guter Kampf“, sagt sie und lächelt ihn aufrichtig an. „Du darfst weiter gehen. Alex wartet schon auf dich.“ Gleichzeitig schauen Louis und ich an ihr vorbei. Hinter den Bäumen taucht ein Teenager auf, mindestens einen Kopf größer als wir beide. Seine Haut ist so dunkel wie die Rinde der umstehenden Bäume und als er uns ein strahlend weißes Grinsen zu wirft, muss ich schlucken. Neben mir strafft Louis die Schultern, dann zieht er ein Item aus seiner Tasche und verwendet es bei Winrys Pokéball. Ich schaue ihm skeptisch zu. „Willst du der Armen keine Pause gönnen?“, frage ich, als er nun auch noch einen Supertrank verwendet. „Ich möchte meinen vorzeitigen Tod noch etwas herauszögern, Abby“, erwidert Louis gereizt und ich hebe entschuldigend die Hände in die Luft. „War nur einer Gedanke.“ Louis bezieht auf seiner Hälfte der Kampffläche Stellung, während ich mich zu Katrina geselle. „Seit wann bist du Trainerin?“, frage ich sie, während Louis Winry ruft und sich vor Alex ein zufrieden brummendes Volbeat materialisiert. „Seit zwei Jahren, aber ich habe Azalea City nicht verlassen“, sagt Katrina fröhlich, ihr Blick auf den beginnenden Kampf gerichtet. „So viel Ehrgeiz hatte ich nie.“ Ich nicke und wende mich ebenfalls dem Geschehen zu. Winry hat bereits mit einem Ruckzuckhieb gestartet, dem Volbeat gekonnt mit Doppelteam ausweicht. Seine Doppelgänger huschen sirrend über den Platz und um Wiesenior herum, die hier hin und dort hin schnellt und ihn doch nicht trifft. Alex grinst selbstgefällig. „Jetzt Konfusstrahl!“, befiehlt er und während Winry auf Louis Geheiß zu einer Kratzfurie ansetzt, drehen sich alle Schattenbilder des Volbeats mit einem Mal um. Der kleine Schwanz an ihrem Hinterteil beginnt, grell zu leuchten und zusammen mit der Vielzahl der Lichter strauchelt Winry und fällt vornüber zu Boden. Sie winselt, rappelt sich aber sofort wieder auf. Louis beißt sich auf die Lippen. „Ruckzuckhieb, los!“, ruft er. „Tackle, Volbeat!“ Die beiden Pokémon schießen aufeinander zu, doch nur Volbeat wird durch den Aufprall nach hinten geworfen. Es schüttelt den blauen Kopf und flattert etwas desorientiert durch die Luft, bis es seine Balance wieder hat. Winry schlägt sich in der Zwischenzeit selbst gegen den Kopf, als wolle sie die Verwirrung loswerden. „Kratzfurie, Winry! Lass dich nicht ablenken!“ Winry schießt nach vorne und schlägt mehrere Male auf das Käferpokémon ein, bis es schwach über dem Boden schwebt. Es ist so gut wie besiegt, aber Alex wirkt kein bisschen besorgt. „Jetzt Mondschein.“ Katrina lacht leise und ich schaue zu ihr. Sie hat die Arme verschränkt und ein Bein gegen den Baumstamm hinter sich gestemmt. „Jetzt wird es interessant“, sagt sie strahlend und ich schaue zu Volbeat, dessen ganzer Körper silbern leuchtet. Die Kratzer und Schrammen von Winrys Attacken verschwinden, seine honiggelben Augen leuchten wieder. Mondschein, natürlich. „Pass auf, Louis!“, rufe ich ihm zu. „Es kann sich heilen!“ „Soweit bin ich auch schon!“, ruft er zurück. „Nochmal Kratzfurie!“ „Weich aus mit Doppelteam“, kontert Alex, das selbstgefällige Grinsen immer noch auf seinem Gesicht. Warte nur, bis Ethan auftaucht, denke ich. „Los, Winry, du packst das!“, feuere ich Wiesenior an, das dankbar fiept und dann über den Boden auf Volbeat zu schnellt, das nach oben ausweicht und seine Doppelteamattacke beginnt. Aber statt wie zuvor daneben zu schlagen, trifft Winry es und reißt das Original aus der Luft auf den Boden, bevor es seine zahllosen Doppelgänger aufbauen kann. Viermal kratzt Winry den runden Insektenkörper, bevor Volbeat sich los strampelt und laut hechelnd wieder in der Luft zur Ruhe kommt. „Nochmal Mondschein!“, ruft Alex, dieses Mal mit ernsterer Stimme. Mondschein regeneriert eben immer nur 50% der Energie. „Nicht mit uns! Komm ihm zuvor mit Ruckzuckhieb!“, befiehlt Louis. Der Sieg leuchtet in seinen Augen. Na bitte, so langsam wird es doch mit ihm. Volbeat beginnt bereits silbrig zu leuchten, aber Winry katapultiert sich in die Höhe und prallt mit voller Wucht gegen ihren Gegner, bevor der seine Attacke beenden kann. Volbeat wird durch die Luft geschleudert, schlägt gegen einen der umstehenden Bäume und trudelt dann zu Boden, wo es reglos liegen bleibt. Louis jauchzt und fällt Winry um den Hals, die sich umgedreht hat und auf ihn zu geprescht ist. Vor lauter Fell kann ich ihn gar nichts mehr sehen. „Freu dich nicht zu früh“, ruft Alex ihm zu und ruft sein besiegtes Volbeat zurück. „Wir sind noch nicht fertig.“ Winry löst sich von ihrem Trainer und setzt sich vor ihm auf die Hinterbeine, die Vorderpfoten über der Brust verschränkt, während Louis resigniert seufzt. „Wäre ja auch zu schön gewesen…“, murmelt er. „Räche deinen Bruder, Illumise!“ Das blau schwarz gemusterte Käferpokémon ist etwas kleiner als ihr Vorgänger und zwinkert ihrem Trainer charmant zu, dann surrt sie in die Luft und bleibt dort, die gelben Antennen auf ihrem Kopf in zuckender Alarmbereitschaft. „Dann mal los. Winry, Ruckzuckhieb!“ „Charme!“ Mist. Winry katapultiert sich nach vorne, ihr langer brauner Körper nur noch ein Schlieren, bevor sie in die Höhe schießt und Illumise trifft. Das Pokémon wimmert, als der Impakt es nach hinten schleudert, aber es fängt sich genauso schnell wieder. Im nächsten Moment geht ein merkwürdiger Schein von Illumise aus und Winry landet verdattert auf dem Hinterteil. „Nochmal Ruckzuckhieb!“ „Charme!“ Ich beiße mir auf die Lippen, als die Kontrahenten wieder aufeinander zu schießen. „Kratzfurie!“ „Charme!“ Ich halte mir die Hand vor den Mund und betrachte verzweifelt, was sich vor meinen Augen abspielt. Winrys kraftvolle Kratzfurie ist kaum noch Attacke zu nennen; sie reckt halbherzig die Vorderpfoten in die Höhe und wenn sie Illumise berührt, kichert das Pokémon und weicht der zweiten Attacke geschickt aus. „Jetzt Mondschien“, ruft Alex und Illumise beginnt silbern zu glühen. Im nächsten Moment ist sie so frisch wie zu Beginn des Kampfes. „Winry, benutz-“ „Louis!“, schreie ich und Louis dreht sich überrascht zu mir um. „Du kannst so nicht weiter kämpfen!“, rufe ich ihm zu. „Winry macht keinen Schaden mehr und Illumise kann sich heilen. Wenn du so weiter macht, sitzen wir morgen noch hier.“ Louis betastet erneut den zweiten Pokéball an seiner Hüfte. „Was soll ich tun?“, ruft er mir zu, während Illumise freudig um Winry herum flattert, die immer wieder die Pfoten nach ihrem Gegner ausstreckt, ein dümmliches Grinsen im Gesicht. „Das weißt du ganz genau!“, rufe ich zurück. Louis zögert noch einen Moment, doch als er zu Winry schaut, die leise kichert, stöhnt er und zieht seinen Pokéball. „Winry, komm zurück.“ Ein roter Lichtblitz trifft auf sein Wiesenior, hüllt es ein und im nächsten Moment ist nur noch Illumise auf der Kampffläche. „Gibst du auf?“, fragt Alex und hebt eine Augenbraue. „Los, Ethan!“ Louis kneift die Augen zusammen und im nächsten Moment erfüllt das rote Licht die gesamte Arena. Als ich wieder halbwegs sehen kann, liegt ein sechs Meter langes Garados eingerollt auf der Kampffläche. Blaue, riesige Schuppen bedecken seinen ganzen Körper, sein gigantisches Maul ist weit aufgerissen und als es Illumise sieht, die vor ihm in der Luft schwebt und nun gar nicht mehr so entspannt in die Runde schaut, brüllt es mit ohrenbetäubender Lautstärke. Louis steht hinter ihm und zittert am ganzen Körper. „Biss, los!“, ruft er, seine Stimme fast hysterisch. Ethan dreht den Hals und schaut schräg nach hinten zu seinem Trainer. Ein Grollen kommt tief aus seinem Körper und mir stehen innerhalb von Sekunden sämtliche Haare zu berge. „Wow“, flüstert Katrina ehrfürchtig und lässt sich an ihrem Baumstamm langsam zu Boden sinken, bis sie im Schneidersitz auf der weichen Erde hockt. „Damit habe ich nicht gerechnet.“ Garados betrachtet seinen Trainer einige Sekunden lang abschätzig, dann dreht es den Kopf wieder zu Illumise. Als es sich langsam entrollt, gewinnt Alex seine Fassung wieder. „Charme!“, ruft er seinen Pokémon zu. Illumise setzt zu ihrer Attacke an, aber bevor sie auch nur in Ethans Richtung fliegen kann, schießt dessen Kopf nach vorne und schnappt nach ihr. Seine kräftigen Kiefer packen Illumise und quetschen sie in seinem Maul ein. Das Pokémon fiept entsetzt, kann sich aber nicht befreien. Ethan verstärkt seinen Biss, bis Illumise sich nicht mehr wehrt, dann spuckt er sie aus. Sie landet regungslos vor den Füßen ihres Trainers. Alex sinkt auf die Knie. „Du hast gewonnen“, flüstert er matt, während er ehrfürchtig zu Garados aufschaut, dessen Zähne im Licht der Arena blinken. Sein Schatten bedeckt die gesamte Plattform und ich fröstele. „Warum hat er nicht von Anfang an mit seinem Garados gekämpft?“, fragt Katrina und reibt sich die Arme. Auch sie hat eine Gänsehaut. Ich antworte nicht. Louis zittert am ganzen Leib, als Ethan sich entrollt und ihm zuwendet. „Darum“, sage ich noch, bevor Ethan mit seinem Schwanz ausholt und Louis mit ungeheurer Wucht von der Plattform in den Abgrund schleudert. Armer Kerl. Kapitel 26: Vertrauensbeweis (Der Guide) ---------------------------------------- Louis´ Schrei erstickt, als er auf dem Sicherheitsnetz landet und der Aufprall ihm die Luft aus den Lungen presst. Ethan schnaubt zufrieden, dann wendet er den Kopf ab und rollt sich wieder ein. Ich laufe zu der Stelle, an der ich Louis vermute und schaue über die Kante nach unten. Louis liegt auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt und schaut mit großen Augen zu mir auf. Ich gehe auf die Knie. „Schuld beglichen“, sage ich grinsend und reiche ihm meine Hand. „Na komm, du hast noch einen Vortrainer zu besiegen.“ „Kann ich hier bleiben?“, fragt Louis, setzt sich aber trotzdem vorsichtig auf. Als er aufsteht, wackelt er gefährlich, denn das Sicherheitsnetz ist recht grobmaschig und er muss auf den einzelnen Tausträngen balancieren, um meine Hand zu erreichen. Er stößt sich ab und zieht sich hoch, fast ohne mein Zutun. Als er wieder heil neben mir auf der Plattform steht, dreht Garados knurrend den Kopf in unsere Richtung. Louis zuckt zusammen, aber das scheint Ethan schon zu reichen, denn er schnaubt und wendet sich wieder ab. „Er hasst mich“, sagt Louis und seufzt niedergeschlagen. „Ach was.“ Ich klopfe ihm auf den Rücken. „Sobald ihr etwas mehr Zeit miteinander verbracht habt, wird sich das schon geben.“ „Das sagst du so leicht…“ „Jetzt blas hier keine Trübsal, wir haben zu tun.“ „Wir? Du meinst Ich.“ „Yep. Also los!“ Ich schiebe ihn schwungvoll in Richtung Ethan und als Louis fast gegen sein Pokémon stolpert, weicht er hastig zur Seite aus. Ich lache leise und folge ihm, mit etwas Abstand. Katrina ist inzwischen aufgestanden und begutachtet das Garados. Als Louis neben ihr steht, schaut sie ihn mit leuchtenden Augen an. „Es ist ein Prachtexemplar!“, sagt sie und streichelt sanft über die blauen Schuppen. „Ehm. Danke.“ „Joshua ist dein letzter Gegner“, sagt sie dann und deutet auf die nächste Plattform, an deren Ende Kai schon auf uns wartet. Dann beugt sie sich zu Louis nach vorne und flüstert ihm etwas ins Ohr. Louis nickt, dann klopft er Ethan vorsichtig auf den Körper. Er zischt und Louis zuckt zurück. Ich schließe zu ihm auf und gemeinsam machen wir uns auf den nächsten Balanceakt gefasst. Garados ruft Louis solange zurück. „Was hat Katrina zu dir gesagt?“, frage ich ihn, während ich vorsichtig einen Fuß auf den ersten Holzbalken stelle. Er ist sogar noch schmaler als die anderen. „Sie meinte, Joshua hat nur ein Pokémon, aber dass er nicht leicht zu besiegen ist“, meint Louis zerknirscht und folgt meinem Beispiel. Gemeinsam balancieren wir über den Abgrund. Als wir die gegenüberliegende Seite erreichen, wirkt sie größer, als noch von Anfang der Arena. Die Bäume stehen an den Wänden dichter zusammen und der Baumstumpf, auf dem Kai sitzt, ist fast wie ein Thron geformt. Der Boden ist mit weicher Erde bedeckt und hier und da wachsen sogar ein paar Blumen. Wir schauen uns um, aber außer Kai ist niemand da. Der kratzt sich verlegen am Kopf und steht auf. „Tut mir unendlich Leid. Joshua hat eine lästige Angewohnheit, zu spät zu seinen Schichten zu erscheinen.“ Ich schlage Louis gutmütig mit der Faust gegen die Schulter und grinse ihn an. „Da hast du ja nochmal Glück gehabt.“ Er nickt. „Dann sollten wir vielleicht noch einmal zum Pokécenter gehen, bevor ich-“ „Moooooment.“ Erschrocken drehe ich mich um und entdecke einen Jungen, der spielerisch über die Balken zu uns rüber hüpft. Er wechselt mühelos zwischen den nebeneinander verlaufenden Streben, ohne auch nur auf seine Füße zu achten und kommt schlitternd und in Welteroberungshaltung hinter uns zum Stillstand. „Joshua der Große ist schon zur Stelle“, sagt er und reckt eine Faust in die Höhe. „Auf geht´s, wen darf ich heute besiegen?“ Kai schüttelt peinlich berührt den Kopf und lässt sich wieder auf seinen Baumthron sinken. „Louis ist dein Herausforderer, aber unterschätze ihn nicht, Joshua. Es könnte übel für dich enden.“ Joshua, der sich bereits mir zugewendet hat, lässt enttäuscht den Kopf zur Seite sacken. „Och Manno, warum muss ich immer gegen die Jungs kämpfen?“ „Du hast gegen Ruth gekämpft, schon vergessen?“, ruft Katrina ihm von der anderen Plattform zu und Joshua verzieht das Gesicht. „Die ging wohl kaum als Mädchen durch…“, murmelt er, dann strafft er die Schultern, geht an mir und Louis vorbei und nimmt vor Kai Aufstellung. Als ich einen Blick zu Louis werfe, bin ich überrascht, so etwas wie echten Kampfgeist in seinen Augen blitzen zu sehen. Da hat wohl jemand mehr Motivation als sonst. „Worauf warten wir, lasst den Kampf beginnen!“, ruft Joshua und zieht einen Pokéball aus seiner Gürteltasche, den er dramatisch in die Höhe wirft. „Los, King!“ Aus irgendeinem Grund bin ich über den Namen nicht mal überrascht. King entpuppt sich als stattliches Yanma, sein großer grüner Kopf wackelt sanft hin und her, während seine zwei Flügelpaare an Geschwindigkeit gewinnen und es wankend in die Höhe befördern. Louis macht sich nicht mal mehr die Mühe, sein Pokémon anzukündigen, er ruft Ethan ohne großes Getue und als das rote Licht verblasst, liegt Garados in voller Pracht eingerollt vor uns auf dem Kampfplatz. Joshua wirkt zu meiner Überraschung jedoch nicht das geringste Bisschen verunsichertet, er macht nur ein Peace-Zeichen und grinst uns breit an. Louis knirscht mit den Zähnen. „Der hält sich wohl für ganz toll…“, zischt er tonlos und ich ziehe die Augenbrauen hoch. Was ist denn in ihn gefahren? „Ethan, starte mit Biss!“ „Block mit Scanner!“ Ethan wirft einen Blick zu seinem Trainer, dann wendet er sich seinem Gegner zu und lässt seinen Kopf noch vorne schießen, das Maul weit geöffnet. Yanma sirrt durch die Luft und als Ethan in Reichweite kommt, flimmert mit einem mal die Luft und Garados´ Kopf prallt an einer unsichtbaren Barriere ab. „Sehr gut, King, jetzt starte durch mit Ruckzuckhieb!“ „Nochmal Biss, Ethan.“ Ethan schüttelt den gewaltigen blauen Kopf, dann schnappt er erneut nach Yanma, das längst in die Höhe geschossen ist und jetzt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf seine Flanke zu prescht. Als es trifft, reißt Garados den Kopf herum und schnappt erneut nach dem Käferpokémon, dieses Mal mit Erfolg. Yanma kreischt, kann sich aber nach einigem Gezappel befreien und fliegt zu Joshua zurück, der ein siegessicheres Grinsen auf dem Gesicht hat. „Konter nochmal mit Scanner, gefolgt von deinem Doppelteam!“ „Ethan, Tackle, aber verausgab dich nicht, danach Biss.“ Während ich dabei zuschaue, wie Ethan halbherzig mit dem Schwanz gegen die Luftbarriere schlägt, die Yanma aufgebaut hat und dann versucht, eine der vielen Doppelteamillusionen mit seinen Zähnen zu erwischen, beuge ich mich zu Louis rüber, der verbissen den Kampf verfolgt. „Garados kann Fuchtler, oder nicht?“, frage ich vorsichtig und Louis verschluckt sich. „Bist du wahnsinnig?“, fragt er und hält sich die Kehle, während Ethan ein weiteres der Scheinbilder zerbeißt und frustriert brüllt. „Ich bin froh, dass ich ihn einigermaßen unter Kontrolle habe, was denkst du, wird passieren, wenn er verwirrt ist und ihm einfällt, dass er mich eigentlich gar nicht mag?“ „Mit der Einstellung wirst du seinen Respekt auch nicht zurück bekommen“, murre ich, lasse es aber vorerst dabei. Spätestens gegen Kai wird er alles auspacken müssen, was er hat, da bin ich mir sicher. „Bleib bei Biss, Ethan!“, ruft Louis seinem Pokémon zu, das laut schnaubt und sich wütend zu seinem Trainer umdreht. Sein gewaltiger Schweif peitscht gefährlich über den Boden und es brüllt Louis laut an, der unwillkürlich einen Schritt zurück macht. Garados entgeht die Bewegung nicht, es schaut zu dem Yanma zurück, das dem Befehl seines Trainers folgt und erneut ein Doppelteam vorbereitet, dann wieder zu Louis. Sein Kopf sinkt etwas und fast sieht es so aus, als sei es… enttäuscht? Ethan wendet sich wieder Yanma zu, das mit Überschallgeschwindigkeit durch die Arena sirrt. Seit Beginn des Kampfes ist es immer schneller geworden. Garados brüllt, dann reißt es das Maul auf und schnappt nach einem der Scheinbilder. Es zerreißt in der Luft. Louis flucht leise neben mir, aber Ethan ist noch nicht fertig. Statt erneut zu einer Bissattacke zu greifen, hebt es seinen Schweif und schlägt mit gewaltiger Wucht durch drei nahe beieinander liegende Yanma-Abbilder. Eines von ihnen kreischt und wird gegen einen Baum geschleudert. Joshua schreit und rennt zu ihm. „Das… war Fuchtler“, sage ich und schaue zu Louis, der Garados anstarrt. Ethan dreht sich zu ihm um und schaut ihn wieder mit diesem traurigen Blick an, dann wendet er sich ab und lässt den gigantischen Kopf hängen. Louis reibt sich die Schläfen und wirft mir ein halbherziges Lächeln zu. „Scheint so, als hätte ich gewonnen“, sagt er dann und ich nicke. Wir beide schauen zu Joshua, der Yanma in den Armen wiegt und es schließlich zurückruft. Dann steht er auf, kommt auf uns zu und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Mächtig starkes Garados hast du da“, sagt er und reicht Louis seine Hand. „Da werden King und ich wohl noch etwas an unserer Technik feilen müssen. „Deine Scanner-Doppelteam-Kombi war super“, sage ich und Joshuas Miene hellt sich augenblicklich auf. „Wirklich?“ „Klar“, sagt Louis und erwidert den Handschlag. „Vor ein paar Tagen hättest du mich damit platt gemacht.“ „Gut zu wissen.“ Er lacht und verschränkt die Hände hinter seinem Kopf. „Ich nehme an, du frischst dich vor Kai noch einmal im Pokécenter auf?“ „Auf jeden Fall“, sagt Louis und ruft Ethan zurück. „Sei nicht enttäuscht, wenn du verlierst“, lacht Joshua und klopft Louis auf die Schulter. „Kai ist der stärkste Trainer, den ich kenne. Auch mit seinem Arenateam ist er ein hervorragender Kämpfer.“ Er beugt sich zu uns nach vorne und fährt flüsternd fort. „Seid froh, dass ihr nicht mit seinem Scherox rechnen müsst. Ich hab ihn nur einmal damit kämpfen sehen und maaaan, das war so richtig übel!“ „Glauben wir dir“, sage ich. „Aber wir müssen jetzt los.“ „Klar, bis später.“ Joshua winkt, dann geht er zu Kai hinüber, der leise auf ihn einredet und ihm aufmunternd auf die Schulter klopft.   „Du musst mehr Vertrauen in Ethan haben“, sage ich, während wir im Pokécenter stehen und darauf warten, dass die Heilmaschine mit Winry und Ethan fertig ist. „Hast du sein Gesicht gesehen? Er war richtig enttäuscht von dir.“ „Ist okay, ich hab´s gesehen“, murmelt Louis gereizt. „Ich verstehe nicht, was in ihm vorgeht. Erst will er mich umbringen, dann gehorcht er mir nicht und dann ist er enttäuscht, weil ich Angst vor ihm habe? Was soll ich davon bitte halten?“ „Vielleicht müsst ihr Beide euer Vertrauen zurückgewinnen.“ „Wirklich.“ Er schaut mich nicht an, sondern starrt ausdruckslos auf die Pokébälle. Kaum eine Minute später gibt Schwester Joy sie uns wieder und wir machen uns auf den Rückweg. Es gibt immer noch einen Orden zu gewinnen und weder Louis noch ich haben vor, die Arena ohne ihn zu verlassen.   „Ich habe mich sehr auf dieses Duell gefreut, Louis“, sagt Kai, als er sich von seinem Thron erhebt und davor Stellung nimmt. „Ich bin gespannt, wie du gegen mein Team abschneiden wirst.“ „Ich auch“, sagt Louis, dann zieht er seinen ersten Pokéball. Kai tut es ihm gleich. Ich mache es mir inzwischen am Rand des Kampfplatzes gemütlich und beobachte mit großem Interesse, wie ein roter Lichtblitz aus Kais Pokéball hervorschießt und ein kleines, graugrün gepanzertes Pokémon vor ihm auf dem Boden auftaucht. Winry folgt nur einen Sekundenbruchteil später, ihr flauschiger Schweif elegant um ihre Taille gewickelt. Louis holt tief Luft, dann ruft er Wiesenior den ersten Befehl zu. „Starte mit Ruckzuckhieb.“ „Anorith, erwidere mit Kratzer.“ Winry huscht flach über den Boden und prallt mit gewaltiger Wucht gegen Anorith, das den Schlag trotzdem gut wegsteckt. Es schüttelt sich nur kurz, dann setzt es zum Gegenangriff an und trifft Winry mit seinen Krallen frontal in den flauschigen Bauch. Die beiden Pokémon gehen auf Abstand, Winry schießt blitzschnell rückwärts während Anorith ein Stück nach hinten krabbelt. Dann umkreisen sie sich langsam. „Nochmal Kratzer.“ „Kratzfurie, Win!“ Winry schießt erneut nach vorne und lässt Krallenhiebe auf Anorith niederregnen, das sich zusammen gerollt hat, um die Attacke besser einstecken zu können. Als Winry außer Puste zurück springen will, schnellt eins von seinen Beinen nach vorne und reißt ihr die Seite auf. Einige Blutstropfen rinnen durch ihr braun-beiges Fell. „Beende es mit Ruckzuckhieb!“ „Ausweichen wenn möglich, dann Kratzer.“ Aber Winry ist zu schnell. Trotz der Verletzung prescht sie auf Anorith zu und schleudert den gepanzerten Käferkörper in die Höhe und gegen einen Baum. Wie erwartet bleibt er besiegt liegen, aber Winry hechelt leise. Sie ist nicht unbeschadet aus diesem Kampf gekommen. „Das war ein guter Beginn“, sagt Kai, während er Anorith zurück ruft. „Aber so leicht lassen sich meine Käferpokémon nicht unterkriegen.“ Er hebt einen Pokéball in die Höhe und rotes Licht erfüllt die ganze Arena. Ich kneife meine Augen zusammen. Als ich sie wieder öffne, hat sich vor ihm ein hellgrünes Sichlor materialisiert, das die spitzen Zähne fletscht und wie ein Boxer von einem Hinterbein aufs andere springt. Seine Scheren klackern, als er sie gegeneinander reibt und leise kreischt. Ich schlucke. Von Schwester Joy haben wir erfahren, dass Kai seinen Herausforderern mit drei Pokémon begegnet. Ich war mir sicher, dass er Sichlor als Letztes verwenden würde. Louis wird vorsichtig sein müssen. „Kratzfurie, Winry!“ „Agilität, Sichlor.“ Die Luft sirrt, Sichlor verschwimmt, dann verschwindet er gänzlich. Mein Blick huscht suchend hin und her, aber außer grünen Schlieren hier und da kann ich Sichlor nicht ausmachen. Selbst als er langsamer wird, kann ich ihm kaum mit den Augen folgen. Winry hat ähnliche Probleme. Sie ist nach vorne geschossen, nur um wieder stehen zu bleiben und sich verwirrt umzusehen. Jetzt, da Sichlor wieder halbwegs sichtbar ist, schafft sie es, ihr zweimal mit ihren Krallen zu treffen, aber die Treffer sind schwach und wenig effektiv. „Nochmal Kratzfurie!“, ruft Louis seinem Pokémon zu. „Triff ihn diesmal richtig!“ „Beende es mit Verfolgung.“ Die beiden Pokémon schießen aufeinander zu, zwei Schlieren aus braun und grün. Sichlor trifft zuerst. In einem Moment kommt er grinsend vor Wiesenior zum halt, im nächsten verschwindet er und taucht hinter ihr auf. Ich höre nur noch ein Sirren und seine Flügelklingen treffen Winry mit voller Kraft ins Kreuz. Sie strauchelt winselnd nach vorne, bleibt einige Sekunden lang stehen, dann kippt sie vorne über. Sichlor keckert zufrieden, während er auf Wiesenior hinab sieht. Louis ruft Wiesenior ohne ein Wort zurück, seine andere Hand hält bereits Ethans Pokéball umklammert. "Los, Ethan!", ruft er dann und ich beiße mir auf die Lippen. Hoffentlich geht das gut. "Du auch zurück, Sichlor", befiehlt Kai und Sichlor grinst ein gespenstisches Lächeln, bevor er in einem roten Lichtblitz verschwindet und zurück in den Pokéball gesogen wird. Kai ruft sein drittes Pokémon, ein Smettbo, das mit freudiger Erregung durch die Luft schwirrt und sich nicht im Geringsten von seinem sechseinhalb Meter langen Gegner beeindrucken lässt. Gut gelaunt flattert es auf Kai zu und zieht an seinen lila Haaren, während es vergnügt gluckst. "Das reicht, Smilla", lacht er und verscheucht das Pokémon gutmütig von seinem Kopf. Smettbo fiept fröhlich, dann nimmt es sie Schwung und trudelt in großen Bögen zurück auf ihren Platz. Louis zieht eine Augenbraue hoch und ich lache. Das kleine Pokémon gefällt mir. "Ethan, starte mit Fuchtler!", befiehlt Louis und ich kann gerade noch Garados´ positiv überraschtes Gesicht erkennen, bevor er sich in Bewegung setzt und weit mit seinem Schweif ausholt. "Giftpuder, Smilla." Smilla breitet die violett und silbrig glänzenden Flügel aus und schlägt mehrmals in Richtung Garados, das innerhalb von Sekunden von einer lila Staubwolke umhüllt ist. Dann trifft Ethans Fuchtler und Smettbo überschlägt sich mehrfach, bevor es auf den Boden prallt und wimmernd liegen bleibt. "Dein Garados hat einiges an Kraftreserven", sagt Kai anerkennend und betrachtet sein Smettbo, das sich langsam wieder auf die kleinen Füßchen rappelt und vorsichtig in die Luft schwebt. Ich wende meine Aufmerksamkeit Louis zu, der immer noch nicht geantwortet hat. Stattdessen ist sein Blick auf Ethan fixiert. Ethan ist über und über mit violettem Puder bedeckt, jeder Atemzug lässt ihn husten und sich schütteln. Das Gift hat angeschlagen. Verdammt! Wir haben schließlich auch noch Sichlor vor uns. Trotz der Vergiftung drischt Ethan ein weiteres Mal auf Smettbo ein, dieses Mal heftiger als zuvor. Das kleine Käferpokémon konnte sich zuvor schon kaum in der Luft halten, jetzt schlägt es mit einem lauten Knall auf dem Arenaboden auf und bleibt endgültig liegen. Kai verzieht mitfühlend das Gesicht, dann ruft er Smilla zurück. Ethan hechelt, als das Gift sich immer weiter in seine Lunge vorarbeitet. "Dann beenden wir es jetzt", sagt Kai und Louis nickt. Seine Schultern sind angespannt. Sichlor materialisiert sich in einem roten Blitz und spreizt kreischend seine Scheren, eine Geste, die Garados mit ohrenbetäubendem Gebrüll erwidert. Ich halte mir schnell die Ohren zu, aber Louis verzieht nicht mal das Gesicht. "Ethan, attackier ihn weiter wie bisher. Keine Gnade." "Verfolgung, Sichlor, lass dich nicht von seinem Fuchtler treffen." Sichlor schießt auf Garados zu, das nun unkontrolliert um sich schlägt. Den ersten beiden Attacken weicht Sichlor aus, aber dann wird es unachtsam und Ethans Schwanz trifft es von hinten im Rücken. Es kreischt, springt in die Höhe und wirft Ethan einen tödlichen Blick zu, dann beschleunigt es aus der Luft heraus und verschwindet. Garados wirft den Kopf wild hin und her, während ich die Luft und den Boden nach Sichlor absuche. Dann entdecke ich einen grünen Schimmer, der hin und her springt und schließlich direkt vor Garados zum Stillstand kommt. Sichlor schreit siegessicher, dann schießt es nach vorne und trifft Ethan mit seiner Verfolgung direkt zwischen den Augen. Garados brüllt und wirft den Kopf zur Seite, Sichlor stößt sich von seiner Stirn ab, überschlägt sich in der Luft und landet grazil vor Kai, wo es erschöpft aber grinsend auf ein Knie sinkt. Ich werfe einen schnellen Blick zu Ethan und Louis. Garados leidet unter dem Gifteinfluss, sein Kopf ist zu Boden gesunken und er würgt wieder und wieder lila Schleim aus, der das Gras auf dem Arenaboden verwelken lässt und ziemlich übel riecht. Louis hat inzwischen einen Schritt nach vorne gemacht, wagt es aber nicht, Ethan zu berühren, denn das wäre gegen die Regeln. Während des Kampfes darf ein Trainer nicht direkt mit seinem Pokémon interagieren, es sei denn, es ist unbeabsichtigt. "Komm schon Ethan, du hast es fast geschafft", fleht Louis und sucht Ethans Blick. Als Garados den Kopf zu ihm dreht, sehen die beiden sich tief in die Augen, blau in blau. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. "Sichlor, nochmal Verfolgung", befiehlt Kai und ich balle die Fäuste. Louis hat keine Zeit mehr! Während Sichlor sich aufrappelt und los schießt, bäumt Garados sich mit letzten Kräften aus. Louis steht hinter ihm und gibt Anweisungen. "Dein Fuchtler ist abgeklungen, du bist vergiftet und verwirrt, ich weiß. Aber wir haben es fast geschafft. Beende es, egal wie. Triff ihn wie du nur kannst!" Ethan knurrt, dann spuckt er eine weitere Ladung violetten Schleim auf den Boden und hebt den gewaltigen Kopf. Als er sich zu voller Größe aufgebäumt hat, erkenne ich Sichlor, das an einem der Bäume vorbeirast und auf Ethans Flanke zielt. "LINKS!", schreit Louis und ohne zu zögern reißt Garados sein gewaltiges Maul auf und lässt seinen Kopf zu seiner linken Seite rasen. Ich höre noch ein Knirschen und ein lautes Kreischen, dann herrscht gespenstische Stille. Ich hebe vorsichtig den Kopf und reiße die Augen auf. Ethans Kiefer ist um Sichlor geschlossen, dessen eine Klinge tief in Garados´ Flanke steckt. Ethan beißt fester zu und Sichlor kreischt erneut, während es kraftlos mit der freien Schere nach Ethans Kopf schlägt. Fast eine ganze Minute bleiben sie in dieser Situation und ich stehe langsam auf. Garados´ Atem geht pfeifend und Sichlors Augen fallen immer wieder zu. Louis zittert vor Anspannung am ganzen Leib und selbst Kai, der den ganzen Kampf über sehr ruhig war, hat einen Schritt nach vorne gemacht. Da öffnet Garados sein Maul und Sichlor fällt reglos heraus. Als es auf dem Boden aufschlägt, bewegt es sich keinen Zentimeter mehr. Ethan selbst knickt ein, sein gewaltiger Kopf schlägt auf dem Boden auf und violette Flüssigkeit rinnt aus seinem gewaltigen Maul. Es schließt erschöpft ein Auge, aber das andere bleibt offen und spießt Kai mit einem herausfordernden Blick auf. Kai lächelt und ruft Sichlor zurück. "Das war ein grandioser Kampf, Louis. Dein Garados hat mir ganz schön Kopfzerbrechen bereitet, und zu Recht. Wie es trotz der Vergiftung und Verwirrung gegen Sichlor gewonnen hat, ist bemerkenswert. Ich bin beeindruckt." Louis atmet erleichtert aus, dann geht er zu Kai, der ihm seine Hand hinhält. Als er an Ethans Kopf vorbeigeht, zögert er nicht mehr. Er tätschelt dem großen Pokémon den Kopf und flüstert etwas, dann erwidert er Kais Handschlag. "Danke, aber das Lob hat Ethan verdient, nicht ich. Er war der Hammer." "Das war er. Aber er hat es deinem Vertrauen und deiner letzten Anweisung zu verdanken, dass er gewinnen konnte. Trainer unterschätzen oft ihren eigenen Einfluss auf den Kampfgeist ihrer Pokémon." Kai lächelt und greift in seine Tasche. "Aber darüber müssen wir nicht weiter diskutieren. Der gehört dir." Er reicht Louis den Insektenorden. "Du hast ihn dir wirklich verdient." Ich laufe zu Louis und umarme ihn breit grinsend. "Gut gemacht, Champ", sage ich und wuschele ihm durch sein blondes Zaushaar. "Das war Fernsehreif." "Ach was...", murmelt Louis, aber seine Augen leuchten. Dieses Erfolgserlebnis hat er nach seiner Pechsträhne echt gebraucht. Ich drehe mich um und streichele Ethan über die gewaltige Schnauze. "Und du erst", sage ich und grinse ihn an. Ethan knurrt zustimmend, dann schließt sich auch sein zweites Auge und bleibt bewusstlos liegen. "Louis, wir sollten Ethan und Winry ins Pokécenter bringen", rufe ich ihm zu. "Stimmt." Er kratzt sich an der Nase und verabschiedet sich nochmal von Kai und den anderen Vorkämpfern, die jetzt ebenfalls auf die letzte Plattform gekommen sind, um ihm zu gratulieren, dann ruft er Ethan zurück und wir machen uns auf den Rückweg.   ooo  "Haben wir alles?", frage ich zwei Tage später, als Louis mir meine Zahnbürste zuwirft und ich sie in meinem Rucksack verstaue. "Glaube schon. Hey, hast du meine Boxer gesehen?" Ich verdrehe die Augen. "Ich bin nicht für deine Unterwäsche verantwortlich, Louis. Gott!" "Hätte ja sein können...", murrt er, als er aus dem Bad kommt und sich an seinem eigenen Rucksack zu schaffen macht, während ich versuche, meinen Schlafsack zusammen zu rollen. Nach dem Arenakampf am Sonntag haben wir den Montag damit verbracht, alle Läden in Azalea City abzuklappern und uns mit Tränken, Fertigessen und neuen Klamotten einzudecken, letzteres vor allem auf meinen Wunsch hin. Meine Strumpfhose ist völlig hinüber und außer meinen Shorts habe ich keine Hosen. Die nächsten Tage soll es zwar weiterhin warm bleiben, aber man weiß nie, wann einen die Kältefront überrascht und nachts ist es sowieso immer kühler als tagsüber. Außerdem steht der Herbst vor der Tür. Und bis Viola City sind wir immerhin gute zwei Tage unterwegs, wenn wir uns beeilen. Keine Märkte, keine Häuser und nach dem Einheitstunnel auch kein Pokécenter mehr. "Bist du sicher, dass du nicht wieder nach Dukatia City willst?", frage ich, während ich mich auf meinen Rucksack setze, um ihn zu zukriegen. Verdammter Reißverschluss. "Machst du Witze?", fragt Louis, der seine vermisste Unterhose unter dem Bett hervor fischt und nachdrücklich damit durch die Luft wedelt. "Erstens ist Bianka vielleicht noch nicht zurück und zweitens bringen mich keine zehn Gallopa wieder in diesen Wald. Schon gar nicht allein." "Touché." Eigentlich bin ich ganz froh, dass er mitkommt. Ich kann Einsamkeit nicht gut ab und außer Ruth und Gruppe sind sonst keine Trainer hier. Die Drei wollen, wenn ich mich richtig erinnere, morgen ebenfalls abreisen, allerdings in Richtung Dukatia. Die können froh sein, dass Louis und ich uns schon um das Hypno gekümmert haben. "Ich glaube, das war´s", sagt Louis und verschränkt zufrieden die Arme. Sein Rucksack platzt aus allen Nähten, aber immerhin ist alles drin. Was man von meinem nicht sagen kann. Louis schaut zu mir und als er sieht, wie ich mich abmühe, lässt er sein Zahnlückengrinsen hervor blitzen und hilft mir mit dem Reißverschluss. "Puh", sage ich nach einer Weile und wische mir eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das wär´s. Wir können los." Wir schauen uns ein letztes Mal in unserem Zimmer um. Die Betten sind abgezogen, die Handtücher habe ich unterm Arm und das Fenster steht auf Kipp. Louis schließt hinter uns ab, dann kämpfen wir uns die schmale Treppe nach unten, wo Joy bereits auf uns wartet. Sie nimmt mir die Handtücher und Louis den Schlüssel ab und verschwindet damit in einem Hinterraum. Als sie wieder kommt, hat sie ein verschnürtes Bündel dabei, das sie Louis augenzwinkernd an den Rucksack schnürt. "Hab ich was verpasst?", frage ich mit hoch gezogenen Augenbrauen, aber Joy schmunzelt nur und Louis grinst mich breit an. "Nichts wichtiges, mach dir keinen Kopf." "Wie du meinst...", sage ich und schaue Joy ein letztes Mal fragend an, die nur mit den Achseln zuckt." Meinetwegen." murmele ich gespielt verletzt und Louis tätschelt mir den Kopf. "Du wirst es noch früh genug erfahren, keine Sorge." Als wir das Pokécenter verlassen und uns Richtung Osten wenden, entdecke ich ungewöhnlich viele Menschen, die dort auf uns warten, unter ihnen Kai, Reagan und die anderen Köhler. "Was wird das denn?", flüstere ich Louis zu, als wir uns der Gruppe nähern. "Keine Ahnung, aber ist das da nicht Kurt?" Er deutet auf einen alten Mann, der gebückt auf einen wild geschwungenen Gehstock gestützt ist und uns mit griesgrämiger Zufriedenheit betrachtet, eine Kombination, die mir nicht ganz geheuer ist. Neben ihm steht ein Mädchen, ungefähr in unserem Alter. Sie hat eine große Umhängetasche und einen Gitarrenkasten auf ihrem Rücken. Um ihren Hals hängen quietschgelbere Kopfhörer, aus denen leise Musik tönen und ihr pechschwarzes Haar ist und in alle Himmelrichtungen gegelt. "Und wer ist das?", flüstere ich, doch Louis hat keine Gelegenheit mehr zu antworten, denn wir haben die Gruppe bereits erreicht. "Abby, Louis", begrüßt Kai uns und wartet, bis wir näher gekommen sind, bevor er weiterspricht. "Im Namen von ganz Azalea City möchte ich mich zum einen bei euch entschuldigen, dass ihr hier so viel durchmachen musstet und euch gleichzeitig danken, dass ihr jede der Situationen so bravurös gemeistert habt. Ihr habt unseren Steineichenwald von einem aggressiven Hypno befreit und der Polizei wichtige Hinweise zu der Team Rocket Affäre geliefert. Ich und die anderen Bewohner sind stolz, mit so wunderbaren Trainern Kontakte geknüpft zu haben. Ihr seid jederzeit herzlich hier willkommen." "Wow, danke", erwidere ich perplex. "Gar kein Problem", sagt Louis, sein Grinsen so breit, dass es sein Gesicht spalten müsste. "Wir helfen doch gerne aus." "Und da wir nicht wollen, dass ihr wieder in so einen Schlamassel geratet, wenn ihr uns verlasst, haben Kurt und ich uns eine kleine Überraschung überlegt", sagt Kai schmunzelnd und das Mädchen mit der Gitarre macht einen großen Schritt nach vorne. Dann verbeugt sie sich tief, zieht einen imaginären Hut und grinst uns anschließend von unten her breit an. Auf ihren Zähnen glänzt eine Zahnspange. "Gestatten, Maisy." Sie zieht eine rote Cappie aus ihrer Hosentasche und setzt sie sich auf. "Ich bin Kurts Enkelin und bis Viola City euer Guide. Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen!" Kapitel 27: Maisy (Ein Haufen Löcher) ------------------------------------- "Lass mich das nochmal zusammenfassen", sage ich, als wir uns gemeinsam mit Maisy in Richtung Einheitstunnel  begeben, Azalea City samt dankbaren und schmunzelnden Bewohnern in unserem Rücken. "Kai wollte nicht, dass wir schon wieder verschollen gehen und deshalb hat er uns einen Guide an die Seite gestellt?" "Pretty much", erwidert Maisy grinsend und fährt sich durch ihr Haar. "Aber das ist nur die halbe Wahrheit." "Klär uns auf." "Mein Großvater braucht Aprikokos, um seine Bälle herzustellen und die wachsen nur an ganz bestimmten Orten hier in Johto. Deshalb hat er sie sich immer von den Trainern bringen lassen. Aber seitdem die Technologie immer besser wurde und Trainer immer seltener regelmäßig nach Azalea kamen, mussten wir umdenken. Deshalb verkaufen wir jetzt auch vorgefertigte Bälle. Etwas mehr Arbeit, aber das schlägt sich auch in den Einnahmen wieder, von daher." Sie zuckt die Achseln. "Bisher hat mein Großvater das erledigt und mich mitgenommen. Jetzt macht sein Rücken aber nicht mehr mit und ich bin schließlich auch kein kleines Kind mehr, also übernehme von jetzt an ich die Routen." "Ich kapier´s immer noch nicht", sagt Louis, der abwesend einen kleinen Stein vor sich her kickt. Die Sonne steigt immer höher und in der Ferne kann ich schon den Tunnel erkennen. "Kai wollte sich bei euch revanchieren. Kurt wollte nicht, dass ich alleine die ganze Strecke laufe. Ihr seid starke Trainer, ich kenne die Gegend wie meine Westentasche. Ziemlich guter Deal, wenn ihr mich fragt." Sie verschränkt die Hände hinter ihrem Kopf und grinst in die Landschaft. "Ich bin auf jeden Fall froh, endlich mal aus der Stadt rauszukommen. Ich habe ein paar Sachen zu erledigen, die ich ungerne unter der Fuchtel meines Großvaters mache." Sie zwinkert uns zu. "Naja, soweit dazu." "Was für Unternehmungen?", frage ich und ziehe die Augenbrauen hoch, aber Maisy lacht nur. "God, ich freue mich echt, mal neue Gesichter zu sehen!" Ich werfe ihr einen Blick zu. Sie strahlt bis über beide Ohren. "Was denkst du, wie lange werden wir für die Strecke brauchen?", fragt Louis, als wir die Stadt endgültig hinter uns lassen und die kleine Grasfläche erreichen, auf der er mit Ethan und Winry trainiert hat. "Ach, das kommt ganz drauf an", sagt Maisy gut gelaunt. "Wenn ich wollte, könnte ich die Route bis morgen Nachmittag abklappern, aber das ist mir zu stressig. Ich will ja auch was von dem Trip haben und ihr bestimmt auch." "Stimmt", gebe ich zu. "Meinst du, wir können den Alphruinen einen kleinen Besuch abstatten, wenn wir schon in der Nähe sind? Die würden mich ziemlich interessieren." Maisy sieht mich begeistert an. "Sight-Seeing! Klar, auf jeden Fall! Die Alphruinen..." Sie starrt verträumt in die Ferne. "Ich kann es kaum erwarten. Ich glaube, wir werden noch eine Menge Spaß auf dieser Reise haben." Wir erreichen den Einheitstunnel keine 5 Minuten später. Bevor wir jedoch den kleinen Hügel erklimmen, stellt Maisy ihren Gitarrenkasten und die Umhängetasche ab und kramt eine kleine Machete und aufklappbare Verpackungen hervor, die etwas größer als ein Pokéball sind. Dann hängt sie sich eine lose Stoffbinde um. "Gebt mir ´ne Sekunde", ruft sie uns fröhlich zu, dann läuft sie zu den beiden unscheinbaren Bäumen, die am Ende der Wiese wachsen. Louis und ich folgen. Die Bäume haben einen langen dunklen Stamm mit hoch ansetzenden Ästen, deren dichtes Laub in die Höhe ragt und eine kugelartige grüne Krone bildet. Maisy nimmt den Machetengriff zwischen die Zähne, dann nimmt sie Anlauf und läuft den Stamm nach oben, stößt sich mit dem zweiten Schritt ab und greift mit der rechten Hand nach einem der Äste. Der Baum ächzt und biegt sich leicht, aber Maisy zieht sich ungerührt an dem Holz empor und klemmt ihre Beine um den obersten Teil des Stammes, wo sie sich auf den Ästen abstützen kann. Warum kann hier eigentlich jeder an Wänden hochlaufen? Erst Louis, jetzt auch noch Maisy... Ich sollte mir wirklich eine sportliche Betätigung suchen, mit der ich auch in irgendeiner Notsituation angeben kann. "Cool!", ruft Louis Maisy zu, die sich nach hinten kippen lässt, bis sie nur noch mit den Beinen an dem Baum hängt und uns kopfüber zuwinkt. Dann zieht sie sich wieder hoch, nimmt die Machete und beginnt, im dichten Laub nach Aprikokos zu suchen. Nach etwa einer halben Minute wird sie fündig. Sie zieht das Laub beiseite, schneidet mit der Machete irgendetwas durch und fördert eine schwarze Aprikoko zu Tage, die sie in dem Beutel verstaut. Dann sucht sie weiter. Fünf Minuten später hat sie drei schwarze und zwei rosa Aprikokos von den beiden Bäumen geerntet und verpackt diese sorgsam in den runden Behältnissen, die sie eben aus ihrem Rucksack genommen hat. "Wofür sind die?", frage ich und betrachte eine der Verpackungen, bevor Maisy es mir grinsend aus der Hand nimmt und die letzte Aprikoko darin verstaut. "Die sorgen dafür, dass die Aprikokos nicht ihre Form verlieren oder verfaulen. Wir sind schließlich ein paar Tage unterwegs." Ich nicke und warte gemeinsam mit Louis darauf, dass Maisy fertig einpackt. "Let´s go!", sagt sie nach einer Weile grinsend und wir machen uns auf den Anstieg zum Einheitstunnel. Wobei Anstieg vielleicht nicht der treffendste Ausdruck ist. Es ist eine kleine Anhöhe, die sich ohne jegliche Probleme bewältigen lässt. "Hier ist Ruth entführt worden", flüstere ich Louis zu, der bedächtig nickt, als wir den Tunnel betreten und uns düstere Feuchte umfängt. Auf den ersten Blick ist der Einheitstunnel ein Gewirr aus Gängen, Seen und Wänden, die aus Stalagtiten und Stalagmiten bestehen. Grüngraues Moos wächst dicht auf allen Felsen und der Boden ist glitschig mit feuchtem Stein und Algen. Aber immerhin ist die Decke hier höher als im Flegmonbrunnen, sonst wäre Louis mit Sicherheit nicht so ruhig. Ich werfe einen Blick zu Louis. Sein Gesicht ist verkrampft und seine Fäuste geballt. Okay, doch nicht ganz so ruhig. Gut, dass er nicht mit in den Brunnen gekommen ist. "Wer ist Ruth?" fragt Maisy. "Eine Trainerin", sage ich. "Eine Zicke", sagt Louis. "Oh, die Rothaarige?", fragt Maisy aufgeregt und dreht sich zu uns um. Dass sie jetzt rückwärts durch die mit spitzen Steinen und tiefen, schwarzgrünen Seen gespickte Höhle geht, scheint sie nicht im Geringsten zu stören. "Sie war bei uns im Laden. Damn, hat die ein Zeug gekauft. Die muss verdammt reich sein, so wie die mit Pokédollar um sich geworfen hat." "Ist sie auch", sage ich und schmunzele, als Maisy einen Schritt zur Seite macht und gekonnt einem der Stalagmiten ausweicht, dem sie sich rückwärts immer weiter genähert hat. Sie hat nicht übertrieben, was das Auskennen in der Gegend betrifft. "Das war doch die, die mit dir entführt wurde, oder?",  fragt sie dann mit großen Augen und mir läuft ein Schauer über den Rücken. "Ja, genau die." "Fuuuck..." Ihr Blick driftet in weite Ferne, dann fängt sie sich wieder, dreht sich um und springt über eine kleine Felsspalte, bevor sie sich nach rechts wendet. Links führt ein schmalerer Gang entlang. "Sag mal, Maisy", sage ich nach einigen Sekunden und sie bleibt stehen. "Hm?" "Welcher dieser Gänge war während der letzten Woche abgesperrt?" Sie überlegt einen Moment. "Das war der Hauptweg. Also der rechte." Sie legt den Kopf schief. "Warum fragst du?" "Ich muss da gleich etwas überprüfen", sage ich und sie zuckt die Achseln. Louis wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich forme ein stummes Später mit meinen Lippen, dann hake ich mich bei ihm unter und gemeinsam folgen wir Maisy den Gang entlang. Der Gang ist relativ schmal, weitet sich aber zum Ende hin, sehr zu Louis´ Erleichterung, dessen Anspannung ich seit Betreten der Höhle spüre. Hier löse ich mich von seinem Arm und laufe sorgsam alle Wände ab. Maisy schaut mir belustigt zu, folgt dann aber meinem Beispiel und betastet ebenfalls die Steinwände. "Wonach suchen wir?", fragt sie nach etwa drei Minuten und als ich ihr antworte, schaue ich nicht von meiner Arbeit auf. "Einkerbungen im Stein", sage ich. "Nischen. Löcher. Unnatürliche Vertiefungen in den Wänden, sowas in der Art." "Hat deine Schwester nicht so etwas gesagt?", fragt Louis und stellt sich zu mir, wo er nun ebenfalls die Wände absucht. "Ein paar..." "...ungewöhnliche Löcher in den Wänden, ganz genau." Ich nicke und Maisy wirft mir einen aufgeregten Blick zu. "OMG, ist das hier sowas wie eine Ermittlung? Das ist zu episch!" Sie wirft sich mit neu gewonnener Motivation in die Suche. "Also glaubst du, dass Team Rocket die Löcher gemacht hat?", fragt Louis nachdenklich. "Wer sonst? Außerdem haben sie etwas von einem Debakel in Marmoria gesagt. Damit können sie nur das Auffliegen ihrer Leute im Mondberg gemeint haben. Also hatten sie hier eine ähnliche Mission. Und anscheinend ist Löcher in die Wände graben verdammt wichtig, wenn sie deshalb alle Zeugen umbringen wollten." "Ich kann immer noch nicht fassen, dass Team Rocket-Mitglieder hier bei uns gelebt haben, eine Woche lang!", murmelt Maisy und zum ersten Mal höre ich sowas wie Wut in ihrer Stimme. Sowohl Louis als auch ich lassen von unserer Suche ab und drehen uns zu Maisy um, die geradeaus starrt. "Als ich noch ganz klein war, hat Team Rocket sich schon mal im Flegmonbrunnen versteckt", sagt sie schließlich. Louis und ich werfen uns einen Blick zu. "Damals hat Gold meinem Vater geholfen, sie zu vertreiben." "Gold?!", frage ich begeistert und lasse von der Wand ab, um mich zu Maisy zu setzen. "Du kennst Gold persönlich?" Der Schatten verschwindet von ihrem Gesicht. "Gold war früher unser Stammkunde, er ist alle paar Wochen bei uns vorbei gekommen, hat uns einen Sack Aprikokos da gelassen und die fertigen Bälle mitgenommen. Aber dann ist er lange Zeit nicht mehr wieder gekommen." "War er seit seiner Rückkehr wieder bei euch?", fragt Louis, der sich jetzt auch zu uns gesetzt hat. So weit zum Thema wichtige Ermittlungen. Maisy schüttelt den Kopf. "Nein. Aber er hat meinen Großvater angerufen und sich für übernächste Woche angemeldet. Deswegen will ich bis dahin auf jeden Fall wieder in der Werkstatt sein!" "Kann ich mit?", flehe ich und nehme ihre Hand. "Bitte, bitte?" "Na ja..." Sie kratzt sich am Kopf. "Eigentlich sind das geheime Infos. Ich habe mich gerade ziemlich verplappert. Sorry..." Ich lasse den Kopf hängen. "Schon okay." "Ist nichts persönliches, wirklich", beruhigt Maisy mich und grinst mich entschuldigend an. "Aber mit Gold dürfen wir es uns nicht verspaßen und ich kann ehrlich gesagt auch verstehen, dass er mal irgendwo hingehen möchte, ohne dass gleich riesige Fanscharen auf ihn warten." "Ich weiß, ich weiß." Ich grinse und stehe wieder auf. "Na los, ran an die Arbeit. Ich will diese Löcher finden." "Geht klar, Chef", sagt Louis grinsend, dann geht er zur gegenüberliegenden Wand und fährt mit den Händen sorgfältig alle Wände ab.   Wir suchen über eine Stunde, bis Maisy schließlich einige lose Steine in ihrer Wand entdeckt und gemeinsam suchen wir nun auch den restlichen Gang nach ähnlichen Stellen ab. Als wir fertig sind, haben wir acht Nischen gefunden, die fein säuberlich in die Wand gebrochen und mit dicken Steinen verschlossen wurden. "Was meint ihr, was Team Rocket damit bezwecken will?", fragt Louis und schaut auf die acht Steinbrocken hinab, die wir zusammen getragen haben und um die wir jetzt nachdenklich herum stehen. "Keine Ahnung", sage ich. "Aber bei Team Rocket müssen wir vom Schlimmsten ausgehen." "Du solltest die Polizei benachrichtigen", empfiehlt Maisy und hockt sich neben den Steinen hin. "Vielleicht wissen die mehr davon." Ich nicke. "Mache ich, sobald wir aus der Höhle raus sind. Hier hat man ja null Empfang. Aber erst sollten wir den Rest der Höhle absuchen. Zumindest den Hauptgang. Und die Steine wieder zurück legen." "Abby, ich will ja nichts sagen, aber...", beginnt Louis und verzieht das Gesicht. „Wir haben eine Stunde für diesen kleinen Abschnitt gebraucht und die Höhle zieht sich noch ein ganzes Stück." "True", stimmt Maisy ihm zu. "Andererseits wissen wir jetzt, wonach wir suchen. Und wenn wir uns etwas aufteilen, können wir die ganze Höhle bis heute Nachmittag abklappern." "Aber nicht zu sehr, Maisy", fügt Louis hinzu. "Denk dran, Abby und ich kennen die Höhle nicht." "Kein Problem. Wir bleiben einfach in Sichtweite." "Dann wäre das geklärt." Ich strecke mich, dann checke ich mein Handy. Wie erwartet ist kein Empfang, aber vorerst interessiert mich nur die Uhrzeit. Es ist fast 11 Uhr. "Haben alle genug Wasser dabei?" Maisy und Louis nicken. Ich ziehe meinen Pokéball und rufe Sku, die verschlafen zu mir hoch blinzelt, aber dank der Dunkelheit in der Höhle nicht allzu viel an der Umgebung auszusetzen hat. "Nice, so geht´s noch schneller", sagt Maisy begeistert und ruft ihr eigenes Pokémon, genauso wie Louis. Im nächsten Moment ist er von einer seiner anhänglichen Winry umschlungen, während neben Maisy ein sehr altes und sehr weise wirkendes Noctuh sitzt, das sich abwesend das Gefieder putzt. "Na dann, los geht’s", sage ich grinsend und halte meine Hand in die Mitte. Maisy schlägt sofort ein. Louis zögert. "Nur damit das klar ist, ich bin immer noch dafür, einfach die Polizei zu rufen", sagt er. Ich werfe ihm einen bittenden Blick zu. Er seufzt, schlägt aber ebenfalls ein.   Etwa drei Stunden später erreiche ich im wahrsten Sinne des Wortes das Licht am Ende des Tunnels. Oder Einheitstunnels, wie auch immer. Mein Rücken fühlt sich an, als hätte jemand ein Geowaz darauf fallen lassen und meine Hände sind voller Schwielen, wo ich immer wieder über Stein gestrichen habe oder Felsbrocken aus dem Weg räumen musste. Sku hingegen ist mit der Zeit immer aktiver geworden. Sie hat seit Tagen nichts mehr zu tun gehabt und scheint sich jetzt über die Bewegung sehr zu freuen. Wer hätte das vermutet? "Wir sind durch!", rufe ich nach hinten. Als Antwort kommt nur Louis´ erleichtertes Stöhnen und ein Jauchzen von Maisy. Ich gebe zu, das war nicht der beste Start unserer Reise, aber jetzt haben wir immerhin etwas in der Hand, wenn wir die Polizei benachrichtigen. Ich hoffe, man kann mich mit Holly oder Jack verbinden, dann muss ich nicht nochmal durch das ganze "Ist das ein Scherz"-Spielchen durchgeschleift werden. Als ich die Höhle verlasse, muss ich sofort meine Augen verdecken, so hell ist es im Vergleich. Die Sonne steht hoch über mir und strahlt erbarmungslos auf mich herab. Sku macht einen Schritt nach draußen, winselt und verschwindet sofort wieder im Tunnel. Ich seufze und rufe sie zurück. Louis kommt als nächstes, dicht gefolgt von Winry und Maisy. Ihr Noctuh hat sie bereits zurück gerufen. Klug von ihr. Draußen angekommen lässt Louis sich auf den Boden sinken und nach hinten fallen, alle Viere von sich gestreckt. "Vier Stunden", sagt er und ich folge Maisys Bespiel, die sich zu ihm ins Gras setzt. "Vier geschlagene Stunden in dieser Höhle. War das nötig, Abby? War das wirklich nötig?" "Wie viele Löcher habt ihr gefunden?" "Zwölf", sagt Louis ohne aufzusehen. "Neun." "Gut, mit meinen elf und den acht, die wir zusammen gefunden haben, macht das insgesamt Vierzig." "Vierzig!", stöhnt Louis und reibt sich die Augen. "Ich kann es nicht fassen..." "Keine Sorge, dein Opfer bleibt nicht vergessen, oh großer Held", spotte ich und hole mein Handy aus meiner Hosentasche. Vier Balken. Na bitte, wer sagt´s denn. "Gebt mir mal ne Sekunde." "Tob dich aus." Louis legt die Arme über die Augen und bleibt reglos liegen, Maisy hingegen setzt sich in einen Schneidersitz und schaut mir gespannt zu, während sie hin und her wippt. Ich wähle die 01010, dann warte ich auf das Freizeichen. Nach dreimaligem Klingeln nimmt jemand ab. "Polizeiwache Dukatia City, mit wem spreche ich?" "Hallo, hier ist Abbygail Hampton." "...Du schon wieder? Womit kann ich euch dieses Mal helfen? Es ist hoffentlich nicht schon wieder jemand von Team Rocket entführt worden." "Nein, es geht um einige Details bezüglich des Vorfalls, die mir nachträglich noch eingefallen sind." "Also gut. Soll ich dich zu den Verantwortlichen durchleiten?" "Das wäre sehr freundlich." Ich gebe Maisy ein Daumenhochzeichen und sie erwidert es doppelt. "Hallo?" Die brüske Stimme gehört eindeutig zu Holly. Mist, ich hatte gehofft, Jack an die Leitung zu kriegen. Dann wiederum sieht er nicht wie der Typ aus, der freiwillig die Telefondienste übernimmt. Oder vielleicht traut Holly ihm Büroarbeit auch einfach nicht zu. "Hallo Holly, hier ist Abby." "Abby. Was gibt es?" "Mir ist noch etwas zu dem Gespräch eingefallen, das ich in der Höhle mitgehört habe." Es folgt eine kurze Pause, in der ich nur das Aufklappen eines Notizblocks und das Klacken eines sich öffnenden Kugelschreibers vernehme, dann erklingt wieder Hollys scharfe Stimme. "Fahr fort." "Es ging um Lees Arbeit im Einheitstunnel. Sie haben ihre Mission mit dem Debakel in Marmoria verglichen, deshalb gehe ich davon aus, dass sie auch hier Löcher in die Höhlenwände gebohrt haben." Das Kratzen des Kugelschreibers stoppt. "Und woher weißt du so genau über den Vorfall in Marmoria City Bescheid?" fragt Holly mit eiskalter Stimme und mein Herz schlägt mir mit einem Mal bis zum Hals. "Ich kann mich nicht erinnern, dass die Details in den Nachrichtenausgestrahlt wurden. Schon gar nicht hier in Johto." "Meine Schwester lebt dort", sage ich schnell. Verdammt, warum bin ich plötzlich so nervös? Ich bin unschuldig! "Sie arbeitet in der Fossilforschungsanstalt, deshalb wusste sie Bescheid." "Wie heißt deine Schwester?" "Maya Hampton." "Gut, wir werden das Überprüfen. Also, was wolltest du sagen?" "Wir haben die Höhle überprüft. Lee hat Löcher in den Einheitstunnel gebohrt. Es sind insgesamt vierzig, aber vielleicht haben wir-" "Ihr habt die Höhle überprüft?" "Ja, aber-" "Diese Löcher sind Beweismaterial! Ihr seid Zivilisten, ihr könnt nicht einfach in der Polizeiarbeit rumfuschen!" "Tut uns Leid", sage ich kleinlaut. "Aber wir wollten sicher sein, dass wir richtig liegen, bevor wir die Polizei damit belästigen." Das scheint Holly zu besänftigen. Sie seufzt theatralisch und ich höre wieder das Kratzen ihres Kugelschreibers. "Ich bedanke mich für den Hinweis, Abbygail. Allerdings wird es dich freuen, zu hören, dass die Polizei die Höhle schon durchsucht hat und wir uns über die Löcher längst im Klaren sind. Vielen Dank für den zusätzlichen Papierkram. Ich hoffe nur, ihr habt keine Spuren zerstört. Wenn dir noch etwas einfällt, zögere nicht, mich anzurufen, auch wenn du nicht ganz sicher bist. Die Leute, die hier arbeiten, wissen, was sie tun. Auf Wiedersehen." Sie legt auf. Ich lasse das Handy in meinen Schoß sinken und schaue Louis dabei zu, wie er sich etwas aufsetzt, sein Gewicht auf seine Unterarme gestützt, und mich mit einem merkwürdig überheblichen Grinsen ansieht. "Weißt du, Abby“, beginnt er, "wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass wir gerade ziemlich Anschiss für unsere vier Stunden Arbeit bekommen haben. Zum Glück weiß ich, dass das unmöglich ist. Immerhin hast du den Plan ja vorgeschlagen. Nicht wahr?" Maisy lässt sich nach hinten fallen und kugelt sich vor Lachen. Ich werfe mein Handy nach Louis, der es lachend fängt. "Ach, halt die Klappe."   Wir machen eine Stunde Pause, trinken etwas und liegen ansonsten faul im Gras. Es ist ein gutes Gefühl und da der Herbst immer näher rückt, müssen wir jede sonnige Gelegenheit nutzen. Maisy ist die erste, die aufsteht, sich Erde und Gras von der locker sitzenden Hose klopft und uns zum Weitergehen ermuntert. "C´mon, wir sind ganz nah bei einem Pokécenter. Da können wir zu Mittag essen." "Also, ehrlich gesagt..." Ich schaue betreten zu Boden. "...bin ich pleite." "Ich auch", verkündet Louis und setzt sich ebenfalls auf. "Aber wir haben Essen dabei, keine Sorge. Wir werden schon nicht verhungern." "Na gut, wie ihr meint." Maisy kommt zu mir und zieht mich hoch. "Aber reinschauen kostet nichts." "Stimmt", sage ich."Ich könnte meine Mails mal wieder checken, wenn ich jetzt so darüber nachdenke." Und Caro anrufen. Sie weiß schließlich gar nicht, ob ich heil angekommen bin. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Der Pfad wird links von Steinwänden des Einheitstunnels und rechts von einem schmalen Stück Wald gesäumt. Dahinter kann ich das Rauschen von Wellen und das Gekreische der Wingulls vernehmen. Wir sind wieder ganz nah am Meer. Der Weg steigt ein gutes Stück lang an und als wir endlich über den Hügel sind, sind Louis und ich ziemlich außer Atem. Nur Maisy wirkt, als wäre das für sie nur ein kleiner Spaziergang, sie hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und schaut sich entspannt um. Auf der Hügelkuppel angekommen verschnaufen wir einen Moment. Als ich dann den restlichen Weg nach unten gucke, entdecke ich am Fuß des Hügels das Pokécenter. Es ist kleiner, als die in den Städten, aber größer als das in Azalea City und scheint großen Andrang zu finden, denn während wir uns auf den Abstieg begeben, sehe ich immer wieder einzelne Trainer oder kleine Grüppchen, die ins Pokécenter gehen oder herauskommen. Route 32 scheint ein ziemlicher Trainermagnet zu sein. "Ist hier immer so viel Betrieb?", fragt Louis, als hätte er meine Gedanken gelesen. Maisy nickt. "Es ist eine der längsten Routen Johtos und liegt zwischen zwei Arenastädten. Da häuft es sich mit den Trainern, gerade jetzt, wo das Wetter noch so gut ist. Im Winter ist hier weniger los, das könnt ihr mir glauben." Wir erreichen das Pokécenter nach etwa 15 weiteren Minuten. Als wir uns der Tür nähern, kommt uns eine kleine Gruppe Trainer entgegen, drei Jungen und ein Mädchen. Der größte von ihnen, ein schlaksiger Typ mit unreiner Haut und zwanzig verschiedenen Flechtbändern um den Arm, sieht uns zuerst. Sein dunkelbraunes Haar ist hinter seine Ohren geklemmt und seine Augen leuchten in einem intensiven olivgrün. "Maisy?", fragt er und schlängelt sich an seinen Mitreisenden vorbei. "Seit wann bist du denn nicht mehr mit Kurt unterwegs?" "Yo, Toby!", begrüßt Maisy ihn und stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu umarmen. "Opa ist der Trip zu anstrengend geworden, deswegen hab ich Unterstützung von zwei Trainern. Das sind Louis und Abby." "Hey", begrüßt Toby uns und reicht uns die Hand. "Das sind Carla, George und Timothy." Er deutet nacheinander auf das Mädchen und die beiden Jungs. Carla ist etwas größer und augenscheinlich auch älter als ich, mit wilden blonden Locken und einem runden Gesicht, das ihren molligen Körper wiederspiegelt. Sie trägt einen flattrigen Rock und ein geringeltes Langarmshirt mit Ellenbogenpatches aus Leder. George ist etwas größer als Louis, trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, der in starkem Kontrast zu seiner hellen Haut steht und sein schwarzes Haar fällt ihm strähnig in die Augen. Seine Lippen sind zu einer schmalen Linie gepresst. Timothy grinst uns dagegen freundlich an, seine kaffeebraune Haut wird nur durch ein weißes T-Shirt und eine Jeans bedeckt und sein krauses Haar ist kurz getrimmt. "Das ist ja echt Pech, dass du ausgerechnet jetzt deine Runde machst." sagt Toby und kratzt sich an seinem stoppligen Kinn. "Ich hatte gehofft, dich öfter zu sehen, wenn wir in Azalea sind." "Bad Luck", sagt Maisy und zuckt mit den Schultern. "Wenn ich Glück hab, bin ich wieder zurück, bevor ihr weiterreist." "Nicht wahrscheinlich", sagt George und schüttelt seinen Kopf so, dass ihm die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht fliegen. Sie fallen fast augenblicklich zurück in seine Augen und er wiederholt die Geste. "Wir hatten nicht vor, lange in Azalea zu bleiben, gerade lang genug, um die Orden einzusammeln." "Dann seid ihr hoffentlich gut vorbereitet", sage ich. "Kai ist gar nicht mal ohne." "Hast du gegen ihn gekämpft?", fragt Clara, nun doch interessiert. Auch Timothy macht gespannt einen Schritt nach vorne. "Sie nicht, aber ich", sagt Louis und lächelt breit in die Runde. "Ich hätte ihn fast nicht gepackt." "Wir sind gut vorbereitet, keine Sorge", sagt George und schüttelt sich wieder das Haar aus der Stirn. "Er sollte kein Problem darstellen." "Bianca macht mir mehr Sorgen", sagt Timothy. "Ihr Miltank soll abnormal drauf sein." "Das sagt man", stimme ich ihm zu. "Aber wenn ihr Pech habt, ist sie noch nicht zurück, wenn ihr in Dukatia ankommt. Sie ist mit ihrem Freund in Urlaub." Die Gruppe stöhnt einstimmig. "Jetzt echt?", fragt Toby und reibt sich die Schläfen. "Dann haben wir uns umsonst so beeilt?" "Vielleicht ist sie auch schon wieder zurück", beruhige ich ihn. "Es sind schon drei Wochen." "Dann ist sie vermutlich wieder in der Arena", stimmt Clara mir zu. "Trotzdem danke für den Hinweis." "War nett, mal wieder mit dir geredet zu haben, Maisy, aber wir müssen jetzt weiter. Wir wollen bis heute Abend in Azalea sein." "Klar, viel Spaß." Sie grinst. "Grüßt Opa von mir." Wir verabschieden uns von der Gruppe, dann gehen wir ins Pokécenter, das bereits völlig überfüllt ist. Selbst, wenn wir das Geld hätten, Zimmer sind hier mit Sicherheit nicht mehr frei. Schwester Joy wuselt zwischen Heilmaschine und Hinterzimmern hin und her, während zwei Angestellte Suppe und Brot an die Trainer austeilen und Fragen von einigen jüngeren Trainern beantworten. "Ich bin mal am PC", verkünde ich. Louis nickt und verschwindet gemeinsam mit Maisy im Gewusel der Trainer. Ich schlängele mich ebenfalls zwischen den Jugendlichen und wenigen Erwachsenen hindurch und stelle mich in die kleine Schlange, die sich hinter dem einzigen Computer gebildet hat. Als ich endlich an der Reihe bin, logge ich mich ein und checke mein Postfach. Absender: Raphael Berni. Betreff: Update Hallo Abby! Hoenn ist wunderschön, wenn du mit deiner Reise durch Kanto/Johto (?) fertig bist, müssen wir dort unbedingt mal zusammen hin fliegen! Ich bin jetzt seit ungefähr einer Woche hier und das Training läuft problemlos. Man kennt Kantos Favoriten hier nicht so gut, deswegen kann ich mir nervige Interviews und Kameraleute sparen, ohne inkognito durch die Welt laufen zu müssen ;) Ich werde in zwei bis drei Wochen wieder zurückkommen, halte dich also bereit. Ich freue mich, dich wieder zu sehen! Raphael Als nächstes nehme ich mir Mamas zwanzig Mails vor. Gott, kann sie mir nicht wenigstens ein bisschen Freiraum gönnen? Ich bin gerade mal vier Wochen von zu Hause weg! Ich schreibe ihr eine kurze Nachricht, lese sie durch, lösche sie und mache mich dann an eine ausführlichere Antwort. Vielleicht lässt sie mich dann ein paar Tage in Ruhe. Eine Hand auf meiner Schulter reißt mich aus meinen Gedanken und ich hebe erschrocken den Kopf, aber es ist nur Louis, der hinter mir steht. "Maisy scheint hier ziemlich bekannt zu sein", sagt er und späht über meine Schulter auf die Mail. "Sie wird von jedem zweiten Trainer angesprochen." "Kein Wunder", erwidere ich und wende mich wieder der Nachricht zu. "Sie ist diese Strecke wahrscheinlich alle paar Wochen mit Kurt abgelaufen. Und die meisten der Trainer kommen schließlich aus Viola City und Umgebung." "Ich kannte sie nicht", sagt Louis und legt sein Kinn auf meine Schulter. Ich ignoriere ihn und tippe weiter. "Ist das nicht ein bisschen... unwahr?" "Was?" "Bisher läuft alles nach Plan und ich bin in keinerlei Schwierigkeiten geraten, auch wenn du das Gegenteil denkst. Ich würde sagen, wir sind in einen ganzen Haufen Schwierigkeiten geraten, und das nur in der Woche, die du mit mir verbracht hast. Ich weiß schließlich nicht, was du davor getrieben hast." Er grinst mich frech an und ich lächele unschuldig zurück. "Ich gebe zu, dass ich vielleicht das ein oder andere Ereignis ausgelassen habe, aber wenn ich meiner Mutter schreibe, dass ich von Team Rocket entführt und beinahe umgebracht wurde, dann fahndet bald die Polizei nach mir." Er nickt, dann seufzt er. "Meine Mutter würde mich wahrscheinlich an den Ohren zurückschleifen", sagt er und nimmt den Kopf von meiner Schulter. "Sie war von Anfang an dagegen, dass ich Rosalia City verlasse. Zu gefährlich, zu riskant, zu alles. Ich glaube, sie hat mir nicht Mal zugetraut, bis Azalea City zu kommen." Er verzieht das Gesicht. "Was mich am meisten nervt, ist, dass sie zumindest damit Recht hatte." Ich schmunzele und schreibe die letzten paar Zeilen, dann klicke ich auf Senden und logge mich wieder aus. „Wollen wir uns noch die Karte angucken? Ich will nicht versehentlich an den Ruinen vorbei laufen.“ „Klar.“ Gemeinsam schlängeln wir uns zwischen den Trainern und einigen Erwachsenen vorbei bis zur Karte. „Kurz vor Viola City links“, sagt Louis und deutet auf die Stelle, wo die Alph-Ruinen auf der Karte markiert sind. „Übermorgen sollten wir dort sein.“ Ich nicke. "Wo ist überhaupt Maisy?" Louis nickt in Richtung Rolltreppe. Ich folge seiner Geste und entdecke Maisy, die neben zwei Anglern steht und sich wild gestikulierend und mit großem Grinsen mit ihnen unterhält. Der Kleinere der Beiden, ein glatzköpfiger Mann mit faltigem Gesicht, lacht laut und klopft Maisy auf den Rücken, während der Größere sich verlegen am Kopf kratzt. Sein Hemd spannt über seinem Bierbauch. Als Maisy uns sieht, verabschiedet sie sich von den beiden Männern und läuft zu uns, wobei sie einer kleinen Gruppe Jungen ausweichen muss, die in dem Moment ihren Weg kreuzen. Gemeinsam verlassen wir das Pokécenter und machen uns wieder auf den Weg.   Wir nutzen noch etwa zwei Stunden des frühen Abends, um der Route 32 weiter Richtung Norden zu folgen. Je später es wird, umso weniger Trainer kommen uns entgegen, denn die meisten sind nur zum Trainieren hier und bauen ihre Schlafplätze auf, wenn sie sich nicht schon im Pokécenter eingeschrieben haben. In der Ferne tauchen bereits die ersten flackernden Lichter von Lagerfeuern anderer Grüppchen auf. Der Pfad, dem wir folgen, ist breit und aus kahl getretener Erde. An den Seiten wächst saftig grünes Gras und die Ausläufe kleiner Wälder verdecken die Sicht auf das Meer. Zu unserer Linken steigt ein bewaldeter Hang an, der durch einen schräg ansteigenden Vorsprung erklommen werden kann, wenn man sich vorher durch das hohe Gras kämpft. Hier machen wir Rast. Maisy erklärt uns, dass es zwei alternative Wege nach Viola City gibt, einer von ihnen weniger trainerlastig, aber dafür unwegsamer als der lange Holzsteg, der über die kleine Bucht führt. Im Himmel kann ich in einiger Entfernung die Gleise des Magnetzugs erkennen. Obwohl es schon Abend ist, bleibt die Sonne noch eine lange Zeit am Himmel. Wir platzieren unsere Schlafsäcke etwas abseits von dem Weg, aber weit genug von dem hohen Gras entfernt, um nachts nicht von wilden Pokémon attackiert zu werden. Dann sammeln Louis und ich trockenes Holz und Steine, während Maisy unsere Vorräte unter Augenschein nimmt. Eine weitere Stunde später sitzen wir um ein knisterndes Lagerfeuer. Die Sonne senkt sich langsam und ist kaum noch über den Bäumen zu erkennen. Ravioli kochen in ihrer Dose und einige Kartoffeln kokeln im Feuer, während wir dem ansteigenden Zirpen der Käferpokémon lauschen und ein Wingull einsam über uns seine Kreise zieht, bis es wieder in Richtung Meer davon fliegt. Und als Mitternacht näher rückt, starre ich gemeinsam mit Maisy und Louis in den schwarzen Nachthimmel, die Sterne kleine weiße Lichter in der Ferne. Es ist jetzt genau ein Monat, seit ich von zu Hause fort bin - und ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt. Kapitel 28: Merkwürdiger Fremder (Gehaltene Versprechen) -------------------------------------------------------- "Was haltet ihr davon, wenn wir ein paar Stunden Training einschieben?", frage ich die anderen Beiden, während wir unsere Schlafsäcke einrollen und die Feuerstelle abbauen. "Wäre eigentlich keine schlechte Idee", ächzt Louis, der auf seinem Schlafsack kniet und verzweifelt versucht, ihn zurück in die Hülle zu quetschen - ohne Erfolg. "Und du, Maisy?" "Kein Ding." Sie wirft mir ein strahlendes Lächeln zu, ihre Zahnspange blitzt in der Morgensonne. "Ich habe Zeit. Und Nox könnte wirklich etwas Training vertragen, sonst staubt sie noch ein." "Nox?", frage ich, verwirrt. "Mein Noctuh." Nox. Natürlich. "Vielleicht sollten wir uns aufteilen", meint Louis und setzt sich auf den Stoffhaufen, der sein Schlafsack ist. "Ethan kann im Meer trainieren und wenn ihr den Hang da hoch klettert, habt ihr ein paar Stunden Schatten hinter den Bäumen." "Gut mitgedacht", sage ich und schmeiße die Steine, die wir für das Lagerfeuer benutzt haben, ins Gebüsch. "Ich werde zwar Hunter trainieren, aber für Nox ist ein bisschen Schatten auf jeden Fall hilfreich." Ich schaue auf mein Handy. Es ist noch früher Morgen. "Treffen wir uns gegen Mittag am Ende des Stegs", schlage ich vor. Maisy nickt enthusiastisch. "Von hier aus immer nach Norden, das solltet ihr hinkriegen", sagt sie grinsend und vergräbt ihre Hände in ihren weiten Hosentaschen.   "Sind hier keine Aprikokobäume in der Nähe?", frage ich sie, als wir unsere Lagerstätte verlassen und Louis nachsehen, der bereits in Richtung Steg unterwegs ist. Gemeinsam kraxeln wir den steilen Erdhang hinauf. "Nope, erst am Ende der Route", erwidert sie. "Und dann kurz vor Teak City, auf der Route 37." "Danach gehst du wieder zurück?" "Yep." Sie greift weit nach oben und zieht sich an einem Stein nach oben, der aus der Erde ragt. Ich folge ihrem Beispiel, wenn auch weit weniger grazil. "Ich mache wahrscheinlich zwei Tage in Teak City Pause, dann kann ich auf der Rückreise die Aprikokos nochmal abernten." "Wachsen die so schnell nach?", frage ich überrascht. Maisy erreicht das Hangende und reicht mir ihre Hand. Ich greife dankbar danach und lasse mich von ihr hochziehen. "Das nicht, aber wir können nur die sehr reifen Früchte gebrauchen", erklärt sie mir. Ihre Augen leuchten. "Und die Aprikokos an den Bäumen reifen nicht alle gleichzeitig, deswegen müssen wir die Runde während der Erntezeit fast jede Woche machen." "Muss mühsam sein", überlege ich laut, aber Maisy zuckt nur die Achseln. "Es ist unser Job." Wir folgen dem Weg ein kleines Stück und schauen immer wieder zu Louis hinunter, der außer Hörweite von uns auf dem Steg steht, sein Garados vor ihm im Wasser. Ethans Schwanz peitscht hin und her und etwas Orangerotes fliegt durch die Luft, bevor es mit einem großen Platscher wieder ins Wasser fällt. Dann erreichen wir das kleine Waldstück, das sich zu unserer rechten in den Hang krallt und schattige Kühle umfängt uns. "Wo sind eigentlich deine Eltern?", frage ich Maisy, während wir unsere Flugpokémon rufen und sie auf die nächstbesten wilden Pokémon loslassen. "Oh man..." Maisys Gesicht nimmt einen abwesenden Ausdruck an. "Sie haben mich bei Großvater gelassen, seit ich ganz klein bin. Ich kann mich kaum an ihre Gesichter erinnern." "Das tut mir Leid." "Ach was." Der nachdenkliche Ausdruck verschwindet und sie lächelt mich breit an. "Ich bin froh, bei Kurt zu wohnen. Meine Eltern stellen Pokébälle für die Silph Co her, aber hier kann ich das alte Handwerk lernen. Es ist faszinierend." "Möchtest du Kurts Laden später übernehmen?", frage ich sie, während Hunter zufrieden ein besiegtes Knofensa vor meine Füße fallen lässt und mich liebevoll ankrächzt. Dann landet er auf meinen Schultern und schmiegt seinen fedrigen Kopf an meine Wange. Maisy lacht, dann gibt sie Nox ein paar Befehle, bevor sie meine Frage beantwortet. Ich schicke Hunter ebenfalls wieder in den Kampf. Für Kuscheln ist später noch genug Zeit. "Auf jeden Fall", sagt sie und schaut in den Himmel, ein verträumtes Lächeln auf den Lippen. "Ich kann mir nichts Besseres vorstellen." "Und was ist damit?", frage ich und deute auf den Gitarrenkasten, der über ihrer Schulter hängt. "Ein Hobby." Sie zieht eine Grimasse. "Ich wäre gerne besser, aber meistens fehlt mir die Zeit zum Üben. Vielleicht kann ich heute Abend ein paar Stunden einschieben." "Auf jeden Fall", stimme ich ihr zu und wende mich danach wieder Hunters Training zu.   Gegen elf Uhr sind Hunter und Nox je zwei Level gestiegen und ich fühle mich sehr an meine Zeit in Dukatia City erinnert, als ich den gesamten Tag lang Carolines Pinsir trainiert habe. Verdammt, ich wollte mich noch bei ihr melden. "Ich rufe mal kurz jemanden an, okay?", sage ich und schaue zu Maisy hinüber, die einige Meter von mir entfernt im hohen Gras steht. "Klar!" Maisy grinst breit und lässt sich dann im Schneidersitz auf den Boden sinken, während Nox weiter an den Rand der Bäume in den Schatten tapst und dort die Augen schließt. Ich entferne mich ein wenig und hole mein Handy aus meiner Tasche, dann wähle ich CarolineZug und lasse mich ins Gras sinken. Es klingelt dreimal, dann nimmt Caro ab. "Schön, dass du dich auch mal meldest." "Sorry." Ich grinse verlegen. "Es ist ziemlich viel passiert, ich hab´s total verpennt." "Hat er dich doch ausgeraubt?" "Louis?" Ich erinnere mich an unsere Unterhaltung und lache laut. "Nein, nein, hat er nicht. Er ist ein bisschen perverser als ich dachte, aber das ist okay." Ich kann Caros hoch gezogene Augenbraue förmlich sehen. "Was ist passiert?" Ich informiere sie knapp über die letzte Woche und als am anderen Ende der Leitung nur Schweigen folgt, werde ich unruhig. "Caro?" "Ihr seid beide entführt worden. Von unterschiedlichen Parteien. In derselben Woche." Ich verziehe das Gesicht. "Scheint so." "Organisationstalent my ass... Immerhin geht es euch gut. Was macht dein Vogel?" "Hunter?" Ich werfe ihm einen Blick zu. Er flattert keckernd durchs Gras und pickt nach einem der wilden Pokémon. Als er meinen Blick spürt, krächzt er fröhlich. "Dem geht´s super.“ „Wo bist du?“ „Wir sind gestern Richtung Viola City aufgebrochen“, erkläre ich. „Route 32.“ „Dann habt ihr es nicht mehr weit.“ „Wir wollen vorher noch in die Alph-Ruinen.“ Ich höre, wie Caro den Rauch ihrer Zigarette einatmet. „Verlauft euch nicht“, sagt sie schließlich. „Keine Sorge, wir haben doch unseren Guide.“ „Maisy? Ich würde mich nicht auf sie verlassen.“ „Du würdest dich auf niemanden verlassen.“ Sie zieht wieder an ihrer Zigarette. „Sie kennt die Route, die sie immer abläuft“, sagt Caro dann. „Ich würde nicht darauf hoffen, dass sie sich auch in den Ruinen auskennt.“ Da ist sogar was dran. „Wir werden vorsichtig sein“, verspreche ich. „Gut.“ Sie schweigt. „Soll ich Karin Grüße ausrichten?“ „Ja, bitte!“ „In Ordnung. Pass auf dich auf, Abby.“ Sie legt auf. Ich lasse meine Handy sinken und bleibe einen Moment länger im Gras sitzen. Ich vermisse Caro, aber weit weniger, als ich erwartet hätte. Der Gedanke an Karin tut schon eher weh, aber wenn ich nicht über die Beiden nachdenke… Ich schüttele den Kopf und stehe auf. Dann schreibe ich Karin eine kleine SMS und geselle mich anschließend wieder zu Maisy und unseren Pokémon. „Mit wem hast du telefoniert?“, fragt sie, als wir ein Stück weiter nach Norden gehen. Die Sonne steht hoch am Himmel. „Einer Freundin, die ich in Dukatia City kennen gelernt habe“, erkläre ich und winke Hunter zu mir, der freudig krächzt und sich dann auf meinen Schultern niederlässt. Er ist verdammt schwer, aber ich lasse ihn. Ich habe meine Pokémon ein wenig vernachlässigt während der letzten Woche. Ich schaue wieder in den Himmel. Der Wind wird stärker. Er riecht nach Salz. „Hoffentlich geht es Louis gut", murmele ich und schaue nach rechts, obwohl ich weiß, dass ich nicht durch das dichte Gebüsch des Waldstreifens durchschauen kann. „Sure.“ Maisy reckt sich und krault Noctuhs Kopf, das müde neben ihr her geht. „Er hat doch ein Garados, oder? Dann kann ihm am Meer nichts passieren.“ „Wenn du meinst…“ Ich schaue wieder nach rechts. „Hey ihr zwei!“ Ich hebe erschrocken den Kopf und entdecke einen Mann, der hinter dem kleinen Waldstück auftaucht. Der Wind weht seinen schwarzen Mantel  um seine Beine und ein roter Schal schaut aus seinem Kragen heraus und bedeckt seinen gesamten Hals. Sein blondes Haar ist starr an seinen Schädel gegelt. Er winkt uns zu. „Hallo!“, ruft Maisy zurück und winkt ebenfalls. „Kennst du den etwa auch?“, frage ich und verziehe das Gesicht. Je näher wir kommen, desto genauer kann ich seine eingefallenen Augen und Wangen erkennen. „Nope.“ „Er sieht nicht gerade vertrauenserweckend aus", flüstere ich Maisy zu, die nur die Achseln zuckt und dem Mann weiter entgegen kommt. „Können wir Ihnen helfen?“, fragt sie höflich, als wir ihn auf halbem Wege treffen. Der Mann schaut uns verlegen an. „Ich muss mich mit jemandem im Pokécenter nahe des Einheitstunnels treffen“, sagt er dann und zupft seinen Schal zu Recht. „Bin ich auf dem richtigen Weg? Ich wusste nicht, ob ich den Steg entlang muss, oder…“ „Das ist egal“, sagt Maisy fröhlich und deutet hinter uns. „Beide Wege führen zum Pokécenter. Sie können sich nicht verlaufen.“ „Oh, das ist gut, sehr gut.“ Er reibt sich die Hände. „Vielen Dank.“ „No problem.“ Er nickt dankbar, dann stapft er hastig an uns vorbei und verschwindet im Gras. „Was war das denn für einer?“, frage ich laut, als wir außer Hörweite sind und den Waldstreifen hinter uns gelassen haben. Zu unserer Rechten kann ich endlich wieder den Steg erkennen. Louis ist etwas hinter uns und scheint sich gerade mit einem der Angler zu duellieren. „No idea“, erwidert Maisy und verschränkt die Hände hinter ihrem Kopf. „Aber er war ziemlich nervös und hatte es eilig.“ „Stimmt, jetzt wo du´s sagst…“ Ich drehe mich nochmal um, aber der Mann ist schon verschwunden. „Wir sollten weiter“, sagt Maisy fröhlich und geht beschwingten Schrittes voran. Ich folge ihr, aber trotzdem schaue ich mich immer wieder um.   „Maaaannn, diese Angler…“, stöhnt Louis und lässt sich am Lagerfeuer auf seinen Schlafsack fallen, den er sich als Sitzkissen ausgerollt hat. „Zuerst beschweren sie sich, dass ich ihre Fische mit Ethans Kämpfen vertreibe, dann fordern sie mich heraus. Das soll mal jemand begreifen.“ Er setzt sich schwungvoll wieder auf und grinst mich mit seinem Zahnlückengrinsen an. „Wollte gegen euch niemand kämpfen?“ „Nö“, verkünde ich fröhlich und beiße in meine Kartoffel. „Unfair! Nur weil ihr Mädchen seid.“ „Bitte?“, hake ich nach und schaue Louis gespielt böse an. „Willst du ein Duell? Noch schafft Sku Ethan bei strahlendem Sonnenschein.“ „Ich meine ja nur“, verteidigt Louis sich und nimmt seine eigene Kartoffel von Maisy entgegen, die er von einer Hand in die andere fallen lässt. „Warum muss ich gegen jeden dahergelaufenen Trainer kämpfen und ihr könnt einen lauen Spätsommerspaziergang genießen?“ „Weil, lieber Louis, wir uns durch Gestrüpp und hohes Gras voller wilder Pokémon durchschlagen mussten, während du bequem über den Steg spazieren konntest“, sagt Maisy fröhlich, die ihre Gitarre auspackt und vorsichtig stimmt. „Und du das Training brauchst“, füge ich schmunzelnd hinzu. „Immerhin willst du Bianka herausfordern.“ „Bianka…“, stöhnt Louis und lässt sich wieder nach hinten fallen. „Ihr Miltank wird mich in der Luft zerreißen.“ „Dich vielleicht, aber Ethan nicht“, lache ich und stecke mir den Rest der Kartoffel in den Mund. „Das wird schon, mach dir keine Sorgen.“ Ein Akkord erklingt. Louis und ich schauen gleichzeitig zu Maisy, die konzentriert auf ihre Finger blickt und vorsichtig den nächsten Akkord anschlägt. Und noch einen. Und noch einen. Dann atmet sie tief durch und beginnt eine einfache Melodie. Lange Zeit erfüllt nur Maisys Musik die abendliche Stille, gepaart mit dem Rascheln der Blätter im Wind und Skus Schnurren, die es sich inzwischen auf meinem Schoß gemütlich gemacht hat. Louis hat Winry gerufen und benutzt sie jetzt als gigantisches Kissen, an das er sich lehnen kann und Maisys Noctuh starrt mit wachen, roten Augen in die Nacht. Ihr dunkelbraunes Gefieder verschmilzt mit der Dunkelheit. Schließlich verklingen die Akkorde und Maisy lässt ihre Gitarre sinken. Sie reibt sich die Finger. „Ich muss mehr üben…“, murmelt sie und grinst uns verlegen an. „Das war super“, sagt Louis und lächelt sie aufrichtig an. „Mehr oder weniger“, erwidert Maisy, aber ihre Wangen glühen. „Was hörst du eigentlich so für Musik?“, frage ich sie und deute auf die gelben Kopfhörer, die immer um ihren Hals hängen. „Alles Punkige und Rockige würde ich sagen“, sagt sie grinsend. „Manchmal Radio.“ „Du hast Radioempfang?“, frage ich begeistert und lehne mich nach vorne, was Sku mir mit dem Ausfahren ihrer Krallen in meine Beine heimzahlt. „Yep“, sagt Maisy fröhlich. „Willst du?“ „Das wäre super!“ Sie nimmt die Kopfhörer ab und reicht sie mir, zusammen mit ihrem PokéCom. „Ich brauche auch so ein Ding…“, murmele ich anerkennend, als ich die Kopfhörer anschließe und mir auf den Kopf setze. Ich kann noch Louis´ Schnauben und einen Kommentar der Art Wenn du mal nicht mehr pleite bist hören, dann schalte ich das Gerät ein und stelle es auf den PCN-Radiokanal ein.   „-Azalea City gesichtet worden. Augenzeugen berichten, dass es sich dabei um drei Mitglieder der Verbrecherorganisation handelte, zwei Männer und eine Frau. Steckbriefe hängen in allen Städten Johtos aus und Sichtungen können an jeder Polizeistation mitgeteilt werden. Sowohl Gold als auch Noah haben der Polizei ihre uneingeschränkte Hilfe zugesichert, damit es nicht zu einer Wiederholung von vor neun Jahren kommt. Doch auch Positives tut sich in der Welt! Die diesjährige Pokéchampionship steht vor der Tür und startet wie jedes Jahr am 1. Oktober im Indigostadion. Tickets sind weiterhin erhältlich und wir bei PCN verlosen zwei Tickets für Block A Sitze samt Backstage-Erlaubnis! Lassen sie sich diese Möglichkeit nicht entgehen und nehmen sie an unserem Gewinnspiel teil, um die Favoriten und den Champ höchstpersönlich kennen zu lernen! Gold bestätigte, ebenfalls unter den Zuschauern zu sein, ob er jedoch einen Platz gebucht oder von dem Rücken seines legendären Lugias zuschaut, bleibt-“   „Irgendwas Interessantes?“ fragt Louis. „SHH!“   „-zuletzt mehrfache Übergriffe durch Biker auf Trainer und Passanten, allerdings ohne Verletzte. Das war es für heute mit den Abendnachrichten. Bria, übernimmst du das Wetter?“   „Mit dem größten Vergnügen, Daniel. Johtos Hitzewelle ist endgültig vorbei, die nächsten Tage wird es noch sonnig, aber danach müssen wir mit bewölkten und regnerischen Tagen rechnen. Zum Oktober hin wird der Himmel aber noch einmal aufklaren, also keine Sorge, Turnierfreunde!“   Es erschallt klimpernde Musik. Ich schalte den PokéCom wieder aus und nehme die Kopfhörer ab. Dann reiche ich sie Maisy. „Vielen Dank.“ „Behalt es, wenn du möchtest“, sagt sie grinsend. „Bis wir uns trennen, zumindest. Du scheinst ja richtig auf Radio zu stehen.“ „Naja…“ „Machst du Witze?“, fragt Louis und lacht. „Abby ist der größte Medienfreak, den ich kenne.“ „Und woher willst du das wissen?“, frage ich. „Ich habe in Azalea City kein einziges Radio angerührt.“ „Nein, aber du hast deine Schwester nach Neuigkeiten gelöchert und in jedem Laden gewartet, bis die Nachrichten kamen.“ Ich verziehe das Gesicht, lache dann aber ebenfalls. „Erwischt“, gestehe ich und Maisy lacht herzhaft. „Behalt es bis Viola City, Abby, kein Problem.“ „Das ist super, danke.“ „Oh, da fällt mir ein…“, sagt Louis und schnürt das Päckchen von seinem Rucksack, das Joy ihm vor unserer Abreise gegeben hat. „Ich hab noch was für dich, Abby.“ „Wird das Geheimnis endlich gelüftet?“ Ich schaue ihm dabei zu, wie er das rote Tuch entfernt und eine kleine Holzbox zum Vorschein kommt, die er bedächtig öffnet. Dann schnuppert er am Inhalt und verzieht das Gesicht. „Abby, was für einen kranken Geschmack hast du eigentlich?“, fragt er dann und reicht mir die Box. „Du hast die Kiste doch bestellt“, verteidige ich mich und nehme die Box entgegen. „Stimmt, aber du hast den Inhalt ausgesucht.“ „Wie soll ich- Oh.“ Die Kiste ist gefüllt mit einem kleinen Teekännchen, zwei winzigen Tassen und einem Beutel. „Das ist nicht dein Ernst“, sage ich, aber Louis grinst nur. „Tamottee, wie bestellt. Zwar keine Tonne, aber…“ Ich stelle die Kiste bei Seite, krabbele zu Louis und umarme ihn so fest ich kann. „Du bist der beste“, flüstere ich, dann gebe ich ihm einen Kuss auf die Wange und grinse ihn danach breit an. Louis ist knallrot. „Kei- keine Ursache“, stammelt er, als ich mich löse und beginne, die Box auszupacken. „Zucker oder Milch hast du nicht zufällig?“, frage ich, nachdem ich die Teekanne mit den getrockneten und zerriebenen Tamotbeeren und Wasser gefüllt habe und das ganze jetzt über dem Feuer kocht. „Nein.“ Louis Laune sinkt augenblicklich. „Braucht man das?“ „Nicht unbedingt“, beruhige ich ihn. „Ich wollte Tamottee schon immer mal pur trinken.“ Maisy krabbelt zum Feuer und schaut in die kleine Teekanne. Als sie den aufsteigenden Dampf einatmet, beginnt sie mit einem Mal zu husten. „Holy Fuck“, sagt sie, als sie sich beruhigt hat. „Das willst du ernsthaft trinken?“ „Ich mag scharf“, verteidige ich mich, aber Maisy schüttelt nur fassungslos den Kopf. Einige Minuten später ist der Tee fertig und ich fülle die beiden Tassen, eine bis zum Rand, die andere nur zur Hälfte. Louis und Maisy haben sich bereit erklärt, zusammen mit mir den Tee zu probieren. Doch jetzt, wo sie die orangerote Flüssigkeit vor sich haben und ihnen der brennend scharfe Geruch in die Nase steigt, sehen sie nicht mehr so entschlossen aus. „Auf drei“, sage ich grinsend und hebe meine Tasse. Louis tut es mir gleich. „Eins. Zwei. Drei.“ Ich lege meine Lippen an den Tassenrand und nippe vorsichtig an dem Tee. Der feurige Geschmack verbrennt mir sofort die Zunge, zieht durch meinen gesamten Mundraum und verursacht ein unerträgliches Kribbeln in meinem Rachen. Ich atme langsam durch die Nase aus und versuche, das Brennen in meinem Mund unter Kontrolle zu halten. Ohne Milch ist Tamot wirklich nichts für Anfänger. Apropos Anfänger. Louis Gesicht ist tiefrot und mit einem feinen Schweißfilm bedeckt, er hält sich den Hals und hechelt, was das Zeug hält. „Wasser… Wasser…“, winselt er und Maisy muss sich ein Lachen verkneifen. Dann reicht sie ihm ein Stück Kartoffel. „Das wirkt besser“, sagt sie und Louis stopft sich das Stück ganz in den Mund. Ein erleichtertes Aufseufzen geht von ihm aus und ich nehme einen weiteren Schluck. Das Brennen in meinem Rachen flammt erneut auf, aber dieses Mal bin ich vorbereitet. Und irgendwie gibt mir die Schärfe einen Kick. Vielleicht steige ich tatsächlich auf puren Tamottee um. „Was ist mit dir?“, frage ich Maisy und ignoriere das Brennen meiner Mundhöhle bei dem Luftkontakt. Sie kratzt sich verlegen am Kopf. „Ich glaube, ich passe.“   In dieser Nacht schlafe ich mit Sku in meinem Arm. Es ist kälter geworden, aber mit ihr zusammen im Schlafsack ist es angenehm warm. Einige Male höre ich ein Rascheln im hohen Gras, aber Skus leises Fauchen verjagt, was auch immer in der Dunkelheit lauert und ich bleibe in einem angenehmen Halbschlaf stecken, in dem Realität und Traum miteinander verschmelzen. Solange ich Sku bei mir habe, kann mir nichts passieren. Kapitel 29: Unerwartetes Wiedersehen (Augenklappe) -------------------------------------------------- „Alle Mann aufstehen!“, rufe ich erfrischt in die Runde und grinse meine Mitreisenden breit an, die wie Raupys in ihren Schlafsäcken eingerollt sind und mich blinzelnd ansehen. Louis stöhnt und verkriecht sich tiefer in seinem Schlafsack, während Maisy ausgiebig gähnt und dann aus ihrem eigenen herausklettert. Sku schnurrt leise und reibt sich an meinem Bein. Ich kraule sie ausgiebig am Kopf, bevor ich sie in ihren Pokéball zurückrufe. Nachdem wir gestern die restliche Route hinter uns gebracht haben, haben wir unser Schlaflager nahe dem Durchgangshäuschen aufgeschlagen, das Route 32 mit den Ruinen verbindet. Heute steht Sight-Seeing auf dem Plan. Während Lous und Maisy ihre Schuhe anziehen und ihre Schlafsäcke einrollen, baue ich die Feuerstelle ab. Als ich mir danach meine Hände an meiner in Azalea City erworbenen Wald-und-Wiesen-Hose abwische, fallen mir die unzähligen Flecken auf, die bereits auf dem dicken braunen Stoff sind. Ich seufze und untersuche den Rest meiner Klamotten. Alles neu, alles ruiniert. Das harte Leben eines Trainers auf Reisen. Ich schnuppere und verziehe das Gesicht. Ein Bad könnte ich auch gebrauchen. „Wie spät ist es…“, murmelt Louis, als ich neben ihm in die Hocke gehe und seinen Schlafsack zur Seite ziehe. „Spät genug“, sage ich fröhlich und ziehe ihn an seinen Schultern aus dem Schlafsack. Louis flucht und reißt sich los. „Ich mach ja schon…“, murrt er und ich richte mich zufrieden auf. Dann helfe ich Maisy, unser Lager abzubauen. Als alles eingepackt ist, läuft Maisy vor. „C´mon, wir sind fast da!“, ruft sie und Louis und ich folgen ihr. Wenige Minuten später erreichen wir einen kleinen Erdhang, den Louis mühelos hinunterrutscht. Maisy folgt ohne mit der Wimper zu zucken, aber ich bleibe vorsichtshalber Stehen. Der Abhang sieht rutschig aus und es geht mindestens drei Meter nach unten. „Na komm Abby!“, ruft Louis mir breit grinsend zu. „Wenn du fällst, fangen wir dich auf.“ „Angeber!“, rufe ich zurück, dann setze ich vorsichtig einen Fuß auf den Abhang. Ich rutsche augenblicklich hinunter und unterdrücke ein Kreischen, als ich auf den Grund zu schlittere. Wie versprochen fängt Louis mich ab und als sich nichts mehr unter mir bewegt, atme ich erleichtert aus. Als ich aufschaue, ist Louis Gesicht direkt vor meinem. Knallrot. Maisy lacht laut und geht an uns vorbei dem Ende der Route entgegen. Ich löse mich hastig von Louis und folge ihr. Bis zum Ende der Route ist es nicht mehr weit. Wir brauchen knapp eine Stunde, aber der Weg ist eben und mit dichtem Gras bewachsen und es ist angenehm warm, deshalb vergeht die Zeit wie im Flug. Als wir das Durchgangshäuschen erreichen, ist niemand dort. „Warum ist hier niemand?“, frage ich und schaue mich um. Es ist kleiner als die anderen Häuschen, die ich kenne und die Theke an der rechten Seite ist unbesetzt. „Wahrscheinlich kommen hier nicht genug Leute durch“, sagt Louis. „True.“ Maisy verschränkt die Hände hinter ihrem Kopf und folgt ihm. „Hier lohnt es sich nicht.“ Gemeinsam durchqueren wir das kleine Gebäude und finden uns anschließend vor einer gigantischen Felsansammlung wieder. „Wahnsinn…“, flüstere ich und mache vorsichtig einen Schritt nach vorne. Das Gras ist verschwunden, stattdessen besteht der Untergrund aus festgetretener Erde und zahllosen kleinen Ausgrabungsstätten, die mit gelbem Absperrband umzäunt sind. Die Ruinen selbst ragen zwischen den Felsen und den dichten Laubwäldern in die Höhe und scheinen in die Steinformationen hineingebaut zu sein. In die sandfarbenen Ruinen sind tausende Zeichen eingraviert, die ich aus der Ferne nicht erkennen kann. „Sick shit“, stimmt Maisy mir zu. Louis starrt die Ruinen mit offenem Mund an, den Kopf in den Nacken gelegt und als er weiter geht, fällt er fast in eins der Löcher. Er schreit auf, fängt sich aber im letzten Moment wieder. „Puh, das war knapp“, sagt er und reibt sich mit dem Daumen über die Nase. „Ihr solltet aufpassen, wo ihr hintretet“, ertönt eine Stimme hinter uns und wir drehen uns um. Ein Forscher in weißem Kittel steht am Eingang des kleinen Häuschens, das ich völlig übersehen habe und das etwas abseits von den Ruinen gebaut ist. Sein blondes Haar ist dicht an seinen Schädel gegelt und seine Augen sind- Moment mal. „Ah, sie sind das!“, ruft Maisy und winkt dem Mann zu. „Wir haben sie gestern getroffen, erinnern sie sich?“ „Natürlich.“ Er kommt auf uns zu. „Ihr habt mir sehr geholfen. Vielen Dank.“ Louis schaut mich ratlos an und ich zucke die Schultern. „Sie arbeiten also hier?“, frage ich und schaue an ihm vorbei zu dem kleinen Haus. „Warum hatten sie gestern denn nicht ihren Kittel an?“ „Wie ein jeder Forscher dir sagen kann, ist der Kittel nur während wissenschaftlicher Arbeit zu tragen.“ Er lächelt. „Eigentlich sollte ich so nicht einmal aus dem Haus gehen, aber ich möchte meine Arbeit weiterführen, sobald ihr in den Ruinen seid.“ Er schaut zu mir. „Deshalb seid ihr doch hier, oder?“ „Yep!“ Maisy grinst und zurrt ihren Gitarrenkasten etwas höher auf ihre Schulter. „Wir würden uns die Ruinen gerne von innen ansehen. Ist das okay?“ „Natürlich.“ Der Mann nickt. „Ich bin Professor Stein. Und bevor ihr lacht, ich habe mir den Namen nicht ausgesucht.“ Ich grinse breit. Der Professor mag gruselig aussehen, aber er wirkt ziemlich nett. „Folgt mir, ihr könnt euer Gepäck in meinem Haus abstellen, bis ihr fertig seid. Da unten gibt es einige Leitern und enge Durchgänge.“ Louis erbleicht. „Wie eng?“, fragt er dann und als Prof. Stein sein Gesicht sieht, lenkt er schnell ein. „Keine Sorge, nur die Durchgänge sind schmal. Die Hallen sind sehr weiträumig und hoch. Wer immer diese Ruinen erbaut hat, verstand sein Handwerk.“ Er betrachtet die Ruinen mit einem intensiven Blick. „Und ich werde herausfinden, wer es war.“ Als er unsere Blicke spürt, kratzt er sich hastig am Kopf. „Das habe ich zumindest vor, aber bisher sind meine Forschungen noch nicht sehr weit gekommen“, gibt er zu und dreht sich um. „Kommt mit.“ Wir folgen Prof. Stein in das kleine Haus und staunen nicht schlecht, als wir das Innere sehen. Der Raum ist durch eine kleine Trennwand in zwei Teile aufgeteilt. Links ist eine kleine Küche mit Ecktisch und ein Fernseher mit Bett aufgestellt, im rechten und weit größeren Teil stehen mehrere Regale voller Artefakte, Münzen, Scherben, Steinplatten und Fossile, sowie einige größere Gerätschaften und ein Labortisch, auf dem mehrere Glas- und Plastikflaschen und jede Menge Reagenzgläser stehen. „Stellt eure Sachen einfach hier unter den Tisch“, sagt Prof. Stein. Nachdem wir alle Rucksäcke und die Gitarre abgestellt haben, sind wir nur noch mit unseren Itemtaschen beladen. Maisys PokéCom habe ich, natürlich, dabei. Ich will die Mittagsshow nicht verpassen. „Oh, das habe ich vergessen, tut mir Leid“, sagt der Professor plötzlich und schaut uns entschuldigend an. „Eure Pokémon müsst ihr hier lassen.“ Wir schauen uns an. „Ist das wirklich nötig?“ fragt Louis schließlich und ich nicke. Ich kenne diesen Professor überhaupt nicht. Was, wenn er unsere Pokémon klaut? „Macht euch keine Sorgen.“ Er verschwindet in seinem Labor und taucht einige Momente später mit einem kleinen Tresor zurück. Dann reicht er uns drei Schlüssel. „Tut eure Pokémon hier rein, dann kann ihnen nichts passieren.“ Ich betrachte den Tresor argwöhnisch. Dann wiederum… Wenn der Professor Pokémon stehlen würde, hätten Trainer bestimmt bereits Anzeige erhoben. Er kann schlecht jeden ausrauben, ohne aufzufallen. „Ist das ihre Tochter?“, fragt Maisy, die in die Küche gewandert ist und dort vor einem kleinen Foto steht. „Ja, das ist sie.“ Prof. Stein kratzt sich am Kopf. „Sie ist gerade bei ihrer Mutter.“ „Sie leben getrennt?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Nein. Aber hier ist nicht genug Platz für die Beiden, deswegen arbeite ich die Woche über hier und verbringe das Wochenende mit meiner Familie. Ich sehe zurück zu dem Tresor. „Warum können wir unsere Pokémon nicht mitnehmen?“, frage ich dann und Prof. Stein lehnt sich an den Tisch. „Die Ruinen sind ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ich kann dort keine Pokémonkämpfe erlauben.“ „Und wenn wir versprechen, dass wir nicht kämpfen werden?“, frage ich vorsichtig, aber Stein schüttelt den Kopf. „Bitte versteht, dass ich nichts Böses im Sinn habe“, sagt er dann. „Ich möchte lediglich die Ruinen vor weiterem Schaden beschützen. Hier sind schon früher Trainer gewesen, die Unruhe gestiftet und Teile der Wandtafeln zerstört haben. Ich gehe kein Risiko mehr ein.“ Da ist wohl was dran. „Sind in den Ruinen denn auch keine Pokémon, die uns angreifen könnten?“, fragt Louis schließlich und Prof. Stein lacht herzlich. „Wenn du die Icognito meinst, die sind absolut harmlos. Wenn sie euch zu Nahe kommen, wedelt mit der Hand in ihre Richtung und sie fliehen sofort. Manchmal verläuft sich ein wildes Pokémon dort unten, aber das ist sehr selten.“ „Na gut“, meint Maisy schließlich und holt drei Pokébälle aus ihrer Tasche, die sie dann in den Tresor legt. „Ich vertraue ihnen, also passen sie gut auf meine Pokémon auf.“ „Keine Sorge, ihnen wird nichts geschehen.“ Louis und ich folgen ihrem Beispiel. Dann schließen wir ab und verstauen die Tresorschlüssel sicher in unseren Taschen. „Ich habe kleine Schilder in den Ruinen aufgehängt, damit ihr euch nicht verlauft“, sagt Prof. Stein zum Abschied. „Folgt ihnen und ihr findet den Weg ganz leicht wieder zurück.“ „Schilder?“, murmele ich, als wir uns auf den Weg zu einer der Ruinen machen. „Ich hab genug von Schildern und Orten, an denen man sich verlaufen kann.“ „Stimmt, ihr zwei seid doch im Wald verloren gegangen, oder?“, fragt Maisy, die zu uns ausschließt. Sie ist auf dem Weg etwas zurück gefallen. „Genau die.“ Louis schaudert. „Aber ich vertraue darauf, dass wir dieses Mal keinem Hypno begegnen.“ „Hoffen wir´s“, erwidere ich. „Was hast du hinten auf dem Boden gesucht, Maisy? Ist dir was runter gefallen?“ „Nope. Ich hab nur ein paar kleine Fußspuren entdeckt.“ „Wahrscheinlich von einem Pokémon“, vermutet Louis. „Yeah, sah so aus.“ Wir gehen weiter, schlängeln uns zwischen den Ausgrabungslöchern und den Absperrungen hindurch und bleiben schließlich ehrfürchtig vor dem Ruineneingang stehen. Er ist quadratisch und führt tief in den Fels hinein. Der Weg ist dunkel, aber am anderen Ende kann ich tänzelndes Licht erkennen. Die Wände sind voller Zeichen. Bevor ich hineingehen kann, hält Louis mich jedoch am Arm fest. „Schau mal.“ Ich folge seinem Blick, der auf den Boden gerichtet ist. „Ja, genau die!“, ruft Maisy und geht neben den Fußspuren in die Hocke. „Was denkt ihr?“ Ich beuge mich nach unten und betrachte die Abdrücke, die das Pokémon im staubigen Boden hinterlassen hat. Sie sind annähernd tropfenförmig, hinten rund, vorne spitz zulaufend und kaum so lang wie mein kleiner Finger. „Keine Ahnung“, gestehe ich. „Aber groß kann es nicht sein.“ „Dann sollten wir kein Problem haben“, meint Louis  grinsend. „Kleine Pokémon werden uns in Ruhe lassen.“ „Hoffentlich.“ Die Ruinen sind von innen noch viel eindrucksvoller, als ich erwartet habe. Die Räume sind hoch, aber Wände und versteckte Gänge machen aus der Ruine ein einziges Labyrinth. Alle Wege sehen gleich aus, Pokémonstatuen zieren den Boden in regelmäßigen Abständen und flackernde Feuer in den Wänden erhellen die düsteren Gänge. In manchen Kammern sind Leitern in den Boden gelassen und nachdem wir die Ersten hinunter gestiegen sind, führen einige auch wieder nach oben. Wären Prof. Steins kleine Schilder nicht so gut sichtbar, wären wir vielleicht umgekehrt, aber so sind die Wege perfekt ausgeschildert. „Kann einer von euch die Zeichen lesen?“, fragt Louis, der vor einer der Steinplatten mit eingravierten Punkten steht, die in einer Art Schrift angeordnet sind. „Natürlich, Louis“, erwidere ich. „Wir wurden schon als kleine Kinder in vergessenen Pokémon-Schriften unterrichtet.“ „Echt?“ „Das war ein Scherz.“ Sein Grinsen gefriert. „Oh.“ Ich kann nicht anders, ich muss lachen. „Wir können später den Professor fragen“, schlage ich vor und er nickt. „Schaut mal“, sagt Maisy plötzlich und wir drehen uns zu ihr um. Sie ist bereits in den nächsten Raum vorgegangen und winkt uns jetzt zu sich rüber. Als wir sie erreichen, sehe ich, was sie meint. „Das meinte Prof. Stein wohl“, sagt Louis und starrt die riesige Steintafel an, die an der Wand hängt. Auf ihr ist ein uraltes Pokémon abgebildet. Zumindest vermute ich das. Die Hälfte der Tafel liegt in einem Schutthaufen auf dem Boden. „Langsam verstehe ich, warum er hier unten keine Pokémon haben will“, sage ich und schaue an die Decke. Die Icognito schweben über uns, aber außer dem ein oder anderem neugierigen Exemplar meiden sie uns. „Wirklich gebraucht haben wir sie ja wirklich nicht.“ „Nox hätte es hier bestimmt gefallen“, meint Maisy und vergräbt die Hände in ihren Hosentaschen. „Hier drin ist alles genauso staubig und alt wie sie.“ Louis gluckst. „Was für Pokémon hast du eigentlich, Maisy?“, frage ich sie, als wir den kleinen Schildern weiter folgen. Vor uns liegt ein langer, abschüssiger Gang, der am anderen Ende düsterer wirkt als hier bei uns. „Hmm.“ Sie grinst. „Nox, ein Flegmon, so wie quasi jeder im Dorf und ein Teddiursa, das Gold mir gefangen hat, als ich klein war.“ „Oh Mann!“, murre ich und trete einen kleinen Stein in den Gang vor uns. „Warum hat Gold mir kein Pokémon gefangen? Warum kennst du ihn so gut?“ „Ach, kennen ist übertrieben“, versichert Maisy mir schnell. „Er war Stammkunde und hat meinem Großvater ab und zu einen Gefallen getan. Wahrscheinlich erkennt er mich nicht mal mehr, wenn er uns das nächste Mal besucht.“ „Wenn hier jemand maulen darf, dann ich“, schaltet sich Louis ein und schaut mich vorwurfsvoll an. „Hier scheinen ja alle außer mir irgendwelche berühmten Freunde zu haben.“ „Da fällt mir ein, Raphael besucht mich im Oktober“, sage ich und Louis´ Lächeln gefriert, bevor er sich wieder fängt. „Wenn wir dann noch gemeinsam reisen, triffst du ihn auch mal.“ „Wenn?“ Louis zieht eine Augenbraue hoch. „Naja, du musst nach Dukatia City“, sage ich. „Ich werde mich wahrscheinlich in Richtung Teak City aufmachen.“ „Also trennen wir uns nach Viola City?“ Louis Stimme ist plötzlich viel zu kühl. „Ich dachte, das wäre-“ „Guys, ich will euch nicht unterbrechen, aber schaut mal bitte.“ Wir drehen uns zu Maisy um, die vorgegangen ist und am Ende des dunklen Ganges steht. Als wir zu ihr aufschließen, schlucke ich. Vor uns geht es steil nach unten, nur eine dünne Leiter trennt unseren Gang von dem mehrere Meter entfernten Boden unter uns und sie reicht kaum bis nach ganz unten. Aber das ist nicht das Beunruhigenste. Keine der Fackeln ist erleuchtet. Und Schilder sehe ich auch keine mehr. „Wir sollten umdrehen“, sage ich und schaue zu Louis, der energisch nickt. „Aber warum denn?“, erklingt eine weibliche Stimme hinter uns. „Bisher lief doch alles nach Plan.“ Ich drehe mich langsam um. Mel sieht gefährlicher aus, als ich sie in Erinnerung habe und das, obwohl ihr halbes Gesicht mit Verbänden, Gips und Augenklappe bedeckt ist. Aber aus ihrem verbliebenen Auge strahlt mir purer Hass entgegen und ich mache automatisch einen Schritt zurück. Teal fährt sich durch sein pechschwarzes Haar, dann zieht er eine Pistole aus seinem schwarzen Gürtel und richtet sie auf uns. „Warum überdenkt ihr euren Trip nicht und klettert die Leiter runter, die dort so einladend hängt“, sagt er, seine Stimme eisig. „Was wollt ihr von uns?“, frage ich mit zittriger Stimme, während ich vorsichtig noch einen Schritt zurück mache. „Ich will nur was von dir, Abby“, zischt Mel, dann zuckt sie zusammen, während sie mit der Hand nach ihrer Nase greift, aber auf halbem Wege inne hält. „Du und die rote Schlampe haben mein Gesicht ruiniert. Das hier ist meine persönliche Rache.“ „Ruth ist nicht hier“, sage ich und setze meinen Fuß noch ein Stück nach hinten. Ich fühle die Kante. Louis neben mir zittert. „Ich bin nicht blind“, erwidert Mel kühl. „Wenn ich mit dir fertig bin, ist sie die nächste auf meiner Abschussliste.“ „Na los“, sagt Teal und kratzt sich am Kopf. „Runter da.“ Maisy klettert als Erstes, dann Louis, dann ich. Als wir unten ankommen, ist es mit einem Mal stockduster, ich kann kaum die Hand vor Augen sehen. Nur das bisschen Licht aus dem oberen Gang lässt mich Mels Gesicht ausmachen, die an der Steinkante hockt und ihr Jagdmesser zieht, mit dem sie die Strickleiter anschneidet und dann abreißt. Das Strickbündel fällt mit einem dumpfen Geräusch vor unsere Füße. „Woher wusstet ihr, dass wir hier sind?“, rufe ich hoch und unterdrücke die Angst, die sich in mir aufbaut. Nicht den Kopf verlieren. Nicht den Kopf verlieren. „Eigentlich spreche ich nicht gerne mit meinen Opfern, aber ich mache dieses Mal eine Ausnahme, weil es so viel zufriedenstellender sein wird, wenn du es weißt“, erwidert Mel, dann steckt sie ihr Jagdmesser wieder ein und steht auf. „Team Rocket ist eine Verbrecherorganisation der Extraklasse. Wenn ich Informationen will, dann kriege ich Information. Und euer Ziel habt ihr im Pokécenter ja laut genug angekündigt.“ „Kurz vor Viola City links.“ sagt Louis und deutet auf die Stelle, wo die Alph-Ruinen auf der Karte markiert sind. „Übermorgen sollten wir dort sein.“ Nein. „Dann haben wir unseren guten Freund Professor Stein davon überzeugt, mit uns zusammen zu arbeiten.“ „Ich muss mich mit jemandem im Pokécenter nahe dem Einheitstunnel treffen.“ Das kann nicht sein. „Unsere Argumente waren sehr überzeugend, oder, Teal?“ „Familienbande sind etwas Schönes“, stimmt er ihr zu. „Ist das ihre Tochter?“ Hat man uns… „Ich hätte die Sache ja am liebsten letzte Nacht erledigt, aber dein Pokémon war so argwöhnisch“, murrt Mel und zurrt ihren blonden Zopf zu Recht. „Vielleicht besser so, so können wir das Ganze als Unfall tarnen.“ Einige Male höre ich ein Rascheln im hohen Gras, aber Skus leises Fauchen verjagt, was auch immer in der Dunkelheit lauert. …die ganze Zeit beobachtet? „Also mussten wir unsere Pokémon gar nicht abgeben?“, fragt Louis mit einem Zittern in der Stimme. „Natürlich nicht“, lacht Mel und zischt dann, als die Bewegung durch ihre Nase geht. „Das war alles Teil des Plans.“ „Warum erschießt ihr mich nicht einfach?“, frage ich, während Panik in mir aufsteigt. „Dieses Mal habt ihr schließlich eure Waffen dabei.“ „Wir sind in privater Angelegenheit unterwegs“, erwidert sie und wendet sich ab. „Kein Grund, sich unnötig die Hände schmutzig zu machen. Teal?“ „Jo.“ Er kratzt sich genervt am Kopf, dann zieht er einen Pokéball, während er mit der anderen weiterhin die Pistole auf uns richtet. Ein roter Lichtblitz strahlt zu uns herunter und als er sich verflüchtig, entdecke ich Teals Sengo, das an der Kante steht und zu uns hinunter schaut. „Dreimal Schwerttanz, Sengo, ich brauche dich auf voller Power.“ Sengo seufzt, dann breitet es seine klauenbewehrten Arme aus und starrt an die Decke. Es dauert einen Moment, dann beginnt es am ganzen Körper zu zittern. Als es die Arme nach einiger Zeit sinken lässt, kann ich jeden seiner Muskeln unter dem dichten weißen Fell erkennen. Seine roten Augen leuchten in der Dunkelheit zu uns hinab. Teal zeigt mit der Pistole in unsere Richtung. „Geht ein paar Meter zurück in den nächsten Gang.“ Wir folgen seiner Anweisung und tasten uns vorsichtig vor, bis wir eine Wand mit eingebrochenem Durchgang erreichen. Vorerst vor Teals Pistole in Sicherheit, atmen wir erleichtert aus. So schlimm ist es nicht, versuche ich mir einzureden. Niemand ist verletzt und sowohl Maisy als auch Louis können die Kante hochklettern und Hilfe holen. Wir müssen nur warten, bis die beiden Rockets weg sind. „Sengo, Trugschlag gegen die Decke.“ Teals Stimme klingt weit entfernt, aber ich kann ihn trotzdem deutlich hören. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er wird doch nicht- Ich hechte zum Durchgang und starre hinauf zu Sengo, das tief in die Knie gegangen ist und jetzt katapultartig Richtung Decke springt. Es holt aus und seine zur Faust geballte Pranke schlägt mit unglaublicher Wucht in den Stein. Dann fällt es zu Boden, wird jedoch von Teal zurück gerufen, bevor es auf dem Boden aufschlägt. „Viel Spaß“, ruft Teal uns zu, dann dreht er sich um und verschwindet. In höre noch Mels Lachen, dann herrscht Stille. Louis und Maisy tauchen neben mir auf und schauen mit mir zur Decke. Kleine Steinsplitter hageln zu Boden, gefolgt von einigen größeren Brocken und der ein oder anderen Bodenplatte. Dann bricht die Decke ein. Kapitel 30: Dunkel war´s… (Enter Gott) -------------------------------------- Maisy und ich schreien, Louis packt mich und reißt mich hinter der Wand zu Boden. Ich presse meine Hände auf meine Ohren und kneife die Augen zu, der Lärm ist ohrenbetäubend. Ich kann Louis Atem gleich neben meinem Ohr spüren. Er zittert. Als ich keine fallenden Steinbrocken mehr höre, öffne ich vorsichtig die Augen und huste, als mir eine Staubwolke entgegen kommt. Eine Weile bleiben wir in Schockstarre auf dem Boden liegen. Mein Herz pocht so stark, dass es mir jeden Moment aus der Brust springen müsste, aber als Louis sich erhebt, folge ich seinem Beispiel. Allmählich lichtet sich der Staub und offenbart nichts als vollkommene Dunkelheit. Ich taste mich die Wand entlang bis zum Ausgang, vergeblich. Statt der schmalen Öffnung blockiert ein Haufen Schutt unseren Ausweg. „Das kann nicht sein“, flüstere ich und taste den Haufen ab. Dann laufe ich die gesamte Wand ab. Keine Chance. Wir sind eingesperrt. Lebendig begraben. Ich drehe mich zu den Anderen um, die ich nur an ihrer Atmung und dem Scharren ihrer Füße ausmachen kann. „Der Durchgang ist blockiert.“ Louis stöhnt und jemand lässt sich zu Boden sinken. Ich blinzele mehrmals, aber wie ich es auch versuche, meine Augen sehen absolut gar nichts. „Was jetzt?“, fragt Maisy leise, während ich mich vorsichtig zu den Beiden vortaste. „Niemand erwartet uns zurück. Prof. Stein steckt mit den beiden Rockets unter einer Decke, unsere Pokémon sind bei ihm und wir sind eingesperrt.“ Bei dem Gedanken an Sku, die jetzt in ihrem Pokéball im Tresor auf mich wartet, wird mir augenblicklich übel. „Es muss einen Weg hier heraus geben“, sage ich entschieden. „Ich bin Team Rocket schon Mal entkommen, dieses Mal schaffen wir es auch.“ „Abby hat Recht“, sagt Louis leise. „Wir müssen positiv denken. Die Ruinen scheinen alle irgendwie miteinander verbunden zu sein. Wenn wir weitergehen, finden wir vielleicht einen anderen Weg.“ Maisy sagt nichts. Ich kann ihren Zweifel verstehen. Ab hier ist nichts mehr ausgeschildert und nicht nur das. Wir haben keine Lichtquelle. Außer… „Wir können unsere Handys benutzen“, schlage ich vor. „Die haben eine Taschenlampenfunktion.“ „Wenn wir die benutzen, brauchen wir aber unseren Akku sehr schnell auf", erwidert Louis. „Wäre es nicht klüger, einen Ort zu finden, der Empfang hat und dann Hilfe zu holen?“ „Wir sind mehrere Meter unter der Erde.“ Maisys Stimme hat ihren üblichen gut gelaunten Ton verloren. „Ich bezweifle, dass wir hier unten Empfang haben.“ „Mal wieder…“, fluche ich und hole mein Handy aus meiner Tasche. Maisy hat Recht. Keiner der Balken ist voll. Und mein Akku ist auch schon gefährlich niedrig. Ich habe mein Handy zuletzt am Dienstag aufgeladen, als wir in Azalea City waren und seitdem zwei Anrufe geführt. Er wird noch maximal ein oder zwei Stunden durchhalten. „Was machen eure Akkus?“, frage ich trotzdem und zwei Gesichter tauchen gespenstisch leuchtend in der Dunkelheit auf. „Ein paar Stunden.“ erwidert Louis geknickt und Maisy nickt. „Ich auch.“ „Verdammt.“ Das Handylicht verschwindet und wir finden uns wieder in vollkommener Finsternis. „Es hilft nichts, wenn wir hier raus wollen, müssen wir vorwärts“, sage ich schließlich. „Abby, wir haben zwei oder drei Stunden Akku übrig. Mit Taschenlampenfunktion vielleicht eine Stunde. Also haben wir drei Stunden, um einen Weg durch dieses Labyrinth zu finden? Das schaffen wir nie im Leben!“ „Vielleicht nicht, aber wir haben keine Wahl, oder?“, kontert Louis, seine Füße scharren über den Boden und plötzlich spüre ich seinen Arm, der meine Schulter streift. „Wir können Markierungen an Gängen machen, die wir schon abgelaufen sind und uns aufteilen, vielleicht schaffen wir es dann.“ „Aufteilen ist keine gute Idee“, sage ich. „Dann muss jeder sein Handy benutzen und im schlimmsten Fall verlieren wir uns.“ „Was immer wir machen, wir sollten damit so schnell wie möglich anfangen. Wir haben nur Wasser dabei, kein Essen und nachts wird es hier unten sicherlich nicht kuschlig warm.“ „Fuck…“, murmelt Maisy, dann höre ich, wie sie aufsteht und zu uns kommt. „Also gut, suchen wir einen Ausgang.“   Die Zeit vergeht schleichend. Mit nur einem Lichtstrahl ist es mühsam, die Räume nach Ausgängen und Leitern abzusuchen und mehr als einmal laufen wir gegen eine der Statuen oder stolpern über eine zerbrochene Bodenplatte. Louis´ Handy gibt seinen Geist nach etwas weniger als einer Stunde auf. Wir haben nicht einmal drei Räume abgearbeitet. Je tiefer wir in die Ruinen vordringen, desto stickiger und staubiger wird die Luft und ich zwinge mich, nur kleine Schlucke aus meiner Wasserflasche zu nehmen. Wir wissen schließlich nicht, wie lange wir hier unten noch festsitzen. Mein Handy ist als nächstes dran. Ich gehe vor und leuchte mit dem kleinen Lichtstrahl den Boden vor uns und die Wände des Raumes ab. Dann tasten wir uns langsam vor. „Ist da ein Durchgang?“, fragt Louis und ich schwenke über die Wand, bis auch ich den schmalen Spalt erkenne. „Könnte sein“, meine ich. „Dicht hinter mir bleiben.“ Wir weichen mehreren Löchern im Boden und einer umgefallenen Statue aus und erreichen schließlich die Stelle. Louis hatte Recht. Der Durchgang ist sehr schmal, aber mit etwas Bauch einziehen könne wir uns alle hindurch zwängen. „Abby?“, unterbricht Maisy die angespannte Stille nach einer Weile und ich sehe kurz in ihre Richtung, bevor ich weitergehe. Wir dürfen keine Minute des Lichts verschwenden. „Was gibt´s?“ „Was ist meinem PokéCom? Vielleicht können wir damit irgendetwas anstellen.“ „Wir können es probieren, aber ich bezweifle, dass uns das was hilft“, murmele ich, dann gebe ich Louis mein Handy und krame den PokéCom aus meiner Gürteltasche. Als ich die Kopfhörer einstecke und das Radio einschalte, höre ich nur ein kratziges Rauschen. „Nichts“, sage ich und schalte versuchsweise durch alle Frequenzen. „Nein, warte. Auf 13,5 sind komische Geräusche.“ Ich lausche angestrengt. „Eine Melodie oder so, aber sie ist ziemlich gruselig.“ „Wenn wir hier unten keinen Empfang haben, dann können wir den PokéCom als Richtungsweiser benutzen“, schlägt Maisy vor und ich nicke. „Also immer in die Richtung, in der die Störung nicht ganz so schlimm ist“, sagt Louis. „Das ist doch schon mal ein Plan.“ „Die Frage ist, wie weit wir gehen müssen“, füge ich hinzu. „In jedem Fall müssen wir nach Leitern Ausschau halten, die nach oben führen“, sagt er und ich nicke, bis mir einfällt, dass man mich kaum sehen kann. „Also weiter.“   Unsere Idee hilft uns, so schön sie klingt, nicht weiter, denn egal wie weit wir in die Ruinen vordringen, das Radio empfängt weiterhin nichts als undefinierbares Rauschen und die Gruselmusik auf Kanal 13,5. Schließlich ist auch mein Akku leer und wir kämpfen uns eine Weile ohne Licht vorwärts, bevor wir aufgeben und Maisys Handy aktivieren. Wir haben noch eine Stunde – und wir haben gerademal eine Leiter gefunden, die nach oben führt. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, aber ich spüre, dass die anderen genauso wenig Hoffnung haben wie ich. Zuerst dachte ich, dass Mel und Teal ein großes Risiko damit eingehen, uns nicht sofort umzubringen, aber jetzt verstehe ich, warum sie so vorgegangen sind. Es würde mich nicht wundern, wenn man unsere Leichen erst Jahre später findet. Wir sind erschöpft, wir sind durstig und als Maisys Handy schließlich von einem Moment auf den anderen ausgeht und uns in absoluter Schwärze zurücklässt, lasse ich mich resigniert zu Boden sinken, die Arme um meine Knie geschlungen. „Wir werden sterben“, flüstert Louis und setzt sich neben mir auf den kalten Stein. „Ohne Licht finden wir hier nie im Leben raus.“ „Wir finden schon einen Weg“, sage ich, aber es klingt alles andere als überzeugend und Maisy schnaubt leise. „Yeah, right.“   Es muss einen Weg geben. Es muss! Ich laufe die Wände ab, taste mich Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Ich bin Team Rocket einmal entkommen, ich werde es wieder schaffen. Schließlich spüre ich eine Kante in einer der Wände. Ein Durchgang? Ich befühle die Stelle. Tatsächlich. „Leute!“, rufe ich. „Ich habe den nächsten Raum gefunden!“ Keine Antwort. „Bitte nicht das noch…“, flüstere ich und lausche in die Stille hinein. Nichts. Ich kann Louis und Maisy nicht mehr hören. Wir hatten uns doch nicht zu weit voneinander entfernen wollen, verdammt! Ich traue mich nicht, die Wand loszulassen, zum einen, weil sie meine einzige Orientierung ist, zum anderen, weil ich nicht sicher bin, wie schnell ich den angrenzenden Raum wieder finden kann. „Louis! Maisy!“ Ich horche in die Dunkelheit hinein. Statt einer Antwort höre ich ein Scharren. Ein Scharren, das eindeutig aus dem nächsten Raum kommt. Ich sollte die anderen suchen, aber das Geräusch lässt mir keine Ruhe. Ich taste mich durch den Durchgang und mache vorsichtig einen Schritt in den Raum hinein. Das Scharren wiederholt sich, näher dieses Mal. Es kommt von weiter hinten. Ich schaue zurück. Noch bin ich nicht weit von den anderen entfernt. Soll ich umkehren? Ein Licht flackert auf und ich kneife reflexartig meine Augen zu, das grelle Licht nicht mehr gewöhnt. Als sich meine Augen an das Flackern gewöhnt haben, entdecke ich einen gigantischen Schatten an der gegenüberliegenden Wand und dem Boden davor. „Oh mein Gott…“, flüstere ich und gehe auf das Licht zu. Nach über vier Stunden des Umherirrens kommt mir die Lichtquelle wie ein Wunder vor. Dann bewegt sich der Schatten und wandert über die Wand und den Boden, bis sein echter Körper hinter einer der Pokémonstatuen auftaucht. Es ist ein Pokémon. Es ist klein. Und es ist eines, das ich nie im Leben in den Alph-Ruinen erwartet hätte. Das Feurigel schnuppert mit der spitzen Nase in der Luft, dann dreht es den Kopf in meine Richtung. Das Feuer auf seinem Rücken erlischt. Ich starre in die Richtung, in der das Feurigel auf dem Boden kauert und lausche auf das Scharren seiner kleinen Füße. Als ich nichts höre, taste ich mich Stück für Stück vor, bis ich nur noch wenige Meter von dem Feuerpokémon entfernt bin. Dann gehe auf die Knie und krabbele zu dem Feurigel hinüber. Meine Finger greifen in meine Gürteltasche und suchen einen Pokéball, aber dann halte ich inne. Was hatte die Frau in der Lotterie noch gleich gesagt? „Der Finsterball. Bei Nacht, in Höhlen oder bei anderweitig verursachter absoluter Dunkelheit vervierfacht sich seine Wirkung. Damit ist er doppelt so effektiv wie zum Beispiel ein Hyperball.“ Ein breites Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht und taste nach den charakteristischen Erhebungen auf dem Finsterball. Es ist Schicksal. Es muss Schicksal sein. Ich ziehe den Finsterball aus meiner Tasche und mache meine Augen so weit auf, wie ich nur kann. Vergebens. Ich weiß ungefähr, wo das Feurigel ist, aber ich möchte den Ball ungerne blind werfen. „BUH!“, schreie ich und sein Feuer erwacht für einen kurzen Moment zischend zum Leben, aber das genügt, um mir zu zeigen, wo Feurigel sich schützend eingerollt hat. Ich werfe den Finsterball auf das erschrockene Pokémon, beobachte, wie das rote Licht den ganzen Raum erfüllt und dann erlischt. Der Finsterball klackert, als er auf dem Steinboden hin und her rollt. Ich kann kaum atmen, so aufgeregt bin ich. Ein Feurigel! Vielleicht schaffen wir es doch noch, die Ruinen lebend zu verlassen. Das Klackern wiederholt sich einige Male, dann hört es auf. Der Ball rollt in meine Richtung und prallt gegen mein Knie. Ich nehme ihn an mich und wiege ihn zufrieden in meinen Händen. Dann rufe ich das Feurigel. Der rote Lichtblitz erleuchtet ein zweites Mal die dunkle Ruinenkammer und im nächsten Moment steht das Feurigel vor mir, seine Augen zusammengekniffen, das Feuer auf seinem Rücken schwach glühend. Am liebsten hätte ich vor Freude geweint. „Hallo Kleiner“, flüstere ich und halte dem Pokémon meine Hand hin. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, dich hier getroffen zu haben.“ Das Feurigel fiept und schnuppert an meiner Hand, dann setzt es sich auf die Hinterbeine und schaut mich mit schief gelegtem Kopf an. „Hast du einen Namen?“, frage ich und es fiept erneut. Ich schaue den kleinen Kerl lange an. „Gott“, sage ich schließlich. „Von heute an bist du Gott. Willkommen im Team.“ Ich grinse. „Naja, der Rest des Teams ist gerade nicht hier, aber darum kümmern wir uns später. Kannst du dein Feuer etwas aufdrehen?“ Gott schaut mich weiterhin mit schiefem Kopf an, dann lässt es sich wieder auf alle Viere fallen und das Feuer auf seinem Rücken wächst zu einer handhohen lodernden Flamme heran. Mit einem Mal ist die ganze Ruine in rotorangenes Licht gehüllt. „Das ist so viel besser als unsere Handys…“, murmele ich und stehe ich auf. „Also gut, Gott, wir müssen zwei meiner Freunde finden. Sie sind irgendwo da hinten.“ Gott fiept, dann läuft er los. „Louis! Maisy!“, rufe ich so laut ich kann und halte Ausschau nach einem Zeichen der beiden. Sind sie immer noch in dem anderen Raum? Gott läuft dicht neben mir, sein Feuer wirft tanzende Schatten an die Wände und erweckt die Statuen zum Leben. „Louis!“ Keine Antwort. „Maisy!“ Wir durchqueren den Raum und erreichen den nächsten Gang. Gott fiept laut und ich rufe erneut. „-by? Abby!“ Es ist Maisys Stimme und ich folge dem Geräusch, bis ich sie in einem angrenzenden Raum entdecke. Die beiden sind wohl in eine andere Richtung gegangen als ich und haben gedacht, ich wäre bei ihnen. „Fuck, wir dachten, wir hätten dich verloren!“, ruft sie und ich gehe durch den kleinen Durchgang in den anderen Raum. „Ich habe Verstärkung mitgebracht“, sage ich grinsend, als Feurigel und ich ins Sichtfeld der Beiden kommen. Sie schauen den Kleinen mit offenen Mündern an. „Wo hast du den denn aufgetrieben?“, fragt Louis perplex und kommt auf mich zu. Als er Feurigel streicheln will, züngelt sein Feuer in die Höhe und er zischt misstrauisch. „Alles okay, Gott, das sind Freunde von mir.“ Er schaut mich skeptisch an, lässt sein Feuer aber wieder auf normale Größe schrumpfen. „Gott? Merkwürdiger Name“, meint Maisy, aber ihr Lächeln ist wieder zurück. Diesen Hoffnungsschimmer haben wir wirklich gebraucht. „Ich finde, er passt“, entgegnet Louis breit grinsend und bedenkt Gott mit einem wohlwollenden Lächeln. „Ohne ihn wären wir ziemlich am Arsch.“ „Aber was macht ein Feurigel hier?“, fragt Maisy. „Professor Lind hält die Starterpokémon in seinem Labor in Neuborkia.“ „Vielleicht ist eins abgehauen?“, mutmaße ich und schaue Gott fragend an, aber der schaut weiterhin feindselig in Louis´ Richtung. Oh Mann. „Mich wundert eher, dass das Feurigel es bis hier unten geschafft hat“, sagt Maisy schließlich. „Er sieht nicht so aus, als könne er Leitern hoch und runter klettern.“ Wir sehen Gott gleichzeitig an, der unter unseren Blicken nervös sein Feuer emporzüngeln lässt. „Du hast Recht.“ Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen? „Wisst ihr, was das bedeutet?“ Louis schaut mich fragend an, aber Maisy nickt. Ihre Augen leuchten orange im Schein des Feuers. „Es bedeutet, dass Feurigel einen anderen Weg als wir genommen hat, der weniger Leitern beinhaltet, obwohl es denselben Eingang wie wir verwendet hat.“ „Also gibt es eine andere Route?“, fragt Louis, während sein Grinsen immer breiter wird. „Prof. Stein hat vermutlich nur eine der Routen ausgeschildert, die für Touristen gut begehbar ist. Wenn wir Gotts Weg folgen, komm wir hier bestimmt raus!“ „Dann sollten wir uns beeilen“, schlägt Maisy vor. „Bevor unser Wasser ausgeht. Ich weiß nicht, wie lange ich diese staubtrockene Luft noch ertrage.“ Ich gehe in die Hocke und nehme Augenkontakt zu Gott auf. „Kannst du dich an den Weg erinnern, auf dem du hier runter gekommen bist?“, frage ich und er schaut mich fragend an. „Kannst du uns aus den Ruinen führen?“ Gott fiept, dann dreht er sich um und läuft los, die Nase dicht über dem Boden. „Oh yeah!“, ruft Maisy und läuft hinterher, dicht gefolgt von Louis und mir.   Räume, für die wir zuvor 20 Minuten oder mehr gebraucht haben, durchqueren wir jetzt in wenigen Minuten und dank Gotts Feuer müssen wir keine Angst mehr vor plötzlich auftauchenden Löchern oder Statuen haben. Manchmal bleibt Gott stehen und läuft einige Minuten im Kreis, bis er seine Spur wiederfindet, aber diese kleinen Herzinfarkte verkrafte ich. Ohne ihn würden wir schließlich ziemlich alt aussehen. "Was wollt ihr eigentlich in Viola City machen?", frage ich nach einer langen Zeit der Stille, in der nur Gotts Schnüffeln und das Scharren unserer Füße über spröden Stein zu hören sind. Maisy grinst breit. "Ich will Falk herausfordern." "Echt?", frage ich überrascht. "Ich wusste nicht, dass du Orden sammelst. Wie viele hast du schon?" "Bisher nur den von Kai, aber ich möchte wenigstens die Arenaleiter in den angrenzenden Städten besiegen. Vielleicht habe ich sogar Zeit für Bianka und Jens, wenn ich stärker bin." "Das wäre cool", gebe ich zu. "Aber warum willst du die Orden, du wolltest doch Kurts Werkstatt übernehmen." "Werde ich auch." Sie verschränkt die Hände hinter ihrem Kopf. "Aber das hält mich nicht davon ab, meine Fähigkeiten gegen starke Trainer zu testen. Orden sind ein Zeichen deiner Stärke. Ich hätte einfach gerne ein paar." "Kann ich verstehen", sagt Louis und grinst breit. "Orden zu besitzen gibt dir ein richtig gutes Gefühl. Als könnte niemand es mit dir aufnehmen." "Hm." Ich denke wieder an die drei Trainer, von denen man mir erzählt hat. Starke Trainer. Trainer ohne Orden. "Und du, Louis?" "Ich habe Falks Orden schon, aber ich denke, ich bleibe trotzdem eine Weile dort. Ethan kann Training in dem angrenzenden See gut gebrauchen, wenn ich gegen Bianka gewinnen will." "Vielleicht kann ich Gott ein wenig trainieren", stimme ich zu. "Wenn er wirklich von Prof. Lind weggelaufen ist, kann er kaum über Level 5 sein." "Wie spät ist es eigentlich?", fragt Maisy dann und ich schaue auf mein Handy, bis mir einfällt, dass ja alle unsere Akkus leer sind. "Keine Ahnung", sage ich niedergeschlagen. Aber wir waren mindestens zwei Stunden hier unten plus vier Stunden umherirren..." "Also früher Nachmittag", folgert Maisy und ich nicke. Louis stöhnt. "Kein Wunder, dass ich so Hunger habe. Ich könnte ein Rihorn verdrücken!" "Daran beißt du dir nur die Zähne aus", sage ich gutmütig und er lacht. "Ja, wahrscheinlich." "Guys." Ich schaue auf und entdecke eine Steinwand, die vor uns in die Höhe ragt. Ein schmaler, treppenartiger Pfad führt daran in die Höhe, aber die Stufen sind mehr oder weniger senkrecht. Ich schlucke. Gott bleibt vor der Wand stehen und setzt sich auf seine Hinterbeine. "Da hoch?", frage ich vorsichtshalber nach, aber er fiept nur zustimmend. "Na toll." "Komm schon, du wirst dich doch jetzt nicht von einer kleinen Kletterpartie einschüchtern lassen." Louis klopft mir auf die Schulter. "Wir helfen dir, da hoch zu kommen, keine Sorge." "Ich zuerst, ich kann sie von oben hochziehen." Maisy nimmt Anlauf, dann sprintet sie auf die Wand zu, macht einige Schritte den Stein hinauf und reckt sich nach einer der Stufen. Sie zischt, als der scharfkantige Stein in ihre Finger schneidet, packt aber mit der anderen Hand die nächste Stufe und zieht ihre Füße nach. Innerhalb von zwei Sekunden hat sie über die Hälfte der Wand hinter sich gebracht. Sie klettert mit geübten Bewegungen weiter nach oben und erreicht nach nicht mal einer Minute die oberste Kante. Als sie sich hoch gezogen hat, steht sie leicht schnaubend auf und reibt sich die Finger. "Ich kann schon die Fackeln an den Wänden sehen!"l ruft sie zu uns hinunter. "Wir haben es fast geschafft!" "Los Abby, du bist dran", sagt Louis grinsend. "Ich bin kein Pokémon", murre ich, aber er lacht nur und schiebt mich zu der Steinwand. Dann stellt er sich in Räuberleiterposition davor. "Hoch mit dir." Ich seufze, dann setze ich einen Fuß auf seine gefalteten Hände, nehme Schwung und lasse mir von ihm einen Extraschub geben. Ich packe eine der Stufen und kralle meine Finger in den Stein. Es tut mehr weh, als ich dachte. "Gut, jetzt schön langsam", ruft Maisy zu mir hinunter und geht auf die Knie, eine Hand nach mir ausgestreckt. Was erwartet sie? Ich bin kaum zwei Meter gekommen. "Rechter Fuß nach rechts oben. Ja, genau da." Ich höre Louis Stimme unter mir und versuche, seinen Anweisungen so gut es geht zu folgen, ohne an mir hinunter zu gucken. Ich hasse klettern! "Jetzt der Linke, etwas höher, ja, genau da." "Zieh mit der Hand nach." "Halt dich enger an der Wand." "Rechter Fuß, genau." "Weiter nach links, nach links!" "Streck dich." "Pass auf, ich hab dich gleich." Ich hebe den Kopf. Meine Arme brennen, meine Finger sind taub und mir stehen die Tränen in den Augen. Unter mir geht es mehrere Meter in die Tiefe und ich kann mich kaum noch halten. Maisy liegt inzwischen auf dem Bauch, ihr Arm so weit es geht zu mir nach unten gestreckt. "Ein kleines Stück noch", beruhigt sie mich und ich beiße die Zähne zusammen. "Ich bin gleich hinter dir, Abby." Louis Stimme erklingt von unter mir. Er scheint mir nachgeklettert zu sein. "Ist okay, ich hab´s fast gesch-AAAHHH!" Ein Stück Stein splittert unter meinem neuen Griff von der Wand und ich rutsche ab, meine Füße schlittern den Stein nach unten. Nur meine rechte Hand hält mich noch fest. Und Louis Hand auf meinem Po. "Ganz.. ruhig... jetzt", keucht er und ich reiße mich zusammen, greife nach einer neuen Stufe und ziehe mich hoch. Dann strecke ich meine Hand aus und Maisy packt mein Handgelenk. Ich klettere mit meine Füßen weiter nach oben, während sie mich ätzend nach oben zieht. Ich bin kaum über die Kante, da lasse ich mich stöhnend auf den Boden sinken und starre meine zitterten Hände an. Die Innenseiten meiner Finger sind blutig. Wenige Sekunden später taucht Louis auf, der sich ebenfalls hinfallen lässt und schwer atmet. "Ich dachte, du reißt uns beide runter", keucht er nach einer Weile und ich kichere hysterisch. "Das war´s", verkündet Maisy und deutet auf den Gang, der sich vor uns eröffnet und am anderen Ende erleuchtet ist. "Ab da sollten wir ohne Probleme zurück kommen." Ich nicke, stehe auf und gehe zurück zu der Steinwand. Dann rufe ich Gott zurück, der immer noch unten sitzt und mich verängstigt anstarrt. Da dachte wohl jemand, ich würde ihn zurück lassen. Dummes Kerlchen. Der Rest des Weges ist ein Kinderspiel. Wir folgen den ausgeschilderten Gängen, dieses Mal mit weit weniger Enthusiasmus für die Statuen und Steintafeln an den Wänden. Wir sind an einem Punkt nahe des Eingangs ausgekommen und so dauert es nur knapp zwanzig Minuten, bis ich Sonnenlicht erkennen kann. Ohne ein Wort rennen wir los und bleiben erst stehen, als wir knirschenden Sand und kleine Steinchen unter unseren Füßen spüren. "Von mir aus kann die verdammte Ruine jetzt einstürzen. Hörst du, Ruine!", schreit Louis und ich tätschele seinen Arm, wo das Bibor ihn gestochen hat. "Nicht schreien, das führt nur zu mehr Katastrophen." erinnere ich ihn und er grinst mich verschämt an. "Maaaan, hab ich die Sonne vermisst...", flüstert Maisy, schließt die Augen und lässt sich wo sie steht auf den Boden nieder und bleibt auf dem Rücken liegen. "Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich will meine Tasche und meine Pokémon wieder haben." sage ich und Louis nickt. "Wenn Ethan und Winry irgendetwas passiert ist, kann dieser Steintyp sich warm anziehen." "Du solltest auf Team Rocket sauer sein, nicht auf ihn", sage ich leise. Er sieht mich fragend an. "Warum das?" "Weil er erpresst wurde", antwortet Maisy für mich und ich nicke. "Er hat eine kleine Tochter, schon vergessen? Wir hätten kaum anders gehandelt. Ich glaube, eigentlich ist er ein netter Mensch." "Trotzdem Abby. Wir hätten sterben können." "Denkst du, das weiß ich nicht?", frage ich zurück. "Aber letztendlich waren es Mel und Teal. Und als nächstes haben sie es auf Ruth abgesehen." "Hast du ihre Handynummer?", fragt Maisy  und ich schüttele den Kopf. "Wir waren nicht wirklich beste Freundinnen." "Vielleicht kann Holly sie kontaktieren", schlägt Louis vor. "Sie hat doch all unsere Kontaktdaten bei den Verhören abgefragt." "Stimmt, das wäre eine Möglichkeit." Ich verziehe das Gesicht. "Auch wenn ich keine Lust habe, sie schon wieder anzurufen. Das wird mir langsam peinlich." "Ich kann das machen, wenn du willst." "Das wäre lieb." "Alright!" Maisy steht schwungvoll auf und klopft sich die Erde von ihrer Hose. "Dann holen wir mal unsere Pokémon zurück." Als wir uns Prof. Steins Hütte nähern, kann ich ihn durch eins der Fenster sehen. Er arbeitet an einem seiner Labortische und scheint mit einer großen Steinplatte zu hantieren. Maisy erreicht die Tür als erstes und klopft. Die Stille zieht sich, bis die Tür schließlich vorsichtig geöffnet wird. "Ha-hallo!", begrüßt Prof. Stein uns und tritt zur Seite. "Ihr seid schon zurück?" "Schon?" Louis zieht die Augenbrauen hoch. "Wir waren fast sieben Stunden weg." "Ja, nun..." "Wir wollen unser Gepäck abholen", sage ich. "Und unsere Pokémon." Ich schaue ihm in die Augen. "Ja. Ja! Natürlich, euer Gepäck. Und die Pokémon!" Er öffnet die Tür weit und lässt uns hinein. "Hier steht alles, bitteschön. Der Tresor ist gleich hier." Ich hatte schon damit gerechnet, dass Mel und Teal unsere Sachen mitnehmen würden, aber alles ist so, wie wir es zurück gelassen haben. Die beiden dachten wohl nicht, irgendeinen Profit aus schmutziger Unterwäsche und herkömmlichen Pokémon schlagen zu können. Ich nehme meinen Rucksack mit drangehängten Inlinern und schnalle ihn mir auf den Rücken, dann hole ich Skus und Hunters Pokébälle aus dem kleinen Tresor. Ich will sie schon in meine Tasche zurück tun, da erwacht das Misstrauen wieder in mir. Ich gehe vor die Tür und rufe beide Pokémon. Hunter schießt aus dem roten Lichtstrahl in die Luft und flattert krächzend mit seinen gewaltigen Flügeln, während Sku sofort in meine Richtung rennt. Ich gehe in die Hocke, um ihre Umarmung zu erwidern, aber sie läuft geradewegs an mir vorbei und in den Schatten des Hauses. "Und um sowas habe ich mir Sorgen gemacht...", murmele ich und stehe auf. Hunter kreischt fröhlich und landet auf meinen Schultern. "Du bist schwer, verdammt", murre ich, aber als er seinen Kopf an meine Wange reibt, lächle ich. Ich bin wirklich froh, die Beiden wieder zu haben. "Sagen sie mal, Prof. Stein", rufe ich in das kleine Häuschen und sein blasses Gesicht taucht im Türrahmen auf. "Wissen sie, ob Prof. Lind vor kurzem ein Feurigel entlaufen ist?" "Oh, ja!" Er nickt. "Vor ungefähr einer Woche. Er geht davon aus, dass es inzwischen einen Trainer gefunden hat und hat deshalb die Suche abgebrochen." "Gut zu wissen", sage ich grinsend. "So, wir gehen dann jetzt." "Ja, natürlich." Er schaut uns verwundert nach, als wir das Haus verlassen und uns zurück in Richtung Route 32 bewegen. "Und übrigens!", ruft Louis ihm aus der Ferne zu. "Die Beleuchtung in den nicht ausgeschilderten Teilen der Ruine ist ziemlich schlecht, die sollten sie nochmal überarbeiten!" "Ach was!", schreie ich ebenfalls. "Die halbe Decke ist doch eingekracht, da kommt eh keiner mehr hin!" "WAS?!" Prof. Steins Stimme ist mit einem Mal schrill. "WAS MEINT IHR DAMIT?" "Einen schönen Abend noch!", ruft Maisy und wir gehen lachend weiter. Ein bisschen Leid tut er mir schon. Aber nur ein bisschen. Kapitel 31: Ohlala! (Verschrobene Gestalten) -------------------------------------------- Bevor wir Viola City erreichen, erntet Maisy die Aprikokos ab, die an dem Baum gleich vor dem Stadteingang hängen. Dann setzen wir unseren Weg fort. Eingebettet in dichten Mischwald und sachte Hügelkuppen ist die sogenannte Stadt der Nostalgie eine Augenweide für uns. Nachdem wir den größten Teil des Tages in Dunkelheit und von Felswänden und Geröll umgeben verbracht haben, wäre ich schon mit einem Kaff wie Azalea zufrieden gewesen, aber Violas blaugraues Kopfsteinpflaster und die mit violetten Ziegeln gedeckten Häuser übertreffen alle meine Erwartungen. "Wow...", flüstere ich, während wir gemächlich die Straßen entlang schlendern und uns fasziniert umblicken. Nur Louis scheint keine Bewunderung zu empfinden. Er schaut sich suchend um, dann deutet er auf eine Abzweigung, die sich von uns entfernt und langsam zwischen den Häuserblocks einen Hügel entlang schlängelt und schließlich hinter einer Waldwindung verschwindet. "Da bin ich falsch abgebogen." sagt er und reibt sich verlegen über die Nase. "In der Richtung geht es nach Dukatia und Teak City." "Gut zu wissen", erwidere ich, aber von dem  Anblick der Farben dieser Stadt kann ich mich trotzdem nicht losreißen. "Wir sollten uns östlich halten", sagt Louis. "Da finden wir das Pokécenter und die Arena." "Und was habt ihr zwei vor?", fragt Maisy und reißt mich aus meinen Gedanken. "Geld verdienen", sage ich grinsend. "Ich will nicht immer pleite sein." "Ich will den Konfensaturm nochmal herausfordern." Louis verzieht das Gesicht. "Als ich das erste Mal hier war, habe ich gegen den letzten Trainer verloren. Dieses Mal will ich den Großmeister herausfordern." "Sounds good." Maisy nickt und biegt an einer Kreuzung ab. Kurze Zeit später erreichen wir Violas Hauptstraße, die trotz der Uhrzeit noch mit Menschen gefüllt ist. Ich denke sehnsüchtig an meine Inliner, aber es ist zu voll und ich kann Louis und Maisy schließlich schlecht alleine stehen lassen. "Wollen wir erstmal ins Pokécenter?", fragt Maisy und ich nicke. "Unsere Pokémon haben eine Pause verdient", stimmt Louis uns zu. "Und vielleicht kann ich wieder einen Deal aushandeln", füge ich breit grinsend hinzu. Louis runzelt die Stirn. "Du kannst nicht immer die ganze Arbeit übernehmen", murrt er. "Ich stehe eh schon viel zu tief in deiner Schuld." "Du weißt inzwischen ja, wie du dich revanchieren kannst", erwidere ich und strecke ihm die Zunge raus. "Na kommt, ich würde gerne wissen, wo wir heute Nacht schlafen, bevor ich die Stadt erkunde."   "Das tut mir furchtbar Leid, aber wir nehmen hier keine Trainer für die Arbeit an", entschuldigt sich Schwester Joy und verbeugt sich kurz, die Hände nervös in ihrer Schürze gefaltet. Violas Pokécenter ist nicht so überfüllt wie das letzte, aber trotzdem sind gut zwölf junge Trainer im Alter von vielleicht zehn bis fünfzehn vertreten, die an den diversen Tischen sitzen und Kartoffelsuppe löffeln oder über Karten brüten. Die meisten sind in Kleingruppen unterwegs, aber hier und da sitzen auch einige Einzelgänger. "Wirklich nicht?", hake ich vorsichtig nach. "Ihre Kollegin in Azalea City hatte kein Problem damit." "Tut mir Leid, aber wir haben genug Arbeitskräfte." Sie lächelt entschuldigend. "Na gut, da kann man nichts machen." Ich bedanke mich bei Schwester Joy und kehre zu den beiden anderen zurück, die an einem leeren Tisch bereits auf mich warten. Als Louis mein Gesicht sieht, zuckt er die Achseln. "Wir finden schon was anderes", muntert er mich auf. "Im Notfall können wir auch unsere Schlafsäcke auf der Straße aufschlagen." "Super Idee...", murmele ich, aber er hat ja Recht. Ich kann halt nicht immer so viel Glück mit Pokécentern haben. "Wie lange wollt ihr denn hier bleiben?", fragt Maisy. "Wahrscheinlich bis Ende September", sage ich nach einer Weile. "Raphael will sich in zwei oder drei Wochen mit mir treffen und wenn ich hier eine Möglichkeit finde, Geld zu verdienen, bleibe ich wohl solange hier. Bis Teak City bin ich gut eine Woche unterwegs und ich möchte mich hier noch etwas umsehen." "Ich bleibe solange, bis Abby weitergeht." Louis lächelt mir scheu zu. "Wir haben schließlich die halbe Strecke gemeinsam." "Dann werden wir uns bald verabschieden müssen", sagt Maisy und schaut traurig in die Runde. "Ich will nur Falk herausfordern, dann muss ich weiter nach Teak City, sonst verlieren wir zu viel von der Aprikokoernte. Aber wenn ihr so lange hier bleibt, sehe ich euch bestimmt auf dem Rückweg." "Wir sollten Nummern austauschen", stimme ich zu und fahre, nachdem wir unsere Handys wieder weggesteckt haben, niedergeschlagen fort, "Unser Übernachtungsproblem ist damit aber immer noch nicht gelöst." "Wir können ein paar Stadtbewohner fragen, ob wir für eine Nacht bei ihnen übernachten können", schlägt Louis vor. "Gute Idee", stimmt Maisy zu. "Es wäre nicht das erste Mal, dass ich bei den Leuten hier unterkomme. Viele Trainer, die hier sind, sind noch nicht so gut organisiert, deswegen drücken gerade ältere Leute oft ein Auge zu." Ich verziehe das Gesicht, nicke aber schließlich. "Also gut. Aber wir sollten uns beeilen." "Warum das?" "Ich habe einen Riesenhunger", erwidere ich grinsend.   Wir verlassen das Pokécenter und halten uns weiter Richtung Süden, weil Maisy die Leute dort schon einmal um einen Schlafplatz gebeten hat. Je weiter wir uns dem Stadtrand nähern, desto kleiner und beschaulicher werden die violett gedeckten Häuser und desto weniger Menschen sind auf der Straße unterwegs. Schließlich erreichen wir eine kleine Siedlung, in der die Vorgärten gepflegt und die Fenster mit Spitzengardinen verhangen sind. Eine kleine, gebückte Frau steht inmitten ihrer Blumen, eine lila Gießkanne in den Händen und beträufelt ihre Pflanzen liebevoll mit Wasser. "Guten Abend", rufe ich ihr zu und winke. Die Frau hebt den Kopf, ihr schlohweißes Haar reicht ihr bis zum Kinn und eine gigantische Brille sitzt schief auf ihrer Nase. "Können wir sie etwas fragen?" Sie winkt uns zu sich. Von nahem ist sie noch kleiner als ich erwartet habe. "Hallo ihr drei", sagt sie mit einer sanften Stimme und lächelt uns an. "Wie kann ich euch helfen?" "Wir sind Trainer und gerade erst in Viola City angekommen", erklärt Maisy. "Meine Freunde und ich sind derzeit knapp bei Kasse und wir suchen noch eine Unterkunft für die Nacht..." Die alte Frau lächelt. "Da seid ihr hier richtig", sagt sie fröhlich und stellt ihre Gießkanne auf der Erde neben sich ab. Dann reicht sie uns nacheinander die Hand. Ihr Griff ist fest, trotz ihrer schmalen Arme. "Ich bin Heike. Und ihr seid nicht die ersten Trainer, die bei mir übernachten, glaubt mir das. Aber man wird ja einsam auf seine alten Tage. Seit mein Mann gestorben ist, ist mir die Wohnung zu ruhig..." Ihr Lächeln nimmt einen traurigen Ausdruck an. "Ich habe zwei Gästezimmer. Zwar keine Betten, aber ihr habt Schlafsäcke wie ich sehe, das sollte euch also nichts ausmachen." "Ein Dach über dem Kopf reicht völlig", sagt Louis und wir nicken eifrig. Das war einfacher als erwartet. "Vielleicht sollte ich ein Schild an meine Tür hängen, dann mache ich meine eigene kleine Trainerpension auf. Unterkunft gegen Haus- und Gartenarbeit, das wäre doch was." "Klingt super", sage ich. "Ich bin übrigens Abbygail, das sind Louis und Maisy. Können wir ihnen bei irgendwas helfen?" "Oh bitte, nicht so förmlich, da werde ich ja ganz rot." Heike lächelt verschämt, dann hebt sie die Gießkanne und drückt sie Louis in die Hand. "Du kannst die Blumen gießen, während ich mit den Mädchen das Abendessen vorbereite. Wenn du noch andere umherirrende Trainer siehst, hol sie einfach rein. Ich habe noch Platz für vier oder fünf weitere, wenn es hart auf hart kommt." In Heikes Wohnung angekommen zeigt sie uns zuerst das Gästezimmer, in dem wir für die Nacht untergebracht sind. Es ist unmöbliert und an der Wand prangt eine unaufdringliche Rosentapete. Der Rest des Hauses ist gemütlich und altmodisch eingerichtet. Bücher stapeln sich in den Regalen, auf dem Fußboden und auf diversen Beistelltischen. "Was liest du so?", frage ich und fahre die Buchrücken mit meinen Fingern ab. Ich konnte mich noch nie für Bücher begeistern. Warum von anderer Leuten Abenteuern lesen, wenn mein eigenes hinter jeder Ecke wartet? "Ich interessiere mich sehr für Geschichte und Sagen", sagt sie und öffnet eine Schublade, dann holt sie Papier und einen dicken schwarzen Filzstift daraus hervor und setzt sich an den Esstisch. "In letzter Zeit hat mich die Geschichte der Johtotürme sehr fasziniert. Der Knofensaturm hier in Viola City und die beiden Türme in Teak City. Der Glockenturm steht immer noch, aber der Bronzeturm ist schon vor langer Zeit abgebrannt. Gerade um diese beiden ranken sich zahllose Sagen und Legenden. Viele Menschen behaupten weiterhin, dass die legendären Vogelpokémon dort lebten." "Lugia und Ho-Oh, richtig?", erkundige ich mich und setze mich zu Maisy und Heike an den Esstisch. Heike schreibt tatsächlich ein Schild. Ich grinse flüchtig. "Richtig. Lugia wurde vor vielen Jahren von Gold gefangen. Das hat den Gerüchten über ihre Nichtexistenz ein Ende bereitet, aber weil er es nicht in Teak City gefangen hat, sind die Kritiker wieder lauter geworden. Ich muss die Stadt bald wieder besuchen." In dem Moment geht die Tür auf und Louis kommt herein, gefolgt von einem Jungen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. "Hallo Oma", sagt er verschämt und stellt seinen roten Rucksack am Eingang ab. "Oliver, komm rein, komm rein!" Heike steht hastig auf und umarmt den kleinen Jungen, seine schwarzen Locken bilden einen straken Kontrast zu ihrem weißen Haar. "Möchtest du eine heiße Schokolade? Das Essen ist noch nicht fertig." Sie setzt ihn wieder ab und er nickt. "Hallo Oliver", begrüßt Maisy ihn fröhlich grinsend. "Ich bin Maisy." "Ich bin Abby. Schön, dich kennen zu lernen." Oliver schaut uns nacheinander flüchtig an, dann huscht er an uns vorbei ins Wohnzimmer, nimmt ein Buch von dem Stapel und macht es sich damit auf dem Sofa bequem, die Nase so tief hinter den Seiten versteckt, dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann. Heike kommt mit einem Tablett zurück, auf dem mehrere Tassen dampfenden Kakaos stehen und reicht jedem von uns eine, bevor sie auch Oliver einen Becher bringt. Der Junge nimmt das Getränk lächelnd entgegen und tauscht ein paar leise Worte mit Heike aus, die in unsere Richtung schaut, lächelt und ihm zunickt. Dann richtet sie sich stöhnend auf. "Oliver ist mein Enkel", erklärt sie uns und nimmt einen großen Schluck ihres eigenen Kakaos. "Er hat fünf Geschwister, die allesamt eine laute Rasselbande von der schlimmsten Sorte sind. Wenn es ihm zu Hause zu viel wird, kommt er her, um zu lesen." "Verstehe." Nicht wirklich, aber gut. „Dann hänge ich das Schild mal an die Tür“, sagt Heike beschwingt und verschwindet kurz nach draußen, bevor sie wieder zurückkehrt und uns zu sich in die Küche winkt. „Dann helft mir mal mit dem Abendessen, Mädchen. Louis kann in der Zeit eure Schlafsäcke ausrollen.“ Sie zeigt ihm das erste der beiden Gästezimmer, dann machen wir uns an die Arbeit. Etwa eine Stunde später sitzen Heike, Oliver, Louis, Maisy, ich und zwei weitere Trainer, die im Verlauf des Abends eingetrudelt sind, mit dicken Bäuchen und roten Wangen am Esstisch. Die beiden Jungen sind gemeinsam auf Reisen und wollen morgen in Richtung Route 32 weiterreisen. Maisy quetscht den Größeren von ihnen, Max, über die Arena und Falks derzeitiges Team aus, während Oliver leise mit Heike plaudert. Louis und ich schweigen zur Abwechslung mal und lauschen den Gesprächsfetzen beider Gruppen, während wir uns von den letzten Tagen erholen. Ich bin wirklich froh, wenn mein Aufenthalt in Viola City zur Abwechslung einmal ruhig verläuft. So gerne ich Abenteuer mag, jeden Tag in Lebensgefahr zu geraten ist nicht gerade das, worauf ich mich gefreut hatte. Zwei, vielleicht drei Wochen, bis ich Raphael wiedersehe. Wir haben uns seit Monaten nicht mehr gesehen und ich vermisse ihn sehr, trotz der Mails, die wir ausgetauscht haben. Sein Geschenk hat er mir auch noch nicht gegeben. Mein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Ich kann es wirklich kaum erwarten.  Max und Julian verkrümeln sich etwas später am Abend in das zweite Gästezimmer. Ich plaudere noch eine Weile mit Heike und Maisy, während Louis Oliver ins Bett bringt. Schließlich werden meine Augenlider immer schwerer und ich verabschiede mich für die Nacht. Es war ein langer Tag und ich schlafe praktisch stehend.   Am nächsten Morgen erwache ich von Heikes Singen, das ihren Hausputz begleitet. Es ist nicht die schlechteste Art, geweckt zu werden und ich rolle mich ein paar Minuten in meinem Schlafsack hin und her, bevor ich aufstehe und mich anziehe, solange Louis noch schläft. Den weckt so schnell auch nichts. Auf Zehenspitzen verlasse ich das Gästezimmer und finde Heike, die gerade unter der Treppe den Boden wischt. „Guten Morgen“, begrüße ich sie gut gelaunt. „Kann ich vielleicht deine Dusche benutzen? Ich hatte ewig keine mehr.“ „Guten morgen, Kleines.“ Heike wischt sich etwas Schweiß von der Stirn. „Das Bad ist gleich da um die Ecke. Lass dir aber nicht zu viel Zeit, sonst reicht das heiße Wasser nicht für alle.“ „Geht klar.“ Fünfzehn Minuten später bin ich geduscht, gekämmt, angezogen und bereit für den Tag. Während ich mir einen seitlichen Zopf flechte, stupse ich Louis mit dem Fuß an, bis er einmal laut schnarcht, sich auf die Seite dreht und mich erschöpft anblinzelt. Zufrieden mit meiner Arbeit nicke ich Maisy zu, die bereits in ihrem Rucksack nach frischen Klamotten kramt und sich dann ins Badezimmer aufmacht, dann gehe ich Heike beim Frühstück zur Hand. Zwei Scheiben Brot mit Marmelade und eine Tasse Tamottee pur später brennt meine Zunge und ich bin glücklicher als seit langer Zeit. Jetzt muss ich nur noch einen Minijob finden und mein Leben ist perfekt. „Wo sind die beiden Jungs?“, fragt Maisy mit einem Mund voller Ei und schaut suchend zu dem zweiten Gästezimmer. Die Tür ist geschlossen. „Die sind ganz früh gegangen, zusammen mit Oliver“, sagt Heike fröhlich. „Er hat heute Schule.“ „Schule?“, frage ich überrascht. Ich kenne nur die Pokémon Akademie in Prismania City, und die ist ausschließlich auf Trainer spezialisiert. Lesen, schreiben, rechnen und so weiter habe ich damals von meinen Eltern gelernt. „Sie ist nördlich von hier, vielleicht zwanzig Minuten zu Fuß“, erwidert Heike. „Dort unterrichten sie Kinder vom sechsten bis zum elften Lebensjahr, alles von den Trainerbasiskenntnissen bis hin zu Allgemeinwissen. Das erspart den Eltern die Mühe.“ „Vielleicht schaue ich da mal vorbei“, murmele ich. Wer weiß, vielleicht wird dort ja irgendeine Art von Aushilfe gebraucht. „Ich werde heute noch Falk herausfordern“, verkündigt Maisy. „Die Jungs haben mir ein paar Tipps gegeben und selbst ohne Typvorteil sollte ich ihn locker schaffen.“ „Sollen wir zugucken?“, fragt Louis, aber Maisy schüttelt den Kopf. „Sorry.“ Sie verzieht das Gesicht. „Ich kann nicht gut kämpfen, wenn mir Freunde zuschauen.“ „Wie du magst. Dann statte ich heute Mathilda einen Besuch ab.“ „Mathilda?“ Ich schaue fragend zu ihm. „Sie ist ein Ziehkind im Knofensaturm“, erwidert Louis grinsend, seine Zahnlücke strahlt mir entgegen. „Sie ist ein bisschen verschroben, aber als ich das letzte Mal hier war, kamen wir gut aus.“ „Gut, dann wäre das geplant.“ Ich stehe auf. „Los geht´s!“   Louis und ich wünschen Maisy Glück, dann trennen wir uns an der Hauptkreuzung Violas und machen uns in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Die Arena liegt westlich, während die Pokémonschule bereits nordöstlich hinter den letzten Wohnhäusern emporragt. Gemeinsam schlendern wir die Straße entlang, bis wir den abgezäunten Grasplatz vor der Schule entdecken. Es scheint große Pause zu sein, gut hundert Kinder rennen spielend und schreiend auf dem Hof herum, spielen mit Bällen, Springseilen und einigen Pokémon, die zwischen ihren Beinen hin und her tollen. Ich schmunzele und hake mich bei Louis unter, dann betreten wir das Grundstück. Als ich Oliver sehe, winke ich, aber er sitzt am Rand des Schulhofs, den Kopf gesenkt und ein Buch in den Händen. Ich will schon hinüber gehen, als wie aus dem nichts ein Mädchen auftaucht und sich neben ihn auf die Bank setzt. „Lass die beiden“, sagt Louis grinsend und ich nicke. Dann durchqueren wir den Haupteingang. Wir finden uns in einem langen Gang wieder, der sich von links nach rechts erstreckt und in mehrere Klassenräume mündet. Der dunkle Holzboden federt unter meinen Füßen. Außer uns ist niemand unterwegs, weiße Filzhausschuhe liegen in Haufen neben den Türen und einige Jacken hängen an Kleiderhaken mit Namensschildern. Mir, die nie eine normale Schule besucht hat, sondern nur die kleinen Hörsäle der Akademie mit ihrer unpersönlichen Atmosphäre gewohnt ist, kommt der Ort wie ein kleines Wunder vor. Ich löse mich von Louis und laufe den gesamten Flur ab. Auf der dem Hof zugewandten Seite sind mehrere große Fenster in die Wände eingelassen und das gedämpfte Kreischen von Kinderstimmen sowie das Zirpen der letzten Insektenpokémon im angrenzenden Wald dringen an meine Ohren. "Ohlala!" Ich drehe mich erschrocken um. Aus einer der Türen lugt der Kopf einer Frau mit roten Backen und zwei gigantischen, dunkelbraunen Zöpfen, die über ihre Schultern fallen. "Ihr seid Besuch? Oder Schüler?", fragt sie mit einem offensichtlichen Akzent. Louis wirft mir einen verstörten Blick zu und ich geselle mich zu ihm. Als die Frau ihr Büro verlässt, muss sie sich halb durch den Türrahmen quetschen, ihre weiße Bluse spannt an allen Orten. "Abbygail Hampton", stelle ich mich vor und lächle die Frau an, die mich mit klimpernden Wimpern ansieht. "Isch bin Madeleine Dervish, Rektorin von die Pokémonschule." Louis runzelt die Stirn. "War das früher nicht Earl?" "Earl mein Mann." Ihr Gesicht hellt sich auf und sie nimmt meine Hand in ihre eigene fleischige Pranke. Ihr Händedruck ist warm und fest. "Ist ihm zu viel, inzwischen. Armer Earl, war so lebhaft, Rücken jetzt problematisch. Er ´ätte mit dem Ballet auf´ören sollen, bevor zu spät, aber ´ört nischt auf misch, non non. Womit kann isch ´elfen? "Ich suche einen Minijob für die nächsten zwei bis drei Wochen", gebe ich zu und Madeleine hebt die Augenbrauen. "Eine Job? Aber du bischt selbst noch Kind, oui. Was arbeiten du?" "Ich bin Pokémontrainer, ich kenne mich mit Trainingsstrategien und dem Basiswissen wie Statusveränderungen und so weiter gut aus." Ich zähle die Punkte an meiner Hand auf. Die Wahrscheinlichkeit, hier angenommen zu werden, ist nicht unbedingt die Größte, deswegen muss ich alles zeigen, was ich habe. "Ich kann putzen, Mensa-Essen kochen, Pausenaufsicht machen, Hausaufgaben korrigieren, Nachhilfe geben, unterrichten..." "Oui, hilfreisch." Sie nickt. "Aber jung! Kaum älter als die Schüler!" "Aber weit erfahrener." "Hmm, Fautvoir. Isch kann dir anbieten kleine Job zu kleine Geld, oui?" "Wie klein?", hake ich nach. Sie tippt sich ans Kinn. "Die Kinder ´aben viele eigene Pokémon, wir ´aben aber fast nur normale Lehrer, oui?" Ich nicke. "Jede Tag die Woche eine Klasse geht auf Route 31 um trainieren ihre Pokémon. Ist viel Arbeit für eine einzige Lehrer, non? Und sind nicht gute Trainer, Lehrer ´ier. Also jede Tag 8:00-14:00 Uhr, oui?" "Klingt super!" Mir fällt ein Riesenstein vom Herzen. Ich hätte keine Lust, noch alle Geschäfte abklappern zu müssen. "Wie viel Bezahlung halten sie für angebracht.?" Sie legt wieder einen wulstigen Finger an ihre rot geschminkten Lippen. "5000 PD pro Woche?" Ich nicke eifrig. Nicht so viel wie ich gehofft hatte, aber im Vergleich zu meinem jetzigen Besitz kommt mir die Summe wie ein halbes Vermögen vor. Und notfalls kann ich in Heikes Nachbarschaft auch noch nach Gartenarbeit rumfragen, mir fällt schon etwas ein. "Dann warte eine Moment, Abbygail." Sie verschwindet in ihrem Büro und ich gebe Louis eine High Five. "Das läuft ja wie geschmiert!" "Du hast echt ein Glück, Abby", sagt er kopfschüttelnd. "Wie findest du immer diese Nischen?" Ich tippe mir an die Nase. "Instinkt. Und Ausstrahlung, Charme, gutes Aussehen..." Ich zwinkere ihm spielerisch zu, aber Louis Ohren werden augenblicklich rot. Wir warten die nächste Minute in Schweigen, dann taucht Madeleine wieder in der Tür auf und reicht mir einen Zettel. "Deine Schischten." Sie lächelt. "Au revoir."   "Meinst du, Maisy hat Falk schon besiegt?", frage ich, während wir uns Richtung Norden wenden und der Straße folgen. Wir waren nicht lange in der Schule und als ich auf mein Handy gucke, blinkt mir die Uhrzeit entgegen. 10:00 Uhr. Die Straßen sind leerer als gestern Abend, vermutlich sind die meisten Leute bei der Arbeit oder in der Schule. "Vielleicht", erwidert Louis nach kurzem Überlegen. "Sie muss zwar gegen Falks Vortrainer kämpfen, aber wenn sie stark genug war, um Kai zu besiegen, sollte sie das mit Leichtigkeit schaffen." "Wir werden sie schon wiederfinden." Ich gähne und hole Hunters Pokéball aus meiner Tasche. Ein roter Lichtblitz blendet mich für eine Sekunde, dann flattert Hunter freudig über unseren Köpfen umher. "Vor dem Turm ist ein See, such dir was zu Fressen", sage ich grinsend, während er kreischt und davonfliegt. Louis muss schließlich nicht unbedingt dabei sein, wenn er sich ein Karpador fängt. Sku und Gott habe ich zuletzt gestern morgen gefüttert, am Besten gehe ich heute Abend mit ihnen in den Wald, damit die zwei sich dort ein paar Beeren sammeln können. Ich schmunzele. Sku wird nicht begeistert davon sein, etwas für ihr Abendessen tun zu müssen. Etwa zehn Minuten später lichten sich die Wohnhäuser und der leichte Hügel, den wir bis dahin bestiegen haben, sinkt auf der gegenüberliegenden Seite in ein seichtes Tal ab. Blaugrünes Wasser glänzt uns wie ein gigantischer Spiegel entgegen, nur unterbrochen von der violett angemalten Holzbrücke, deren Geländer und Pfähle irgendwie geschnitzt zu sein scheinen. Im rechten Teil des Sees wächst ein in sich gewundener, alter Baum mit kugeligen Blättern, seine Wurzeln halb im Wasser, halb auf der kleinen Insel unter ihm verankert. Wald umschließt den See, sowie den Knofensaturm, dessen dunkles Holz drei Stockwerke in die Höhe ragt. "Wow", flüstere ich, dann renne ich den Rest der Straße kurzerhand hinunter. Meine Füße schlagen jedes Mal hart auf den blaugrauen Pflastersteinen auf, aber ich jauchze und komme mit roten Wangen und zerzaustem Zopf vor der Brücke zum Stillstand. Louis taucht wenige Sekunden später neben mir auf. Er grinst von einem Ohr zum anderen. "Da sind wir." Ein Schatten schießt aus dem einzelnen Baum im See hervor und fliegt auf uns zu. Ich winke und Hunter zieht über unseren Köpfen einige Kreise, bevor er sich auf meinen Schultern niederlässt und seinen fedrigen Kopf liebevoll gegen meine Wange reibt. Ich drücke meinen Pokéball gegen seinen Kopf und rufe ihn zurück. Ich muss die drei wirklich öfter raus lassen. Während wir über die knarzende Brücke schlendern, lasse ich meine rechte Hand über das Geldänder streifen. Einzelne Farbpartikel blättern von dem alten Holz ab und die Schnitzereien stellen die Köpfe von Knofensa dar. Auf halber Strecke über den See endet die Brücke auf einer aufgeschütteten Zwischeninsel mit einem kleinen runden Pavillon und einigen Laternen. Der perfekte Ort für ein Picknick. Wir überqueren die zweite Brücke und als wir die große Eingangstür erreichen, drückt Louis einen der Flügel mit etwas Mühe auf. Bevor wir eintreten, nimmt er mich an der Schulter. "Ich warne dich nur vor. Mathilda ist ziemlich...speziell." Ich ziehe die Augenbrauen hoch, dann trete ich ein. "Weiter... perfekt!" Ich schaue mich um, aber außer einem der Weisen sehe ich niemanden in der gigantischen Eingangshalle. Merkwürdig. Die Stimme war eindeutig weiblich. Louis deutet auf den gigantischen eckigen Stützpfeiler, der sacht hin und her wankt. Ich folge seiner Geste und schaue, als ich nichts sehe, nach oben. An der Decke hängt ein Mensch. "Was zum..." "Ich sag´s ja." Um die Taille des Mädchens ist ein Seil gewickelt, das über einen der Deckenbalken und dann in die Hände des Weisen führt. Er schaut ängstlich zu ihr in die Höhe. "Wenn die Saugnäpfe sich lösen, wirst du dir etwas brechen, Mathilda", verkündet er. "Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt." "Oh bitte, wofür sind Saugnäpfe denn da, wenn sie nicht halten?", ruft Mathilda nach unten. Sie hängt wie ein Griffel an der Decke, Hände und Füße mit schwarzen Saugnäpfen bedeckt. "Wenn sie nicht funktionieren würden, hätte sie schon jemand vom Markt genommen. Oder es gäbe einen Unfall und die Nachrichten würden davon berichten. Kein Grund zur Sorge." "Vielleicht ist der Unfall nicht mehr weit entfernt...", murmelt der Weise, hält das Seil aber weiterhin mit behandschuhten Händen fest. "Mathilda!", ruft Louis zu ihr hoch und Mathilda biegt den Kopf nach hinten, bis sie uns entdeckt. Sie lacht laut, löst eine Hand und winkt. Der Weise und ich zucken gleichzeitig zusammen. "Hey ho, Lou!", schreit sie zurück, ihre Stimme merkwürdig verzerrt, weil ihr Hals so überstreckt ist. "Was machst du da?" "Die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten!", ruft sie. "Ich bin schließlich kein Spießer." "Du bist ein Mitglied unseres Ordens", sagt der Weise streng. "Weisester Marek toleriert dein Verhalten nur, weil du offiziell noch ein Kind bist. Aber wenn du vierzehn wirst, ist es aus mit diesem Rumgeturne, das verspreche ich dir." "Ein Grund mehr, jetzt die Rihörner loszulassen!", lacht Mathilda und lässt auch noch mit der anderen Hand los. Ich halte die Luft an. Sie hängt kopfüber von der Decke. "Haha, ihr seid alle falsch herum!", ruft sie entzückt. "Das reicht jetzt! Sofort runter!" "Sei nicht so, Ecki." Der Weise grummelt. "Komm da lieber runter!", rufe ich ihr zu. "Die halten nicht mehr lange!" "Ach was, die halten. Die sind für sowas gemacht." "Ich bezweifle, dass sie dafür gemacht sind!", schreie ich zu ihr hoch. Mathilda bäumt sich wieder Richtung Decke und drückt ihre Hände gegen die Decke. Dann klettert sie vorsichtig ein Stück weiter, zurück zu dem Stützpfeiler. Von dort beginnt sie ihren Abstieg. Während sie mit Klettern beschäftigt ist, gehen Louis und ich zu Ecki hinüber. "Hallo, Weiser Eckart", begrüßt Louis ihn mit einer leichten Verbeugung, die Hände flach vor dem Gesicht zusammengelegt. Ich tue es ihm gleich. "Bei allem Respekt, warum helfen sie ihr?" "Sie wäre auch alleine geklettert." Er verzieht das Gesicht. "So kann ich immerhin für ihre Sicherheit garantieren." Mathilda jauchzt, als sie kurzzeitig abrutscht und das Seil sie schneidend festhält. "Mehr oder weniger." Hinter uns landet Mathilda auf dem Boden, fährt sich durch ihre dichten, blonden Locken und kommt freudestrahlend auf uns zu. "Das war lustig!" Dann springt sich Louis um den Hals und umarmt ihn. Als sie sich wieder löst, drückt sie mit ihrer Fingerspitze seine Nase nach unten. "Und warum bist du wieder hier? Willst du eine Revanche?" Er schiebt ihren Finger weg. "Allerdings. Dieses Mal besiege ich euch locker." "Ha! Das werden wir sehen. Und wer ist die Spielverderberin da?" Spielverderberin? "Ich bin Abby. Schön, dich kennen zu-" "Jaja, langweilig. Also gut, warum schließen wir nicht eine Wette ab?" "Wette?", fragt Louis und ich kneife die Augen zusammen. Diese Mathilda ist verdammt unverschämt. "Wenn du es schaffst, den Turm mit einem Knofensa zu besiegen, dann bekommst du einen richtig tollen Preis." Sie beugt sich verschwörerisch zu ihm nach vorne. "Weisester Marek verschenkt immer TM70, weil er findet, dass Blitz die Erleuchtung der Weisen darstellt, aber das ist eine Attacke für Spießer, kein Mensch braucht die. In dunklen Höhlen funktioniert Feuer genauso gut." "Was wäre dieser spezielle Preis?", hakt Louis nach, Augen leuchtend. Ich komme etwas näher. "Hmm, wer weiß!" Sie lacht. "Jedenfalls etwas nützlicheres, vielleicht eine TM, mit der Knofensa auch etwas anfangen kann. Vielleicht ein Item, vielleicht auch nicht. Das wirst du dann schon sehen." "Und wo kriege ich ein Knofensa her?" "Oh bitte, Lou." Sie zieht eine dichte Augenbraue hoch. "Knofensa gibt's wie Zubats in Höhlen, du kannst dich vor den Teilen nicht retten. Auf Route 31 wimmelt es nur so von ihnen, pass bloß auf, dass du bei der Suche nicht über sie stolperst." "Dann muss ich es aber erst noch trainieren..." Louis sieht bei dem Gedanken nicht gerade begeistert auf. "Ach komm, das ist eigentlich eine gute Idee", muntere ich ihn auf. "Ein Pflanzen-Gift-Typ könnte hilfreich sein und wir sind schließlich zwei Wochen hier. Ich muss Gott auch noch trainieren. Du kannst mit der Schulklasse und mir mitkommen und für dich trainieren, dann hast du auch was zu tun." "Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, aber sie hat Recht, Lou!" Mathilda grinst breit. "Na komm, du willst es doch auch." Sie zwinkert und Louis verschluckt sich. "Also darf ich euch heute noch nicht herausfordern?" "Nur, wenn du ein doofes Blitz-TM haben willst." Sie verzieht das Gesicht. "Ecki?" Wir schauen uns um, aber Weiser Eckart ist bereits verschwunden. Wäre ich an seiner Stelle auch. Mathilda ist wirklich nichts für schwache Nerven. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie immer noch die Saugnoppenschuhe und -handschuhe trägt. Verschroben ist untertrieben. "Na gut", sagt Louis schließlich und Mathilda macht einen Luftsprung. Nur dass ihre Füße immer noch am Boden festgesaugt sind. Sie verliert das Gleichgewicht und klatscht vornüber auf den Boden. Kapitel 32: Orden sind für Loser (Regenbogenwolken) --------------------------------------------------- "Das war... interessant", gestehe ich, als wir uns auf den Rückweg machen, das violette Holz knarzend unter unseren Füßen. "Sie ist eigentlich ziemlich cool. Nur eben etwas..." "Kaputt im Kopf?" Er lacht. "So schlimm ist sie nicht. Ihr ist einfach sehr langweilig." "Was macht jemand wie sie im Knofensaturm?", frage ich nachdenklich, während wir uns auf den Anstieg zurück zur Stadt machen. "So weit ich weiß, ist sie als Baby vor dem Turm ausgesetzt worden. Die Weisen haben sie aufgenommen, aber als die Mutter nicht gefunden wurde, hat Marek sie als Ziehkind adoptiert. Bis sie vierzehn ist, muss sie im Turm bleiben, danach kann sie entweder eine der Weisen werden oder sich eine Ausbildung oder ähnliches suchen." "Ich kann sie mir nur sehr schwer als würdevolle Weise vorstellen", meine ich, während wir schnaufend den Hügel hinauf stapfen. Vorher kam mir der Weg nicht so steil vor. "Stimmt", sagt Louis. "Aber ich weiß nicht, was sie vorhat. Ihr Geburtstag ist im Winter. Bis dahin muss sie eine Entscheidung treffen." "Wollen wir Maisy einsammeln?", frage ich, als wir die Hügelkuppe erreichen und für einen kurzen Moment verschnaufen. "Wir sollten uns auch etwas zu Essen besorgen." "Das klingt sehr vernünftig." Die Frage ist nur: Wo? Sowohl Louis als auch ich sind quasi pleite. "Wir können Beeren sammeln", schlage ich vor. Louis verzieht das Gesicht. "Ich kann´s kaum erwarten." Während wir durch Viola City schlendern und uns der Geruch von frischem Brot und kleinen Imbissbuden in die Nase steigt, bin ich kurz davor, irgendwo einzubrechen. "Wir könnten einfach ein paar Trainer herausfordern", sagt Louis nach einer besonders verlockend riechenden Bäckerei. "Ihnen ihr Geld abknöpfen und uns ein großes Sandwich kaufen." "Das ist unfair Louis, wir laufen quasi rückwärts! Die Trainer hier hätten keine Chance gegen uns." "Na und?", entgegnet Louis. "Wir haben noch das ganze Wochenende vor uns, bevor du mit der Arbeit anfängst. Und deine Bezahlung gibt es vielleicht erst Ende der nächsten Woche. Wir sind pleite." "Ich kann rumfragen, ob ich irgendwo den Rasen mähen kann oder so..." Louis schnaubt. "Na komm. Nur ein Versuch. Ich bin Protrainer, ich soll mein Geld mit Duellen verdienen." "Fein." gebe ich mich geschlagen. "Aber erst suchen wir Maisy."   Wir finden sie nicht. In der Arena ist sie nicht mehr und in den umliegenden Straßen ist auch keine Spur von ihr. Inzwischen ist es fast 12:00 Uhr. "Ruf sie doch mal an", sagt Louis und ich hole mein Handy aus meiner Tasche. Akku leer. Mist. "Ich hab es noch nicht wieder aufgeladen." "Verdammt, du hast recht!" "Caro würde mich auslachen...", murmele ich geknickt. Soweit zum Thema Organisationstalent. Ich muss wirklich anfangen, mich besser auf alles vorzubereiten. Dann kann ich vielleicht endlich meine fehlenden Kletterkünste ausgleichen. Die scheinen ja inzwischen Voraussetzung zum Überleben zu sein. "Sie wird schon irgendwo sein", sagt Louis und nimmt meine Hand. "Wir gehen jetzt ein paar kleine Trainer besiegen." Ich lasse mich von ihm mitziehen. "Es ist gar nicht so lange her, da warst du auch ein kleiner Trainer", erinnere ich ihn, aber Louis grinst nur. Ob es an meinem Kommentar oder unseren Händen liegt, kann ich nicht sagen. Als wir den Waldpfad erreichen, durch den wir zurück auf Route 32 kommen, entdecke ich bereits die ersten Trainer. Einer von ihnen scheint mindestens so alt zu sein wie Raphael, mit orangeblondem, hochgegeltem Haar, einer schwarzen Lederjacke und einer braunen Militärhose mit schwarzen Stiefeln. Der andere Junge fällt schon eher in unser Beuteschema, er kann kaum vierzehn Jahre alt sein, hat kurzes, braunes Haar und steht händeringend in der Nähe des Aprikokobaums. Als wir uns ihm nähern, schaut der Ältere kurz zu uns herüber und kneift die Augen zusammen. Lässig gegen einen der Bäume gelehnt, wirkt er trotz der Pokébälle an seinem Nietengürtel fehl am Platz. Wie ein Erwachsener auf einer Kinderrutsche. „Hey!“, ruft Louis dem Jungen zu, der sich erschrocken zu uns umdreht. „Hast du schon deinen ersten Orden?“ Der Junge schüttelt den Kopf. „Noch nicht.“ „Ich heiße Louis. Das ist meine Freundin Abby. Was hältst du von einem kleinen Kampf? Eins gegen eins.“ „Ich… ich weiß nicht…“ Er schaut auf seine Hände. „Ich bin noch nicht so gut…“ „Bin ich auch nicht“, sagt Louis lächelnd. „Aber man wird nur durchs Kämpfen besser, stimmt´s?“ Ich nehme Louis´ Arm. „Lass ihn“, murmele ich. „Der arme Kerl hat keine Chance gegen dich. Wir fragen Heike, ob wir bei ihr essen dürfen.“ „Ach was, das wird schon.“ Der andere Junge stößt sich schwungvoll von seinem Baum ab und kommt auf uns zu. „Fordert ihr immer schwächere Trainer heraus?“, fragt er und steckt sich ein Bonbon in den Mund. Statt es zu lutschen, kaut er mehrmals darauf herum, dann schluckt er es herunter. „Ziemlich feige.“ „Ich bin ein Protrainer“, verteidigt Louis sich augenblicklich. „Trainer kämpfen gegeneinander.“ „Du scheinst ja keine große Achtung vor dir selbst zu haben, wenn du dich an einem Anfänger vergreifst. Wenn du wirklich so geil wärst, wie du dich gibst, wärst du schon längst im Norden unterwegs bei Trainern über deinem Kaliber.“ „Ich muss mich dir gegenüber nicht rechtfertigen!“, schnaubt Louis gereizt. Ich nehme wieder seinen Arm. „Er hat schon irgendwie Recht“, sage ich leise und Louis schaut zu mir runter. „Nicht du auch noch.“ „Na komm, kämpf gegen mich“, sagt der Junge und zeigt uns die leere Innenseite seiner Lederjacke. „Ich habe auch keine Orden", fügt er spöttisch hinzu. Louis zieht seinen Pokéball. „Wenn du dann die Klappe hältst, gerne.“ Der Trainer seufzt, dann zieht er seinen eigenen Pokéball. Zwei rote Lichtblitze schießen aus den Bällen hervor und als ich wieder deutlich sehen kann, stehen sich die beiden Pokémon gegenüber. Louis hat nicht lange gefackelt und sofort Ethan gerufen, der in sich zusammengerollt vor ihm liegt und laut brüllt. Geifer spritzt in alle Richtungen und der kleine Junge weicht einige Schritte zurück, jetzt wahrscheinlich froh, der Herausforderung entgangen zu sein. Garados gegenüber steht ein Aquana. Blaues Fell aufgestellt, die spitzen Zähne gebleckt, die Schwimmflossen an seinen Wangen aggressiv abgespreizt. Seine Schwanzflosse schlenkert langsam hin und her. Den Typvorteil hat Louis damit schon mal nicht. Louis knurrt. „Fuchtler, Ethan!“ Der Junge verschränkt lässig die Arme. „Eisstrahl, aber halt dich zurück.“  Garados holt mit seinem langen Schweif aus, aber Aquana springt zur Seite, verschwindet und taucht im nächsten Moment direkt über Ethan in der Luft auf. Das Wasserpokémon holt tief Luft und ein schmaler, weißblauer Strahl trifft Ethan im Rücken. Das Eis wandert über seine Schuppen, seinen Körper hinunter und bringt Garados in Sekundenbruchteil zum Erstarren. Dann breitet sich das Eis über dem Boden aus und ich mache einige Schritte zurück, als das Gras unter meinen Füßen gefriert. Aquana überschlägt sich einmal in der Luft, landet dann auf Ethans Kopf und schlittert elegant seinen gewundenen Körper hinunter, bevor sie zu ihrem Trainer zurückgeht. Sie dreht sich nicht einmal mehr um. Louis´ Mund steht offen, während er Ethan dabei zusieht, wie dieser langsam in gefrorenem Zustand zur Seite kippt und regungslos liegen bleibt. „Behalt dein Geld“, sagt der Junge und steckt sich ein weiteres Bonbon in den Mund, das er augenblicklich zerkaut. Dann wirft er Aquana eines zu, bevor es in einem roten Lichtblitz verschwindet. „Ich hab schon so viel von dem Zeug, dass ich nicht weiß, was ich damit anstellen soll.“ „Wie…“ Der Junge schnaubt. „Du bist kein Topshit, nur weil du ein paar Orden hast. Lass von jetzt an die Finger von Trainern, die schwächer sind als du.“ „Wer bist du?“, flüstere ich. Der Junge wirft mir einen kurzen Blick zu, dann wendet er sich wieder Louis zu. „Orden sind für Loser, die einen Beweis für ihre Stärke brauchen“, sagt er stattdessen und wendet sich ab. „Ein wahrer Trainer hat Mittel und Wege, seine Fähigkeiten zu zeigen.“ Als er geht, lässt er uns sprachlos zurück.   „Dieser arrogante Bastard!“, schimpft Louis, kurz bevor wir Heikes Wohnstraße erreichen. Nach seiner demütigenden Niederlage haben wir Ethan im Pokécenter heilen lassen und sind jetzt doch auf dem Rückweg. Auf einen Trainerkampf ist uns beiden die Lust vergangen. „Er war einfach stärker“, besänftige ich ihn. Aber wie viel stärker. Aquana entwickelt sich durch ein Item und Eisstrahl ist eine TM-Attacke, daher kann ich nicht auf den Level schließen, aber wenn die Leichtigkeit, mit der es Ethan besiegt hat, ein Anhaltspunkt ist, würde ich das Pokémon mindestens auf Level 40 oder 50 schätzen. Möglicherweise sogar mehr. Er könnte auf einem Niveau mit Raphaels Pokémon sein, und Raphael gilt schließlich als einer der Favoriten für den nächstjährigen Pokémonmeistertitel. „Ich kann nicht fassen, dass er mich so auseinander genommen hat…“ „War doch nicht das erste Mal, oder?“, sage ich und Louis verzieht das Gesicht. „Nein.“ Er seufzt. „Aber nachdem ich Kai besiegt hatte, dachte ich irgendwie, ich hätte mein Loser-Ich hinter mir gelassen. Anscheinend bin ich aber noch genauso schlecht wie vorher…“ „Ach was.“ Ich schlage ihm spielerisch mit der Faust gegen die Schulter. „Dieser Typ war eindeutig ein Pro, so wie sein Aquana gekämpft hat. Niemand hätte eine Chance gegen ihn gehabt.“ „Vielleicht hast du Recht.“ Heikes Haus taucht hinter der nächsten Straßenbiegung auf und wir beschleunigen, durch Hunger angetrieben, unsere Schritte. „Aber dass es solche Trainer gibt…“ „Ich wette, er würde Raphael und den anderen Favoriten Konkurrenz machen, wenn er wollte.“ „Naja, von Orden scheint er ja nicht viel zu halten.“ Ich nicke nachdenklich. Als wir an Heikes Tür klopfen, dauert es kaum fünf Sekunden, bevor Maisy uns aufmacht. „Da seid ihr ja endlich!“, sagt sie und stützt die Hände in die Hüften. „Wir warten schon die ganze Zeit mit dem Essen auf euch.“ Louis stöhnt.   Wie erwartet hat Maisy Falk mit Leichtigkeit besiegt. Nach dem üppigen Gemüseeintopf präsentiert sie uns stolz ihren Flügelorden. „Jetzt sind wir gleichauf“, sagt sie grinsend. „Und ich habe endlich mal wieder etwas mehr Geld.“ „Wir nicht“, sage ich geknickt. „What? Why?“ Maisy schaut Louis verwirrt an. „Du hast doch gegen Kai gekämpft, oder nicht?“ „Ja, aber er hat mir nur den Orden gegeben.“ Maisy schaut ihn einen Moment lang sprachlos an, dann lacht sie laut los. „Oh my god, und du nennst dich Protrainer?“, fragt sie gutmütig und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Wenn du registriert bist, werden die offiziellen Geldgewinne auf deinen Trainerpass geschrieben. Du kannst damit fast überall bezahlen oder das Geld im Pokécenter oder im Markt abheben.“ Louis starrt sie entsetzt an. „Echt?“ „Das weiß sogar ich“, sagt Heike stolz, bevor sie aufsteht und das Geschirr in die Küche trägt. Ich stehe hastig auf und helfe ihr, während Maisy Louis über die Feinheiten seines Passes aufklärt. Dann ist wohl immerhin nur einer dieser Gruppe wirklich und ehrlich pleite. Aber das wird sich nächste Woche ändern.   „4448 PD.“ Louis wiederholt die Summe wie ein Mantra, als wir an diesem Abend zu dritt auf einer kleinen Hügelkuppe der Route 31 sitzen und unseren Pokémon beim Herumtollen zusehen. Winry flitzt durch das dichte Gras, Gott steht dicht neben mir und faucht jeden an, der mir zu Nahe kommt, Sku liegt in meinem Schoß und lässt sich den Hals kraulen und Hunter segelt hoch über den Baumkronen der angrenzenden Wälder über unsere Köpfe. Maisys Flegmon Felicitas liegt auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt, Nox hat den Kopf auf die dicht befiederte Brust gebettet und ihr Teddiursa Claw jagt fauchend einem Paar Rattfratz nach. Louis schüttelt ungläubig den Kopf. „Ich bin reich.“ „Reich ist vielleicht etwas übertrieben“, meine ich grinsend und lasse mich rückwärts ins dichte Gras fallen. „Aber du bist nicht mehr pleite, im Gegensatz zu mir.“ „Verhungern wirst du nicht, Abby“, lacht Maisy. „Ich kann nicht glauben, dass ihr dachtet, Heike würde euch kein Essen geben.“ Ich fahre mit meinen Fingern durch Skus dichtes, violett-beiges Fell und sauge ihr Schnurren in mich auf. Mit der anderen Hand taste ich vorsichtig nach Gott. Als ich ihn berühre, zuckt er zusammen. Ich lasse meine Hand mit der Handfläche nach oben neben ihm liegen und drehe den Kopf zu Maisy, die im Schneidersitz neben mir sitzt und entspannt hin und her wippt. „Wann willst du abreisen?“, fragt Louis nach einer Weile, in der nur das Zirpen der nachtaktiven Käferpokémon und Winrys fröhliches Keckern zu hören sind. Der Wind wird stärker und bringt die erste Kühle des Herbstes mit sich. Ich beginne zu zittern. „Morgen früh.“ Ich stütze mich auf meine Ellenbogen. „So schnell schon? Willst du nicht noch das Wochenende bleiben?“ „Würde ich gerne, aber ich sollte euch nur hier abliefern und dann weitergehen.“ Sie zuckt die Achseln. „Eigentlich habe ich mit heute schon überzogen. Sorry.“ Ich lasse mich wieder auf meinen Rücken sinken und schließe die Augen. Nach einer Weile spüre ich etwas Spitzes und Weiches auf meiner immer noch ausgestreckten Handfläche. Als ich ein Auge öffne und an meinem Arm hinunter schiele, entdecke ich Gott, der sich vorsichtig auf meiner Hand einrollt. Ausgewachsen ist er eindeutig noch nicht. Skus Schnurren durchdringt meinen Brustkorb und Hunters Flügelschlagen vermischt sich mit dem Rauschen des Laubs im Wind. Besser kann ein Tag nicht enden.   Nachdem wir Maisy am nächsten Morgen mit vielen Umarmungen und Wiedersehensversprechen verabschiedet haben, machen Louis und ich uns zu einer der Bäckereien auf, die uns gestern so verführerisch entgegen geduftet haben. Heike hat uns zwar versichert, dass wir herzlich bei jeder Mahlzeit eingeladen sind, aber ich will ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren, deswegen lasse ich mich stattdessen von Louis auf ein großes Schokocroissant einladen, das er mir nach eigenen Angaben eindeutig schuldet. Beschweren werde ich mich nicht. Während ich auf dem buttrig knusprigen Teig herumkaue, schaut Louis immer wieder zur Seite, als wäre er in Gedanken versunken. Als unser Schweigen sich weiter in die Länge zieht, tippe ich ihm auf die Nase. Er schaut erschrocken zu mir. „Woran denkst du?“, frage ich und er kratzt sich verschämt die Nase. „Ich krieg diesen Typen von gestern nicht aus dem Kopf“, gesteht er. „Gestern war ich total sauer, aber ich habe gestern Abend darüber nachgedacht und eigentlich war er ja im Recht. Ich hätte nicht einfach nach schwachen Trainern suchen sollen. Darüber habe ich mich als Anfänger selbst immer aufgeregt.“ „Jetzt weißt du es besser“, sage ich fröhlich und beiße ein großes Stück Croissant ab. Die Schokolade zerschmilzt auf meiner Zunge. „Warum schauen wir uns heute nicht ein bisschen in der Stadt und den Geschäften um und fangen dir morgen ein ordentliches Knofensa?“ Er nickt begeistert. „Und wenn ich etwas Cooles sehe, kann ich es mir sogar kaufen“, fügt er grinsend hinzu. „Ich muss wohl bis nächste Woche warten. Aber dann weiß ich schon Mal, wo ich was finde.“ „Hast du was Bestimmtes im Kopf?“, fragt Louis neugierig und ich lege geheimnisvoll einen Finger an meine Lippen. „Schon möglich.“   Als erstes statten wir dem lokalen Markt einen Besuch ab. Während Louis seinen Tränke- und Pokéballvorrat auffüllt, schlendere ich durch die Regalreihen und halte nach Schnäppchen und interessanten Items Ausschau. Danach besuchen wir ein Elektronikgeschäft und ich lasse mich von einem der Verkäufer beraten. Gegen 13:00 Uhr stehe ich mit Louis in Pokéat und frage mich, wie viel Geld Ruth haben muss, um ihre Klamotten bezahlen zu können. „Wir haben nie herausgefunden, warum die drei so stinkreich sind“, sinniere ich und halte mir ein leuchtend gelbes, trägerloses Kleid vor den Körper. Louis betrachtet mich im Spiegel und als er meinen Blick auffängt, grinst er breit. „Das nicht, aber das Kleid würde dir super stehen.“ „Tja, bevor ich mir das kaufen kann, muss ich erstmal eine Weile arbeiten“, seufze ich. „ Dreißigtausend PokéDollar? Das ist doch nicht mehr normal.“ Louis steht auf und durchstöbert nun ebenfalls eins der Regale. Eine Bedienstete mit prominenter Nase und schwarzem Hosenanzug schaut mehrmals missbilligend zu uns hinüber. Wir sollten nicht zu lange bleiben. „Hier ist eins für sechzigtausend“, sagt Louis und pfeift anerkennend. Die Frau dreht den Kopf zu uns und kneift die Augen zusammen. „Leiser…“, murmele ich und komme zu ihm, um mir das Kleid selbst anzusehen. Es ist nachtblau, bodenlang, mit feinbestickten Trägern und Rüschen, die den ganzen Rücken hinunter laufen. „Aber mal ehrlich“, flüstert Louis zurück. „Wo kommt Ruth her? Und warum ist sie Trainer? Wenn ich so reich wäre, würde ich mich nicht mit Pokécenterbetten zufrieden geben.“ „Warum nicht?“ Ich zwinkere ihm zu. „Wahrscheinlich kommt sie aus einer dieser super strengen Familien und wollte einfach nur noch abhauen.“ „Ruth und abhauen?“ Louis zieht eine Augenbraue hoch. „Ihr kuschliges Nest verlassen? Kann ich mir nicht vorstellen.“ „Wenn ich sie das nächste Mal sehe, frage ich sie“, sage ich und Louis lacht. „Ja, gleich nachdem du ihr die Augen ausgekratzt hast.“ Ich lasse meine Finger über den feinen, blauen Stoff gleiten. „Ich werde sie wahrscheinlich ´eh nicht wieder sehen. Ich kann nicht sagen, dass ich traurig darum bin.“ Als wir Pokéat schließlich verlassen, schaue ich mich ein letztes Mal um. Die Bedienstete geht mit raschen Schritten zu den Kleiderständern, bei denen wir vor ein paar Minuten noch gestanden haben und überprüft, ob alles noch in Ordnung ist. Ich stupse Louis an und nicke in ihre Richtung. Dann prusten wir los.   „Ich habe einen Plan.“ Louis schaut von seinem Schlafsack zu mir auf und zieht eine Augenbraue hoch. „Will ich den hören?“ „Willst du“, sage ich grinsend und beuge mich etwas vor. „Heute ist Vollmond.“ „Und?“ „Und vor dem Knofensaturm ist ein wunderschöner See mit Pavillon.“ Er blinzelt. Dann hellt sich seine Miene mit einem Schlag auf. „Du willst Schwimmen gehen? Jetzt?“ „Wann sonst?“, frage ich und fahre mir mit den Fingern durch meinen halb aufgelösten Zopf. „Es ist schon September und es wird jeden Tag kälter. Dieses Wochenende ist vielleicht das letzte Sommerliche dieses Jahr, das will ich ausnutzen. Außerdem war ich ewig nicht mehr schwimmen. Und damit meine ich über einen Monat.“ „Du Arme“, erwidert Louis spöttisch, aber seine Miene verrät, wie aufgeregt er ist. Also packen wir ein paar Handtücher und etwas Tee ein und machen uns auf den Weg. Louis ist zu Fuß unterwegs, während ich mit meinen Inlinern vor ihm herfahre und immer wieder in Schleifen zurückkomme, damit ich ihn nicht abhänge. Die Sterne stehen hoch am Himmel und außer vereinzelten Wolkenschwaden ist die Nacht kristallklar. Es ist windiger als die letzte Woche, aber noch nicht so kalt, dass es unangenehm ist und so genieße ich den leichten Schauer, der mir bei jeder Böe von neuem über den Rücken kriecht. Sku läuft neben Louis her. Zuerst ist sie bei mir geblieben, aber meine Inliner sind ihr dann doch zu stressig und tragen werde ich sie ganz sicher nicht. Sie hat die letzten Wochen genug gefaulenzt. Sobald ich in stärkeren Gebieten bin, muss ich Sku unbedingt auf Level 41 bringen, damit sie ihre Unlichtattacke Nachthieb erlernt. Um Gott kann ich mich gut während meiner Arbeit an der Grundschule kümmern. Als wir den Pavillon erreichen, wirkt der See wie ein Tor in den Himmel. Kleine Wellen treiben über die Oberfläche und verwischen die weißen Sternsprenkel, bevor das Wasser wieder zur Ruhe kommt. Sku setzt sich auf die Hinterpfoten und hievt sich auf die Bank, die den Pavillon innen umrundet, dann rollt sie sich zusammen und beobachtet Louis und mich dabei, wie wir unsere Taschen abstellen und auf den See schauen. „Es ist wunderschön“, flüstere ich und streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, als der Wind wieder stärker wird. „Sollen wir?“, fragt Louis und ich nicke. Als ich meine Hose und mein T-Shirt ausziehe, muss ich mich immer wieder daran erinnern, dass Louis mich längst in Unterwäsche gesehen hat und dass außer uns kein Mensch in Sichtweite ist. Trotzdem drehe ich mich mit dem Rücken zu ihm und als ich nur noch in Unterhose und BH dastehe, laufe ich schnell über die kleine Insel und in den See, wo ich bis zum Kinn untertauche. Louis folgt meinem Beispiel, einen Pokéball in der Hand. Er ruft Ethan, der sich in einem grellen Lichtblitz im Wasser materialisiert und macht dann ebenfalls die ersten vorsichtigen Schritte ins Wasser. Ethan taucht unterdessen unter und schwimmt weiter in die Mitte, wo das Wasser tiefer ist. Irgendwann sehe ich nur noch seinen schwarzen Umriss unter der sich kräuselnden Oberfläche. Zuerst schwimmen Louis und ich eine große Runde, dann kehren wir langsam in die seichteren Teile zurück und dümpeln im kühlen Wasser. „Das war ´ne super Idee“, murmelt Louis, während er auf dem Wasser treibt und ihm kleine Wellen über die Brust schwappen. Seine Augen sind geschlossen. Hinter uns taucht irgendwo Ethan mit einem lauten Platschen auf und gurgelt leise. „Sku, bringst du uns den Tee?“, rufe ich ihr zu und sie grunzt, dann hoppst sie von der Bank hinunter, schlängelt sich durch meine Rucksackträger und schleppt sich wenig elegant samt Tasche in unsere Richtung. Am Ufer kämpft sie sich aus den Trägern heraus und schnurrt laut, dann läuft sie mit auf und ab wippendem Schweif zurück zum Pavillon. „Ethan!“ ruft Louis leise und sein Garados dreht den Kopf zu uns, das Maul weit geöffnet. Dann taucht er unter und verschwindet im Wasser. „Keine Sorge, er wird schon noch auf dich hören“, meine ich grinsend und schwimme zurück zu Louis, die Thermoskanne, die ich mir von Heike geliehen habe, in einer erhobenen Hand. Louis´ Lächeln breitet sich aus, bis es von einem Ohr zum anderen reicht. Im nächsten Moment werden wir von irgendetwas aus dem Wasser empor gehoben. Ich unterdrücke ein Kreischen, als ich Ethans Schuppen auf meiner nackten Haut spüre und mich in Sekundenschnelle gute drei Meter in der Luft befinde. Louis rutscht zu mir hinüber, bis wir einander gegenüber auf Ethans Nacken sitzen. Ich gieße etwas von dem dampfenden Tee in den Kannendeckel und nehme einen großen Schluck, dann reiche ich ihn Louis. Er trinkt ebenfalls, dann hustet er und wischt sich über den Mund. „Tamot?“, fragt er heiser und ich grinse. „Mit Zucker und Milch, also beschwer dich nicht.“ „Naja, erträglicher als pur ist er auf jeden Fall. Aber mein Lieblingsgetränk wird es trotzdem nicht.“ Ich nehme noch einen großen Schluck und lasse die geballte Wärme von heißem Tee und feuriger Schärfe meinen Körper von innen aufheizen. Eine Weile sitzen wir schweigend auf Ethans Rücken und schauen in den Himmel. Dann lehnt Louis sich etwas nach vorne und schaut mir in die Augen. Mein Herz stockt. „Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, was du in den Ruinen gesagt hast“, sagt er schließlich. „Und ich wollte mich für meine Reaktion entschuldigen.“ Ich stutze. „Welche Reaktion?“ Er schaut auf seine Hände. „Als du mich in Dukatia City aufgelesen hast, als du mich im Wald gerettet hast und wir dann alle zusammen weitergereist sind, da dachte ich irgendwie, wir würden unsere restliche Reise ebenfalls zusammen antreten. Aber das war egoistisch von mir. Ich habe dich nie nach deinen Plänen gefragt und ich kann nicht erwarten, dass du alles, was du vor hast, über den Haufen wirfst, nur um mir Gesellschaft zu leisten, während ich der eindeutig nicht beste Trainer aller Zeiten werde.“ Ich schweige und er holt tief Luft, dann sieht er wieder zu mir hoch. „Wir kennen uns noch nicht lange, aber ich habe dich wirklich gern. Und auch wenn wir uns in zwei Wochen trennen sollten, werde ich alles daran setzen, den Kontakt mit dir zu halten. Ich will nicht, dass das aufhört.“ Mein Herzschlag ist in meine Kehle gewandert. Ich bin überfordert, aber ich lege meine Hand auf die von Louis. Er zittert. „Ich werde dich jetzt küssen“, sagt er dann und ich verschlucke mich fast. Seine babyblauen Augen schauen direkt in meine. „Wenn du das nicht willst, zieh einfach den Kopf weg. Aber ich werde es für immer bereuen, wenn ich es nicht wenigstens versuche.“ Alles in meinem Kopf dreht sich. Küssen? Das ist mein erster Kuss. Ich hatte noch nie romantische Gefühle für jemanden, ich bin fünfzehn! Was soll ich tun, was soll ich tun, was soll ich tun? Panik steigt in mir auf, aber als Louis seine Augen schließt und sein Gesicht meinem immer näher kommt, stelle ich überrascht fest, dass ich keine Anstalten mache, mich wegzubewegen. Ethan verlagert sein Gewicht und Louis wird das letzte Stück zu mir geschoben, seine Lippen, nass von dem Wasser und dem Tee, treffen auf meine und in meinem Kopf wird alles blank. Es ist kein elektrischer Schlag, der mich durchfährt, in mir brennt nichts und ich schwebe auch nicht auf Regenbogenwolken, aber einem anderen Menschen so nah zu sein ist furchtbar intim – und furchtbar beängstigend. Als wir uns nach einigen Sekunden voneinander lösen, schlägt mein Herz so laut in meiner Brust, dass ich mein Blut in jeder Faser meines Körpers pulsieren spüren kann. Louis Wangen sind gerötet und als er die Augen öffnet, atmet er langsam aus, dann lacht er, halb erleichtert, halb panisch und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. „Ich hab´s tatsächlich gemacht…“, murmelt er tonlos und ich muss trotz meiner Aufregung breit grinsen. Kapitel 33: Wind und Rauch (Ich wähle dich?) -------------------------------------------- „Wart ihr gestern Nacht noch unterwegs?“, fragt Heike zwischen zwei Bissen Brötchen und ich schiele zu Louis, der sich an seinem Kakao verschluckt und anfängt, zu husten. Sehr diskret. „Wir sind im See schwimmen gewesen“, sage ich und schmiere mir etwas Morbbeermarmelade auf mein Brötchen. „Wir wollten das letzte sonnige Wochenende ausnutzen.“ „Jaja, der Wetterdienst sagt, es wird kalt die nächste Woche“, nickt Heike. Louis wischt sich über den Mund und atmet tief durch. „Habt ihr zwei überhaupt ordentliche Jacken?“ „Leider nicht, aber ich werde mir eine kaufen, sobald ich meine erste Bezahlung bekomme“, sage ich und denke sehnsüchtig an das Gefühl von Geldscheinen in meinen Händen. Ich muss so viel kaufen… „Ich hab eine Windjacke“, sagt Louis. „Aber ich werde meine Wintersachen trotzdem noch aufstocken müssen.“ „Kommt Oliver vorbei?“, frage ich Heike, aber sie schüttelt den Kopf. „Er ist mit seiner Familie über das Wochenende campen.“ Sie lächelt. „Aber er wird bestimmt überrascht sein, dich am Montag zu sehen.“ „Ich bin schon sehr gespannt“, gestehe ich und beiße dann gedankenverloren in mein Brötchen. Vielleicht sollte ich Gott heute schon ein wenig austesten, damit ich morgen nicht wie ein Anfänger dastehe. Wenn es hier wirklich so viele Knofensa gibt, wie Mathilda sagt, dann sollte er hier keine Probleme haben. Andererseits… „Louis, wir gehen“, sage ich und stehe auf. „Waf?“ „Wir kommen erst heute Nachmittag wieder, Heike, du brauchst uns also nicht für das Mittagessen einzurechnen.“ Sie lächelt wissend.   „Warum warst du denn plötzlich so in Eile?“, fragt Louis, während er hinter mir her joggt. Ich gehe zügigen Schrittes voran, einen Stift hinter mein Ohr geklemmt und einen kleinen Notizblock in meinen Händen. Gott sitzt auf meiner Schulter und dreht immer wieder misstrauisch den Kopf zu Louis. Hunter ist vorgeflogen. „Ich muss Gott auf sein Potenzial testen“, sage ich und Louis kommt endlich neben mir an. Er fährt sich durchs Haar. „Sein Potenzial?“ „Tornupto hat sehr gute Basiswerte. Wenn seine DV stimmen, dann werde ich sein Training ernst nehmen“, erkläre ich. „Ein oder zwei Powerhouses sollte ein Trainer haben, auch wenn er nicht professionell ist.“ „Ich verstehe nur Bahnhof, aber wie du meinst. Ein Brötchen hätte ich trotzdem noch geschafft.“ Wir durchqueren das Durchgangshäuschen, an dessen Theke ein älterer Mann mit Schnauzbart ist. Louis zeigt ihm seine ID und er winkt uns durch. Ich habe Route 31 nur noch von unserem letzten Abend mit Maisy in Erinnerung, als es schon dunkel war, aber viel heller ist es trotzdem nicht. Der dichte Nadelwald zu beiden Seiten des Weges blockt einen großen Anteil des Sonnenlichts und das hohe Gras, das nach einigen Minuten zu unserer Rechten auftaucht, liegt in dunkelgrünem Schatten. Ich ziehe Skus Pokéball und lasse sie raus. Sie kneift die Augen zusammen, brummt dann zufrieden und schlängelt sich um mein Bein. Gott zischt, als sie mir so Nahe kommt, aber Sku knurrt bedrohlich zurück und damit ist die Rangordnung vorerst hergestellt. Gott duckt sich und eine kleine Flamme flackert mein Ohr entlang, bevor sie wieder erlischt. Vorsichtig ziehe ich meinen Zopf auf die andere Seite. Louis ruft seinerseits Winry, mit der er sein Knofensa fangen will. Bei dem Gedanken an Ethan, der gegen das kleine Pflanzenpokémon kämpft, muss ich ein Lachen unterdrücken. Wir nähern uns dem hohen Gras, das zu unserer Rechten einen flachen Abhang hinabführt und einen großen Teil meines Sichtfeldes einnimmt. Weit dahinter kann ich Felswände erkennen, auf denen sich der Nadelwald fortsetzt. Der Weg, von dem wir uns jetzt langsam entfernen, führt zu dem steilen Hügel, auf dem wir mit Maisy die Sterne beobachtet haben. Der See liegt irgendwo nördlich hinter der Kuppe, ist heute aber nicht unser Ziel. Die dicht bewachsene Wiese ist perfekt für unsere Zwecke. Das Gras raschelt um unsere Beine und Hüften und während Louis einen Weg für uns frei tritt, krame ich meinen Pokédex aus meiner Tasche. Es wird Zeit, Gott genauer unter die Lupe zu nehmen. „Also, was ist dein Plan?“, frage ich Louis, der, Winry um den Körper gewickelt, durch das Gras streift und nach Knofensas Ausschau hält, während ich meinen Notizblock zücke und auf meinem Kugelschreiber herumkaue. Er dreht sich verständnislos um. „Was für ein Plan?“ „Keine Ahnung, wie du dir dein Knofensa aussuchst zum Beispiel.“ Ich hebe Gott von meiner Schulter herunter und setzte ihn vor mich ins Gras. Sku nutzt die Gelegenheit und krabbelt meinen Rücken hoch, wo sie es sich in ihrer beliebten Position gemütlich macht: Unterleib um meinen Hals gewickelt, Oberkörper auf meinem Kopf und Vorderpfoten auf meine Stirn gelegt. Ich lasse sie gewähren und halte meinen Pokédex auf Gott. „Ich fange einfach das Nächstbeste, was ich treffe“, meint Louis. Ich bedenke ihn mit einem kritischen Blick. „Feurigel – das Feuermaus-Pokémon“, erschallt es in dem Moment aus dem roten Gerät. „Typ Feuer. Erschrickt sich dieses scheue Pokémon, lodern die Flammen auf seinem Rücken kräftiger. Level 6. Spezialfähigkeit: Großbrand.“ „Gut…“, murmele ich und durchforste den Pokédex nach Feurigels Attacken und Entwicklungsstufen. „Warte. Das Nächstbeste?“ Ich schaue zu Louis hoch. „Ich dachte, Trainer suchen sich ihre Pokémon nach irgendeinem speziellen Verfahren aus!“ „Ehm.“ Louis dreht sich zu mir um. „Nein. Ich fange eins und dann trainiere ich es. So habe ich Winry und Ethan bekommen.“ Ich denke nach, aber wenn ich genauer darüber nachdenke, habe ich keins meiner Pokémon einfach gefangen. Sku durfte ich mir von Agnes aussuchen, Hunter hat sich mir quasi aufgedrängt und Gott musste ich fangen, um aus den Ruinen fliehen zu können. Vielleicht hat Louis Recht. Aber es scheint schließlich auch Pokémon zu geben, die sich ihre Trainer aussuchen. So wie Hunter. „Na gut, dann such du mal. Ich brauche hier noch eine Weile.“ „Wie du meinst“, sagt Louis, dann verschwindet er im hohen Gras. Es dauert keine zehn Minuten, bevor ich sein Rufen höre. Ich stehe ächzend auf und ignoriere Skus empörten Blick, als sie sich von mir lösen muss. Sie und Gott trotten hinter mir her, während ich zu Louis laufe, der mit Winry etwas Kleinem gegenüber steht. Das Knofensa steht auf schwankenden Wurzeln und wiegt sich tänzelnd im Wind. Es ist größer als ich erwartet habe und würde mir leicht bis zur Hüfte reichen, wenn es neben mir stände. Seine schwarzen Knopfaugen verengen sich zu Schlitzen, als es Gott sieht, der seine Flammen bedrohlich auflodern lässt. „Und jetzt?“, fragt Louis und hält unschlüssig einen leeren Pokéball in der Hand. „Wenn Winry es angreift, besiege ich es wahrscheinlich.“ „Wirf einfach, vielleicht geht es auch so“, schlage ich vor und er nickt. Er hebt den Arm und wirft. Der Ball schießt mit einem Sirren durch die Luft und obwohl ich schwören könnte, dass Knofensa sich keinen Millimeter bewegt, fliegt er an dem Pokémon vorbei und landet wirkungslos im Gras. „Daneben“, stelle ich fest und Sku keckert. Knofensa nutzt die Gelegenheit und wächst. Sein ganzer Körper schwillt an, bis es eine gute Handbreit größer ist als noch vor einigen Sekunden. Murrend zieht Louis seinen zweiten Pokéball. Als er dieses Mal wirft, schaue ich genauer hin und kann es sehen. Blitzschnell windet Knofensas gertenschlanker Körper sich um den Pokéball herum und nimmt fast augenblicklich wieder seine Ausgangsposition ein. „Nicht übel…“, murmele ich und Louis schaut fragend zu mir. Ich zucke mit den Achseln. „Es ist verdammt schnell“, sage ich. „Soll Gott dir mit einer Rauchwolke aushelfen?“ „Nein.“ Louis schaut verbissen zurück zu Knofensa. „Ich werde wohl noch in der Lage sein, alleine ein Pokémon zu fangen.“ Ich lasse mich neben ihm ins Gras sinken und warte geduldig, bis Sku es sich auf mir gemütlich gemacht hat, bevor ich mit meiner Recherche fortfahre. Drei Pokébälle später weht Knofensa weiterhin im Wind und Louis lässt geknickt den Kopf hängen. „Rauchwolke, bitte“, sagt er niedergeschlagen. „Ich hab nur noch einen Ball.“ „Dann hoffen wir mal, dass es jetzt auf Anhieb klappt. Gott, Rauchwolke auf Knofensa.“ Gott fletscht die kleinen Zähnchen, dann springt er auf Knofensa zu und das Feuer auf seinem Rücken flackert stark auf, bevor es erstickend an- und ausgeht. Schwarzer Rauch steigt von den Flammen auf und verdichtet sich um die beiden Pokémon. Louis kneift die Augen zusammen, zielt – und wirft. Gott taucht wieder neben mir auf und ich strecke meine Hand nach ihm aus. Sein Feuer erlischt und er erlaubt mir, einige Male über seinen Rücken zu streichen, bevor er sich wieder auf dem Boden zusammenrollt und kleine Flämmchen zwischen seinen grünblauen Rückenschuppen hervor züngeln. Der Qualm seiner Attacke verflüchtigt sich und wir entdecken Louis´ Pokéball, der blinkend im Gras hin und her rollt. Dann bleibt er reglos liegen. „JIHAA!“, schreit Louis und schlägt mit seiner Faust in die Luft. Ich grinse und Winry imitiert ein Klatschen, auch wenn ihre Pfoten zu kurz sind und sie kaum ein Geräusch hervorbringt. Sku schnurrt genüsslich und legt ihren großen Kopf auf ihren Pfoten ab, die immer noch auf meiner Stirn liegen. „Das war ein Akt“, sage ich und Louis lässt sich neben mir ins dichte Gras fallen. „Kannst du laut sagen.“ Eine Weile bleiben wir so, er im Gras, alle Viere von sich gestreckt, ich verrenkt sitzend mit einem Pokémon auf dem Kopf und einem Notizblock in der Hand. Schließlich dreht Louis den Kopf zu mir und schaut mich von unten her an. „Wegen gestern…“, fängt er an und mir läuft ein heißkalter Schauer über den Rücken. „War das… okay für dich?“ „Wenn es nicht okay gewesen wäre, hättest du es gemerkt“, erwidere ich und starre konzentriert auf die Attackenbuilds, die ich mir für ein späteres Tornupto zu Recht gelegt habe. „Okay. Gut.“ Er schweigt. Dann streckt er seine rechte Hand nach mir aus und legt sie – behutsam – an meinen Oberschenkel. Sonst tut er nichts. Mein Atem stockt. Er lässt seine Hand dort liegen und sagt nichts mehr, aber die Stille zieht sich in die Länge, als hätte er eine Frage gestellt, auf die ich immer noch nicht geantwortet habe. Ich denke an Gott zurück, der vor meiner Hand zurückgeschreckt ist, nur um später darauf zu schlafen. Vorsichtig lasse ich meine linke Hand auf seine sinken. Louis´ Augen sind geschlossen, aber als ich zu ihm hinunter schiele, kann ich das glückselige Grinsen auf seinem Gesicht sehen, als er meine Finger drückt. Schließlich setzt er sich schwungvoll auf und ruft das frisch gefangene Knofensa. Von nahem wirkt es noch größer. Knofensa werden im Normalfall nicht größer als siebzig Zentimeter, aber dieses reicht fast an die neunzig heran. Seine schwarzen Augen verengen sich, als es Louis sieht, dann streckt es die kleinen Blattärmchen aus und schwingt hin und her. „Soll ich mal?“ frage ich und halte den Pokédex hoch. Louis nickt und ich klicke auf die Analysefunktion, dann halte ich das Gerät in Knofensas Richtung. „Knofensa – das Blumen-Pokémon. Typ Pflanze/Gift. Knofensas schlanker und elastischer Körper ermöglicht es ihm, jedem Angriff auszuweichen. Es spuckt eine ätzende Flüssigkeit aus, die Eisen zersetzen kann. Level 7. Spezialfähigkeit: Chlorophyll.“ „Nicht schlecht“, gebe ich grinsend zu. „Die Ausweichmanöver haben wir schon gesehen, fehlt nur noch das Eisen.“ „Säure erlernt es erst später“, erwidert Louis und schaut sein neues Pokémon neugierig an. „Es ist weiblich, oder?“ Ich kneife die Augen zusammen. „Scheint so. Aber sicher bin ich nicht. Hast du schon einen Namen?“ „Ich dachte an etwas Cooles.“ Ich lache. „Das hoffe ich doch.“ „Was hältst du von Harley?“ „Harley klingt gut“, sage ich und betrachte das Pokémon erneut. Seine Augen huschen abschätzend zwischen uns hin und her und ich frage mich, was in dem kleinen Pflanzenkopf vor sich geht. „Wollen wir loslegen?“ Louis nickt und steht schwungvoll auf. „Also gut Harley, wir sind jetzt Partner, also lass uns zusammen stärker werden. Was hältst du davon?“ Harley legt den Kopf schief, dann gibt sie ein zustimmendes Glucksen von sich und tänzelt voran durchs hohe Gras. Louis und ich folgen.   Wir begegnen noch vielen weiteren Knofensas, während sich unser Training in die Länge zieht und die Sonne in Richtung Westen wandert, aber mit Harley scheint Louis einen guten Fang gemacht zu haben. Sie ist größer und geschickter als die meisten ihrer Gegner und ihre Bewegungen sind blitzschnell. Ich trainiere etwas abseits mit Gott und bemühe mich, nur gegen Taubsi, Zickzachs und Bamelin zu kämpfen. Ich hatte von Anfang an ein gutes Gefühl bei ihm und das finde ich nun bestätigt. Seine ersten richtigen Gegner fegt Gott geradezu weg, seine Initiative ist für seinen Level ungewöhnlich hoch und ich beobachte ihn wohlwollend, während ich mir Notizen zu den Initiative EVs mache, die er sammelt. Diese Art von Training ist sehr mühsam, aber das Endergebnis wird sich lohnen und Gotts Potential will ich nicht verkommen lassen. Ein leidenschaftliches Pokémon wie er, das aus seiner Heimat flieht und auf Level 6 durch halb Johto wandert, sollte nicht als Schmusepokémon verkommen. Und so zwinge ich mich zu dem langwierigen Training, auf das ich gut und gerne verzichten könnte und lasse Sku gewähren, die dem Spektakel von meinem Rücken aus zuschaut. „Du kommst auch noch dran“, drohe ich und schiele zu ihr hoch, aber außer ihrem dichten, violetten Fell kann ich nichts erkennen. Ihr wenig begeistertes Schnurren ist aber Antwort genug. Wenn es nicht anders geht, meinetwegen. „Abby! Schau dir das an!“ Ich hebe den Kopf und entdecke Louis etwa zwanzig Meter zu meiner Linken, etwas den Hang hinauf. Harley und er sind in einen Kampf verwickelt. Ich schaue zu Gott zurück, der seinen Gegner – ein Zickzachs – mühelos mit einem Tackle niederstreckt und dann zu mir hinüber läuft. Ich laufe den Hang zu Louis hoch und schaue Harley dabei zu, wie sie sich um das gegnerische Ledyba wickelt und es so fest zusammendrückt, dass das arme Käferpokémon leise winselt. „Es hat schon Wickel erlernt? Wow“, sage ich und klopfe Louis auf den Rücken. „Zwei Stunden und schon vier Level, das läuft doch super!“ „Ja.“ Er nickt breit grinsend. „Aber ab jetzt wird es langsamer gehen, oder? Die Pokémon hier sind allmählich zu schwach.“ „Du kannst immer noch die Route wechseln“, erinnere ich ihn. „Aber die Angriff EVs werden ihr gut tun, glaub mir.“ „Die was?“ Ich seufze. „Nicht so wichtig.“ „Ich bleibe auf jeden Fall hier“, sagt Louis grinsend und schaut Harley dabei zu, wie sie das Ledyba fester umschlingt und mit ihren freien Ranken schlägt, bis seine runden Augen nach hinten kippen und es regungslos in Knofensas Griff hängen bleibt. „Wenn wir ´eh noch zwei Wochen hier bleiben, muss ich mich nicht beeilen.“ „Guter Plan.“ Ich gähne und strecke mich ausgiebig, dann schaue ich in den Himmel. Im Osten ziehen Wolken auf, die düster auf uns zu rollen. „Ist für heute Gewitter gemeldet?“ Louis hebt den Kopf und als er die Sturmfront entdeckt, verzieht er das Gesicht. „Sieht so aus, als müssten wir früher zurück“, sagt er wenig begeistert. „Ich will nicht hier sein, wenn das runter kommt.“ „Komm.“ Ich nehme seine Hand und rufe Gott und Sku zurück, dann ziehe ich ihn den Wiesenhang hoch. „Genau wegen sowas brauche ich ein Radio“, murre ich, während wir uns den Hügel hinauf durch das hüfthohe Gras kämpfen. Der Aufstieg ist weit beschwerlicher als andersherum und nach wenigen Minuten sind wir außer Puste. „So eins wie Maisy hatte?“ „Genau. Tragbar, handlich, praktisch.“ Ich seufze. „Ich bin schon total auf Nachrichtenentzug. Hast du bei Heike einen Fernseher gesehen?“ „Nein.“ „Ein Radio?“, frage ich hoffnungsvoll, aber Louis lacht nur. „Du wohnst auch bei ihr“, erwidert er. „Wenn du keins gesehen hast, dann ich erst recht nicht.“ „Ich will Geld…“ Mein Jammern ignorierend folgt Louis mir die Route hinauf und als wir endlich wieder den Hauptweg erreichen, ist es dunkel geworden. Ich drehe mich um. Die Wolken kommen immer näher, schon jetzt bedecken sie den Himmel wie eine schwarze Decke und die Sonne ist kaum noch zu erkennen. „Hoffentlich schaffen wir das noch…“, murmele ich. In dem Moment schießt ein Schatten aus Richtung See auf uns zu. Ich hebe einen Arm und winke und keine Sekunde später landet Hunter mit schlagenden Flügeln auf meinen Schultern. „Warum sitzen alle Pokémon immer auf meinem Rücken?“ beschwere ich mich und Hunter flattert keckernd mit den Flügeln, um sein Gewicht von meinen Schultern zu nehmen. Ich bereite seinem Gezappel ein Ende und rufe ihn zurück. „Warum fliegen wir nicht auf ihm zurück?“, fragt Louis, während wir in Richtung Viola City zurücklaufen. Der Regen setzt ein und fette Tropfen platschen in mein Gesicht, auf meine Haare und auf mein T-Shirt. „Hunter kann die Attacke nicht“, erwidere ich keuchend und unterdrücke ein Schlottern meiner Zähne, als der  heftige Regen mich daran erinnert, dass der Herbst vor der Tür steht. Die Kälte kriecht mir innerhalb von Sekunden in die Knochen. „Wenn ich mich auf ihn setzen würde, käme er keinen Meter weit.“ „Ich verstehe die Logik nicht, aber wenn du´s sagst…“ Wir erreichen das Durchgangshäuschen in einem letzten Sprint und stürzen in das kleine Gebäude hinein. Der alte Mann sitzt immer noch da und sieht uns verdutzt an. Dann lächelt er grimmig. „Hat euch aber übel erwischt“, meint er mit grollenden Stimme. „Ja, ziemlich“, erwidere ich und reibe mir die pitschnassen Arme. Dann drehe ich mich zu Louis um, der sich durch die Haare strubbelt, um das Wasser loszuwerden. „Sollen wir hier warten, bis es aufhört oder direkt zu Heike?“ „Lieber noch einmal nass werden und dann im Warmen sitzen“, murmelt er. „Ich habe keine Lust, hier für die nächsten paar Stunden rumzusitzen.“ Wir verabschieden uns von dem Mann, dann holen wir tief Luft und rennen zurück in den Regen. Wasser füllt die Rillen im Kopfsteinpflaster und hinter uns hören wir fernes Donnergrollen. Wir brauchen fünf Minuten, bis wir Heikes Haus erreichen, während derer wir zwischen kurzen Sprints, kleinen Joggs und Gehpausen hin und her wechseln, aber als Louis an ihrer Tür klopft, öffnet diese sich fast augenblicklich. „Das seid ihr ja, kommt rein, kommt rein, ihr holt euch noch den Tod!“ Heike schiebt uns in die warme Wohnung und unser Bibbern verklingt langsam, während wir neben ihrem warmen Ofen stehen, in dem ein Auflauf knusprig hochbackt. „Hat der Wetterbericht irgendwas von dem Gewitter berichtet?“, frage ich später, als wir mit vollen Bäuchen um den Esstisch herum sitzen und ich mir eine Tasse puren Tamottee gönne. Meine Zunge brennt angenehm und der scharfe Nachgeschmack macht mir Lust auf mehr. Louis schaut immer wieder verständnislos zwischen der Tasse und mir hin und her. „Das weiß ich nicht“, sagt Heike und rückt ihre Brille zurecht. „Ich bin technisch nicht auf dem neusten Stand.“ Eher auf gar keinem Stand, denke ich zerknirscht und schaue mich sicherheitshalber noch einmal in ihrer Wohnung um, aber von einem Fernseher oder Radio ist keine Spur zu sehen. Sobald ich morgen von der Arbeit zurückkomme, werde ich mich in den Elektronikladen setzen und Nachrichten schauen. Ich fühle mich so abgeschnitten wie noch nie – und ich war immerhin schon in einer Höhle verschüttet. Da hatte ich aber Maisys tragbares Radio dabei, aus dem wenigstens gruselige Musik kam. Besser als gar nichts.   Wir unterhalten uns noch bis in den Abend mit Heike, spielen Karten und lassen uns von ihr über die Legende des Bronzeturms berichten. „Die Turmruine war einst einer der beiden großen Türme, die in Teak City herausstachen“, sagt sie gerade und ihr Blick schweift in weite Ferne. Ihre Worte klingen wie ein Text, den sie so oft gelesen hat, dass er sich in ihr Gedächtnis gebrannt hat und als sie fortfährt, läuft mir ein leichter Schauer über den Rücken. Ich erinnere mich an die Bilder der beiden Türme aus einer Touristenbroschüre, der eine strahlend schön hinter einem Wald-Hain versteckt, der andere verkohlt und niedergebrannt. „Auf ihnen sollen zwei legendäre Vogel-Pokémon gelebt haben, die von den Menschen verehrt wurden. Lugia auf dem Bronzeturm im Westen und Ho-Oh auf dem Glockenturm im Osten“, fährt sie in derselben Stimmlage fort. „Doch als vor etwa 160 Jahren ein drei Tage andauernder Brand ausbrach, musste Lugia fliehen. Dabei sind drei Pokémon in den Flammen umgekommen. Ho-Oh hat ihnen mit seiner Zauberasche wieder neues Leben eingehaucht und die Pokémon sind in alle Richtungen davongelaufen. Nach diesem Ereignis ist auch das goldene Regenbogen-Pokémon aus der Stadt geflogen und seitdem nicht mehr gesehen worden.“ „Wird es zurückkehren?“, fragt Louis, leise, als fürchte er, den Zauber ihrer Geschichte zu brechen. Heike nickt. „Ich glaube fest daran. Der Legende nach wird seine Rückkehr mit dem Glockenläuten des Turms angekündigt werden.“ Sie lächelt. „Und es ist noch nicht lange her, da haben sie geläutet.“ „Wirklich?“, frage ich aufgeregt. „Wann?“ „Es muss gewesen sein, als Gold seine Orden sammelte. Oder war er damals schon der neue Champion? Ich kann mich nicht mehr erinnern.“ Ich stutze. „Aber… das ist mindestens neun Jahre her!“ „Ja.“ Heike strahlt. „Was sind schon neun Jahre. Gold fing damals Lugia, aber ich bin sicher, Ho-Oh wird auch einen würdigen Trainer finden.“ „Aber sind Legendäre nicht unglaublich schwer zu fangen?“, fragt Louis mit gerunzelter Stirn und ich nicke. Wenn dem nicht so wäre, warum hießen sie dann Legendär? „Wisst ihr…“, sagt Heike und faltet ihre Hände auf dem Tisch. „Ich glaube, jeder starke Trainer mit genug Bällen könnte ein Legendäres Pokémon fangen. Aber sie zu finden, das ist die wahre Prüfung. Ein so mächtiges Pokémon zeigt sich nicht jedem dahergelaufenem Trainer.“ „Glaubst du, Pokémon suchen sich ihre Trainer aus?“, frage ich vorsichtig und denke an Hunter, der mir von Anfang an gefolgt ist. Sie lehnt sich etwas auf ihrem Stuhl zurück. „Warum nicht? Pokémon spüren bestimmt, ob ihnen ein guter Trainer gegenüber steht. Aber die meisten Wald und Wiesen-Pokémon sind nicht besonders wählerisch. Wenn du ein Legendäres von dir überzeugen willst, dann musst du wohl ein ausgesprochen besonderer Trainer sein.“   Als ich in dieser Nacht auf meinem Schlafsack liege, kann ich trotz der mich befallenden Müdigkeit kein Auge zu tun. Louis ist unauffällig etwas näher gerutscht, sein Schlafsack jetzt nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt und sein Arm liegt ausgestreckt auf meinem Bauch, während er leise schnarcht. Hunter hat mich ausgesucht. Wie hat er sich entschieden? Was waren seine Kriterien? Ich drehe den Kopf und betrachte Louis´ friedlich schlafendes Gesicht. Ein vorsichtiges Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Kapitel 34: Neuigkeiten (Viele kleine Kinder) --------------------------------------------- Mit grauer Hoodie und einem Rucksack voller Snacks bewaffnet, mache ich mich am nächsten Morgen zur Pokémonschule auf. Louis schläft noch, deswegen gehe ich ohne ihn vor. Er weiß schließlich, wo ich zu finden bin und von dem Hügel aus hat er einen guten Überblick über die gesamte Route. Gott läuft neben mir her. In den letzten Tagen ist er gewachsen und hat an Gewicht zugelegt. Ich weiß nicht, inwiefern das mit unserem Training zusammen hängt, aber wenn er so weiter macht, wird er in Rekordtempo seinen halben Meter erreichen. Dann war es das mit auf die Schulter setzen. Als ich um 7:55 Uhr den Schulhof erreiche, ist ein Großteil der Klasse bereits versammelt. Eine Frau mittleren Alters mit Pferdeschwanz und eckiger Stahlbrille hakt Namen auf ihrem Klemmbrett ab. Als sie mich sieht, rümpft sie die Nase, winkt mich aber zu sich. „Du bist dann also Abbygail“, stellt sie fest und ich nicke. Als ich Oliver aus dem Augenwinkel entdecke, winke ich ihm zu und er winkt schüchtern zurück. „Ich bin die Klassenlehrern, Maria Lock. Ich werde dir nichts vormachen“, sagt sie dann. „Deine Hilfe wird nicht benötigt und ich finde, dass deine Anstellung nur rausgeworfenes Geld ist. Aber da du nur zwei Wochen hier bist, können wir es genauso gut zivilisiert hinter uns bringen.“ „Klingt vernünftig“, sage ich kühl und sie nickt. „Wir gehen pünktlich um acht Uhr los. Ich führe die Gruppe, du passt bitte darauf auf, dass keiner der Schüler zurückfällt. Wenn wir den Trainingsplatz erreichen, werden wir die Schüler in zwei Gruppen unterteilen und ihnen Kampftechniken vorführen, dann betreuen wir ihr Training. Um 10:00 Uhr ist eine kurze Pause von fünfzehn Minuten, um 12:00 Uhr ist Mittagspause bis 12:45 Uhr. Um 13:45 verlassen wir die Route und kehren hier her zurück.“ „Alles klar.“ „Gut.“ Sie schaut auf ihre Uhr. „Okay, bitte in einer Zweierreihe aufstellen!“ Es dauert eine Weile, bis jeder der Schüler einen Partner gefunden hat, aber schließlich steht die Gruppe vor uns, jeweils zwei nebeneinander, insgesamt ungefähr zwanzig Schüler. Es scheint eine der jüngeren Klassen zu sein, Oliver ist nach Heikes Angaben sieben Jahre alt. Maria stellt sich vor den leise tuschelnden Schülern auf, ich bleibe seitlich hinter ihr. „Wir haben heute ein neues Gesicht dabei“, sagt sie und die Schüler verstummen augenblicklich. Zwanzig Augenpaare richten sich auf mich. „Das ist Abbygail, sie wird für die nächsten zwei Wochen die Trainingsausflüge der Klassen begleiten. Ihr werdet sie also nur zweimal sehen. Sie ist dennoch eine Autoritätsperson, also verhaltet euch entsprechend.“ Sie klatscht in die Hände. „Also dann, wir gehen. Bleibt in der Reihe und fallt nicht zurück.“ Und so geht es los. Mit einer so großen Gruppe geht es langsam voran, trotzdem erreichen wir nach etwa fünfzehn Minuten das Durchganshäuschen. Maria zählt durch, dann begeben wir uns auf Route 31 und folgen ihr bis zu einem flachen Stück Wiese am Fuße des Hügels. Maria zählt auf ihrer Liste die Namen ab, dann richtet sie sich an die Schüler. „Arens bis Hort zu mir, Klith bis Worring zu Abby.“ Hier und da höre ich ein genervtes Stöhnen, als Freunde sich trennen müssen, aber zehn der Schüler kommen gehorsam in meine Richtung. Oliver und seine Freundin sind glücklicherweise mit von der Partie. Als die Kinder um mich herum stehen, lächle ich sie aufmunternd an. „Also gut, warum stellt ihr euch nicht alle kurz vor? Name, euer Pokémon und wie alt ihr seid.“ Die Kinder schauen sich kurz an, dann hebt einer der Jungen seine Hand. „Ich bin Mike“, sagt er. „Ich bin sieben und ich habe ein Taubsi.“ Olivers Freundin ist die nächste, die sich vorstellt. „Ich heiße Zoe, ich bin auch sieben und ich habe ein Quapsel.“ Nacheinander stellen sich alle Kinder vor, Oliver zuletzt, der ein Voltilamm besitzt. Ich bemühe mich, alle Namen zu behalten und hake in meinem Kopf die Pokémon ab, mit denen ich arbeiten muss. Die meisten der Kinder haben lokal auffindbare Pokémon, Olivers Voltilamm ist noch eins der ausgefallensten. Taubsi, Hoothoot, Knofensa und Käferpokémon sind am stärksten vertreten. Nicht überraschend. Keins der Kinder besitzt einen der typischen Starter und ich bemerke, dass Gott genau beobachtet wird. Er scheint die Kinder immerhin nicht als Gefahr wahrzunehmen, denn er wirkt relativ friedlich, auch wenn er einmal leise knurrt, als ein Junge ihn streicheln will. „Dann legen wir mal los“, sage ich fröhlich und gehe tiefer ins hohe Gras, auf der Suche nach einem wilden Pokémon. Das Training verläuft besser als gedacht. Die Kinder sind neugierig und verlieren schnell ihre Angst vor mir. Bereits bei der ersten Frühstückspause, in der wir in einem Kreis sitzen und Sandwiches essen, berichten sie mir aufgeregt von ihren Kämpfen, von der strengen Frau Lock und fragen mich nach meinen Reisen und anderen Pokémon. Als wir uns wieder an die Arbeit machen, lasse ich die Kinder selbst gegen Pokémon kämpfen, gebe ihnen Tipps und laufe zwischen ihnen hin und her. Irgendwann gegen elf Uhr taucht Louis auf und ich stelle ihn meinen Schülern vor. Als er mit seinem Knofensa in ihren Reihen mitkämpft, sehe ich zu meinem großen Vergnügen, wie sie ihm nun ihrerseits Hinweise geben. Der Junge, der sich als Mike vorgestellt hat, scheint großen Gefallen daran zu finden, denn er klebt an Louis Hacken und weist ihn auf alle Dinge auf, die ich ihnen vor wenigen Stunden erklärt habe. Als Louis mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir schaut, zwinkere ich ihm zu. Mein Training mit Gott verläuft langsamer als alleine, aber das ist in Ordnung. Er sammelt weiterhin EVs und macht große Fortschritte. Seine Schnelligkeit nimmt mit jedem Kampf zu und als ich während der großen Mittagspause mit den Kindern und Louis im Gras sitze, überprüfe ich seinen Level. „Level 12“, stelle ich zufrieden fest und Louis nickt anerkennend. Harley hat inzwischen Level 13 erreicht und Schlafpuder erlernt. „Noch ein Level und er lernt Ruckzuckhieb. Aber Glut ist schon ein Riesenfortschritt.“ „Wird er sich bald entwickeln?“, fragt John, ein dicklicher Junge mit roten Wangen und einem stattlichen Ledyba. „In zwei Leveln“, erkläre ich. „Und welches Pokémon wird er dann?“ frage ich in die Runde. Acht der zehn Hände schnellen in die Höhe und ich grinse zufrieden. „Sophie?“ „Ein Igelavar!“, sagt sie stolz und ich nicke. „Und welchen Typ hat Igelavar?“ „Feuer“, kommt die Antwort zurück geschossen. „Gut, jetzt eine schwere Frage“, sage ich. „Gegen welche Pokémon sind Feuerpokémon anfällig und gegen welche effektiv?“ Die Hände sinken langsam. Ich schaue in die Runde. „Mike?“, frage ich und er legt nachdenklich den Kopf schief. „Feuer ist gegen Wasser anfällig“, sagt er schließlich langsam. „Und Pflanze gegen Feuer.“ „Stimmt, aber das ist noch nicht alles.“ Die Kinder schweigen. Schließlich hebt Oliver vorsichtig eine Hand. Froh, ihn aus der Reserve gelockt zu haben, nicke ich ihm zu. „Feuer hat Schwächen gegen Wasser, Boden und Gestein“, sagt er und ich nicke. „Es ist effektiv gegen Pflanze, Eis, Käfer und Stahl.“ „Ganz genau“, sage ich und lächle. „Gut gemacht.“ Die letzte Stunde des Trainings verfliegt und ich nutze die Zeit, um die Fortschritte mit den Kinders zu besprechen und ihre Pokémon mit meinem Pokédex zu analysieren. Pünktlich um viertel vor zwei klatscht Maria laut in die Hände und die Schüler stellen sich geordnet in Zweierreihen auf. Danach treten wir den Rückweg an. An der Hauptstraße trennen Louis und ich uns von der Gruppe und machen uns auf den Weg in die Stadt. Louis kauft einen roten Wollschall von den lokalen Voltilammherden und begleitet mich danach in den Elektroladen. Ich gehe schnurstracks in Richtung der Radios und setze mich im Schneidersitz vor eins der laufenden Geräte. Louis nimmt neben mir Platz und gemeinsam lauschen wir der Musik, bis eine Tonfolge die 15:00 Uhr Nachrichten ankündigt.   „Willkommen zu den 15:00 Uhr Nachrichten, liebe Zuhörer! Hier spricht ihr Lieblingsradiosprecher, Daniel, und ich habe gleich gute Neuigkeiten: Einige Team Rocket-Mitglieder sind nahe des Felstunnels in Kanto von Noah und der Rockey Spezialeinheit besiegt und verhaftet worden. Die Verhöre weisen allerdings auf eine weit gestreute Organisation hin, deren Pläne noch lange nicht durchkreuzt sind. Die in Azalea City gesichteten Mitglieder sind weiterhin auf freiem Fuß, wurden aber ein zweites Mal in den Alph-Ruinen nahe Viola City-“   Ich schaue hysterisch zu Louis, dessen Mund offen steht. Er hat Holly wie angekündigt wegen Ruths Telefonnummer kontaktiert und ihr bei der Gelegenheit von Mel und Teal berichtet, aber ich habe nicht erwartet, dass diese Informationen so schnell an die Öffentlichkeit gelangen würden. Während Daniel über die wachsenden Bikerprobleme westlich von Teak City und die im November anstehenden Pokémon-Ausstellung auf der M.S. Love berichtet, unterdrücke ich ein Zittern. Wenn Mel und Teal die Nachrichten hören, werden sie wissen, dass wir überlebt haben. Niemand sonst weiß von ihrem Auftauchen an den Ruinen, außer Prof. Stein. „Sie werden uns suchen“, flüstere ich und Louis stöhnt. „Ich hätte Holly nichts sagen sollen…“, knurrt er frustriert und fährt sich durchs Haar. „Sie hat mich ausgequetscht, Abby, ich schwöre es!“ „Es ist nicht deine Schuld“, erwidere ich und schaue zurück zum Radio. „Holly hätte die Informationen nicht rausgeben dürfen. Hoffen wir, dass sie immerhin Ruth erreicht hat.“   „-stürmischer. Der Sommer ist nun endgültig vorbei, aber ab Oktober werden die Kältefronten wieder von mehr Sonnenschein begleitet sein. Bis dahin heißt es: Ausharren. Das war das Wetter, aber schalten sie noch nicht ab, denn nach den diesjährigen Sommerhits erwartet sie PCN´s Live Podcast mit Alfred Phirello und Jessy Hawk und der lohnt sich dieses Mal für alle Pokémonfans, die es kaum noch bis zur Championship erwarten können!“   Louis steht auf und macht Anstalten zu gehen, aber als ich mich nicht vom Fleck rühre, hält er inne. „Kommst du?“ „Machst du Witze?“, frage ich. „Alfred und Jessy sind gleich Live, das lasse ich mir doch nicht entgehen!“ Pflichtbewusst setzt Louis sich wieder zu mir auf den Fußboden. Aus dem Radio klimpern die beliebtesten Lieder der vergangenen Saison und ich denke wehmütig an die sonnigen Tage im August zurück. Hoffentlich wird es nicht zu kalt, bevor ich mein erstes Gehalt bekomme. Ich muss mir noch zu viele Dinge kaufen, die nicht warten können. Gegen halb vier verklingt die Musik und ein breites Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht. Ich schaue aufgeregt zu Louis hinüber, der nur verständnislos den Kopf schüttelt, dann geht es los.   „3. 2. 1. Go! Hallo, meine lieben Zuhörer! Ich bin Alfred…“ „…und ich bin Jessy. Willkommen bei unserem Live Podcast am Montagnachmittag. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, du, Alfred?“ „Oh nein, ich bin schon ganz außer mir vor Aufregung!“ „Was steht heute auf unserem Programm?“ „Eine hervorragende Frage, die ich sofort beantworten werde, sobald wir diese ausgewählten Radiobriefe vorgelesen haben. So wie jeden Montag werden wir drei Briefe verlesen, die uns zugesendet wurden und hoffen, dass sie den oder die Richtige erreichen. Jessy, wärst du so gut?“ „Natürlich. Unser erster Brief ist von Natascha aus Ebenholz City. »Liebes PCN-Team, ich wohne in Ebenholz City und kann aus beruflichen Gründen kein Dragonir fangen. Ich möchte aber unbedingt eines haben und würde dafür gerne mein Dodri eintauschen. Bitte verlest meine Nachricht, damit ich mir endlich meinen Traum erfüllen kann.« Na, das nenne ich Leidenschaft!“ „Also ihr Trainer da draußen, wenn ihr zufällig ein Dragonir übrig habt und auf der Suche nach einem Dodri seid, dann stattet Natascha in Ebenholz City doch mal einen Besuch ab.“ „Was haben wir noch, Alfred?“ „Der zweite Brief kommt von Natalie aus Orania City. Sie schreibt: »Sehr geehrtes PCN, meine Tochter ist vor etwa einem Monat von zu Hause abgehauen und ich weiß nicht, wo sie ist. Bitte helft mir, meine Abbygail zu finden, ich bin schon ganz krank vor Sorge.« Tja, liebe Natalie, so ist das mit den Kindern, sie machen, was sie wollen. Ich glaube aber, ihre Tochter wird sich durchschlagen, wo immer sie ist. Und an Abby, denn ich bin sicher, dass du zuhörst, melde dich doch etwas öfter bei deiner armen Mama.“ „Der dritte Brief ist von-“   Ich stöhne laut und reibe mir die Schläfen. „Das ist nicht ihr Ernst…“, murmele ich verzweifelt, dann raufe ich mir durchs Haar und stoße ein wütendes Argh aus. „Das ist das Peinlichste, was mir je in meinem Leben passiert ist.“ Louis grinst nur schamlos und ich schlage nach ihm. Er weicht geschickt aus. „Ich find´s niedlich“, sagt er und ich schüttele fassungslos den Kopf.   „-geholfen. Aber nun zu unserem eigentlichen Thema des Tages. Sie haben gewählt, liebe Zuhörer und das Thema, für das ganze 74% von Ihnen gevotet haben, heißt…“ „Vorbereitung der Favoriten!“ „Ein wundervolles Thema, Jessy, ich bin gerührt. Als hätte man meine Gedanken gelesen.“ „Fangen wir an! Richard Lark unterwirft sich gerade einem frostigen Training in den Seeschauminseln, will aber gleich nach der diesjährigen Championship die achte Arenaleiterin Claire herausfordern und seinen letzten Orden erringen. Genevieve Kellers Aufenthaltsort ist derzeit nicht bekannt, sie scheint aber in Johtos Kampfzone gesichtet worden zu sein, so wie auch nahe der Siegesstraße.“ „Wie sieht es mit Raphael Berni aus, Jessy?“ „Raphael hat sich klammheimlich aus dem Staub gemacht, aber inzwischen haben wir Informationen erhalten, laut derer er in Hoenn sein Team trainiert. Auch er will jedoch pünktlich zur Championship zurück sein.“ „Sie können es sich wahrscheinlich denken, liebe Zuhörer, aber von Zacharias Stray fehlt jede Spur. Wenn sie ihn zufällig sichten, melden sie sich bei uns, wir sind für alle Hinweise dankbar.“ „Sein Name macht ihm alle Ehre, nicht wahr, Alfred?“ „Allerdings. Dabei sollte er leicht zu erkennen sein. Pechschwarzes Haar, eisblaue Augen, blasse Haut, das Gesicht eines Gotts, sie können ihn nicht übersehen!“   Wir lauschen auch dem Rest des Podcasts, aber mehr Informationen über die derzeitigen Aufenthaltsorte werden nicht preisgegeben und ich frage mich, ob Raphael sich jetzt auch in Hoenn verkleiden muss, um nicht von Reportern belästigt zu werden. Aber ich bin lieber der Jäger als der Gejagte. Ich muss nur noch einen Einstieg ins Business finden, dann kann es losgehen. Als ich schließlich aufstehe, sind meine Beine steif und mein Po platt gesessen. Louis geht es nicht besser, er stöhnt und schimpft und massiert seine eingeschlafenen Waden. Ich lache.   ooo  „Alle mal aufpassen!“, rufe ich am Dienstagmittag und winke meine Kleingruppe von elf Schülern zu mir. Klasse B ist älter als Olivers, aber als sie Gott sehen, laufen sie aufgeregt zu mir. Eine Entwicklung sieht man eben nicht jeden Tag. Gott greift seinen Gegner, ein kleines Taubsi, mit einem kraftvollen Ruckzuckhieb an, sein kleiner blaugrüner Körper schießt durchs hohe Gras, nur um einen Sekundenbruchteil später gegen Taubsi zu prallen. Das Taubsi wimmert und fiept, dann sackt es bewusstlos ins Gras und ich laufe aufgeregt zu Gott hinüber, der sich auf seine Hinterbeine gesetzt hat und mich anschaut. Seine Rückenflamme lodert auf, dann beginnt er, zu leuchten. Sein Körper streckt sich, die Gliedmaßen wachsen und die lange Schnauze verkürzt sich. Als das Licht in feinen Schuppen von Gott abfällt, steht ein frisch entwickeltes Igelavar vor mir. Seine Größe hat sich verdoppelt und er schaut mich mit Augen wie schwarze Kohlen an. Ich gehe neben ihm auf die Knie und streiche ihm über den Kopf. „Gut gemacht, Partner“, flüstere ich und Gott fiept, seine Stimme jetzt etwas tiefer. Er klingt sehr zufrieden.   Nachdem ich mich um zwei Uhr von Frau Lock und der Schulklasse trenne, um Louis zu suchen, klingelt plötzlich mein Handy. Immer noch auf der Straße stehend, lege ich das Telefon schnell an mein Ohr und lehne mich gegen eine Hauswand. „Hallo?“, frage ich misstrauisch. „Hi Abby“, begrüßt Maya mich knapp. „Was gibt´s?“ „Ich dachte, es interessiert dich vielleicht, dass Team Rocket wieder gesichtet worden ist“, sagt sie kühl und ich packe mein Handy automatisch fester. „Wo? Wann?“ „Gestern, hier in Marmoria. Du warst letztens ziemlich scharf auf die Details, deswegen dachte ich, ich sage Bescheid, bevor du mich wieder täglich ausquetschst. Wahrscheinlich kommt es bald in den Nachrichten.“ „Was ist passiert?“, frage ich und lehne mich gegen eine kalte Hausfassade. Gott setzt sich auf seine Hinterbeine und schaut mich fragend an. „Ich bin nicht sicher“, gesteht Maya. „Ich war mit meinem Team im Mondberg Fossilien ausgraben und habe in einem der Hauptgänge Pause gemacht. Dann habe ich ein Geräusch gehört, mich umgedreht und einen Jungen ganz in Schwarz gesehen. Er ist sofort hinter der nächsten Ecke verschwunden. Ich habe die Polizei gerufen, aber außer neuen Löchern haben die nichts gefunden.“ „Ein Junge…“, murmele ich nachdenklich. „Wie alt, was schätzt du?“ „Du fragst Sachen, Abby, ohne Mist.“ Maya schweigt einen Moment. „Keine Ahnung, vielleicht so fünfzehn, sechzehn? Ich hab ihn nicht gut gesehen, aber für einen Erwachsenen war er zu klein. Könnte dieser ominöse Jugendliche sein.“ Fünfzehn. Ich habe immer noch niemandem von der Identität des jungen Rocket Mitglieds berichtet, aber vielleicht ist das meine Chance. Wenn ich mehr über diesen Dark erfahre, werde ich vielleicht eine richtig gute Story kriegen. Immerhin scheint er der Sohn dieses Atlas zu sein. „Danke für die Information“, sage ich. Dass Maya sich freiwillig bei mir meldet, hätte ich nie erwartet, aber ich bin sehr froh über diese neue Quelle. „Was auch immer“, erwidert Maya mürrisch. „Ich melde mich, wenn etwas passiert, also erkundige dich bitte nicht mehr dauernd bei mir, okay?“ „Versprochen“, sage ich grinsend, dann legt Maya auf. Ich stecke mein Handy wieder ein und mache mich auf den Weg zu Louis, der mit Harley zurück auf Route 32 gegangen ist. Seit sie Giftpuder erlernt hat, fällt ihm das Training auf Route 31 zu leicht.   Ich finde Louis nicht weit von der Stadt entfernt, nahe der Stelle, wo er von dem Trainer mit Lederjacke in den Boden gestampft wurde. Harley windet sich im Wind, die Wurzeln in der Erde verankert und weicht den Attacken des gegnerischen Rattfratz mühelos aus. Louis sitzt zwei Meter entfernt auf einem breiten Stein und beobachtet gelangweilt das Geschehen. „Hey!“, rufe ich ihm zu und als er den Kopf hebt, wird seine griesgrämige Miene durch ein breites Lächeln mit Zahnlücke ersetzt und er rutscht zur Seite, um mir auf dem Stein Platz zu machen. „Glückwunsch“, sagt er und nickt in Richtung Gott, der mit angelegten Ohren am Fuß des Steins sitzen bleibt und ihn misstrauisch beobachtet. Er ist wirklich nicht gut auf andere Menschen zu sprechen. Gestern Nacht haben er und Sku sich wieder angefaucht, bis Sku den Dominanzkampf mit einem abgeschwächten Schlitzer beendet hat. Noch ist sie stärker, aber Gotts Training geht zügig voran und ich bezweifle nicht, dass er schon bald eines meiner stärksten Pokémon sein wird. „Wie läuft das Training?“, frage ich Louis und er zuckt die Achseln. „Harley ist nicht wirklich schnell, aber ihre Attacken sind ziemlich stark und sie weicht gut 50% aller gegnerischen Angriffe aus. Aber außer neuen Pudern hat sie noch nichts gelernt.“ „Welcher Level ist sie?“ „Keine Ahnung, du hast den Pokédex“, erwidert Louis und erteilt Harley den Befehl zu einem Rankenhieb.   Laut Pokédex ist Harley inzwischen auf Level 16 und bis wir uns am späten Nachmittag auf den Rückweg zu Heikes Haus machen, erreicht sie Level 17 und erlernt Stachelspore. Jetzt mit drei Statusattacken ausgestattet, ist sie nicht zu unterschätzen. „Du könntest den Knofensaturm herausfordern“, meine ich, als wir an diesem Abend in unseren Schlafsäcken liegen und leise miteinander reden. „Harley würde alle platt machen.“ „Wahrscheinlich“, erwidert Louis, aber seine Stimme klingt nachdenklich. „Was denkst du ist dieses Item, von dem Mathilda geredet hat?“ „Wenn du mich fragst, weiß sie das selber auch noch nicht“, sage ich und Louis gluckst. „Kann gut sein.“ „Aber wenn du gegen diesen Weisesten gewinnst, wirst du es erfahren.“ Ich drehe den Kopf und schaue zu ihm hinüber. Eins von Louis´ Augen ist bereits geschlossen. „Danach kannst du immer noch weiter trainieren.“ Louis nickt müde und gähnt. „Vielleicht hast du Recht…“, murmelt er schlaftrunken. Ich schaue wieder an die Decke. Ich öffne den Mund, um noch etwas zu sagen, da höre ich Louis´ leises Schnarchen und verstumme. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Kapitel 35: Prioritäten (Blitz und Kreide) ------------------------------------------ Die nächsten Tage verlaufen friedlich. Louis trainiert weiterhin auf Route 32, während ich die Vormittage mit den Schulklassen auf Route 31 verbringe und danach im Elektronikgeschäft dem Radio lausche. Bisher sind alle meine Schüler respektvoll geblieben, aber der Freitag stellt mich auf die Probe. „Abby?“, fragt Katharina, eines der wenigen Mädchen meiner Neunergruppe. Ihr pechschwarzes Haar reicht ihr bis zum Po und ihre runde Brille erinnert mich an die von Raphael. „Luka und die anderen sind schon wieder abgehauen.“ Ich reibe mir die Schläfen, nicke ihr dankbar zu und rufe Gott zu mir, der etwas weiter entfernt im Gras liegt und ein Nickerchen macht. Als er meine Stimme hört, springt er auf und kommt in langen Sprüngen auf mich zu. Ich zurre meinen Zopf zu Recht und mache ich mich auf die Suche nach Luka. Luka und seine beiden Freunde Ron und Alphonse haben seit der Gruppenzuweisung nichts als Unsinn im Kopf. Dass ich nur vier Jahre älter bin, macht die Sache nicht gerade leichter und so haben sich die drei schon mehrmals von der Gruppe entfernt. Maria ist davon nicht begeistert, aber ich glaube, sie hofft darauf, mir aus der Angelegenheit einen Strick zu drehen. Es geht ihr sehr gegen den Strich, dass ich mit den Kindern so gut klar komme. Na ja, mit den meisten. Gott dicht auf den Fersen schlage ich mich durchs hohe Gras. Wilde Pokémon besiegt er inzwischen mit einer einzigen Attacke und so kann ich ungestört dem platt getretenen Gras folgen. Die Spur führt mich bis an den Fuß der Felswand, die auf halber Strecke der Route in die Höhe ragt und dem hohen Gras ein Ende bereitet. Rechts von mir ist Nadelwald, so dicht, dass man kaum zwischen den Bäumen hindurch kommt, zu meiner Linken steigt das Gelände an und führt schließlich Richtung See. Ich schaue mich um, aber außer dem einen oder anderen Trainer, der hier trainiert, ist niemand zu sehen. Plötzlich panisch jogge ich den Hang hinauf. Was, wenn sie in den See gefallen sind? Im nächsten Moment kommt mir der Gedanke lachhaft vor, aber ich bleibe trotzdem nicht stehen, bis ich keuchend auf dem fest getretenen Pfad stehe und mir die Seiten halte. Gott taucht wenige Sekunden später neben mir auf und faucht leise, als er einen Trainer sieht, der sich am Seeufer ausruht. Ich drehe mich einmal im Kreis. Von hier aus kann die gesamte Wiesenfläche und den Pfad sehen. Von Luka und den Anderen keine Spur. Dann sind sie wohl in Richtung Dunkelhöhle, denke ich unwirsch und stapfe los. Die letzten Male konnte ich sie im hohen Gras abfangen, bevor sie sich zu weit entfernt hatten, aber dieses Mal war ich wohl zu langsam. Ohne Kathis Hinweis wäre mir ihr Verschwinden womöglich überhaupt nicht aufgefallen. Dem Pfad Richtung Osten folgend erreiche ich schon bald den Aufstieg der Felswand, eine rudimentäre, in den Stein gelaufene Treppe, die gute drei Meter in die Höhe führt. Ich laufe die Stufen hinauf und stütze mich oben angekommen auf meine Knie. Wenn ich am Ende dieser Woche nicht fit bin, weiß ich auch nicht weiter. Ich folge dem Weg zwischen hoch gewachsenen Bäumen, bis dieser sich weitet und die dunklen Konturen der Dunkelhöhle preisgibt. Niemand ist zu sehen. Ich jogge das restliche Stück und bleibe dann vor dem Eingang stehen. Aus dem Inneren der Höhle strömt mir nur unendliche Schwärze entgegen und ich wende mich nach Süden. Hohes Gras sprießt in die Höhe und bedeckt die gesamte Breite des Weges. Weiterhin keine Spur von den drei Jungs. „Mist…“, murmele ich und schaue wieder zur Höhle zurück. So dumm können sie nicht gewesen sein. Niemand geht unvorbereitet in die Dunkelhöhle. Gott läuft an mir vorbei zum Eingang und schaut vorsichtig hinein. Dann faucht er, so wie er es immer tut, wenn er andere Menschen sieht. Also ist tatsächlich jemand in der Höhle. Ich seufze und gehe Richtung Eingang. Seit unserer Verschüttung in den Alph-Ruinen habe ich wirklich keine Lust darauf, mich wieder durch absolute Dunkelheit schlagen zu müssen. Als könnte er meine Gedanken hören, glühen Gotts Rückenflammen stärker auf und werfen zittrige Schatten durch den Höhleneingang. „Danke“, sage ich und tätschele seinen Kopf, dann hole ich tief Luft und trete ein. Die Dunkelhöhle macht ihrem Namen alle Ehre. Es ist nicht nur stockduster, die Höhle scheint irgendwie alles Licht zu schlucken, denn trotz Gotts lodernder Flamme kann ich kaum zwei Meter weit sehen. „Hallo?“, rufe ich zaghaft, aus Angst, eine Steinlawine oder ähnliches auszulösen, aber außer dem Echo meiner Stimme höre ich nichts. „Luka? Al? Ron?“ Ihre Namen zu rufen erweist sich als genauso sinnlos, trotzdem gebe ich nicht auf. Ich werde nicht ohne die drei zu Frau Lock zurückkehren, oh nein. Das könnte ihnen so passen. Gott läuft voran und beleuchtet meinen Weg durch das Labyrinth aus Tropfsteinen, Felswänden und Gesteinsbrocken, die auf dem Boden liegen und einige der Passagen blockieren. Ich folge dem einzigen Weg so lange, bis meine Nerven blank liegen. Es ist dunkel, jede Steinformation sieht im Halbschatten aus wie ein Monster und mehr als einmal höre ich über mir ein Knirschen oder das Klackern kleiner Steine auf dem Höhlenboden. Plötzlich höre ich ein Klacken, gefolgt von einem gespenstischen Stöhnen. Ich drehe mich ganz langsam in Richtung des Geräuschs um. „GAAAHH!“ Eine dunkle Gestalt steht auf einem der umstehenden Felsvorsprünge und murmelt leise. Ich sinke zu Boden und rutsche rückwärts von dem Wesen weg. Plötzlich spüre ich Finger, die sich auf meine Schulter legen und ich kreische, schlage um mich. Ich höre nur noch Gotts lautes Fauchen, dann Schreie und das Klackern von Krallen auf Fels. Immer noch die Hände über den Kopf geschlagen, schaue ich auf, Tränen in den Augen. Gotts Maul ist um Lukas Arm geschlossen, Luka schreit wie am Spieß und schlägt nach Gott, der nicht locker lässt. Seine Rückenflamme lodert heller denn je. Al taucht hinter einem der Felsen auf und als ich mich umdrehe, entdecke ich Ron. Es waren seine Hände auf meinen Schultern – und Luka war anscheinend die murmelnde Gestalt. Meine Angst verwandelt sich augenblicklich in Wut und ich stehe auf. Meine Hände sind aufgeschrammt und blutig. „Er soll mich loslassen!“, winselt Luka und ich spiele mit dem Gedanken, Gott nicht zurück zu rufen. Aber als ich Lukas schmerzverzerrtes Gesicht sehe, gebe ich nach. „Gott, komm her“, rufe ich ihm zu. Er lässt augenblicklich von Lukas Arm ab und kommt an meine Seite getrottet, wo er sich beschützend neben mir aufstellt und bedrohlich knurrt. „Findet ihr das lustig?“, frage ich wütend und bin dankbar für Gotts lang gezogenes Knurren, das meiner Stimme den nötigen Nachdruck verleiht. Er bäumt sich neben mir zu seiner vollen Größe auf und das Feuer auf seinem Rücken lodert heftig. Luka umklammert seinen Unterarm und schaut zur Seite. Al tritt neben ihn und erwidert stur meinen Blick. „Wir wollten dich erschrecken, damit du uns in Ruhe lässt“, sagt er und macht einen Schritt nach vorne. „Du musst nicht gleich dein Pokémon auf uns hetzen!“ „Das werden wir Frau Lock sagen“, fügt Ron hinzu und ich lache humorlos auf. „Ich werde ihr sagen, dass ihr drei heute schon mehrmals abgehauen, in diese Höhle gegangen seid und mir im Dunkeln aufgelauert habt.“ Die Jungs verstummen und ich seufze. „Hört mal“, sage ich dann und versuche, etwas versöhnlicher zu klingen. „Ich bin nicht euer Feind. Ihr werdet mich nach heute noch genau einmal sehen, danach habt ihr wieder eure Ruhe vor mir. Können wir bis dahin nicht einfach zusammenarbeiten?“ Luka schaut zu Al hinüber, der mit den Schultern zuckt. Er ist groß für einen Elfjährigen und seine braunen Locken fallen ihm schwitzig ins Gesicht. Neben dem kopfkleineren Luka wirkt er umso älter. Es ist Ron, der als erster das Schweigen bricht. Seine Sommersprossen bedecken sein Gesicht und seine Arme so dicht, dass ich die Hautfarbe darunter nur erahnen kann. „Lässt du uns alleine trainieren?“, fragt er und ich seufze. „Seid ihr deshalb abgehauen?“, frage ich ungläubig. „Weil ich euch Tipps gegeben habe?“ „Wir kommen alleine zurecht“, erwidert Luka unwirsch und ich reibe mir die Augen. „Meinetwegen. Solange ihr in Sichtweite bleibt, lasse ich euch in Ruhe“, stimme ich zu. „Aber wenn ihr nochmal abhaut, weiß Frau Lock schneller von eurer Aktion hier Bescheid, als ihr Pokémon sagen könnt.“ Sie zögern noch einen Moment, dann nickt Luka schließlich. „Einverstanden.“ „Fein.“ Ich schweige einen Moment, dann gehe ich zu den Dreien. „Lass mal deinen Arm sehen.“ „Der ist okay!“, zischt Luka, aber ich packe sein Handgelenk und betrachte Gotts Bisswunde. Sie ist nicht so tief, wie ich befürchtet habe, aber ich will trotzdem eine Infektion ausschließen. „Wenn wir zurückgehen, bringen wir dich zu Frau Lock“, sage ich entscheiden, bevor Luka seinen Arm losreißt. „Sie hat bestimmt Verbandszeug.“ „Brauche ich nicht“, murmelt Luka gereizt und ich unterdrücke ein gehässiges Grinsen. „Ich kenne jemanden, der in Azalea City wohnt“, sage ich und schaue Luka ernst an. „Er ist auch von einem Pokémon gebissen worden und hat die Wunde nicht behandeln lassen.“ Ich mache eine Pause und wie erwartet hakt Luka nach. „Und?“, fragt er und ich beuge mich zu ihm nach vorne. „Jetzt hat er nur noch einen Arm.“ Luka schluckt. Ich drehe mich um. „Naja, es ist dein Arm. Ich zwinge dich zu nichts.“ Dann gehe ich zurück Richtung Ausgang, Gott dicht vor mir. Ich lausche und atme erleichtert aus, als ich die Schritte hinter mir wahrnehme. Der Rückweg fällt mir leichter, vielleicht deshalb, weil ich nicht mehr ganz alleine bin. Plötzlich höre ich hinter mir einen Knall. „Was ist?“, frage ich, als ich mich umdrehe und die drei Jungen sehe, die um etwas herum stehen. „Nichts. Nur ein Stein“, meint Ron und ich komme zu ihnen. „Runtergefallen?“, frage ich und schaue misstrauisch zur Decke hoch. Wenn einem von uns so ein Ding auf den Kopf fällt, war´s das. „Nein, er ist aus der Wand gebrochen.“ Al deutet auf den Felsen zu meiner Linken und ich winke Gott zu mir, der sich mit dem Rücken zur Wand platziert. Etwa auf Schulterhöhe entdecke ich ein großes, rundes Loch, dass in die Wand hinein gebrochen ist. Ich betaste vorsichtig die Innenseiten, dann den Stein, der zerbrochen auf dem Boden liegt. Der Bruch geht gegen die Maserung und die Größe… „Gott, etwas mehr Licht bitte.“ Gott brummt, dann entflammt sein Rücken mit neuer Intensität. Der Lichtschein breitet sich an der Wand aus und ich fahre mit den Fingern langsam über den Fels. Nur weniger Meter weiter in der Höhle ertaste ich die Einkerbungen, nach denen Louis, Maisy und ich schon im Einheitstunnel gesucht haben. Ich habe elf solche Rillen gefunden und die lose gemachten Steine daraus entfernt. Ich weiß, wann ich Team Rocket Löcher vor mir habe. „Was suchst du?“, fragt Al und ich lasse meine Hand sinken. „Nichts“, lüge ich und kehre zu ihnen zurück. „Kommt, wir werden bestimmt schon vermisst.“   Kaum, dass wir den Hauptpfad erreicht haben, lasse ich die Jungen vorlaufen und ziehe mein Handy aus meiner Tasche. Es ist schon halb zwei. Wenn ich jetzt anrufe… Ich wähle 01010 und warte auf das Freizeichen. "Polizeiwache Dukatia City, mit wem spreche ich?" „Hallo, hier ist Ab-“ Ich höre ein Klicken, dann ertönt Musik. Geduldig warte ich, bis Holly abnimmt und mich brüsk begrüßt. „Abby.“ Sie klingt wenig begeistert. „Hallo Holly“, sage ich und verziehe das Gesicht. „Es tut mir furchtbar Leid, dass ich schon wieder anrufe.“ Ein Seufzen. „Was hast du für mich?“ „Ich glaube, Team Rocket hat auch in der Dunkelhöhle auf Route 31 Löcher platziert. Ich habe nur zwei gefunden, es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen. Aber sie sind genauso groß wie die im Einheitstunnel und fühlten sich genauso an.“ Holly schweigt. Als sie schließlich spricht, klingt sie zu kontrolliert, selbst für ihre Verhältnisse. „Das ist beunruhigend. Wenn du Recht hast, macht das drei Höhlen.“ „Mondberg, Einheitstunnel, Dunkelhöhle…“, zähle ich auf und stelle mir die drei Höhlen auf einer großen Karte vor. „Aber das sind doch-“ „Verbindungen zwischen Städten“, beendet Holly meinen Gedankengang. „Dementsprechend sind mit Sicherheit noch weitere Höhlen betroffen. Ich werde mit meinen Vorgesetzten sprechen müssen.“ „Was ist mit der Dunkelhöhle?“, frage ich und drehe mich zu dem Eingang um. Die Schwärze scheint geradezu heraus zu strömen. „Ich schicke Jack vorbei, er soll sich die Löcher ansehen. Kannst du vor dem Eingang auf ihn warten? Das beschleunigt die Suche.“ „Klar, kann ich machen.“ „Und Abby?“ „Ja?“ „Danke für deine Hilfe“, sagt Holly nach einer kurzen Pause und ich ziehe überrascht die Augenbrauen nach oben. „Deine Hinweise sind hilfreich, auch wenn ich mir wünschte, dass du nicht beteiligt wärst. Aber einen Insider auf Reisen zu haben ist praktisch. Wenn du mehr Löcher findest, zögere nicht, mich anzurufen.“ Sie gibt mir ihre private Handynummer durch und ich kratze sie hastig mit einem Stock in den Boden. „Übrigens“, sage ich, als ich fertig mitgeschrieben habe und spüre, dass Holly auflegen will. „Hast du gestern die Nachrichten gehört?“ „Natürlich. Warum?“ „Sie haben davon berichtet, dass Team Rocket-Mitglieder in den Alph-Ruinen gesichtet wurden“, sage ich. „Mel und Teal sind nicht dumm. Wir sind die einzigen, die sie gesehen haben könnten. Sie werden wieder nach uns suchen.“ Holly schweigt, dann seufzt sie genervt. „Das tut mir Leid“, sagt sie dann, aber sie klingt eher wütend. „Ich werde diese Informationen nicht mehr an andere Polizeimitglieder weitergeben. Danke für deinen Hinweis, Abby. Bis dann.“ „Bis dann“, sage ich noch, aber da hat sie schon aufgelegt. Gott knurrt leise und reibt sich dann gegen mein Bein, seine Flammen so weit herunter gefahren, dass sie meine Hose nicht mehr ansengen können. Gemeinsam folgen wir dem Pfad bis zu der Steintreppe. Von hier aus habe ich einen guten Überblick über den Rest der Route und kann sehen, dass Frau Lock die Schüler schon zusammentrommelt. Wie erwartet ignoriert sie mein Fehlen und macht sich alleine mit den knapp zwanzig Schülern auf den Rückweg zur Schule. Ich gehe zurück zum Höhleneingang und lasse mich gegen die Steinwand gelehnt zu Boden gleiten, wo ich es mir im Schneidersitz bequem mache, Hollys Nummer einspeichere und Louis eine SMS schreibe, damit er weiß, dass ich später komme. Dann warte ich.   Jack taucht erst eine gute halbe Stunde später auf. Als ich ein lautes Brummen höre, hebe ich den Kopf von meinen Knien und entdecke ein Motorrad, das in meine Richtung brettert. Unter dem Helm kann ich sein Gesicht nicht erkennen, aber die blaue Uniform spricht für sich. Vor dem Treppenaufstieg bremst er, steigt ab und zieht seinen Helm von seinem Kopf. Dann steigt er zu mir hinauf und begrüßt mich mit erhobener Hand. Gott knurrt bedrohlich und ich rufe ihn kurzerhand zurück. Ich habe jetzt keine Zeit für seine Feindseligkeiten. „Abby, gut, dich zu sehen.“ „Gleichfalls.“ Ich schaue an ihm vorbei, aber außer Jack ist niemand zu sehen. „Bist du ganz alleine?“, frage ich und er kratzt sich am Kinn. „Wir sind etwas unterbesetzt, seit Team Rocket überall auftaucht und Löcher in Höhlenwände gräbt. Dann noch die Sache in Teak City…“ Ich folge ihm ins Innere der Dunkelhöhle. Absolute Schwärze umfängt uns und ich greife nach Gotts Pokéball, aber da schießt schon ein roter Lichtblitz aus Jacks Hand hervor. „Blitz, Pachi“, sagt er und ich höre ein leises Kichern, bevor Licht in alle Richtungen explodiert, von den Wänden hin und her geschleudert wird und in Sekundenschnelle die kriechende Dunkelheit vertreibt. Mit einem Mal ist die Höhle nicht mehr so beängstigend wie noch vor einer Stunde. Pachi entpuppt sich als ein pummeliges Pachirisu, das mit zufrieden verschränkten Ärmchen auf dem Felsboden hockt, der buschige weißblaue Schweif auf und ab schlagend. „Deins?“, frage ich und gehe in die Knie, um das Pokémon zu streicheln, aber Jack schüttelt den Kopf. „Eins von den öffentlichen Pokémon unserer Polizeistation. Blitz ist in manchen Höhlen sehr hilfreich, wird aber nur selten gebraucht, deswegen verleiht die Station Pokémon mit speziellen Attacken, wenn sie gebraucht werden.“ Ich nicke und erhebe mich. „Was meinst du mit der Sache in Teak City?“, frage ich, während wir zu der Stelle gehen, an der ich das erste Loch in Erinnerung habe. Auf dem Weg dorthin entdecken wir noch andere Stellen, die verdächtig aussehen. Jack markiert sie mit einem kleinen Stück Kreide. „Die Biker sind dieses Jahr ein großes Problem“, sagt er nach einer Weile. „Bisher sind sie hauptsächlich in Kanto geblieben, aber anscheinend breitet sich alles Übel jetzt auch nach Johto aus. Jedenfalls lauern sie nahe Teak City jungen Trainern und alten Menschen auf, bestehlen sie oder kämpfen in Gruppen gegen einzelne Trainer, um ihnen ihr Geld abzuknüpfen.“ Ich verziehe das Gesicht. „Vor zwei Jahren ist eine Gruppe bis nach Orania City gekommen“, sage ich und Jack nickt wissend. „Sie breiten ihr Territorium aus. Mir wäre es egal, ich bike auch ab und zu, aber dass sie Kinder belästigen, geht zu weit. Leider sind wir zu wenige, um uns auch noch darum zu kümmern. Team Rocket ist derzeit die größere Bedrohung.“ „Kann man nicht stärkere Trainer organisieren, die die Biker verscheuchen?“, frage ich, kurz bevor wir den herausgefallenen Stein erreichen. Jack geht daneben in die Hocke und befühlt mit Handschuhen die Steinkanten. „Fände ich super“, sagt er schließlich und zieht eine Kamera aus seiner Tasche. Dann macht er einige Fotos von dem Licht und dem Stein und bedeutet mir, ihn zum nächsten Loch zu führen. „Aber die heutigen Kids sind ja nur mit Orden und Turnieren beschäftigt. Und die wirklich guten Trainer wie Gold und Noah müssen ohnehin schon den Großteil der Team Rocket Probleme schultern.“ „Warum?“ „Weil die Polizeieinheit nicht viel Zeit für das Training hat“, sagt Jack und es klingt verbittert. „Bis vor zwei Jahren hat die Einheit nur aus Vorsicht und Gewohnheit existiert, niemand hat damit gerechnet, Team Rocket könnte tatsächlich ein drittes Mal wieder auferstehen. Wir sind auf normale Einsätze geschickt worden und jetzt sind alle furchtbar überrascht, dass unsere Pokémon unterlevelt sind. Die unteren Ränge sind kein Problem, aber ab Rang drei wird es für uns problematisch. Wir vermuten derzeit, dass die Vorstände und die Rockets von Rang eins auf einem ähnlichen Niveau wie die Top Vier stehen.“ „Das kann nicht sein“, murmele ich, geschockt. Dann wiederum… Ich erinnere mich an Teals Sengo, das Sku im Nu ausgeschaltet hat. Das die Ruinendecke zum Einsturz gebracht hat. Und Teal und Mel unterstanden Lee. Lee ist also noch stärker. Und er ist vermutlich nicht mal Mitglied des Vorstands. „Das bedeutet also, dass ihr nur im Namen für die Vernichtung der Organisation verantwortlich seid?“, frage ich und Jack schnalzt mit der Zunge. „Ich will nicht sagen, dass wir nutzlos sind“, sagt er. „Wir haben ein paar Mitglieder, die erstklassige Trainer sind und wir können Rockets allein mit unserer Zahl einkesseln und unter Druck setzen. Aber das Ende der Rockets liegt nicht in unserer Hand. Ohne die Hilfe der besten Trainer unserer beiden Regionen haben wir keine Chance.“   Gemeinsam mit Jack suche ich die Dunkelhöhle nach weiteren Löchern ab. Zusammen sind wir schneller, vor allem, weil Pachirisus Licht jeden Winkel der Höhle ausleuchtet. Außerdem kenne ich mich inzwischen mit den typischen Merkmalen aus. Innerhalb einer Stunde haben wir fünfundzwanzig Löcher ausfindig gemacht, die Jack alle mit einem kleinen Kreide-X markiert. „Danke für deine Hilfe“, sagt er, als wir fertig sind, und vor dem Höhleneingang stehen. „Kein Problem“, sage ich grinsend. „Je schneller wir Team Rockets Pläne aufdecken, umso besser, oder?“ Er klopft mir auf die Schulter. „Da hast du verdammt nochmal Recht.“   Ich treffe mich mit Louis vor dem Elektronikgeschäft, meine Geldbörse gefüllt mit wundervollen, grünglänzenden Pokédollar-Scheinen. Zehn 500 PD-Scheine, frisch aus Madeleine Dervishs wulstigen Fingern. Ich könnte singen vor Freude. Nach über einer Woche des Pleiteseins kommt mir dieses Geld wie ein Vermögen vor. Und das ist es auch. Mir ist vage bewusst, dass ich vor knapp sechs Wochen mit genau dieser Geldmenge in Richtung Dukatia City aufgebrochen bin, aber als ich Louis mit einer Umarmung begrüße und seine rote Wangen sehe, verschwinden alle anderen Gedanken aus meinem Kopf. Seit wir uns auf Ethans Rücken geküsst haben, sind fünf Tage vergangen und eigentlich hat sich unser Verhalten miteinander kaum verändert, aber manchmal, so wie jetzt, kommt die Erinnerung zurück wie ein Schlag. Ich lasse Louis schnell los. Meine Wangen müssen genauso rot sein wie seine, denn wir drehen uns in beschämtem Einverständnis zur Eingangstür um und treten ein.   „Weißt du…“, sagt Louis, als wir nur zehn Minuten später den Laden wieder verlassen und durch den feinen Nieselregen zurück zu Heikes Haus gehen „Eigentlich hätte ich es mir denken können.“ „Hättest du“, stimme ich breit grinsend zu, mein frisch gekaufter PokéCom beruhigend in meinem Rucksack verstaut. Es ist das alte Modell, aber für Radioempfang reicht es allemal. Die Kopfhörer, die es im Angebot dazugab, baumeln fröhlich um meinen Hals. Damit bin ich zwar wieder gefährlich knapp bei Kasse, aber man muss eben Prioritäten setzen. Und ohne Radio gehe ich nirgendwo mehr hin. Kapitel 36: Langersehntes Wiedersehen (Die Wette) ------------------------------------------------- Sonntagmorgen wache ich zu dem Geruch von frisch gebackenem Kuchen und dem Vibrationsalarm meines Handys auf. Verschlafen greife ich nach dem Gerät und suche den richtigen Knopf, bis mir einfällt, dass ich keinen Wecker gestellt habe. Ich drehe den Kopf zur Seite und entdecke die SMS-Benachrichtigung auf dem Bildschirm. Stutzig geworden öffne ich die Datei, lese die Nachricht und spüre dann, wie mein Mund sich zu einem gigantischen Grinsen verbiegt. Raphael ist unterwegs.   „Was hat er geschrieben?“, fragt Louis, als wir gemeinsam mit Heike und Oliver am Frühstückstisch sitzen und den Limettenkuchen genießen, den sie frisch gebacken hat. „Nicht viel“, sage ich zwischen zwei Bissen. „Nur, dass er es in Hoenn nicht mehr länger aushält und vor Mittag irgendwann eintrudelt. Er wollte wissen, wo ich gerade bin und wo er ungestört landen kann.“ „Landen?“ „Er fliegt her, Louis.“ „Oh.“ Louis starrt auf seinen Kuchen. „Klar.“ „Wer denn, Liebes?“, fragt Heike und ich zögere. Ich weiß aus Erfahrung, dass Raphael es nicht gerne mag, wenn jeder über seinen Aufenthaltsort Bescheid weiß, aber ob Heike seinen Namen überhaupt kennt, wage ich zu bezweifeln. Sie hat ja nicht mal ein Radio, geschweige denn einen Fernseher. „Ein guter Freund von mir“, sage ich schließlich. „Wir haben uns lange nicht gesehen, deswegen besucht er mich.“ „Oh, wie schön.“ „Ich habe ihm gesagt, dass ich In Viola bin“, fahre ich an Louis gewandt fort. „Aber wo kann er landen?“ „Hm…“ Louis denkt nach. „In der Stadt ist ausgeschlossen, man würde ihn wahrscheinlich sofort erkennen.“ „Ihn nicht, aber sein Pokémon“, verbessere ich. Louis weiß nicht, wie kreativ Raphael mit seinen Verkleidungen sein kann. „Am besten wäre wohl eine der Routen, oder?“, fragt er dann. „Vielleicht.“ Ich stecke ein weiteres Stück Kuchen in meinen Mund und kaue bedächtig. „Hoffen wir, dass sonntags nicht so viele Trainer unterwegs sind.“ In dem Moment vibriert mein Handy erneut und ich ziehe es schnell aus meiner Hosentasche. Es ist kalt hier oben. Wo soll ich hin? ;) Ich stehe schlagartig auf, packe Louis und ziehe ihn mit mir nach draußen. Im Laufen schreibe ich zurück. Route 31, östlich von Viola. „Er ist da!“, singe ich und Louis rennt hinter mir her. „Er ist da, er ist da!“ Meine Stimme überschlägt sich und ich kann ein Lachen nicht mehr unterdrücken. „Ganz ruhig“, lacht Louis, angesteckt von meiner Aufregung. Gemeinsam sprinten wir zum Durchgangshäuschen und kommen schwer atmend auf dem Pfad der Route 31 an. Augenblicklich schaue ich in den Himmel. Da. Ein dunkler, stetig größer werdender Schatten taucht in der Ferne auf. Gegen das morgendliche Licht sind Raphael und sein Pokémon schwer zu erkennen, aber der Wind wird stärker, Gras weht um meine Beine und ich winke mit hoch erhobenen Armen. Über uns erklingt Mandys charakteristisch heiseres Kreischen, dann zischt sie auf uns herab, landet und taumelt eine Meter weiter, bevor sie schließlich stehen bleibt. Raphaels Grypheldis ist groß für ihre Art, mit messerscharfem Schnabel und braungrauem Gefieder, das im morgendlichen Wind in alle Richtungen geblasen wird. Raphael springt stöhnend von ihrem Rücken und tätschelt ihren kahlen Hals. „Gute Arbeit.“ Als er sich zu mir umdreht, pruste ich los. Wie erwartet, hat er sich zur Unkenntlichkeit verkleidet. Sein rotes Lockenhaar ist unter einer gelben Wollmütze mit schwarzem Pikachugesicht versteckt, er trägt eine pinke Sonnenbrille und einen rostbraun karierten Wollschal, der so hoch um seinen Hals geschlungen ist, das er sein halbes Gesicht verdeckt. „Was?“, fragt Raphael und zieht seinen Schal so weit herunter, dass ich sein breites Grinsen sehen kann. „Ich habe mir ziemlich viel Mühe gegeben.“ Ich antworte nicht, sondern springe in seine Arme und lasse mich von ihm hochheben. Im letzten Jahr ist Raphael noch ein gutes Stück gewachsen, mit seinen jetzigen 1,85m ragt er einen Kopf über mir in die Höhe und hat kein Problem damit, mich einmal im Kreis um sich herum zu wirbeln, bevor er mich absetzt und an meinem nachlässig geflochtenen Zopf zieht. „Ich hab dich vermisst“, sagt er. „Ich dich auch“, sage ich, umarme ihn noch einmal und trete dann zur Seite, um Louis zu uns zu winken, der mit etwas Abstand hinter mir steht und uns mit undurchschaubarer Miene beobachtet. „Das ist Louis“, stelle ich ihn vor und die beiden schütteln sich die Hand. „Wir reisen seit Dukatia City zusammen.“ „Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagt Raphael. „Ist mir eine Ehre“, sagt Louis, aber es klingt nicht so. Ich beiße mir auf die Lippen. Wehe, die Beiden vertragen sich jetzt nicht. „Seit wann ist Mandy entwickelt?“, frage ich und deute auf Grypheldis, die ihr Gefieder putzt und hin und wieder leise Geräusche von sich gibt. „Vor kurzem war sie doch noch ein Skallyk.“ „Erst in Hoenn“, sagt Raphael und zieht seinen Schal wieder hoch, dann ruft er sie zurück. „Fliegen konnte sie da zwar schon, aber auf einem gigantischen Küken zu fliegen ist alles andere als angenehm, glaub mir das. Jetzt ist sie stärker als der Rest meines Teams, aber dafür kann ich bequemer auf ihr reiten. Und da ich bald einige Flugstrecken vor mir habe…“ Er zuckt die Achseln. Wir gehen langsam in Richtung Stadt. Raphael und Louis außen, ich in der Mitte. „Nicht, dass ich mich beschwere“, beginne ich „aber warum bist du schon hier? Ich hatte dich frühestens Ende der Woche erwartet.“ Raphael gibt ein genervtes Grunzen von sich. „Ich weiß, du lässt nichts an PCN kommen, Abby, aber manchmal gehen die mir mit ihren Talk-Shows richtig auf den Geist. Warum bin ich wohl in Hoenn? Ganz sicher nicht, damit plötzlich überall Reporter auftauchen und mich während des Trainings filmen und nach Interviews fragen. Dann landet das Ganze im Radio, ich habe die lokalen Trainer an der Backe und darf mich wieder verkleiden.“ Er reibt sich die Schläfen. „Ich habe nirgends mehr meine Ruhe. Ich wünschte, ich könnte mich genauso gut verstecken wie Zach, dann wäre mein Leben sehr viel einfacher.“ „Das ist der Preis des Erfolgs“, sage ich fröhlich und Raphael seufzt. „Ich bin in Hoenn jedenfalls zu nichts mehr gekommen. Selbst, wenn ich inkognito bin, kann mich jeder an meinen Pokémon erkennen, also dachte ich mir, ich kann genauso gut früher zu dir kommen.“ „Eine gute Entscheidung“, meine ich grinsend und werfe einen flehenden Blick zu Louis. Sein Gesicht ist ausdruckslos nach vorne gerichtet und ich wünschte, er würde irgendetwas sagen. Vielleicht war meine Begrüßung mit Raphael zu freundlich, aber verdammt nochmal, ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen! Als er meinen Blick auffängt, verzieht er den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln. „Wo warst du in Hoenn?“, fragt er und ich drücke kurz seine Hand. „Zuerst habe ich ein paar Tage Urlaub in Seegrasulb City und Moosbach City gemacht, zum Training kam aber nur die Siegesstraße in Prachtpolis City in Frage.“ „Aber du hast doch erst sieben Orden.“ Louis runzelt die Stirn. „Wieso bist du dann schon so stark?“ Raphael zieht seine Brille nach unten und zwinkert ihm zu. „Wenn du Favorit bist, überlässt du nichts dem Zufall.“  „Er will sich nur nicht blamieren.“ Ich pikse ihm in die Schulter. „Ich darf mich nicht blamieren, ganz einfach.“ Raphael seufzt. „Jedermanns Liebling zu sein ist stressig. Du darfst nie nachlassen.“ „Wie stark sind deine Pokémon?“, fragt Louis. „Also, vom Level her.“ „Unterschiedlich.“ Raphael zählt an seinen Fingern ab. „Penny und Murphy sind um Level 47 herum, Mandy hat sich vor kurzem auf Level 54 entwickelt und die anderen drei liegen zwischen Level 40 und 45.“ „Wow…“ Louis starrt zu Boden. „Kopf hoch, Champ“, sage ich grinsend und wuschele ihm durchs blonde Stachelhaar. „Da kommst du auch irgendwann hin.“ „Du bist auch professioneller Trainer, nehme ich an?“, fragt Raphael und seine Wangen bilden kleine Grübchen aus, als er hinter seinem Schal aufmunternd lächelt. Louis kratzt sich an der Nase. „Mehr oder weniger.“ „Ist er“, sage ich. „Er hat nur kein Selbstvertrauen, das ist alles.“ „Ich war auch sehr unsicher“, sagt Raphael und Louis wirft ihm einen ungläubigen Blick zu. „Nein, wirklich. Frag Abby.“ Ich nicke bedächtig und denke an den scheuen Jungen, mit dem ich gegen die Biker gekämpft habe. Es fällt mir immer schwerer, ihn in dem heutigen Raphael wiederzufinden. Er ist immer noch ein wenig schüchtern, wenn er alleine vor fremde Menschen treten muss, aber er vertraut auf sich und seine Pokémon und das gibt ihm eine Innere Stärke, die er vorher nicht hatte. Der Kampf gegen Harpy hat ihn wachsen lassen. „Sich selbst zu vertrauen ist eine der schwersten Lektionen, die du lernen musst“, fährt Raphael fort, den Blick nach vorne gerichtet. Wir nähern uns der Einkaufsmeile, die wie ausgestorben ist. An einem Sonntagmorgen ist so gut wie niemand unterwegs. „Viele Reporter, die mich interviewen wollten, haben immer und immer wieder dieselbe Frage gestellt: Wieso musst du dir selbst vertrauen, wenn deine Pokémon die Arbeit machen?“ Louis schaut nachdenklich zu Boden. „Meine Pokémon vertrauen auf mich“, sagt Raphael. „Also muss ich auch auf mich vertrauen. Gerade weil sie es sind, die meine Fehler ausbaden müssen, darf ich keine Unsicherheit zeigen. Ich muss stets versuchen, der beste Trainer zu sein und die besten Entscheidungen zu treffen, damit ihr Vertrauen in mich berechtigt ist.“ Er schaut in den Himmel. „Irgendwann kommt es wie von selbst, keine Sorge.“   Wir spazieren durch die Stadt, zeigen Raphael unsere Lieblingsläden und schauen uns die Geschäfte durch die Fensterscheiben an. Es wird kühler, Wolken ziehen auf und ich reibe mir die Arme. Außer einem dünnen Shirt habe ich mir keine warmen Sachen mitgenommen, so eilig hatte ich es, Raphael zu treffen. Als er mich zittern sieht, rubbelt er über meine Oberarme. „Wir sollten ins Warme“, sagt er und schaut in den Himmel. „Das schreit förmlich nach Gewitter.“ „Wo willst du überhaupt übernachten?“ frage ich. „Nicht im Pokécenter“, sagt er entschieden und Louis schaut ihn fragend an. „ID“, erklärt Raphael. „Wenn ich mit meiner Trainer-ID bezahle, hab ich morgen wieder die Medienheinis vor der Tür sitzen.“ Er schaut entschuldigend zu mir. „Nicht böse gemeint.“ „Kein Ding“, sage ich fröhlich. „Du kannst bestimmt bei Heike unterkommen.“ „Heike?“ „Wir kommen bei ihr unter“, sagt Louis. „Wir helfen ihr ein bisschen im Haushalt und im Garten und dürfen dafür kostenlos bei ihr Essen und schlafen.“ „Kostenlos?“ Raphael dreht sich zu mir um. „Seit wann?“ „Seit einer Woche, ziemlich genau.“ „Wie sieht es eigentlich um dein Geld aus, Abby.“ Er zieht die pinke Sonnenbrille etwas nach unten. „Ich komme klar“, sage ich vage, aber er zieht nur die Augenbrauen hoch. „Ich habe einen Minijob in der Schule hier. Aber ich habe mir einen Pokécom gekauft, deswegen bin ich wieder annähernd pleite.“ Er seufzt. „Ich kann dir finanziell immer unter die Arme greifen, das weiß du, oder?“ „Weiß ich“, sage ich grinsend. „Aber ich komme schon alleine klar.“ „Abby.“ Er sieht mich ernst an. „Es wird kälter. Hast du überhaupt warme Klamotten?“ Ich schaue ihn herausfordern an. „Ich bekomme Ende der Woche meine Bezahlung, dann habe ich wieder 5000 PD zur Verfügung.“ Er gluckst. „Viel Spaß damit. Für das Geld kriegst du nie im Leben eine richtige Winterjacke.“ „Mir fällt schon was ein“, meine ich und Raphael lässt das Thema fürs erste in Ruhe. Aber ich kann mir denken, dass er nicht so schnell aufgeben wird. Ich weiß, dass er es nur gut meint, immerhin hat er mehr als genug Geld, aber ich will diese Reise alleine schaffen. Auch wenn er mein bester Freund ist, muss ich noch lange keine Almosen von ihm annehmen. „Vielleicht ziehe ich auch bei Heike ein“, sagt er stattdessen und zieht seinen verrutschten Schal etwas nach oben. „Gegen Bezahlung.“ „Sag mal…“, beginnt Louis, verstummt dann aber. Wir schauen beide in seine Richtung. „Was?“, frage ich und Louis kratzt sich verlegene an der Nase. „Wie viel verdient ein Trainer auf deinem Level so?“ Raphael lacht. „Gegen gleichstarke Trainer kämpfe ich um 1500 PD, aber bei den Arenaleitern verdient man bis zu 7000 PD. An sich ist das nicht viel, aber wenn man wie ich drei Jahre damit verbracht hat, täglich gegen dutzende von Trainern zu kämpfen, dann häuft es sich schon.“ Louis schluckt hörbar und ich klopfe ihm auf den Rücken. „Frag lieber nicht, wie reich er gerade ist“, rate ich ihm. Raphael grinst unter seinem Schal. „Ich habe derzeit 670.981,00 PD auf meiner ID, würde ich schätzen. Allerdings habe ich erst vor kurzem einen Großeinkauf in Seegrasulb City gemacht. Louis schaut uns lange an, dann schüttelt er den Kopf. „Das ist doch krank.“ Raphael und ich prusten los.   Nachdem wir Raphael bei Heike vorgestellt und in unserem Gästezimmer untergebracht haben, verschwindet Louis im Bad, um zu duschen. Raphael und ich nutzen die Zeit, um uns gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen. Schließlich reicht er mir einen Briefumschlag. „Was ist das?“, Ich nehme den Umschlag entgegen und betrachte ihn skeptisch. Er ist unbeschriftet. Raphael grinst. Er hat die Verkleidung abgenommen und sieht jetzt wieder so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Groß, schlaksig und mit zerzaustem Haar. „Dein Geschenk“, sagt er und ich gucke zurück auf den Umschlag, dann wieder zu ihm. „Happy Birthday.“ Vorsichtig reiße ich das Papier auf. Heraus trudelt ein bunt bedruckter Schein, etwas größer als meine Handfläche. Ich halte die Luft an und drehe das Papier in meinen Fingern, bis ich die Aufschrift lesen kann. „Oh mein Gott…“, flüstere ich und fahre mit den Fingerspitzen über die imprägnierte Aufschrift. Pokémon Championship. „Das ist ein VIP-Ticket“, sage ich tonlos und hebe den Kopf. Raphael strahlt mich an. „Mit Backstage und allem. Dann lernst du endlich die anderen Favoriten kennen, vielleicht sogar Zach, wenn er sich blicken lässt.“ Er lacht, als er meinen offen stehenden Mund sieht. „Schau nicht so. Das Beste hast du noch gar nicht gesehen.“ „Was kann bitteschön noch besser sein?“, frage ich und er tippt auf die Eintrittskarte. „Rückseite.“ Mit zittrigen Händen drehe ich das Ticket um. Mein Atem stockt und ich starre die persönliche Widmung lange Zeit an, dann lese ich den Text darunter. Liebe Abby, wenn du dieses Ticket an meinem Hotel vorzeigst, wirst du automatisch durchgelassen! Alles Gute zu deinem 15. Geburtstag, -Alfred Phirello „Raphael“, sage ich langsam, dann hebe ich den Kopf, Tränen in den Augen. „Du bist wahnsinnig.“ Ich lasse mich vorwärts in seine Arme fallen und drücke ihn so fest ich kann. „Das ist das beste Geschenk, das ich je bekommen habe. Danke, danke, danke.“ „Auf die Reaktion musste ich über einen Monat warten“, sagt er und drückt mich fester an sich. „Aber das war es mir wert.“   Raphael und Louis winken mir zu, als sie mich am Dienstagnachmittag am Ende der Schülergruppe entdecken. Ich verabschiede mich von Frau Lock und den Kindern und laufe zu ihnen, Gott dicht auf meinen Fersen. Ich bin wirklich froh, meinen Pokémon etwas mehr Auslauf geben zu können. Hunter lasse ich jeden Morgen vor der Arbeit losfliegen, meist taucht er gegen Abend wieder auf und klopft mit seinem Schnabel gegen unser Zimmerfenster, falls wir schon wieder bei Heike sind. Sku lasse ich nachts raus und Gott bekommt bei seinem Training mit den Schulklassen ohnehin genug Freiraum. Er kommt jetzt besser mit Menschen klar, aber er ist immer noch misstrauisch und mag fremde Berührungen nicht. Inzwischen ist er fast auf dem gleichem Level wie Hunter und zu einer beachtlichen Erweiterung meines Teams geworden. Aber das muss er auch. Sobald ich von der Championship zurückkehre und mich nach Teak City aufmache, werde ich stärkere Pokémon brauchen. Und danach wird es nicht einfacher. Gemeinsam mit meinen beiden Freunden schlendere ich Richtung Norden. Es ist das erste Mal, dass Raphael den Knofensaturm besucht und er pfeift anerkennend, als er das Gebäude sieht. „Sicher, dass du soweit bist?“, frage ich neckend und Louis streckt mir die Zunge heraus. Wir beide wissen, dass er längst bereit ist. Harleys regelmäßiges Training hat sich bezahlt gemacht. Wenn er Mathildas Wette nicht gewinnt, esse ich meinen Pokécom. Als wir uns dem Eingang nähern, zwinkere ich Louis verschwörerisch zu und er grinst breit. Wir haben beschlossen, Raphael nicht vorzuwarnen. Ich will sein Gesicht sehen, wenn er Mathilda zum ersten Mal begegnet. Louis klopft und einige lange Sekunden verstreichen, während derer ich voller Vorfreude immer wieder zu Raphael hinüber schaue, bis er seine pinke Sonnenbrille nach unten zieht und mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansieht. Schließlich öffnet die Tür sich mit einem lauten Knarzen und der Weise, den ich als Eckart in Erinnerung habe, nickt uns respektvoll zu und tritt dann zur Seite, um uns einzulassen. Ich öffne den Mund, um nach Mathilda zu fragen, da entdecke ich eine lange, die Wand entlang führende Treppe am hinteren rechten Ende der Haupthalle. Sie ist mit Pappe abgeklebt. „Was ist passiert?“, frage ich und deute auf die Treppe. Weiser Eckart schaut mich leidend an. „Mathilda?“, fragt Louis und Eckert öffnet den Mund. Bevor er jedoch antworten kann, höre ich einen Jubelschrei, gefolgt von ratterndem Poltern. Im nächsten Moment rutscht Mathilda die Treppe hinunter. Statt Saugnoppen trägt sie eine gigantische Taucherbrille mitsamt Schnorchel und sitzt in einem großen Pappkarton. Mit lautem Geschrei poltert sie ihre selbstgemachte Rutsche hinunter und kommt schließlich am Fuß der Treppe zum Stehen, bevor der Karton nach vorne kippt und sie unter sich begräbt. Gespannt schauen Louis und ich zu Raphael, der Mathilda einige Sekunden lang mit ausdrucksloser Miene betrachtet und sich dann an Eckart wendet. „Passiert das häufiger?“, fragt er und ich kann ihm die Mühe ansehen, die es ihn kostet, nicht laut loszulachen. „Häufiger als mir lieb ist, leider.“ Der Weise senkt den Kopf. „Wie kann ich euch helfen?“ „Ich bin wegen der Herausforderung hier“, sagt Louis und tritt vor. „Mathilda hat mir ein Angebot gemacht.“ Eckart verzieht das Gesicht. „Ja, die Wette, ich erinnere mich. Mathilda hat damit für großes Aufsehen gesorgt. Und Empörung, wenn ich das so sagen darf.“ „Mehr als sonst?“, frage ich tonlos und Raphael hustet, um sein Lachen zu kaschieren. „Wenn es gegen die Regeln verstößt, kämpfe ich gerne auf die herkömmliche Art und Weise“, sagt Louis schnell und Eckart seufzt. „Weisester Marek hat bereits zugestimmt. Er kann Mathilda nichts abschlagen, das ist sein Problem. Aber ob das Item deinen Vorstellungen entsprechen wird, kann ich nicht versprechen.“ „Besser als Blitz ist es auf jeden Fall!“, verkündet Mathilda, die sich aufgerappelt hat und jetzt zu uns gesellt. „Ich habe es ausgesucht, Louis, keine Sorge.“ Sie lehnt sich nach vorne und flüstert etwas in sein Ohr. Louis´ Gesicht hellt sich augenblicklich auf. „Wie kommst du an sowas?“, fragt er begeistert und sie legt einen Finger auf die Lippen. „Geheimnis!“, ruft sie dann, nur um sofort laut loszulachen. Ich schüttele den Kopf. Eckart räuspert sich. „Möchtest du deinem Freund nicht allmählich die Regeln erklären?“, fragt er, aber Mathilda zuckt mit den Schultern. „Er kennt die Regeln. Nichts hat sich verändert.“ Sie deutet auf die Treppe. „Wenn du gegen Ecki gewinnst, darfst du ins nächste Stockwerk, wo Helmut und Ludger auf dich warten, im Dritten dann Detlev, Lukas, Ingolf und meine Wenigkeit.“ Sie zwinkert ihm zu. „Und wenn du dann immer noch im Rennen bist, darfst du Marek herausfordern.“ Ein gespenstisches Grinsen umspielt ihre Züge. „Hast du schon Angst?“ Dass Louis breit zurück grinst und mit einem entschiedenen Vergiss es! antwortet, bestätigt meine Vermutung. Die letzten Wochen haben ihm gut getan. Er ist sein Loser-Image endlich los und kann anfangen, sich auf sein wahres Können zu verlassen. Ich schiele zu Raphael hinüber, der seinen Schal etwas herabgerollt hat und wissend lächelt. Dank seiner Unterstützung bei Louis´ Training kommen die Beiden jetzt wesentlich besser miteinander aus und ich bin sicher, dass Raphael einige gute Trainingstipps für ihn parat hatte. In jedem Falle wird es ein spannender Nachmittag. Meine Finger prickeln. Ich kann es kaum erwarten.   „Gegen wen hast du das letzte Mal verloren?“, frage ich Louis leise, der Harleys Pokéball abwechselnd vergrößert und verkleinert. „Gegen Mathilda.“ Ich nicke. „Ist sie stark?“ „Stärker als man ihr zutraut.“ Er reibt sich über die Nase. „Aber dieses Mal werde ich sie besiegen, verlass dich drauf!“ „Dann los, Champ.“ Ich zögere, dann küsse ich ihn, so flüchtig, dass ich schon auf halbem Wege zu Raphael bin, bevor Louis abrupt den Kopf zu mir herumdreht. „Was war das denn?“, fragt Raphael neckend und als ich knallrot werde, lacht er und wuschelt mir durchs Haar. „Dachte ich es mir doch.“ „Was dachtest du dir?“ Ich schaue zu ihm hoch, aber hinter seiner pinken Sonnenbrille kann ich seine Augen nicht sehen. „Er kam mir sehr eifersüchtig vor, als wir uns zum ersten Mal trafen und wenn du in der Schule warst, hat er mir viel über eure Zeit zusammen erzählt.“ Er macht eine kurze Pause, dann zieht er mich zu sich und drückt mich einmal kurz, bevor er mich wieder loslässt. „Er mag dich wirklich gern. Du hast eine gute Entscheidung getroffen.“ „Ich habe gar nichts entschieden…“, murmele ich, aber es klingt halbherzig und als Raphael ein ungläubiges Geräusch macht, lasse ich ihn. Eckart nimmt vor der Treppe Stellung auf, Mathilda sitzt auf dem Geländer und beobachtet den beginnenden Kampf mit großem Interesse. „Los Harley!“ Louis streckt seinen Pokéball nach vorne und aus dem roten Lichtblitz materialisiert sich sein Knofensa. Es ist noch ein Stück gewachsen und sein gelber Kopf und die grünen Blätterarme sind fleischiger als noch vor einer Woche. Seine Entwicklung ist nicht mehr weit entfernt. Weiser Eckart verneigt sich respektvoll vor Louis, dann ruft er sein eigenes Knofensa, ein kleines und schmales Exemplar. Harley hält in ihren Windungen inne und gibt ein glucksendes Geräusch von sich, dann nimmt sie ihre tanzenden Bewegungen wieder auf. ich bin bisher davon ausgegangen, dass alle Knofensa sich so bewegen, aber Eckarts Knofensa wippt nur sanft hin und her. „Rankenhieb, Knofensa“, befiehlt Eckart. „Du auch.“ Die Pokémon spreizen ihre wurzelartigen beine ab. Schlanke, holzige Ranken schießen in die Richtung ihrer Gegner, aber kurz bevor Harley getroffen wird, windet sie sich gekonnt in einer Pirouette aus dem Weg und trifft zuerst. Der Schlag trifft mit einem peitschenden Knall und Eckarts Knofensa wird zu Boden geschlagen, wo es besiegt liegen bleibt. Mathilda klatscht, während Eckart sein zweites Knofensa in den Kampf ruft. Wieder treffen die beiden Rankenhiebattacken aufeinander, dieses mal pariert Harley die gegnerischen Ranken jedoch mit ihren eigenen, windet eine zweite an dem entstandenen Gewirr hindurch und schlägt das gegnerische Knofensa von unten in die Luft. Es landet mit einem lauten Klatsch auf dem polierten Holzboden des Turms. Eckart nickt anerkennend und ruft sein drittes Knofensa. Der Kampf ist genauso schnell vorbei, wie er begonnen hat. Harley siegt auf ganzer Linie. Weiser Eckart ruft sein besiegtes Pokémon zurück und verneigt sich vor Harley und vor Louis, dann tritt er zur Seite und gibt den Weg zur Treppe frei. „Du bist würdig, gegen meine Brüder anzutreten“, sagt er und lächelt, wenn auch etwas verkniffen. „Sei aber versichert, dass ich der Schwächste von ihnen bin. Louis ruft Harley erst gar nicht zurück, sondern steigt mit ihr die Treppen empor, Mathilda dicht auf seinen Fersen. Ich folge mit Raphael und gemeinsam betreten wir das erste Obergeschoss. Der zentrale Pfeiler schwankt hier weit stärker. Als ich mich nach rechts wende, entdecke ich einen der anderen Weisen. Er sitzt meditierend auf dem Boden, aber als er unsere Schritte hört, öffnet er ein Auge und steht schließlich auf, als er Mathilda und Louis sieht. „Und so beginnt es also“, sagt er mit einer sanften Stimme und zieht seinen Pokéball. Er hat Recht. Das Spiel geht wieder von vorne los.   Drei Duelle und Treppen später erreichen wir das zweite Obergeschoss. Hölzerne Knofensastatuen säumen die vertäfelten Wände und das Ende des Raumes wird durch den zentralen Pfeiler verdeckt. Drei Weise stehen gestaffelt an den Wänden. Mathilda winkt uns, dann zieht sie ihre Schwimmbrille über ihre Augen und läuft den Gang entlang zu dem Pfeiler, vor dem sie sich in einen Schneidersitz setzt, darauf wartend, dass Louis gegen sie antritt. Harley hat bereits drei Kämpfe hinter sich, aber sie wirkt frisch wie eh und je. Keines der gegnerischen Knofensa hat sie bisher treffen können. Während Louis seinen nächsten Gegner herausfordert, beugt Raphael sich zu mir hinunter. „Ihre Fluchtrate ist ungewöhnlich hoch“, flüstert er und ich nicke. „Muss an ihrem Tanz liegen“, sage ich leise und nicke in Richtung Harley, die sich windet und dreht und mit ihrem Rankenhieb die Attacken ihres Gegners aushebelt. „Hoffen wir, dass sie sich diese Flexibilität nach ihrer Entwicklung beibehält“, murmelt er und ich schaue zu ihm hoch. „Wann entwickelt sich Knofensa?“ „Auf Level 21. Noch ein Level und Harley wird zu einem Ultrigaria.“ „Es wundert mich, dass sie sich nicht schon längst entwickelt hat“, gebe ich zu, aber Raphael zuckt die Achseln. „Wir haben nicht nur Harley trainiert“, sagt er schließlich. „Ethan und Winry habe ich auch unter die Lupe genommen. Winry ist Mittelklasse, aber aus seinem Garados kann er noch einiges rausholen, wenn er es klug anstellt.“ Ich verziehe das Gesicht. „Das klingt, als wäre Winry minderwertig.“ Raphael zuckt die Schultern. „Er will Profi werden, oder nicht? Als Profi kann er nicht mit willkürlich gefangenen Pokémon kämpfen, zumindest nicht auf dem Nationalen und Internationalen Level. Winry ist nicht schwach, aber irgendwann wird sie an ihre Grenzen stoßen.“ Ich schweige und betrachte Louis, der breit grinst und in Harleys Blatt-Arm einschlägt, nachdem sie ihren Gegner mit einem kraftvollen Rankenhieb ausgeschaltet hat. Er und Winry haben seine Reise als Trainer zusammen angetreten. Wäre ich an seiner Stelle, könnte ich Sku niemals aufgeben, nur weil sie nicht stark genug ist. Raphael scheint mein Unbehagen zu spüren, denn er klopft mir auf die Schulter. „Ich sage nicht, dass er Winry aufgeben muss, Abby.“ Er schaut zu Louis, der sich bereits seinen nächsten Gegner vornimmt. „Er wird Winrys Schwächen einfach mit seinem restlichen Team ausgleichen müssen. Ein guter Trainer kann aus jedem Pokémon einen Sieger machen.“ Schweigen folgt und gemeinsam schauen wir Harley bei ihrer Darbietung zu. Die Knofensa auf diesem Stockwerk sind wesentlich stärker als zuvor, aber Harley ist stärker. Das tägliche Training hat ihr gut getan und sie besiegt ihre Gegner mit einer, maximal zwei Attacken. Als Louis schließlich auch den dritten Weisen besiegt und dieser ergeben den Kopf senkt und sich an den Rand zu seinen Brüdern gesellt, steht Mathilda schwungvoll auf und zieht drei Pokébälle. „Was hältst du von einer neuen Wette?“, fragt sie und ich horche auf. „Du kannst nicht einfach die Regeln ändern!“ „Dein Knofensa ist stark, das ist klar“, fährt Mathilda breit grinsend fort. „Marek wirst du mit Leichtigkeit besiegen. Also warum kämpfst du nicht stattdessen nur gegen mich.“ „Das ist keine Wette“, sagt Louis. „Du gibst mir nur noch mehr Vorteile.“ „Nein, tue ich nicht.“ Sie hebt die drei Pokébälle und grellrotes Licht erfüllt das gesamte Obergeschoss. Im nächsten Moment ist die Luft von Flügelschlagen erfüllt. Ich schaue nach oben. Über uns fliegen Hoothoots. Drei Hoothoots. Kapitel 37: Drei gegen Einen (Aufbruch und Abschied) ---------------------------------------------------- „Ich soll gegen drei Hoothoots gleichzeitig kämpfen?“ Mathilda schaut ihn heraufordernd an. „Was, hast du Angst?“ Louis ballt die Fäuste, aber seine Augen sprühen Funken. „Machst du Witze? Los geht´s!“ Und so beginnt der Kampf. „Hoot, Hypnose, Hoota, Heuler, Hooti, greif mit Schnabel an!“ „Konter mit Rankenhieb auf das linke Hoothoot, weich der Hypnose aus, los!“ „Bin ich die Einzige, die sich über diese Spitznamen aufregt?“, frage ich Raphael leise und er gluckst. Damit ist unsere Unterhaltung aber auch beendet, denn das Duell zwischen Louis und Mathilda nimmt ab dem ersten Kommando Hochspannung an. Die drei Hoothoots verteilen sich kreisförmig um Harley in der Luft und beginnen gleichzeitig ihre Attacken. Hoot, das kleinste der drei, reißt den Schnabel auf und die Töne, die es erzeugt, bilden kreisförmige Wellen in der Luft. Harley windet sich im letzten Moment zur Seite, nur um Hoota zu nahe zu kommen, das mit seinem Heuler ihren Angriff senkt. Harley taumelt zur Seite, aus der Bahn geworfen und entkommt so der Schnabelattacke des dunkelbraunen Hootis nicht mehr rechtzeitig. Geschwächt knicken ihre Wurzelbeine ein, aber auf Louis aufmunternden Zuruf hin reißt sie sich zusammen und attackiert Hoot mit einem Rankenhieb. Durch den Heuler ihrer Energie beraubt, schafft sie es nicht, das Hoothoot mit einer Attacke zu besiegen, aber Hoot flattert kraftlos vom Kampfgeschehen weg und muss von Mathildas strengem Ruf zurückgeholt werden. „Harley, konzentriere dich auf das Ausweichen! Greif Hoot an, wenn du eine Chance siehst, aber lass dich nicht erwischen.“ „Hoot, nochmal Hypnose, Hoota und Hooti Schnabel.“ Ich beiße mir auf die Lippen. Harley weicht der Hypnose aus, aber eine der Schnabelattacken trifft sie, während die andere sie streift. Ihr Rankenhieb trifft dafür einwandfrei und Hoot trudelt besiegt zu Boden. Mathilda rückt ihre Taucherbrille zurecht, dann breitet sie die Arme weit aus, bis sie selbst wie ein Vogel im Flug aussieht. „Hooti, Hoota, Schnabel, lasst nicht locker, bis Knofensa im Staub liegt!“ „Harley, du weißt was zu tun ist!“ Harley hebt und senkt ihren Kopf langsam, als würde sie tief ein- und ausatmen, dann hebt sie ihre Blatt-Arme und beginnt ihren Tanz. Ich kann es nicht anders beschreiben. Ihre Arme und Wurzelbeine wirbeln durch die Luft, ihr ganzer Körper dreht sich wie ein elastischer Kreisel und irgendwie schafft sie es, ihren schlanken Rankenkörper immer genau dann umzubiegen, wenn eins der Hoothoot auf sie nieder schießt. Keine der gegnerischen Schnabelattacken trifft sie, außer dem einen oder anderen Streiftreffer. Harleys eigene Attacken werden spärlicher, aber je länger sie in ihrem Tanz verbringt, umso fließender werden ihre Bewegungen. Nach einer Minute trifft sie Hoota mit einer Ranke, nach zwei Minuten, packt sie im Vorbeiwirbeln Hooti und schleudert das Vogelpokémon durch das ganze Obergeschoss. Doch die Attacke dauert zu lange. Harley wird von dem Schwung mitgerissen, verliert ihren Rhythmus und Hooti nutzt die Gelegenheit, um mit einer kraftvollen Schnabelattacke auf sie niederzuschießen. Der Angriff trifft Harley mit voller Wucht und sie taumelt einige Schritte vorwärts. „Gib jetzt nicht auf!“, schreit Louis und Harley dreht sich zu ihm um. Dann, als hätten seine Worte neue Energie in ihr entfacht, richtet sie sich zu ihrer vollen Größe auf und hebt beide Ranken hoch über ihren Kopf. Hooti flattert in die Höhe und einige Sekunden lang beäugen sie einander eingehend. Dann greifen sie an, Hooti mit einem Sturzflug, Harley mit nach vorne schießenden Ranken. Ich höre ein Knallen, wie von einer Peitsche und ein Kreischen. Harleys Ranken sind eng um Hooti gewunden und halten es mit aller Gewalt fest – nur wenige Zentimeter von Harleys Kopf entfernt. Ich halte den Atem an und Raphael pfeift anerkennend. Hooti dreht verzweifelt den Kopf hierhin und dorthin, aber so sehr es sich bemüht, seine Flügel bewegen sich keinen Zentimeter. Harleys Ranken zittern von der Anstrengung, die der feste Griff das Pokémon kostet, aber sie lässt nicht locker. Harley holt Schwung, dann schleudert sie Hooti genauso wie Hoota aus ihrem Rankengriff heraus und mit aller Kraft gegen die Turmdecke. Ihre nun freien Ranken setzen zu einem letzen Rankenhieb an und als sie mit einem zischenden Knall treffen, fällt Hooti sang und klanglos zu Boden. Louis hat gewonnen. „Wahnsinn!“ Ich laufe zu ihm und umarme ihn fest, bevor ich in die Hocke gehe und Harleys Kopf streichele. Sie schrumpft zunächst unter meiner Berührung, lässt mich aber gewähren. „Haaa, ich dachte wirklich, du hättest keine Chance“, sagt Mathilda gut gelaunt, als sie sich zu uns gesellt und Louis ebenfalls umarmt. „Drei Hoothoot gegen ein Knofensa und du gewinnst trotzdem. Aber Wette ist Wette.“ Sie zieht ihrer Taucherbrille aus und wirft sie einem der Weisen zu, der sie erschrocken fängt und beinahe sofort fallen lässt. Aus den Tiefen ihrer Hosentasche fischt sie einen grün schimmernden Stein. „Ein Blattstein…“, murmele ich geschockt. „Wo hast du den her?“ Sie legt einen Finger an ihre Lippen und betrachtet mich von oben bis unten, als müsste sie erst entscheiden, ob ich zu spießig für ihre Antwort bin, dann zuckt sie aber die Achseln und grinst mich breit an. „Eine Freundin von mir hat ihn gefunden“, sagt sie schließlich. „Sie braucht ihn nicht, also hat sie mich gefragt, ob ich ihn haben will.“ „Welche Freundin?“, fragt Louis und spricht damit meine eigenen Gedanken aus. Wie kommt jemand wie Mathilda an Freunde, wo sie doch im Turm bleiben muss? „Gudrun. Ich habe sie über ein Online-Forum kennen gelernt.“ „Online-Forum?“ Ich schaue sie perplex an, doch sie streckt mir nur die Zunge heraus und wirft Louis den Blattstein zu. „Klar. Wir sind schließlich keine Hinterwäldler.“ „Oder Spießer?“, schlage ich vor und zum ersten Mal gilt ihr breites Grinsen mir. „Ganz genau.“   ooo   Die nächsten Tage vergehen im Flug. Harley entwickelt sich bereits am Mittwoch zu einem stattlichen Ultrigaria und obwohl sie ihren schlanken Körper verloren hat, behält sie ihre tänzerischen Fähigkeiten bei. Auch Gotts Training verstärke ich, speziell an den Nachmittagen, wenn ich nicht gezwungen bin, gegen die in zwischen zu schwachen Pokémon auf Route 31 kämpfen zu müssen. Raphael teilt meine Ansicht, dass Gotts Potential sehr hoch ist, aber überrascht ist er nicht. „Die meisten Starterpokémon sind gezüchtet“, sagt er eines Abends, als wir auf dem Rückweg zu Heikes Haus sind. „Das gibt jungen Trainern eine bessere Chance, schnell stärker zu werden und motiviert sie.“ Am Donnerstag erreicht mich eine frustrierte SMS von Maisy, die sich in Teak City mit einigen Bikern in die Haare gekriegt hat und nicht vor nächster Woche in Viola City sein wird. Ich kann ihren Ärger verstehen, immerhin verpasst sie dadurch Golds Termin bei ihrem Großvater. Dass ich bis dahin bereits abgereist sein werde, hebt ihre Stimmung nicht, aber sie freut sich für mein Geburtstagsgeschenk und wünscht mir viel Glück in der Zukunft. Louis vereinbart ein Treffen mit ihr. „Da du nicht mit nach Teak City gehst, kann ich genauso gut noch ein paar Tage hier trainieren und auf sie warten“, meint er, als ich ihn frage und obwohl er sich bemüht, nicht verbittert zu klingen, gelingt es ihm nur teilweise. Freitagnachmittag bringt mir endlich meine zweite Bezahlung ein. Ich bedanke mich für die kurzfristige Anstellung bei Madeleine Dervish und lächle, als ihre fleischige Hand die meine beinahe zerquetscht. Vor dem Schultor wartet bereits Raphael auf mich. Er trägt einen langen, braunen Mantel, einen kartierten Schal aus schwarzgrauer Wolle und seine pinke Sonnenbrille, eins seiner Lieblingsaccessoires, wenn er sich verkleiden muss. Ich gehe beschwingt auf ihn zu und hake mich dann bei ihm unter. Heute ist Wintershopping angesagt. „Du weißt, dass ich dir die Jacke einfach kaufen kann, oder?“, fragt er, als ich eine halbe Stunde später vor einem Spiegel stehe und mich in der dunkelblauen Winterjacke drehe und wende. Kapuze und Säume sind mit Kunstfell ausgestattet und das Innere ist gefüttert. Außerdem kostet sie 7500 PD. Zum dritten Mal in genauso vielen Minuten seufze ich und zähle das Geld in meiner Börse, verzweifelt auf der Suche nach irgendeinem Schein, den ich vielleicht einfach übersehen habe. So viel glück habe ich leider nicht. Mein Vermögen beläuft sich auf genau 5691 PD und keinen Dollar mehr. Und Raphael hatte Recht. Eine billigere habe ich hier bisher nicht gefunden und sie sieht nicht Mal schlecht aus. Ich drehe mich verzweifelt zu Raphael um, aber er zieht nur seine Brille hinunter. „Du willst sie haben, aber du willst sie dir selbst kaufen“, stellt er seelenruhig fest und ich nicke. Er steht von dem viereckigen Sessel auf, der nahe den Umkleiden steht und kommt zu mir. Dann beugt er sich hinunter, bis seine Lippen direkt an meinem Ohr liegen. „Du hast drei Möglichkeiten“, flüstert er. „Und die wären?“, flüstere ich zurück. „Nummer eins: Du kaufst die Jacke nicht und frierst, bis du genug Geld hast, dir irgendwo eine andere zu kaufen. Nummer zwei: Du lässt mich die Jacke kaufen.“ Ich runzele die Stirn. „Und Nummer drei?“ „Nummer drei willst du nicht wissen.“ Raphael richtet sich auf und schaut mich erwartungsvoll an. „Und?“ „Ich kann mich nicht entscheiden, wenn ich nicht weiß, was die dritte Möglichkeit ist“, verteidige ich mich. „Du hast es so gewollt.“ Mit diesen Worten verlässt er mich und geht hinüber zu einer der Kassen. Neugierig geworden folge ich ihm. „-hier Rabatte?“, höre ich das Ende seiner Frage und die Kassiererin schaut ihn skeptisch an. „Ab 50.000 PD gibt es 5% Rabatt, ab 100.000 PD 10%. Warum fragen sie?“ „Nur aus Interesse.“ Raphael entfernt sich vom Tresen und kommt zu mir. „Mitgehört?“ Ich nicke, immer noch unsicher, was er vorhat. „5% von 50.000 PD sind 2500 PD. Dir fehlen etwas weniger als 2000 PD für deine Jacke.“ Er wackelt verschwörerisch mit den Augenbrauen und mir wird alles klar. „Oh nein. Oh nein, das kannst du gleich wieder vergessen!“ Er grinst. „Raphael, das ist doch nicht dein Ernst! Du kannst nicht so viel Geld ausgeben, nur damit der Rabatt meine Kosten deckt!“ Beim Klang seines Namens zuckt er zusammen und hält mir schnell eine Hand vor den Mund „Und wie ich das kann. Ich habe ein unbegrenztes Bedürfnis nach Verkleidungsutensilien, also entweder lässt du mich dir diese Jacke kaufen oder ich kaufe den gesamten Vorrat an karierten Schals.“ Ich schaue ihn lange an, dann schüttele ich den Kopf. „Du bist unglaublich.“ Er grinst. „Danke.“ „Okay, okay“, gebe ich mich schließlich geschlagen. „Aber lass mich wenigstens den Anteil bezahlen, für den ich Geld habe.“ „Die Hälfte.“ Ich seufze. „Fein. Die Hälfte.“ Er klopft mir auf die Schulter. „War doch gar nicht so schwer.“   ooo   „Nur noch drei Tage bis zum größten Event des Jahres, ich kann es gar nicht mehr erwarten!“ „Ich auch nicht, Jessy, aber ich habe Neuigkeiten, die dich aufmuntern werden.“ „Wirklich Alfred?“ „Allerdings! Du fragst dich sicher auch, wer der mysteriöse Ehrengast heute im PCN Live-Talk ist, nicht wahr?“ „Oh die Aufregung! Wirst du das Geheimnis nun endlich lüften?“ „Begrüßen sie mit mir! Noaaaah Reeeeeynes!“ „Guten Abend, Alfred, Jessy.“ „Noah, welch Freude, dich hier bei uns zu haben! Wie geht es dir und deinen Pokémon?“ „Wir sind gut vorbereitet.“ „Du hast in den letzten Wochen viel zu tun gehabt. Was fiel in deine Aufgabenbereiche?“ „Nach einem privaten Gespräch mit Gold haben wir uns mit Officer Rockey zusammengetan, um Team Rocket Einhalt zu gebieten. Ihr Hauptquartier wird auf Eiland 5 vermutet, aber unsere Übergriffe sind bisher wenig erfolgreich gewesen. Sie scheinen zwischen verschiedenen Basen zu wechseln, um nicht eingekesselt werden zu können. Es ist uns aber gelungen, einige der Rocket-Mitglieder festzunehmen. Sie werden derzeit verhört.“ „Leidet dein Training nicht unter soviel Verantwortung?“ „Es stimmt, dass ich weniger Zeit dafür habe, aber zwei Jahre an der Spitze haben mein Team gestärkt. Sie werden sich nicht so schnell geschlagen geben und eine Pause tut ihnen ganz gut.“ „Gerade um dein Zoroark-Duo ranken sich ja alle möglichen Gerüchte. Warum erzählst du uns nicht etwas von den Beiden?“ „Shade ist Swifts älterer Bruder. Die beiden sind von klein auf bei mir aufgewachsen und ließen sich nicht trennen. Also habe ich beide unterschiedlich trainiert, um das Beste aus ihren Fähigkeiten herauszuholen.“ „Was hat dich auf die Idee gebracht, gleich zwölf Pokémon aufzuziehen? Die meisten Trainer haben schließlich mit sechs schon beide Hände voll.“ „Das war von Anfang an ein Wunsch von mir. Ich musste natürlich zuerst mit sechs anfangen, aber wenn man das erste Team aufgezogen hat, fällt das Zweite leichter, weil man sie gemeinsam mit den stärkeren Pokémon trainieren kann. Das erleichtert das Leveln und gibt mir mehr Spielraum und Flexibilität in den Kämpfen. Gerade als Champ besteht immer die Gefahr, dass meine Gegner meine Strategien aus dem Fernsehen kennen und ihr Team genau auf mich ausrichten. Das wollte ich verhindern.“ „Wolltest du schon immer Pokéchamp werden?“ „Schon sehr früh. Am Anfang zweifelt man oft an sich, aber irgendwann muss man sich einen Ruck geben und darf sein Ziel nicht mehr aus den Augen verlieren. Wer nicht davon überzeugt ist, der Beste werden zu können, wird scheitern.“ „Noah, viele Fans haben uns Fragen für dich geschickt. Möchtest du sie hören?“ „Gerne, Alfred.“ "Edward aus Prismania City fragt, ob und wie du dich mit deinen Pokémon verständigst.“ „Wenn man sein Pokémon lange genug kennt, fällt es leichter, ihre Körpersprache zu lesen, wobei ich gestehe, dass ich meinen Starter am besten verstehe.“ „Dein Bisaflor?“ „Richtig. Blossom und ich sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Wenn ich sie ansehe, kommt es mir manchmal so vor, als könnte ich ihre Stimme hören.“ „Großartig! Ich wünschte, ich hätte auch ein so enges Band mit einem Pokémon.“ „Die wichtigste Frage stellt Christina aus Dukatia City. Bist du Single, Noah?“ „…Ich bin Single, das stimmt.“ „Na aber hallo, da habt ihr ja noch Chancen, Mädels! Also ran an die Liebesbriefe!“ „Und es gibt kein Mädchen, dass dir deinen Kopf so richtig verdreht, Noah? Uns kannst du es doch sagen.“ „Ich habe derzeit wirklich keine Zeit für eine Beziehung, selbst wenn ich wollte. Aber um deine Frage zu beantworten, Alfred, nein, es gibt niemanden.“ „Wie schade. Aber du hast ja dein Leben noch vor dir! Und wenn Team Rocket erstmal ausgeschaltet ist, dann hast du auch wieder Zeit für die Jagd nach der großen Liebe.“ „Ein Letztes, bevor wir uns für heute von dir verabschieden, Noah. Was glaubst du, ist dieses Mal das Ziel von Team Rocket? Hast du irgendwelche Vermutungen?“ „Das erste Mal haben sie die Silph Co angegriffen, das zweite Mal den Radioturm. Ich kann mir vorstellen, dass sie es auch dieses Mal auf ein wichtiges Gebäude abgesehen haben, aber es würde mich auch nicht wundern, wenn dieses Mal viel mehr dahinter steckt, als wir ahnen. Aber wenn sie zuschlagen, werden Gold und ich da sein, um sie aufzuhalten, das verspreche ich.“   Ich stöpsele meine Kopfhörer aus und drücke den Off-Knopf meines PokéComs, dann lege ich das Gerät neben mich auf den Boden. Es ist noch nicht zu spät, aber Raphael und Louis liegen genau wie ich schon in ihren Schlafsäcken. Skus Flanken heben und senken sich sanft neben meinem Kopf und ich kann ihren wachen Blick durchs Zimmer schweifen spüren. Ich drehe den Kopf und vergrabe mein Gesicht in ihrem flauschigen Fell, was ihr ein zufriedenes Brummen entlockt. Ich grinse in Skus Fell hinein und streiche ihr über den Rücken und den Kopf. Es ist, wie Noah gesagt hat. Die Verbindung mit seinem Starter ist eine ganz besondere.   ooo   „Wollen wir?“ Die Sonne hat kaum die Baumkronen überschritten, als ich mit Raphael und Louis auf der Hügelkuppe von Route 31 stehe. Mein Rucksack hängt schwer auf meinem Rücken, meine Inliner sind an den Schlaufen befestigt und Hunter sitzt aufgeregt neben Mandy. Nach dem ersten Federraufen haben sie sich sofort verstanden. Ich kann Hunter zwar nicht reiten, aber nichts hält ihn davon ab, nebenher zu fliegen. Louis steht dicht neben mir und als ich mich zum Abschied zu ihm umdrehe, wirft er Raphael einen kurzen Blick zu. „Bin schon weg“, sagt er und entfernt sich von uns. „Wann sehen wir uns wieder?“, fragt Louis und ich kann ihm die Mühe ansehen, die ihn der sorglose Ton kostet. „Sobald es geht“, verspreche ich. „Vielleicht treffen wir uns schon in Teak City, wer weiß?“ „Ja, wer weiß…“ Er wirft einen zweiten Blick zu Raphael, aber der ist bereits außer Hörweite. „Louis“, sage ich vorsichtig und atme tief durch, bevor ich eine Hand an seine Wange lege. „Wir haben Handys. Wir können telefonieren, SMS schreiben, vielleicht sogar eins von Schwester Joys Videotelefonen benutzen. Besieg Bianka und dann sehen wir weiter. Okay?“ Ich kann die Wärme in Louis´ Wange spüren, als er nickt und meine Hand mit seiner bedeckt. „Kann ich…“ Er stockt. Dann zieht er mich in seine Arme und küsst mich. Seine Lippen bleiben lange auf meinen liegen. Regungslos. Seine Augen sind fest geschlossen. Als er sich löst, lächle ich ihn an. „Zeig´s ihnen, Champ“, flüstere ich, dann umarme ich ihn ein letztes Mal, bevor ich ihn loslasse und Raphael zurückrufe. Raphael sagt nichts, aber er zwinkert uns verschwörerisch zu und innerhalb von Sekunden bin ich genauso rot wie Louis. „Zieh den hier an.“ Er wirft mir einen seiner Wollschals zu. „Es wird kalt.“ Dann krault er Mandys federlose Kehle, bis sie zufrieden knurrt und er sich beschwingt auf ihren Rücken setzen kann. „Deinen Rucksack hängst du besser Hunter um“, meint er, als ich mich gerade vor ihn setzen will. „Mandy hat mit uns genug zu schleppen.“ Hunter kommt sofort zu uns gehopst und ich schnalle ihm meinen Rucksack um. Zehn Kilogramm sind zwar nicht leicht, aber besser als Fünfzig und er scheint mit dem Gewicht kein Problem zu haben. Ich wickele den Schal eng um meinen Hals und meine Ohren und klettere dann vor Raphael auf sein Pokémon. Mandy sackt unter unserem Gewicht ein wenig zusammen. „Sicher, dass sie das schafft?“, frage ich vorsichtig, aber Raphael tätschelt nur ihre Seite. „Keine Sorge, je höher der Level, desto stärker werden sie. Mandy hier hat schon ganz andere Sache tragen müssen, glaub mir.“ „Gute Reise“, sagt Louis und winkt uns zu, während Mandy langsam lostrottet, Anlauf nimmt und dann mit kräftigen Flügelschlägen von der Hügelkuppe abhebt. „Bis bald!“, rufe ich zurück und winke, bis Mandys im Flug wankender Körper mich dazu zwingt, beide Hände zum Festhalten zu benutzen. Der Wind beißt mir in die Augen, aber als ich die Wiese, die Dunkelhöhle, den Wald unter mir davon schießen sehe, Hunter dicht neben uns, ist es mir egal. Ich jauchze und Hunters Kreischen begleitet meinen Freudenschrei durch die Lüfte. Dann übertönt mich das Rauschen des Winds. Kapitel 38: Mit dem Wind (Neue Freunde und alte Rivalen) -------------------------------------------------------- Ich habe mir nie Flügel gewünscht. Bis jetzt. Die Welt rauscht unter Mandys Flügeln davon und schon bald lasse ich meinen Blick über den Horizont gleiten. Aus dieser Höhe ist sogar die schwache Krümmung der Erde erkennbar. Tränen steigen mir von dem Gegenwind in die Augen und ich drücke mich enger an Grypheldis´ Körper, um nicht nach hinten gedrückt zu werden. Am Rande meiner Gedanken ist mir bewusst, dass, sollte ich fallen, ich den Aufschlag nicht überleben werde. Aber die Flughöhe, das laute Rauschen in meinen Ohren, die Kälte an meinen Fingern, Hunters glückseliges Krächzen und die Geschwindigkeit halten mich in einem Rausch fest. Ich kann nicht fallen. Hier und jetzt bin ich unsterblich. Raphael sagt etwas, aber ich kann nichts verstehen. Stattdessen greift er mit einer Hand um meine Taille und fasst mit der anderen in Mandys braungraues Gefieder. Hunter zischt an uns vorbei, nur um seitlich in einen anderen Luftstrom abzukippen und sich wieder zu uns zurück treiben zu lassen, bevor er unter uns hindurch fliegt und auf der anderen Seite wieder auftaucht. Ich kann es kaum noch erwarten, ihm Fliegen beizubringen.   Wie lange wir fliegen, kann ich nicht sagen, aber als die gewaltige Gebirgskette mit dem Silberberg in Sichtweite kommt, sind meine Finger rot und rissig von der Kälte und meine Augen brennen. „Wir sind fast da!“, schreit Raphael in mein Ohr und ich nicke. Ich habe Angst, nicht mehr Atmen zu können, wenn ich den Mund öffne. Hinter dem dreispitzigen, aschgrauen Berg kommt langsam aber sicher das Indigo Plateau in Sicht, dicht mit Nadelwald und Geröll bedeckt. Das Indigostadion liegt östlich von der Liga, eingebettet in Wald und große Asphaltplätze. Uns näher liegen die Hotelanlage und das Pokémonareal. Mandys Flügelschläge werden sanfter und wir sinken langsam in Richtung Plateau ab. Das letzte Stück legt sie die Flügel zu einem Halbsturzflug an und ich kreische, als Tränen aus meinen Augen gepresst werden und ich mich weit nach hinten lehnen muss, um nicht von ihrem Rücken zu fallen. Raphaels Hand hält mich fest, seine Andere ist fest in Mandys Gefieder gekrallt, aber er lacht, laut und heiser und seine Euphorie steckt mich an. Als Mandy mit einem Ruck auf dem getrimmten Rasen vor dem Hotel landet und weiterläuft, um ihr Momentum abzufangen, sind Raphael und ich ein wild kichernder Haufen voller blanker Nerven und Adrenalin. Hunter landet schwungvoll hinter uns, verliert sein Gleichgewicht und stolpert mehrere Meter vorwärts, bevor er über seine eigenen Beine stolpert und kopfüber im Gras landet. „WUH!“, jauchze ich und löse vorsichtig meine steif gefrorenen Fingers aus Mandys Gefieder. Ich klettere von Mandys Rücken und knicke halb ein. Meine Beine zittern unkontrolliert, vor Aufregung oder Anstrengung kann ich nicht sagen. Raphael hält mich schnell am Ellenbogen fest, bevor ich fallen kann, dann steigt er ebenfalls von Grypheldis ab und strahlt mich an. „Na, wie war dein erster Flug?“ „Ab-ge-fah-ren.“ Ich schaue in den Himmel, aus dem wir gerade gekommen. „Ich kann es immer noch nicht glauben.“ „Der erste Flug haut jeden von den Socken“, sagt Raphael und streichelt Mandys Kopf, bevor er sie zurückruft. „Wollen wir einchecken?“ Als der Adrenalinrausch verebbt, schaue ich mich auf dem Plateau um. Das Hotel ist ein riesiger Gebäudekomplex mit fünf oder mehr Stockwerken, vielen Glasfronten, Stahl und modernem Flair. Eine lange unbefestigte Straße, gesäumt von getrimmten Wiesenflächen, führt von dem Hotel nach Osten, wo sie zu der Pokéliga und dem Stadion führt. Weiter südlich führen von Torbögen überschattete Treppen zur Siegesstraße, einer verschachtelten Höhle voller Trainer und wilder Pokémon, gegen die jeder Teilnehmer der Championship bestehen muss, bevor er zu den Stadionkämpfen zugelassen wird. „Warst du schon Mal da drin?“, frage ich Raphael und deute zur Siegesstraße. Er lacht und schüttelt den Kopf, bevor er seinen Schal und seine Mütze auszieht und sein rot gelocktes Haar durchwuschelt, bis es in weichen Locken über seine Schultern fällt. „Von dieser Seite ist das Betreten verboten und vorne kommst du nur durch, wenn du auf der Anmeldeliste für die Championship stehst.“ „Ist sie wirklich so hart wie alle sagen?“, frage ich skeptisch und nehme Hunter meinen Rucksack und die Inliner ab, bevor ich ihn zurückrufe. Raphaels Gesicht nimmt einen ernsten Ausdruck an. „Härter. Von den Trainern, die sich bewerben, kommen 20% oder mehr nicht durch. Und das sind Trainer, die stark genug waren, um acht Orden zu sammeln.“ Ich werfe der Höhle einen letzten Blick zu, dann folge ich Raphael ins Hotel. Als wir das Foyer betreten, schaue ich mich mit offenem Mund um. Es ist mit Sicherheit nicht das beste Hotel, aber für jemanden, der die letzten zwei Monate in Pokécenterbetten oder Schlafsäcken übernachtet hat, sind die rot gepolsterten Sitzgelegenheiten, die schweren Vorhänge und Teppiche und die Gemälde von berühmten Trainern an den Wänden der reinste Luxus. Am Empfang steht ein Butler in Frack, sein schwarzes Haar ist mit einem weißen Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und als er Raphael sieht, setzt er ein geschäftlich freundliches Lächeln auf. „Sir Raphael Berni?“ Er neigt den Kopf und hakt uns auf seinem Klemmbrett ab. „Ihre ID, bitte.“ Raphael reicht sie ihm, der Butler steckt sie in ein Lesegerät, nickt zufrieden und reicht Raphael dann einen Schlüssel. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ „Schicken Sie uns bitte Essen hoch.“ „Sehr wohl, Sir.“ Ich reiße meinen Blick von dem Butler und schaue zu Raphael, der so selbstverständlich in die Sir-Rolle geschlüpft ist. Wird er immer so behandelt, wenn er irgendwo hingeht? Ich weiß nicht, ob ich ihn dafür beneiden oder bemitleiden soll. Wir sind schon halb zur Treppe, da dreht Raphael sich nochmal zu dem Butler um. „Wer von den anderen Gästen auf der Liste hat schon eingecheckt?“ „Lady Genevieve Keller ist gestern Nacht eingetroffen, Sir. Sie bat mich, ihre Nachtruhe unter keinen Umständen zu stören. Sie erholt sich von den Strapazen ihrer Reise.“ „Wohl eher von ihrem Kater…“, murmelt Raphael tonlos, dann nickt er dem Butler dankbar zu. „In welchem Zimmer ist sie untergebracht?“ „Die Suite Nummer zwei, Sir, auf dem fünften Stockwerk, so wie Sie und Ihre Begleitung.“ „Die anderen sind noch nicht da?“ „Sir Zacharias Stray hat die Reservierung gekündigt. Sir Richard Lark wird im Laufe des heutigen Nachmittags erwartet.“ „Dankeschön, Jeffry.“ Raphael wendet sich wieder der Treppe zu, daher bin ich die Einzige, die den Hauch von Überraschung auf Jeffrys Gesicht sieht. Da scheint wohl jemand nicht gewohnt zu sein, mit seinem Namen angesprochen zu werden. Gemeinsam steigen wir die Treppen hinauf. Einen Aufzug gibt es auch, aber nach dem langen Sitzen tut uns die Bewegung gut und so erreichen wir den fünften Stock mit brennenden aber nicht mehr ganz so steifen Beinen. „Welches ist unser Zimmer?“, frage ich und schaue mich in dem langen Flur um. Insgesamt gibt es zehn Türen. „Nummer eins. Unsere Suite liegt direkt neben Gens.“ Er wirft mir ein schelmisches Grinsen zu. „Ich hoffe, du hast keine allzu hohen Erwartungen an die restlichen Favoriten. Ich werde dir jetzt nämlich jegliche Illusionen nehmen.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch, aber Raphael schmunzelt nur und geht an unserer Suite vorbei und zu der Tür mit der Nummer 2. Dann klopft er. Aus dem Inneren ist kein Geräusch zu hören. „Sie schläft bestimmt noch“, meine ich und will mich umdrehen, doch Raphael hält mich fest und klopft erneut, lauter dieses Mal. Ich kann ein schwaches Stöhnen hören, gefolgt von einem lauten Fluchen und einem Knall, als irgendetwas Schweres zu Boden fällt. Dann öffnet sich die Tür einen Spalt. Raphael zögert nicht und tritt ein, aber ich schiele vorsichtshalber erstmal durch den Türspalt in die Suite. Ich kann nichts erkennen. Es ist dunkel und stickig. Raphael drückt einen Schalter und die Lampe an der Decke flackert zum Leben. Jemand zischt und ich trete ein, um die Person zu erkennen. „Also mal ehrlich.“ Raphael durchquert die Suite mit sicheren Schritten und zieht die Vorhänge zur Seite, bevor er alle Fenster öffnet. „Man könnte meinen, du bist ein Höhlenmensch.“ „Lass mich…“, murrt die Decke auf dem Sofa und ich blinzele. Nicht die Decke. Aus dem oberen Ende des Deckenhaufens lugen weißgraue Haarsträhnen heraus. „Genevieve?“, frage ich vorsichtig und die Decke sinkt ein Stück herab und entblößt ein braungebranntes Gesicht mit dunklen Augenringen und spröden Lippen. „Ist das Abby?“, fragt Genevieve an Raphael gewandt, der sich ihr gegenüber auf der zweiten Couch niederlässt. Ich steige über die Vase, die zerbrochen auf dem Boden liegt und setze mich neben ihn. Raphael nickt. „Du hättest mich ruhig ausschlafen lassen können“, meint Genevieve, nachdem sie mich kurz gemustert hat. „Ich hatte eine lange Nacht hinter mir.“ „Trink weniger“, erwidert Raphael und grinst. Genevieve pustet eine ihrer weiß gefärbten Strähnen aus ihrem Gesicht. Ihr Haar sieht verfilzt aus. Ich kenne Genevieve Keller nur von Fotos und einigen Fernsehkämpfen, aber so ungepflegt habe ich sie nicht in Erinnerung. „Ich habe keinen Kater, geez.“ Sie wickelt sich enger in die Decke ein. „Ich bin die Nacht durch geritten, geflogen und geklettert, um hier anzukommen. Aber natürlich musstest du meinen wohlverdienten Schlaf unterbrechen.“ „Dafür habe ich Essen bestellt.“ Das hebt ihre Laune erheblich. „Du bist ein Schatz! Deine Suite oder meine?“ „Meine, aber zieh die Decke aus.“ „Geez…“ Sie lässt die Decke fallen und ich erwarte, sie in einem Pyjama zu sehen, stattdessen trägt sie eine schwarze Jogginghose, die lose um ihre schlanken Beine schlabbert und ein schwarzes Tanktop, das hoch schließt, aber durch die tief geschnittenen Achseln einen Großteil ihrer Seite und das Band ihres schwarzen BHs freigibt. Sie steht auf, streckt sich und verschwindet dann in dem abgetrennten Bereich ihrer Suite. Als sie zurückkommt, ist ihr silbrig glänzendes Haar in einem losen Dutt zusammengefasst und ein Umschnallgürtel mit sechs Pokébällen reicht von ihrer linken Schulter zu ihrer rechten Hüfte. „Wie viel Uhr ist es?“, fragt sie, während sie mit mir und Raphael zu unserer Tür geht. Ich schaue auf mein Handy. „Gleich 10:00 Uhr.“ Sie reibt ihre Schläfen. „Zu früh. Ich bin nachtaktiv, Raph, warum weckst du mich um diese gottverdammte Uhrzeit?“ „Weil du sonst in deinen normalen Rhythmus verfällst und zu Beginn des Turniers wie ein Toter aussiehst. Auf lange Sicht tue ich dir einen Gefallen.“ Sie schnaubt. Wir betreten unsere Suite. Im Gegensatz zu Genevieves sind die Fenster nicht mit Vorhängen zugehangen und bleiches Licht fällt durch das Glas und malt helle Quadrate auf die roten Plüschsofa und den Laminatboden. Genevieve schlurft zu dem Sofa und lässt sich wenig elegant in die Polster fallen. Wir folgen ihrem Beispiel und setzen uns auf das gegenüberliegende. „Ich bin diesen Süßes-Mädchen Ruf ´eh satt“, fährt sie fort und reibt ihre Augen. „Sollen mich doch alle für ein Zwirrklop halten.“ „Erzähl das Alfred…“, murmelt Raphael und Genevieve stöhnt wissend. „So gern ich ihn hab, manchmal ist er mir echt zu anstrengend.“ „Alfred ist toll“, verteidige ich ihn automatisch. Genevieve hebt den Kopf und schaut mich mit schief gelegtem Kopf an. „Sag das nochmal, wenn du zwei Jahre mit ihm zusammengearbeitet hast.“ Sie pustet eine Strähne aus ihrem Gesicht. „Wann kommt das Essen?“ „Bald.“ Raphael lehnt sich nach vorne und stützt sich mit seinen Ellenbogen auf seinen Knien ab. „Hast du was von Zach gehört?“ „Pff.“ Sie lehnt sich auf dem Sofa zurück und sieht Raphael mitleidig an. „Als wenn. Zach macht seinem Namen alle Ehre. Es würde mich nicht wundern, wenn er überhaupt nicht auftaucht.“ „Er kommt. Das ist unsere letzte Gelegenheit, die Championship unter die Lupe zu nehmen. Es wäre idiotisch von ihm, sich das entgehen zu lassen. Zach ist Vieles, aber nicht dumm.“ „Richy sieht das anders“, meint Genevieve bitter, aber bevor sie weitersprechen kann, klopft es an der Tür. „Ich gehe schon“, sage ich und stehe auf. Als ich öffne, steht im Flur ein Wagen mit abgedeckten Platten, Getränken und Geschirr. Von Jeffry ist nichts zu sehen. Als ich den Wagen in die Suite schiebe, höre ich Genevieves leise Stimme. „-mache mir langsam Sorgen. All die Reporte und trotzdem passiert nichts.“ „Was für Reporte?“ frage ich. Raphael hilft mir schnell, den Tisch zu decken, während Genevieve weiterredet. „Team Rocket“, sagt sie. „Sie breiten sich wie ein Geschwür aus, aber mir fehlt die Explosion, verstehst du? Keine ihrer Aktionen hat bisher ernsthafte Folgen gehabt. Ein paar Löcher hier, ein Überfall da… Je länger sie so ruhig sind, umso schlimmer werden später die Folgen sein, befürchte ich.“ So ruhig kam mir Mel nicht vor, denke ich, bleibe aber stumm. „Richy glaubt nicht daran, dass Team Rocket eine Chance hat“, fährt Raphael fort und tut uns allen Croissants und Früchte auf die Teller. „Seiner Meinung nach sind wir mehr exzellente Trainer als je zuvor, deshalb sollten wir uns keine Sorgen machen. Aber es geht hier nicht nur um reine Kampfstärke. Wenn sie uns überraschen oder überrumpeln, nützen uns unsere besten Pokémon gar nichts.“ „Aber was hat das mit Zach zu tun?“, hake ich nach. „Zach hat ein besonderes Interesse an Team Rocket“, erklärt Genevieve. „Seine Schwester ist in einem Überfall ums Leben gekommen und er glaubt, dass Team Rocket bereits damals dahinter steckte. Aber es ist schon fünf Jahre her, deswegen hält Richard ihn für paranoid.“ „Fünf Jahre?“ Ich beiße in mein Croissant. „Damals gab es doch noch überhaupt keine Anzeichen für Team Rocket.“ „Nicht öffentlich“, sagt Raphael. „Aber was, wenn sie bereits damals ihre Pläne begonnen und sich gesammelt haben? Dann, drei Jahre später, beginnen sie ihre ersten organisierten Verbrechen. Es ist möglich.“ „Ist ja auch egal.“ Genevieve beißt herzhaft in einen roten Apfel und spült mit Wasser nach. „Sie sind zurück und bald werden alle guten Trainer gegen sie kämpfen müssen. Also Noah, Gold, wir Vier, vielleicht die Top Vier und Arenaleiter, je nachdem wie stark Team Rocket dieses Mal ist.“ „Wahrscheinlich reicht Gold schon aus“, meint Raphael grinsend. „Er hat sie damals schließlich auch alleine ausgeschaltet.“ „Vielleicht. Aber Team Rocket ist gefährlicher geworden. Und wenn wir sie schneller besiegen, wird sich niemand beklagen.“ Die nächsten Minuten essen wir in Schweigen, außer unseren Kaugeräuschen und dem Klirren von Geschirr ist nichts zu hören. Schließlich lässt Genevieve sich mit einem zufriedenen Seufzen nach hinten fallen. „Danke für das Frühstück, Raph.“ Raphael schmunzelt, dann steht er auf. „Los, ich will Abby noch die Anlage zeigen, bevor Richy aufkreuzt.“ „Geht ihr ruhig…“ „Gen.“ Raphael verschränkt die Arme. „Soll ich Alfred sagen, dass du dich für ein Interview zur Verfügung gestellt hast?“ Sie kneift ein Auge zusammen. „Wenn du unfair spielen willst, sag es ruhig“, meint sie. „Ich hab immer noch einige despektierliche Fotos von meinem achtzehnten Geburtstag.“ Neugierig schaue ich zu Raphael hoch, der kreidebleich geworden ist. „Die solltest du löschen!“ Sie lacht. „Solange du mich erpresst, brauche ich Gegenmaßnahmen.“ Er seufzt. „Komm einfach mit. Wir können die Pokémon auf dem Trainingsplatz laufen lassen.“ Genevieve öffnet den Mund, als wolle sie widersprechen, dann zuckt sie die Schultern und steht ächzend auf. „Gib mir fünfzehn Minuten.“ Als sie die Suite verlassen hat, räume ich meinen Rucksack in das Schlafzimmer, ziehe mich um und mache mich frisch. Gemeinsam mit Raphael warte ich danach vor Genevieves Tür. Es dauert nur eine Minute, bevor sich die Tür öffnet und eine andere Person vor mir steht. Genevieve trägt leichtes Make-Up, ihre spröden Lippen glänzen und ihr gebürstetes Haar wird von einem hellblauen Haarband zurückgehalten, das farblich zu ihrem knielangen Rock passt. Dunkle Leggins akzentuieren die schlanke Muskulatur ihrer Beine und ihr hochgeschossenes Tank-Top wird zum größten Teil von einer blauen Bolero-Jacke verdeckt. Sie sieht aus wie die Genevieve aus dem Fernsehen, aber nachdem ich sie live erlebt habe, kommt mir das Outfit fehl am Platz vor. „Dann wollen wir mal“, sagt sie lustlos und ich gluckse. Egal, wie ordentlich sie sich kleidet, ihre Persönlichkeit blitzt trotzdem durch. Gemeinsam steigen wir die Treppen nach unten und treten nacheinander ins Foyer. „-eine Reservierung.“ „Ah, Sir Zolwyk, Lady Zolwyk. Wir haben sie schon erwartet. Ihre Karte, bitte.“ „Wo gehen wir als erstes hin?“, frage ich Raphael. „Zuerst geben wir unsere Pokémon im Trainingscenter ab. Ich kann nicht mit allen durch die Gegend laufen und sie hatten die ganze Woche keinen Auslauf.“ Ich nicke. „Ihre Räume liegen auf dem fünften Stockwerk, Suiten 6 und 7“, fährt Jeffry fort. „Was zur- Abby?“ Meine Nackenhaare stellen sich auf. Diese Stimme kenne ich. Langsam drehe ich mich zu der Zolwyk-Familie um. Sir Zolwyk ist ein Mann in seinen Vierzigern, mit ergrauendem, perfekt geschnittenem Haar und Bart und einem schwarzen Anzug. Lady Zolwyk trägt einen teuren Hosenanzug und ihr feuerrotes Haar fällt in gestylten Wellen über ihre Schulter. Und etwas hinter ihr steht, perfekt gestylt wie immer, Ruth. „Ruth?“, antworte ich entgeistert und ignoriere Raphaels verwirrten Blick. „Was machst du denn hier?“ „Was wohl, Scherzkeks.“ Sie scheint sich von ihrem Schock erholt zu haben, denn ihre schnippische Art ist sofort wieder da. „Ich bin mit meinen Eltern wegen der Championship hier. Die Frage ist, was du hier machst. Sag mir nicht, dass du plötzlich genug Geld hast, um hier einzuchecken, das kaufe ich dir nämlich nicht ab.“ „Nicht in diesem Ton, Ruth“, sagt ihre Mutter streng und Ruth verzieht das Gesicht. „Verzeih, Mutter.“ „Ich habe sie eingeladen“, beantwortet Raphael Ruths Frage und sie wirft ihm einen scharfen Blick zu, bevor ihre Augen sich weiten und sie merkt, mit wem sie spricht. „Raphael Berni?“, fragt sie und schaut an ihm vorbei zu Genevieve. „Und Genevieve Keller?“ „Eine Freundin von dir?“, fragt Raphael an mich gewandt und ich schnaube. „Gehen wir einfach“, sage ich stattdessen. „Ich will Ruth nicht mit meiner Anwesenheit belästigen.“ Genevieve lacht, tätschelt meinen Kopf und verlässt dann das Hotel. Raphael und ich folgen. „Ich dachte nicht, sie so schnell wiederzusehen…“, murmele ich, während wir gemeinsam der Straße zu den Trainingsplätzen folgen. Es ist wärmer als bei unserer Ankunft, aber bei weitem nicht warm und so bin ich froh, meine Jacke zu haben. Auch wenn Raphael sie zur Hälfte finanziert hat. „Hoffentlich verfolgt Mel sie nicht bis hierher.“ „Mel?“ Ich zögere. Bisher weiß nur Caroline von Mel und Teal und auch nur von unserer ersten Begegnung. Aber falls Team Rocket wirklich hier auftaucht, um sich an Ruth und mir zu rächen, sollte Raphael wohl besser Bescheid wissen. „Es gibt da etwas, dass ich dir noch nicht erzählt habe…“   Meine Erklärung zieht sich, denn sowohl Genevieve als auch Raphael unterbrechen mich mehrmals, mit Fragen oder ungläubigen Ausrufen. Als ich fertig erzählt habe, schaut Raphael mich lange an. Die übliche Sorglosigkeit ist von seinem Gesicht gewichen und auch Genevieve wirkt ernster als zuvor. „Dann kann ich wohl froh sein, dass du überhaupt noch hier bist“, sagt er schließlich und ich nicke. „Du glaubst also, diese Mel könnte hier aufkreuzen?“, hakt Genevieve nach und ich zucke die Achseln. „Ich weiß es nicht. Sie will sich an mir und Ruth rächen. Und jetzt befinden wir uns am selben Ort. Andererseits wird es hier nur so von Polizei und starken Trainern wimmeln. Ich weiß nicht, ob sie das Risiko eingehen wird." „Wir sollten auf jeden Fall aufpassen“, sagt Raphael und ich nicke. „Okay, genug davon.“ Genevieve reckt sich und nimmt dann einen Pokéball aus ihrer Tasche. „Ich nehme eins meiner Pokémon mit. Was ist mit dir, Raph?“ „Natürlich. Ich laufe sicher nicht ohne Pokémon durch die Gegend.“ „Was ist mit dir, Abby?“ Ich denke kurz nach. „Hunter hatte genug Bewegung heute Nacht und Sku wird mir dankbarer sein, wenn ich heute Nacht mit ihr spazieren gehe. Gott kann ich rauslassen.“ Genevieve zieht eine Augenbraue noch. „Gott?“ „Mein Igelavar.“ „Gott, huh? Gar nicht mal so übel.“ „Wie heißen deine Pokémon, Genevieve?“ „Gen reicht, bitte. Und nenn mich auf gar keinen Fall Vivi. Das darf nur Alfred und auch nur, weil ich es ihm nicht austreiben konnte.“ „Wie du willst.“ Sie lässt ihren Pokéball durch ihre Finger rollen, bevor er wächst und ein roter Lichtstrahl heraus schießt. „Ich stelle vor: Zero.“ Ich kneife die Augen zusammen. Dann materialisiert sich Gens Pokémon und mir rutscht das Herz in die Hose. Das gelbe Hypno sieht größer und gefährlicher aus als das Monster aus dem Wald und ich mache automatisch einen Schritt zurück. Raphael ruft ebenfalls eins seiner Pokémon. Sein Luxtra materialisiert sich direkt neben ihm und legt sich augenblicklich auf den Boden, die Zunge hechelnd aus dem Maul hängend. „Hallo Dario“, sage ich und kraule seinen Kopf und Nacken. „Lange nicht gesehen.“ Dario hechelt zustimmend und ich denke daran, wie unkontrollierbar er als Sheinux und Luxio war. Raphaels Training hat sich eindeutig bezahlt gemacht. „Dann lass mal dein Gott-Pokémon sehen“, meint Gen. „Zu einem kleinen Kampf kann ich dich wohl nicht überreden, oder?“ Ich rufe Gott, der sich vor mir materialisiert und bei der Menge an Fremden sofort seine Ohren anlegt und kampflustig knurrt, seinen Körper eng an den Boden gedrückt. Wir beide wissen, wer in einem Kampf den Kürzeren ziehen würde.  „Nie im Leben.“   Das Pokémonareal liegt nur etwa fünf Minuten zu Fuß von dem Hotel entfernt und besteht aus einer Parkanlage, die in Sektoren unterteilt ist. Am Eingang, einem hohen Torbogen mit Absperrung und einem Platzwärter, müssen wir unsere Trainer-IDs vorzeigen und eintragen, welche Pokémon wir abgeben wollen. Nachdem Ggen und Raphael dem jungen Mann ein Autogramm auf seine Cappi gegeben haben, gibt er den Beiden je fünf größenverstellbare Halsbänder mit ihrer Trainer-ID und einem elektronischem Chip. Hinter dem Eingang führt ein Kiesweg zu dem Gebäudekomplex, der die Areale in einer zu uns geöffneten U-Form umschließt und Sitzreihen und Stehplätze bietet, falls man den Pokémon zusehen möchte. Außer uns sind kaum Trainer anwesend, aber auf dem Wiesensektor tummelt sich bereits eine beachtliche Anzahl von Pokémon. Hauptsächlich Normal- und Pflanzentypen sind vertreten, aber auf einige andere Typen, deren Bedürfnisse weniger speziell sind, als dass sie in den Wassersektor oder die unterirdischen Gänge gebracht werden müssen. Nachdem ich Penny, Murphy und Raphaels andere Pokémon ausgiebig begrüßt habe, lassen wir die Zehn zurück und verlassen das Pokémonareal. Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel und öffne meine Jacke ein Stück, während wir weiter der Straße folgen, unsere drei Pokémon dicht neben uns. Das flache Gelände ist sehr übersichtlich und so erkenne ich die Liga und das dahinter liegende Stadion schon von weitem. Mehr und mehr Menschen strömen uns in Kleingruppen entgegen und nicht wenige deuten auf uns oder bitten Raphael und Gen direkt um ein Autogramm. Gen hat ihre Fernsehmiene aufgesetzt: Niedlich mit der ein oder anderen spitzen Bemerkung und auch Raphael lächelt und macht Fotos mit seinen Fans, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber wann immer wir eine Pause von der Aufmerksamkeit haben, lässt er die Fassade fallen und seufzt erschöpft. „Das wird eine stressige Woche…“, sagt er nach einer halben Stunde, während derer wir über zwanzig Mal stehen bleiben mussten. „Kopf hoch, Raph.“ Gen legt einen Arm um seine Schultern und tätschelt ihn. „Ab Mittwoch können wir uns in der VIP-Lounge verstecken und ganz auf die zehn reichen Pinkel konzentrieren, die dort sein werden.“ „Oh Gott.“ Ich werde langsamer. „Wird Ruth auch da sein?“ „Wer, die Rothaarige von eben?“ Gen zuckt die Achseln. „Wenn sie reich ist, bestimmt.“ „Zolwyk, oder?“, fragt Raphael nach. Ich nicke. „Die Zolwyks sind auf jeden Fall in der VIP.“ „Wäre ja zu schön gewesen…“   Abgesehen von den Menschengrüppchen, die uns noch einige Male aufhalten, erreichen wir die Pokéliga unbehelligt. Sie liegt nur etwa hundert Meter gegenüber dem Ausgang der Siegerstraße, die von einigen Wärtern bewacht wird. Die Liga selbst ist ein gigantisches Gebäude, mindestens zwei Stockwerke hoch und reicht weit nach Norden. Dichtes, grünes Gras voller Blumenbeete umschließt die Rot und Gold gehaltene Liga und hohe Tannen säumen den Weg, der zu ihrer Schwelle führt. „Können wir da rein?“, frage ich, aber Raphael schüttelt bedauernd den Kopf. „Früher durften alle Trainer eintreten, die die Siegesstraße hinter sich gebracht haben“, erklärt gen. „Heute liegt zwischen ihnen und der Liga die Championship. Nur die beiden besten erhalten am ende den Freipass, die Top Vier und den amtierenden Champion herauszufordern.“ „Niemand sonst darf sie betreten?“ „Nein.“ „Wie viele Teilnehmer sind es denn dieses Jahr?“, frage ich Raphael und er schaut sehnsüchtig zum Stadion, das wie ein großer Kessel gegen den Horizont aufragt. „Von dem, was Alfred sagt, sind 114 Anmeldungen eingegangen, aber nur knapp 90 sind durch die Siegesstraße gekommen.“ „Also 90 Trainer, die an den Blockkämpfen teilnehmen…“ „Davon werden 32 zu den KO-Kämpfen durchgelassen und die beiden Sieger erhalten den Schein“, fährt Gen fort. „Es ist ein extremes System, aber was will man machen, bei den Trainermassen.“ „Das heißt, nächstes Jahr können maximal zwei von den Favoriten durchkommen“, stelle ich fest und Raphael nickt grimmig. „Ich hab dich trotzdem lieb, Raph“, sagt Gen breit grinsend und klopft ihm auf den Rücken. „Also hass mich nicht, wenn ich dich aus dem Turnier kicke.“ Raphael schmunzelt nur, sagt aber nichts. Wie kann er so sicher sein, zu gewinnen? Ich denke an Louis, der vor jedem Kampf mit seiner Unsicherheit zu kämpfen hat. Raphael sagte, irgendwann kommt das Selbstbewusstsein von alleine, aber ich frage mich trotzdem, wann er so viel Vertrauen in seine Fähigkeiten und seine Pokémon erlangt hat. Wir sind schon halb an der Liga vorbei, als Dario die Ohren anlegt und leise knurrt. Raphael schaut sich automatisch um und hebt, als er nichts sieht, den Kopf. „Er ist früh.“ Gen schaut ebenfalls in den Himmel und schattet ihre Augen mit einer Hand ab. „Na sieh mal einer an.“ „Wer?“, frage ich, bevor ich ebenfalls nach oben schaue. Das grelle Sonnenlicht blendet mich, aber als ich die Augen zusammen kneife, kann ich einen dunklen Schatten am Himmel erkennen. „Dario mag sein Togekiss nicht“, erklärt Raphael, als Darios Knurren immer lauter wird und er einen Schritt nach vorne macht, den Kopf in den Nacken gelegt. „Shht.“ Dario legt die Ohren an, setzt sich aber gehorsam auf seine Hinterläufe. „Was macht er da?“, fragt gen nach einigen Sekunden. „Er verliert an Höhe.“ „Will er hier landen?“ Raphael kneift die Augen zusammen. Dann packt er mein Handgelenk. „Zur Seite, schnell. Er will hier runter.“ Wir machen hastig Platz auf dem Weg, während Richard sich auf seinem Togekiss immer weiter dem Boden nähert. Als ich schon sein Gesicht sehen kann, leuchtet Togekiss plötzlich in rotem Licht auf und verschwindet. Richy fällt weiter, bevor er mit einem lauten Knall in der Hocke einige Meter von uns entfernt auf der Straße landet. Als er sich langsam erhebt und umdreht, liegt nichts als unzerstörbares Selbstvertrauen in seinem Blick. Ein heftiger Wind erfasst seine offene Jacke und sein karamellbraunes Haar von hinten und weht beides wild peitschend um seinen Körper und sein Gesicht. Er zeigt die Zähne. „Yo.“ Kapitel 39: Flammen in der Nacht (Unheilsbote) ---------------------------------------------- Richard lässt den Blick über uns schweifen. „Abby?“, fragt er und ich nicke. Ohne ein weiteres Wort richtet er sich an Raphael. „Yo, Raphael, ich hab ´nen Anruf von Alfred gekriegt. Seid ihr zwei fit für ein Podium-Interview vor der Championship?“ Raphael verzieht das Gesicht. „Was ist mit Zach?“ „Zach?“ Richy lacht. „Der taucht ´eh nicht auf. Hab gehört, er hat seine Reservierung gekündigt?“ „Hat er.“ Gen seufzt theatralisch. „Er kann sich auch nicht einmal an die Pläne halten, geez.“ „Der alte Streuner. Aber was will man machen. Ihn treibt´s halt um wie ‘n Wanderpokémon. Ich wär schon geflasht, wenn er bei dem Turnier durchgängig anwesend ist.“ „Du hast von einem Podium-Interview gesprochen…“, sage ich vorsichtig und Raphael wirft mir einen bösen Blick zu. „Ah, yeah.“ Richy kratzt sich am Kopf und kommt dann zu uns. Gemeinsam folgen wir der Straße weiter Richtung Stadion. „Wir sollen heute Abend bei ihm vorbei schauen. Du kannst auch mitkommen, Abby.“ „Echt?“ Ein breites Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht. „Das wäre super!“ „Yo.“   Die Unterhaltung wird hauptsächlich von Richard und Genevieve am Leben gehalten, Raphael schaltet sich mehr und mehr aus dem Gespräch aus, bis er und ich einige Meter hinter den beiden anderen Favoriten laufen, Gott knurrend neben mir, Dario dicht neben Raphael. Außer dem einen oder anderen Ohrenzucken lässt er sich nicht von Gotts Feindseligkeit beeindrucken. „Du kommst nicht gut mit ihm aus, oder?“, frage ich, als ich sicher bin, dass die Beiden uns nicht hören werden. Raphael zuckt die Schultern. „Er ist okay. Auf Dauer wird er mir zu anstrengend. Speziell bei Interviews. Er zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich, aber immer auf diese drängende Art und Weise. Gruppeninterviews mit ihm sind ein Alptraum, wenn man vor dem Reden noch denken will.“ Ich grinse. „Und du? Wie sind deine ersten Eindrücke?“, fragt Raphael nach einer kurzen Pause. „Ich stelle fest, dass man niemals der Kamera trauen sollte“, meine ich gut gelaunt. „Ihr scheint alle öffentliche und private Persönlichkeiten zu haben.“ „Dafür kannst du dich bei Alfred bedanken.“ Raphael schiebt seine runde Brille zu Recht und krault dann abwesend Darios Kopf. „Er hat jeden von uns gecoacht.“ „Zach auch?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen und Raphael gluckst. „Er hat es versucht. Zach ist aber nie aufgetaucht.“ „Was weiß man eigentlich über ihn?“ „Wenn du Glück hast, wirst du ihn persönlich kennen lernen. Viel wissen wir nicht über ihn. Das mit seiner Schwester ist mehr durch Zufall raus gekommen, ich glaube nicht, dass er es uns freiwillig gesagt hätte.“ „Und Alfred hat daraus keine Story gemacht?“, frage ich überrascht. Raphael wirft mir einen schiefen Blick zu. „Alfred ist nicht so sensationsgierig, dass er jemandes Privatleben zerstört, nur um noch mehr im Rampenlicht zu stehen. Du bist das besteBeispiel. Er kennt deinen Namen, weiß, wo du wohnst und wie du zu mir stehst, trotzdem spielt er seit zwei Jahren den ahnungslosen, weil er will, dass du in deinem eigenen Tempo ins Rampenlicht trittst. Und Zachs Vergangenheit geht niemanden etwas an.“ Wir schließen langsam wieder zu Gen und Richy auf, die sich angeregt über ihre Trainingsmethoden austauschen, wobei dieser Austausch mehr aus Selbstanpreisungen besteht als allem anderen. Raphael wirft hier und da etwas ein, hält sich aber weiterhin zurück. Und ich denke nach. Bisher dachte ich immer, Reporter und Moderator zu sein hieße nur, Geheimnisse ans Tageslicht zu bringen. Der Welt die Wahrheit zu sagen, ganz gleich, welche Konsequenzen das mit sich bringt. Aber Raphael hat Recht. Alfred behält meine Identität seit zwei Jahren für sich und über Zachs Schwester hätte er die herzzerreißendste Reportage drehen können. Aber das hat er nicht. Ich denke an Maya zurück, die mich als sensationsgeil bezeichnet hat. Und ich denke an Dark. Seine Identität halte ich bisher geheim. Warum? Die Gesprächsfetzen dieses Tages schwirren mit einem mal durch meinen Kopf. „Ich kann es ihm nicht verübeln. Der Junge gefällt mir nicht.“ „Ach was, der Boss weiß, dass sein Sohn nicht so ganz bei uns rein passt.“ „Er sollte dankbarer sein.“ Dark wurde in die Organisation geboren. Er hatte keine Wahl. Vielleicht gebe ich ihm eine Chance, vielleicht- „Abby?“ Ich schrecke hoch und schaue zu Raphael, der mich besorgt anschaut. Als ich lächle, grinst er und tritt andächtig zur Seite. „Wir sind da.“   Von Nahem ist das Indigostadion gigantisch. Ich lege den Kopf in den Nacken, um die Höhe abzuschätzen, aber außer riesig fällt mir kein treffender Vergleich ein. „Beeindruckend, oder?“, fragt Raphael und ich nicke stumm. Mein Blick gleitet über die Stahlkonstruktionen, die in einem Kreuzmuster über uns in die Höhe ragen, die roten und weißen Fassaden mit schwarzen Akzenten wie ein Pokéball, die Lichter, die beginnende Kuppel… „Was wollt ihr hier?“, fragt Richard und kratzt sich am Hinterkopf. „Heute kommen wir noch nicht rein.“ „In den Eingangsbereich schon“, widerspricht Raphael. Richy zuckt die Achseln. Trotz Richards Widerwillen machen wir uns zum West-Eingang auf. In dem Gewusel von Arbeitern, Polizisten und Schaulustigen fallen wir nicht weiter auf, worüber vor allem Raphael froh ist. Wir schlängeln uns an den Wachen vorbei, die uns nur einen kurzen Blick zuwerfen, bevor sie sich wieder abwenden. Noch ein Problem, das sich mit wachsendem Bekanntheitsgrad aufzulösen scheint. Das untere Stockwerk führt kreisförmig um die Kampffläche herum, die in der Mitte des Stadiums liegt und derzeit noch abgesperrt ist, aber die Pokécenter, die gleichmäßig im äußeren Ring verteilt sind, haben selbstverständlich offen, sowie einige Märkte. Souvenirläden sind geschlossen, genauso diverse andere fragwürdige Shops, wie Tauschbasare und Los- und Wettstudios. Als wir das Pokécenter betreten, knurrt Gott mit einem Mal laut und ich gehe neben ihm in die Hocke. „Wenn du dich nicht benehmen kannst, rufe ich dich zurück“, murmele ich leise. Gott legt die Ohren an, bleibt aber ruhig. Geht doch. Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an Raphael nehmen und Gott erziehen. Als ich mich wieder erhebe, sehe ich einen kleinen Jungen, der an der Hand seiner Mutter an der Theke steht. Sein Voltoball liegt vor Schwester Joy, die das bewusstlose Pokémon abtastet. „Wird er wieder gesund?“, schnieft der Junge und seine Mutter streichelt ihm beruhigend über den Rücken. Joy lächelt und schaut von dem Pokémon auf. „Natürlich, er ist schließlich ein starkes Pokémon. Ruf ihn zurück, ich werde ihn über Nacht aufladen müssen. Er hat sich sehr verausgabt. Du kannst ihn morgen wieder abholen." Der Junge wischt sich über die Augen, dann nickt er und ruft sein Voltoball zurück. Den Pokéball gibt er Schwester Joy. Als er mit seiner Mutter verschwindet, schaue ich mich ein wenig in dem Pokécenter um. Es ist geräumiger als die aus den Städten in Johtos, mit vier Computern und einer Rolltreppe, die anscheinend zu einer Mensa führt. „Übernachten hier die Trainer?“, frage ich sie und sie nickt. „Es sind sechszehn Pokécenter in dem Stadion angelegt, mit genug Zimmern für alle Teilnehmer.“ Sie schaut mich entschuldigend an. „Wenn du noch eine Übernachtungsmöglichkeit suchst, dann musst du in einem der lokalen Hotels einchecken.“ „Kein Sorge, ich habe ein Zimmer“, sage ich und verabschiede mich von ihr, dann machen wir uns zu viert auf eine kleine Besichtigung.   „Ist es wirklich okay, wenn ich mitkomme?“, frage ich zum dritten Mal, bevor Raphael mir mit der losen Faust auf den Kopf schlägt. „Du hast eine schriftliche Erlaubnis, oder nicht?“ „Schon, aber hier geht es schließlich um euer Interview…“ „Komm einfach mit“, meint Genevieve und wuschelt mir durchs Haar. „Alfred wird sich freuen, wenn er nicht der einzige Medienfreak ist.“ „So schlimm bin ich auch nicht…“, murmele ich, aber Gen gluckst nur. Fein, vielleicht habe ich heute drei Radiosendungen verfolgt. Vielleicht bin ich länger als nötig vor dem Stadionfernseher stehen geblieben, um die Nachrichten zu schauen. Okay, meinetwegen. Richard klopft und Alfreds Stimme schallt vom Inneren der Suite 9 an unsere Ohren. "Kommt rein!" Suite Nummer 9 ist genauso eingerichtet wie unsere eigene, dennoch bin ich auf den ersten Blick unsicher, ob wir richtig sind. Kassetten, ein Radio, Papierstapel, Zeitungen, Kameras und Kabeljeglicher Länge und Dicke sind über das Mobiliar verteilt. Erik, Alfreds persönlicher Kameramann, sitzt an einem Schreibtisch und säubert sein Equipment während Alfred uns in quietschgelbem Hemd und eng sitzender Jeans begrüßt. Sein sonst perfekt gegeltes Haar steht in alle Richtungen ab und seine Brille sitzt tief auf seiner Nase. "Da seid ihr ja! Wunderbar, wunderbar. Und ist das nicht..." Er schaut an Richard und Genevieve vorbei zu Raphael und mir. Seine Augen weiten sich und er breitet die Arme aus. "Abbygail! Wie wundervoll, dich an diesem Abend hier zu haben! Fabelhaft!" "Hallo Alfred", sage ich breit grinsend. Raphael verdreht wohlwollend die Augen, aber ich stoße ihm nur mit dem Ellenbogen in die Seite, bevor ich Gens und Richys Beispiel folge und Alfred fest umarme. "Als Raphael mich wegen deines Geburtstaggeschenks ansprach, konnte ich es kaum glauben! Eine Freundschaft, die dem Ruhm und dem Reichtum trotzt." Seine Augen füllen sich mit dem Anflug erster Tränen und ich tätschele seine Hand. "Ich bin sehr froh, sie wiederzusehen", sage ich und Alfred hält sich gerührt eine Hand vor den Mund. "Aber aber, Alfred, nicht weinen." Genevieve nimmt ihn an den Schultern und geleitet ihn zu der roten Plüschcouch. "Wir haben Dinge zu besprechen, oder nicht?" "Ja, ja in der Tat." Er dreht sich zu Erik um. "Erik, haben wir etwas zu Trinken für diese jungen Menschen?" Erik grunzt und steht aus, um in dem Raum zu verschwinden, den ich aus unserer Suite als Barschrank in Erinnerung habe. "Setzt euch, ihr Lieben, setzt euch." Alfred deutet auf die Couch ihm gegenüber. Ich setze mich mit Gen und Raphael, Richy bleibt an die Couch gelehnt stehen. "Zach kommt nicht, nehme ich an?" Raphael gluckst und Richy schüttelt den Kopf. "Er hat seine Reservierung aufgehoben", erkläre ich und Alfred seufzt. "Wenn er nicht so unglaublich attraktiv und talentiert wäre, würde ich ihn niemals vermarkten können. Aber immerhin erscheint er stets zu seinen Kämpfen." "Zu den Wichtigen zumindest...", murmelt Richy. In dem Moment erscheint Erik mit einem Tablett voller Gläser, Sekt, Saft und Wasser und einer Schüssel gefüllt mit Keksen. Ich greife herzhaft zu und lasse mir von ihm einen Persifbeersaft einschenken. Neben mir konkurriert Gen mit meiner Keksanzahl. Raphael trinkt einen Schluck Wasser und Richy sippt an seinem Sekt. "Du willst ein Podium-Interview veranstalten?", fragt Raphael schließlich. "Richtig." Alfred beugt sich etwas zu uns nach vorne. "Die Championship beginnt am Mittwoch, den 1. Oktober. Morgen werden jedoch die Gruppenauslosungen vorgenommen und viele der Zuschauer werden da sein.Ich halte es für eine gute Idee, ihnen mehr zu bieten als nur ein paar Mädchen in kurzen Röcken, die Zettel aus einer Trommel ziehen." Richard grinst breit. "Ich hab da nichts gegen." "Geez, Richy..." Gen reibt sich die Augen. "Das wollte niemand wissen." "Wann willst du das Interview ansetzen?", fragt Raphael. Alfred nimmt einen Schluck Sekt mit Saft, bevor er antwortet. Erik setzt sich wortlos wieder an den Schreibtisch und fährt mit seiner Arbeit fort. "Nach der Auslosung wird es viel Gesprächsbedarf geben. Habt ihr euch informiert?" "Jede freie Nacht hab ich mir mit dem Mist um die Ohren geschlagen", stöhnt Genevieve und isst noch eine Handvoll Kekse. "Los, frag mich ab. Ich kann dir die Lieblingsstrategie jedes Trainers aufsagen, nach Nachnamen geordnet wenn´s sein muss." "Wunderbar, wirklich wunderbar." "Wäre gern mal Zach", meint Richy und kratzt sich am Kopf. "Dann könnte ich mir diesen Lernscheiß sparen." "So gut siehst du aber nicht aus", meint Gen und Raphael verschluckt sich an seinem Wasser. Während er mühsam dem Erstickungstod entrinnt, fährt Alfred ungerührt fort. "Die Auslosung findet im Wiesensektor des Pokémonareals statt. Alle Trainer werden anwesend sein. Ich werde einige zur Befragung herauspicken und nach der Werbepause beginnt euer Part. Einverstanden?" Richy zuckt mit den Schultern und Genevieve nickt. "Was ist mir dir, Raphael?" Alfred schaut ihn ernst an. "Öffentliche Interviews sind nicht mein Fall", gesteht er schließlich. "Du hast schon unzählige Interviews mit mir geführt!", protestiert Alfred, aber Raphael schüttelt nur den Kopf. "Da konnte ich die Zuschauer aber nicht sehen." Ich nehme seine Hand und drücke. "Du schaffst das schon", muntere ich ihn auf. "Stell dir einfach vor, ihr seid ganz allein." Raphael schnaubt, sagt aber nichts. Alfred reibt sich die Hände. "Wunderbar, dann wäre das geklärt. Ich hatte folgendes vor..."   Gegen halb eins erwache ich durch Skus Schweif, der demonstrativ durch mein Gesicht wedelt. Ich drehe mich um, aber zwei Pfoten landen in meinem Gesicht und schließlich murre ich meine Zustimmung. Skus Gewicht verschwindet von meinem Gesicht und ich setze mich vorsichtig auf. Raphael schläft in dem Raum neben an, deswegen stehe ich unbehelligt auf und ziehe mir meine Hoodie, die Jacke und meine Schuhe an. Sku wuselt aufgeregt zwischen meinen Beinen her. Unsere Nachtspaziergänge sind seit meinem Geburtstag viel zu kurz gekommen. Ich schleiche mich durch die nachtschwarze Suite und bemühe mich, nicht über Sku zu stolpern. Als ich die Tür erreiche, gehe ich vorsichtig in den Gang hinaus. Es ist dunkel, aber unter Gens Türspalt leuchtet weißes Licht in den Flur. Da ist wohl noch jemand wach, trotz Raphaels Warnung. Aber Genevieve kann ihre Aktivität wahrscheinlich genauso wenig kontrollieren wie Sku. Gemeinsam laufen wir die mit Teppich verlegten Stufen hinunter. Zu meiner Erleichterung ist die Eingangstür zum Hotel mit meinem Zimmerschlüssel zu öffnen und so vergehen nur wenige Sekunden, bevor ich aufgeregt bibbernd im kalten Nachtwind stehe. Das im Schatten liegende Gras beugt sich in den stärker aufkommenden Winden und ich atme mehrere Male tief durch, bevor ich mit Sku losgehe. Hohes Gras habe ich bisher nicht auf dem Plateau gesehen, aber wahrscheinlich hätte Sku ohnehin keine Chance, wenn die Stärke der Pokémon in der Siegesstraße irgendein Anhaltspunkt ist. Hunter würde diese Nacht auch gefallen, denke ich, aber ich will sein lautes Gekrächze nicht riskieren. Während wir die Straße entlang durch das getrimmte Gras wandern, erzähle ich Sku alles, was sie im Pokéball verpasst hat. Es ist ein sehr einseitiges Gespräch, trotzdem kommen mir ihre Bewegungen, ihr Schnurren und gelegentliches Grunzen wie eine eigene Sprache vor und schon bald fühlt es sich wie ein richtiges Gespräch an. So vertieft in unseren Austausch bin ich, dass ich das Feuer erst nach einer Weile bemerke. Ich kneife die Augen zusammen. Kein Zweifel. Nördlich sind zwei Flammen zu erkennen. "Komm", murmele ich und laufe los. Sku faucht protestierend, folgt mir aber. Wir laufen quer durch die Wiesenabschnitte, bis wir tiefer auf das Plateau vorgedrungen sind als selbst das Pokémonareal und meine Füße nur noch Fels und kleines Geröll spüren. Keuchend werde ich langsamer und bleibe schließlich stehen, Hände auf meine Knie gestützt. Sku taucht einige Sekunden späte hinter mir auf und wirft sich flach auf den Rücken. Ich muss sie wirklich wieder trainieren. Das Feuer flackert weiter, aber die beiden Flecken wirken jetzt größer. Ich meine sogar, eine Gestalt zwischen den Flammen erkennen zu können. Ein Pokémon? Ich stupse Sku mit meinem Fuß an und mache mich wieder auf den Weg, dieses Mal schnell gehend statt laufend. Eines Tages werde ich meine Ausdauer in den Griff kriegen. Hoffe ich. Je weiter wir auf dem Plateau vordringen, umso besser kann ich die scharfkantigen und steilen Felsvorsprünge erkennen, die vor mir in die Höhe ragen. Das Feuer ist irgendwo über mir. "Hallo?", rufe ich leise in die Dunkelheit. Steine bröckeln zu Boden, als Hufe über den Vorsprung scharren. Sku kauert sich auf den Boden neben mir. Dann erklingt ein Heulen. Kehlig. Angsteinflößend. Der Wind bläst mir mit nächtlicher Kälte entgegen, peitscht mein Haar in mein Gesicht und ich spüre die Gänsehaut, die sich von meinem Kopf über meine Arme und meinen gesamten Körper ausbreitet. Das Heulen ertönt erneut und das Feuer bewegt sich flackernd auf dem Felsen hin und her. Am liebsten wäre ich auf der Stelle umgedreht. Etwas an dem Heulen beschwört in mir Bilder von Zerstörung herauf, von Katastrophen und von Chaos. Aber ich bleibe, wo ich bin. Sku richtet sich langsam auf, ihr Schweif senkrecht in die Höhe gereckt und faucht. Ihr Fell ist zu doppelter Dicke aufgeplustert. Tod. Verderben. Angst. Chaos. Katastrophe. Unheil. Ich schüttele mich, dann mache ich einen Schritt nach vorne. "Wer ist da?" Ich kann die Silhouette des Pokémon nur schwerlich erkennen, aber das Licht genügt, um mir zu zeigen, dass ein Mensch auf seinem Rücken sitzt. Ein Trainer. Das Heulen wiederholt sich erneut, wird dieses Mal jedoch von einem leisen Pfeifen unterbrochen. Der Klang des abgebrochenen Jaulens verklingt in der Nacht und ich reibe meine Arme. Mir ist furchtbar kalt. „Es ist eine gefährliche Nacht“, sagt eine männliche, ruhige Stimme und mir läuft zum wiederholten Mal eine  Gänsehaut über den Rücken. „Du solltest gehen.“ Sku zischt leise, aber sie verstummt, als ich einen Schritt nach vorne mache. „Wer bist du?“ „Niemand, der für dich von Bedeutung ist.“ Alles in mir schreit, seinem Rat zu folgen, wegzurennen und diese nächtliche Begegnung zu vergessen. Aber ich schaffe es nicht, meine Beine in Bewegung zu setzen. Die Hufe scharren erneut, gefolgt von einem kurzen Wiehern. „Was hat eben so geheult?“, frage ich und kneife die Augen zusammen, um den Trainer auf seinem Pokémon erkennen zu können, aber der Vorsprung ist zu weit über mir. „Eine gute Freundin. Sie warnt dich vor dem, was bevorsteht. Geh jetzt.“ Ich will zu einer weiteren Antwort ansetzen, da höre ich ein lautes Klackern, Steine bröckeln zu Boden und das Feuer fliegt über meinen Kopf, um hinter mir zu landen. Langsam drehe ich mich um. Auch ohne sein Bild zu kennen, hätte ich Zacharias Stray sofort erkannt. Schulterlanges, tiefschwarzes Haar umrahmt seine markanten Gesichtszüge, die im flackernden Schein des Feuers tiefe Schatten werfen. Seine blaugrauen Augen leuchten mir aus der Dunkelheit wie eine kalte Fackel entgegen und sein muskulöser Körper wird nur von eng anliegender,dunkler Kleidung bedeckt. Sein Gallopa scharrt mit den Hufen und er lenkt es gekonnt mit seinen Schenkeln, bis es sich beruhigt.   „Absols Warnung sollte nicht leicht abgetan werden“, sagt er mir bedrohlich ruhiger Stimme. „Geh jetzt, oder deine Verfolger werden dich finden.“ „Meine Verfolger?“ Ich starre ihn an. Woher weiß er von Mel und Teal? „Ich werde dich nicht beschützen“, fährt er fort. Gallopa schnaubt und tänzelt unruhig vor und zurück. „Ich jage meine eigene Beute.“ Mit diesen Worten lenkt er Gallopa in Richtung des Pokémonareals. Bevor er jedoch losreiten kann, macht etwas in meinem Kopf Klick. Kann es sein… „Warte!“, rufe ich ihm hinterher und Zacharias dreht sich ein letztes Mal zu mir um. „Kennst du die Blumenverkäuferin in Dukatia City? Ihr Name ist Caroline.“ Zach wendet sich wieder ab und Gallopa trottet los. „Natürlich. Caroline ist meine Schwester.“   Eigentlich hätte ich es mir denken können. Nach Zachs Warnung habe ich nicht weiter gezögert und bin im Eilschritt zurück zur Hauptstraße gegangen. Nun mit Sku nur noch etwa fünfzig Meter vom Hotel entfernt, denke ich an Zachs perfektes Gesicht, seine bleiche Haut und die stechend blauen Augen zurück. Caros Haar wär mit Sicherheit genauso schwarz wie seins, wenn sie es nicht färben würde. Schon als ich von Zachs toter Schwester erfuhr, ist mir das ganze bekannt vorgekommen, aber ich habe nicht daran gedacht, dass der Bruder, den Caro als passablen Trainer beschrieben hat, einer der vier Favoriten sein könnte. Ich schließe die Eingangstür auf, schleiche die Stufen hinauf und finde mich nur wenige Minuten später in meinem kuschlig warmen Bett wieder. Meine Verfolger. Sku macht es sich an meiner Seite gemütlich und ich genieße ihre Wärme und flauschige Nähe, während Bilder einer bandagierten Mel mit hasserfülltem Auge durch meinen Kopf schießen. Wenn sie wirklich hier ist, dann habe ich keine Wahl. Ich muss Ruth warnen. Kapitel 40: Krieg und Allianz (Babysitting der Extraklasse) ----------------------------------------------------------- Als ich am nächsten Morgen aufwache, strahlt mir das Sonnenlicht unangenehm in die Augen und ich rolle mich hin und her, bevor ich Geräusche aus dem Hauptraum der Suite höre. Ich taste nach Sku, doch die hat sich bereits unter das Bett verkrochen und schläft dort in geliebter Dunkelheit. Ich rufe sie zurück, dann ziehe ich mich an und folge den Gesprächsfetzen. Raphael und Genevieve sitzen auf den Sofas und schlürfen Kaffee. Auf dem Tisch vor ihnen ist eine platte belegter Croissants aufgehäuft. Ich begrüße die beiden etwas verschlafen, lasse mich dann gegenüber auf die Couch sinken und greife nach einem Croissant. „Hast du schlecht geschlafen?“, fragt Raphael besorgt. Ich schüttele den Kopf. „Ich war noch mit Sku spazieren.“ Ich werfe einen Blick zu Genevieve. „Du siehst auch etwas übernächtigt aus.“ „Ich hatte mit drei Stunden mehr Schlaf gerechnet.“ Sie trinkt einen großen Schluck Kaffee und reibt sich die Augen. „Aber Raph musste natürlich wieder dazwischen funken.“ „Wenn ich dich in Ruhe lasse, kommst du in den falschen Rhythmus.“ Sie winkt ab. „Die Auslosung startet um 13:00 Uhr“, sagt Raphael an mich gewandt. „Wir werden vorher noch ein Briefing mit Alfred haben. Das Interview startet um 14:15 Uhr.“ „Ich werde da sein“, sage ich und esse mein Croissant zu Ende, bevor ich aufstehe. „Ich habe noch was mit Ruth zu besprechen. Wir sehen uns später.“ Genevieve zieht eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts. Ich bin schon halb durch die Tür, da drehe ich mich noch einmal um. „Ich habe gestern Nacht Zach getroffen. Er sagte, es sei eine gefährliche Nacht.“ „Zach?“ Gen schaut unschlüssig zu Raphael, doch der zuckt nur die Achseln. „Würde mich nicht wundern, wenn er nachts rumschleicht. Aber was meint er mit gefährlich?“ „Er wird sich noch blicken lassen, keine Sorge“, meint Gen, dann gähnt sie herzhaft. „Richy wird ihn schon finden. Er hat ein Talent dafür, Zach überall ausfindig zu machen.“ Ich nicke, dann verlasse ich unsere Suite. Jeffry hat den Zolwyks die Suiten 6 und 7 zugewiesen. In einer davon wird Ruth sein. Ich stelle mich vor die Tür der Nummer 6 und lege ein Ohr an das Holz. Von innen höre ich leise Stimmen. Ein Gespräch? Ich presse meine Wange enger an die Tür, aber ich kann keine Worte ausmachen. Als nächstes nehme ich mir die Suite 7 vor. Mein Ohr hat kaum das Holz berührt, da schwingt die Tür auf und schlägt in mein Gesicht. Ich stolpere zurück, die Hand auf meine Wange gepresst. Als ich meine Lippe betaste, sind meine Finger blutig. „Was machst du denn hier?“, fragt Ruth gereizt und tritt aus ihrem Zimmer. Als sie mein Gesicht sieht, verdunkelt sich ihre Miene. „Spionierst du mir nach?“ „Nein…“ Ich wische schnell das Blut weg und verschränke die Arme. „Ich muss mit dir reden.“ „Wirklich.“ Wir schauen uns finster an. Nach unserem Friedenspakt hielt ich unsere Beziehung für ein wenig gebessert, aber sie ist genauso feindselig wie zuvor. Dann wiederum war das Teil der Abmachung. Trotzdem. Ruths Gesichtsausdruck geht mir schon jetzt auf die Nerven. „Vergiss es“, sage ich und wende mich ab. „Es ist dein Problem, nicht meins.“ „Problem?“, fragt Ruth und ich höre, wie mir nachgeht. „Was für ein Problem?“ Ich bleibe stehen, seufze und drehe mich zu ihr um. Sie sieht genauso genervt aus wie ich mich fühle, aber da ist auch noch etwa anderes. Nicht direkt Angst, aber eine böse Vorahnung. „Wir sollten das in Ruhe besprechen“, sage ich schließlich. „Sollen wir uns ins Foyer setzen?“ Ruth nickt. Gemeinsam nehmen wir den Aufzug nach unten und machen es uns dann an einem der Tische bequem, der am weitesten von den Treppen und der Empfangstheke entfernt ist. Ruth bestellt einen Cappuccino und ich einen Tamottee und nachdem Jeffry in der Küche verschwindet, um die Getränke zu besorgen, beugt Ruth sich etwas nach vorne. „Hat das mit Team Rocket zu tun?“, fragt sie. „Holly hat mich angerufen.“ Ich nicke. „Mel hat mich und Louis in den Alph-Ruinen aufgespürt. Sie wollte uns lebendig begraben. Wir sind nur knapp entkommen.“ „Waren die anderen bei ihr?“ „Nur Teal. Anscheinend waren sie auf einer privaten Mission unterwegs. Gut möglich, dass Lee nicht zu entbehren war.“ Ruth nickt nachdenklich. „Sie sucht uns also und will Rache. Großartig.“ „Das ist noch nicht alles. Ich habe gestern Zach getroffen.“ Ich berichte Ruth knapp von meiner Begegnung mit dem Favoriten und von der vagen Warnung, die er geäußert hat. „Wunderbar. Ganz toll.“ Ruth nippt an ihrem kürzlich gebrachten Cappuccino und verzieht das Gesicht bei dem Geruch meines Getränks. „Mel und Teal sind also hier.“ „Scheint so“, sage ich. „Aber hier ist kaum der beste Ort für die Beiden, zuzuschlagen. Solange wir uns nicht alleine irgendwo herumtreiben, können sie uns nichts anhaben.“ „Es wäre auf jeden Fall ziemlich dumm von ihnen. Zumindest bei dir.“ Ruth schaut einen Moment lang nachdenklich auf ihre Finger. „Du hast den besten Schutz, den man sich wünschen kann. Drei prominente Freunde, die außerdem zu den stärksten Protrainern der Region gehören. Um deine Sicherheit brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“ Sie klingt bitter. „Was ist mit dir?“, frage ich und Ruth lacht. „Mit mir? Meine Eltern sind reich. Denkst du wirklich, sie können mit Pokémon umgehen?“ „Weiß ich doch nicht“, sage ich, gereizt. „Du hast nie gesagt, wo du her kommst und was deine Eltern machen.“ „Tja, ich sah keinen großen Grund, ausgerechnet dir mein Herz auszuschütten“, keift sie zurück. „Außerdem reise ich lieber inkognito.“ „Deine Eltern können dich also nicht beschützen?“ „Nein.“ Sie fährt mit dem Finger den Rand ihrer Tasse nach. „Meinen Eltern gehört der Hafen in Oliviana City. Die Schiffe laufen nur bei uns an, aber die MS. Love ist unser Eigentum.“ „War das nicht das Schiff, das im Radio erwähnt wurde?“ „Die MS. Love legt zweimal pro Jahr im Hafen von Oliviana City zu einer Pokémonausstellung ab. Nur die reichsten der Reichen sind eingeladen, ihre preisgekrönten und seltenen Pokémon vorzuführen.“ „Du klingst nicht begeistert“, merke ich an und Ruth schnaubt. „Keiner von denen zieht seine Pokémon selbst auf. Ich bin jedes Mal dort und jedes Mal gewinnt irgendein reicher, fetter Mann, der sein geliebtes Pokémon bis zum Tag der Ausstellung noch nie gesehen hat. Das macht mich krank.“ Ich schmunzele und Ruth wirft mir einen bösen Blick zu. „Was?“ „Nichts“, sage ich und trinke einen tiefen Schluck Tee, der wie Feuer meine Kehle herab fließt. „Du bist nicht ganz so unausstehlich wie ich immer dachte, das ist alles.“ „Was, dachtest du, ich bin zum Spaß in Azalea City gewesen?“, feixt Ruth zurück. „Ich musste Himmel und Hölle in Bewegung setze, damit meine Eltern mich überhaupt gehen ließen und nachdem sie von Team Rocket erfahren haben, musste ich sofort zurückkehren.“ „Du darfst nicht weiterreisen?“, frage ich. „Natürlich nicht. Ich bin die einzige Erbin. Ihr Imperium darf schließlich nicht untergehen.“ „Was ist mit Markus und Nick?“ Ruth zögert. Ihr scheint bewusst geworden zu sein, dass wir uns inzwischen auf einer ganz normalen Ebene unterhalten. Mir ist das neue Gesprächsthema auch nicht geheuer, aber Nick ist nett zu mir gewesen und ich möchte wissen, was er macht. „Markus ist nur mitgekommen, weil ich ihn darum gebeten habe. Er ist wieder bei seiner Familie. Nick hat sich an uns dran gehängt. Wenn er könnte, würde er mir nicht von der Seite weichen. Idiot.“ Ich lasse ihre Worte unkommentiert. Stattdessen komme ich auf das eigentliche Gesprächsthema zurück. „Habt ihr keinen Bodyguard oder so?“, frage ich. Ruth seufzt. „Wir haben einen, aber er ist nicht mitgekommen. Meine Mutter mag ihn nicht und hat ihm befohlen, in unserer Villa zu bleiben.“ „Also hast du keinen Schutz, falls Mel dich angreifen sollte.“ „Gut erkannt.“ Ich nehme einen großen Schluck Tee. Ich weiß, was ich sagen sollte, aber ich bin nicht gerade scharf auf die Folgen. Ruth schnaubt. „Keine Sorge, ich komme schon alleine klar. Ich werde mich deinen VIP-Freunden nicht an den Hals schmeißen.“ „Unsinn.“ Ich zwinge mich zu einem Lächeln, das Ruth mit einer hochgezogenen Augenbraue kommentiert. „Wenn Team Rocket hier ist, können wir keine Risiken eingehen. Du kannst bei uns bleiben, solange das Turnier stattfindet.“ Ruth schweigt. Schließlich schaut sie zur Seite. „Danke.“ Ich leere meine Tasse und stehe auf. „Wir treffen uns um 12:30 Uhr hier im Foyer.“   Raphael und die anderen sind in Alfreds Suite, deswegen mache ich es mir in unserer eigenen gemütlich und schaue ein wenig Fern. Gott liegt halb über meinem Schoß und ich streiche ihm beruhigend über den Kopf. Sein Misstrauen gegenüber Trainern und Pokémon macht mir Sorgen, aber vielleicht hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Etwa zwei Stunden später klopft es an der Tür. „Abby? Wir sind fertig.“ „Komme!“ Ich rufe Gott zurück, kämme mir mit den Fingern durch die Haare und treffe dann die anderen im Flur. „Bereit für die Auslosung?“, fragt Genevieve grinsend und legt einen Arm um meine Schulter. „Ich persönlich freue mich vor allem auf das Interview. Du auch, Raph?“ „Halt die Klappe, Gen.“ „He.“ Richard taucht hinter uns auf. „Ich hab Bock.“ „Ich habe Ruth angeboten, bei uns zu bleiben“, sage ich zu Raphael, als wir gemeinsam die Treppen hinunter steigen. „Das ist gut.“ Er schaut ernst gerade aus. „Ich werde nicht zulassen, dass euch hier etwas passiert.“ Im Foyer angekommen entdecke ich Ruth, die an einem der Tische sitzt und gelangweilt ihre Fingernägel betrachtet. Als sie uns sieht, steht sie auf und gesellt sich zu mir. „Wo sind deine Eltern?“, frage ich, während wir das Hotel verlassen und uns auf den Weg Richtung Areal machen. „Vorgegangen. Sie wollen Kommunikation betreiben. Es sind eine Menge Leute hier, mit denen sie Geschäfte machen können.“ Auf dem Weg zum Pokémonareal begegnen wir zahllosen Menschengruppen, die von anderen Hotels in der Nähe zu der Auslosung gehen. Flugpokémon segeln vereinzelt durch die Lüfte und landen auf den umliegenden Wiesen, wo ihre Trainer absteigen und sich den Rücken und die Beine massieren, während andere auf ihren Fahrrädern vorbei fahren. Richy genießt die Aufmerksamkeit, die sich schon bald auf unsere kleine Gruppe legt. Alfred und Erik kommen getrennt nach, aber drei Favoriten auf einem Haufen sind ein seltener Anblick und wir müssen wieder und wieder stehen bleiben, damit Richy und die anderen Autogramme geben können. Raphael versucht zusehends, im Hintergrund zu verschwinden und ich erwische ihn mehrmals dabei, wie seine Finger nach dem nicht vorhandenen Wollschal tasten. Trotzdem verlässt sein Lächeln nie seine Lippen und auch Genevieve ist wie verwandelt, ganz in eine niedliche, aber schlagfertige Maske gekleidet. Selbst Richy wirkt anders, weniger ruppig und eher wie der begehrte Mädchenschwarm, charmant und immer der Gentleman. Ruth und ich halten uns dezent im Hintergrund. „Ist ja tierisch nervig“, meint sie schließlich. „Das kommt davon, wenn man zu gut ist.“ „Sind die Favoriten wirklich so gut?“, fragt Ruth und schaut den dreien träge beim Unterschreiben zu. „Jedes Jahr sind es an die hundert Trainer, die zugelassen werden. Warum sollen vier von denen so viel besser sein? Das kommt mir wie ein ziemlicher Hype vor.“ „Ich weiß nur, wie stark Raphael ist“, sage ich Schulter zuckend. „Die anderen beiden kenne ich erst seit gestern.“ „Woher kennst du Raphael?“ Die Fans lösen sich auf und wir setzen unseren Weg fort. „Ich habe ihm in einem Kampf in meiner Heimatstadt geholfen, kurz bevor er von den Medien entdeckt wurde. Wir sind jetzt zwei Jahre befreundet.“ Ruth schaut nachdenklich gerade aus. „Ich kenne Markus und Nick seit ich fünf war, aber ich würde sie nicht als meine Freunde bezeichnen.“ „Warum nicht?“, frage ich. Sie streicht sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn. „Ich bin nicht besonders gut, was zwischenmenschliche Beziehungen angeht.“ Ihre Miene verfinstert sich. „Eigentlich geht dich das überhaupt nichts an.“ Ich hebe ergeben die Hände. „Tut mir Leid, Hoheit. Ihr spracht, ich lauschte.“ „Tzh.“ Nach langgezogenen und mehrmals unterbrochenen zwanzig Minuten erreichen wir endlich das Areal. Der Torbogen ist mit Pokéballons geschmückt und am Eingang stehen zwei Wärter, die allen Besuchern ein rotes Bändchen um das Handgelenk binden. Als wir an der Reihe sind, lächelt uns der Wärter von gestern schüchtern zu, seine unterschriebene Cappi sitzt stolz auf seinem Kopf. Als Richard die Mütze bemerkt, zieht er einen Filzstift aus seiner Tasche und beißt den Deckel ab. „Da fehlt noch einer“, sagt er breit grinsend und fügt sein eigenes Autogramm neben die anderen beiden Namen ein. „Auf Zachs wirst du verzichten müssen, fürchte ich.“ „K-kein Problem.“ „Ich kann es fälschen, wenn du willst.“ Richy zwinkert ihm zu. Als er den fassungslosen Gesichtsausdruck sieht, lacht er laut und klopft ihm auf die Schulter. „Verpass unser Interview nicht.“ Hinter dem Torbogen wird es enger. Menschen drängen sich auf die äußeren Tribünen und es bedarf zwei schwarz gekleideter Männer, uns einen Weg durch die Menge zu bahnen. Wir steigen die Treppen hinauf und erreichen schließlich eine abgetrennte Box, in der die Sitze hintereinander gestaffelt sind, um einen besseren Blick auf den Wiesensektor zu bieten. Mittig im vorderen Drittel der Grasfläche ist ein rundes Podium aufgebaut, auf dem eine Magnettafel und eine große Glaskugel gefüllt mit kleinen, schwarzen Briefumschlägen stehen. Kameramänner bauen ihr Equipment auf und zwei große Bildschirme hängen an der unbesetzten Tribüne gegenüber. Auf ihr läuft eine Montage der spektakulärsten Trainerkämpfe der Turnierteilnehmer, unterlegt mit leiser Musik, die von dem Menschentrubel übertönt wird. Neben der Tafel stehen zwei junge Frauen in High-Heels und eng anliegenden, kurzen Kleidern, Mikrofone und Karteikarten in ihren Händen. „Da kommt Alfred“, sagt Raphael, der rechts neben mir Platz genommen hat und auf eine violett gekleidete Person deutet, die winkend und lachend zu dem Podium geht, die Wangen der Frauen küsst und sich kurz mit ihnen unterhält. „Gleicht geht es los.“ Genevieve lehnt sich auf ihrem Sitz ein wenig nach vorne, um besser über die Brüstung sehen zu können. Sie hat Recht. Kaum zwei Minuten später legt sich die Unruhe allmählich und statt der Trainerkämpfe übertragen die beiden Monitore nun Nahaufnahmen der beiden Moderatorinnen. Die erste, klein, zierlich, mit hochgestecktem blonden Haar und strahlend weißen Zähnen streckt einen Arm in Richtung der hinteren Tribüne aus, während sie unentwegt die Zuschauer ansieht. „Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir, die 89 Trainerinnen und Trainer, die allen Gegnern und Gefahren getrotzt haben, um sich Ihnen hier, auf dem Indigo Plateau, zu präsentieren! Ein Applaus für… Katharina Alwig!“ „Als wenn wir hier sind, um uns dem Publikum zu präsentieren…“, murmelt Genevieve. „Lars Arens!“ „Gehört halt dazu, Vivi.“ „Timon Azik!“ „Nenn mich nicht Vivi, Richard.“ Richards Grinsen macht einem hungrigen Magnayen alle Ehre. „Jonathan Bark!“ Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen unter mir zu. Während die Moderatorinnen abwechselnd die Trainer auf die Wiese rufen, laufen Kurzcollagen ihrer besten Momente auf dem einen Bildschirm, Livemitschnitte ihres Aufgangs mit eingeblendeten Trainerdaten, Siegesquoten, etc. auf dem anderen. Trotz der Schnelligkeit, mit der jeder Teilnehmer abgehandelt wird, dauert es dennoch fast dreißig Minuten, bevor sie alle in Reih und Glied zu beiden Seiten des Podest Stellung genommen haben. Ruth neben mir spielt gelangweilt mit ihren Haaren und Raphael unterhält sich leise mit Gen, die immer wieder kichert oder belustigt schnaubt. Nur Richard folgt dem Geschehen mit offenkundiger Faszination. Ich kann ihm förmlich ansehen, wie gerne er jetzt dort unten stehen würde, gebadet in der Liebe seiner Fans und dem Scheinwerferlicht des zukünftigen Erfolgs. Ich schmunzele. Erst muss er an Raphael vorbei. „Und zu guter Letzt…. Jasmina Zon!“ Ich beobachte Jasmina, ein großes, kräftiges Mädchen mit wilden schwarzen Locken und einer Hornbrille, die ihr das Aussehen eines Insektenpokémon verleiht, während sie sich winkend und Kusshand werfend auf die rechte Seite zu ihren Mitstreitern gesellt. Ihr Auftreten spricht von Selbstvertrauen und die Jubelwoge, die ihr entgegen tost, spricht für sich. „Jasmina ist einer der Lieblinge“, erklärt Raphael leise. „Ihr Kampfstil ist gnadenlos offensiv und sie hat schon mehr als einen Arenaleiter mit einem einzigen Pokémon besiegt.“ „Warum gehört jemand wie sie nicht zu den Favoriten?“, frage ich verwundert. „Ihr Team weist einige Schwächen auf“, fährt Genevieve mit der Erklärung fort. „Sie ist stark gegen Arenaleiter und andere spezialisierte Trainer, aber im freien Kampf gegen andere Multitypnutzer ist sie schwächer.“ „Ich Auftreten macht die Schwäche bei ihren Fans wieder wett.“ Richard kratzt sich am Hinterkopf. „Aber Jubel gewinnt keine Turniere, so einfach ist das. Deshalb ist sie kein Favorit.“ „Gegen Noahs Variation hat sie dann wohl keine Chance“, schlussfolgere ich. Raphael nickt und ich wende mich wieder der Auslosung zu, die inzwischen fast begonnen hat. „…Vierergruppen aufgeteilt. Diese Gruppen werden hier und jetzt ausgelost. Maria wird die Umschläge aus der Bowle ziehen und ich werde die Namen verlesen und die Tafel ergänzen. Also, auf geht´s!“ Die andere Moderatorin, Maria, lächelt in die Kamera, die nun Nahaufnahmen von ihrer Hand in den Umschlägen und abwechselnd von dem Publikum und den Trainern liefert. Schließlich ziehen ihre lackierten Finger einen der Umschläge aus der Glaskugel heraus und sie reicht ihn an die erste Frau weiter. „Gruppe A wird bestehen aus… Larissa Kumwick…“ Maria reicht den nächsten Umschlag an. „Janine Torres… Mark Eisenthal und… Joanne Quillou!“ Sie tritt an die Magnettafel und heftet die vier Bilder der Trainer, die an Magneten befestigt sind, in das Quadrat unter der Überschrift Gruppe A. „Schwache Gruppe“, murmelt Gen und Richard nickt. „Mark kommt durch. Wenn er die Kämpfe nicht verbockt, kann er mit 6 oder mehr Punkten raus gehen.“ „Hat es inzwischen weitere Änderungen in der Punktevergabe gegeben?“, frage ich Raphael, doch der schüttelt den Kopf. „Ein Punkt für einen Sieg, zwei Punkte für jeden Sieg, bei dem mindestens vier Pokémon kampffähig bleiben und drei Punkte für einen perfekten Kampf ohne Verluste.“ „Drei Punkte sind sehr selten, oder?“ „Auf diesem Niveau schon“, sagt Genevieve. „Aber keines der drei Mädchen ist ein besonders herausragender Trainer und Mark ist sehr defensiv. Er geht sorgsam mit seinen Pokémon um und weiß, wie er sie am effizientesten einsetzen kann. Ich halte ein oder zwei perfekte Kämpfe für sehr wahrscheinlich.“ Ruth schaut zu den dreien hinüber. „Ihr kennt euch verdammt gut mit diesen Trainern aus“, sagt sie, aber es klingt weniger wie ein Lob als wie eine mitleidige Feststellung. „Unsere Meinung ist gleich auf dem Podium gefragt“, sagt Raphael. „Alfred hat uns gezwungen, uns gut vorzubereiten.“ Genevieve seufzt. Da schlägt Richard mit der Faust in seine Hand. „Checkt das mal!“ Wir alle wenden uns wieder der Auslosung zu. Inzwischen ist Gruppe D vollständig. Die Namen an der Tafel sagen mir nichts, aber sowohl Raphael als auch Genevieve geben undefinierbare Laute von sich. „Na das ist doch mal eine Zusammenstellung“, meint Raphael. „Kerry Lou und Martina Summer? Da werden die Fetzen fliegen.“ „Und noch Josh Lannis. Arme Ponya, sie hat keine Chance bei diesen Gegnern.“ „Auf Amateur, bitte.“ Ruth lehnt sich an mir vorbei zu den Dreien hinüber. „Das gemeine Volk möchte auch an der allgemeinen Aufregung teilhaben.“ „Kerry und Martina sind das Rivalenpaar dieses Turniers.“ Gen klingt wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal in seinem Leben einen Lolli in die Finger kriegt. „Sie haben sich schon unzählige Male duelliert, offiziell und inoffiziell. Sie sind einander nachgejagt wie damals Red und Blue. Die beiden gehören auf jeden Fall zu den höher gehandelten Trainern dieses Turniers.“ „Dazu kommt, dass ihre Teams perfekt aufeinander abgestimmt sind. Jeder Kampf ist wie eine eingeübte Show, nur das Ende ist jedes Mal anders. Bis heute hat keiner der Beiden eindeutig die Oberhand gewonnen.“ „Hier wird es sich dann wohl entscheiden“, meint Richard grinsend. „Josh wird die Hände voll haben, nicht unterzugehen.“ „Ach was, Josh ist besser ausbalanciert. Wenn er einen guten Tag erwischt, packt er beide locker.“ „Wenn“, wiederholt Gen bedeutsam. Ruth wendet sich wieder ab. „Ist ja nicht zum aushalten…“ „Interessiert dich das Turnier nicht?“, frage ich verwundert. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich schaue mir gerne die Kämpfe an, aber der Hype, der darum gemacht wird, ist einfach übertrieben. Ich will nicht jeden Trainer analysieren, ich will den Kampf sehen.“ „Warum bist du dann hier?“ Sie schaut mich mitleidig an. „Denkst du, meine Eltern lassen sich in der Öffentlichkeit ohne ihre Tochter blicken? Gotte bewahre, man könnte denken, sie hätten mich nicht unter Kontrolle oder noch schlimmer, sie könnten sich kein drittes VIP-Ticket leisten.“ Raphael lacht leise. „Ich weiß ja nicht, warum du und Abby so schlecht aufeinander zu sprechen sein wollt, aber ich kann dich gut leiden.“ „Jep.“ Genevieve zwinkert ihr zu. „Ruppig, sarkastisch, wie ich´s mag.“ „Pff.“ Ruth schaut zur Seite, aber ich meine, einen Hauch von rot auf ihren Wangen zu erkennen. „Gruppe H“, unterbricht Richard uns. „Jasmina ist drin.“ Raphael schaut sofort auf die Monitore. „Und Sven.“ „Uh, böse Kombination.“ Genevieve lehnt sich zurück. „Das wird ein wirklich interessantes Turnier, wenn es so weiter geht.“ Und es geht so weiter. Eine Gruppe nach der anderen wird ausgerufen und obwohl die Namen weder mir noch Ruth etwas sagen, geben Raphael und Genevieve gerne und ausführlich Auskunft. Einige der Gruppen scheinen langweilig und vorhersehbar zu sein, aber mehr als einmal geraten die beiden in eine hitzige Diskussion, wer als Sieger aus den Kämpfen hervorgehen wird. „Letztendlich ist es gleich“, sagt Gen schließlich. „Die 32 Besten kommen weiter, egal in welcher Gruppe sie waren.“ „Aber maximal zwei einer Gruppe“, verbessert Raphael. Sie winkt ab. „Geez, immer so formell. Wie hältst du ihn aus, Abby?“ „So oft sehe ich ihn nicht“, meine ich und Raphael boxt mir leicht gegen die Schulter. „Du verletzt mich.“ „Sicher.“ „Wie viele Gruppen noch?“, fragt Ruth gelangweilt und ich zähle schnell in meinem Kopf nach. „Wir sind jetzt bei Gruppe T, also noch zwei. Oder drei?“ „Zwei. Die letzte Gruppe wird aus fünf Mitgliedern bestehen.“ „Wie machen sie das mit den Punkten?“ „Die Punkte werden auf einen Wert herunter gerechnet, der einer Vierergruppe entspricht“, sagt Raphael. „Irgendjemand wird sich auch dieses Jahr beschweren, ich schwör´s dir.“ Genevieve verstellt die Stimme. „Es war unfair, ich hatte ein zehntel zu wenig Punkte, sonst wäre ich durch gekommen, blablub blablub. Geez.“ „Trotzdem, ich beneide die letzte Gruppe nicht. Ein Kampf zusätzlich kann auch ins Augen gehen.“ „Ach was.“ Richard steht auf und stellt sich an die Brüstung, um hinunter zu schauen. „Wer Angst vor einem zusätzlichen Kampf hat, kann direkt wieder nach Hause.“ Genevieve zuckt die Achseln. „Ich wär nicht scharf drauf, aber wenn´s sein muss, dann besiege ich auch zwanzig Gegner, um weiter zu kommen.“ Das Gespräch verebbt, während wir gespannt auf die letzten beiden Gruppenkonstellationen warten. Die Gesichter der übrigen neun Trainer werden abwechselnd auf den großen Bildschirmen gezeigt und die Unterschiede sind beträchtlich. Ein Junge mit goldblondem, kinnlangem Haar und Stahlbrille grinst selbstbewusst, während ein anderer, schlaksiger Junge versucht, in der Trainergruppe unter zu gehen. Vergeblich, er muss mindestens 1,90m groß sein. „Carlos ist gut drauf“, sagt Genevieve und deutet auf den selbstbewussten Jungen. „Den hält nichts auf.“ „Schau dir im Vergleich Marcel an. Er macht sich jetzt schon in die Hose.“ Richard schüttelt den Kopf. Der letzte Umschlag wird gezogen. Die Kameras fangen die fertige Magnettafel ein und ich höre, wie Raphael leise die wichtigsten Gruppierungen wiederholt, um sie sich einzuprägen. Neben ihm tut Genevieve das gleiche. „Sind wir jetzt fertig?“, fragt Ruth brüsk. Ich schüttele den Kopf. „Das Interview fehlt noch.“ „Welches Interview?“ Ich nicke zu den drei neben mir. „Alfred interviewt die Favoriten gleich live.“ „Und wer beschützt uns dann?“, fragt Ruth entsetzt. „Ich bin hier für Schutz, nicht zum Vergnügen!“ „Wenn ich Alfred die Situation berichte, kann ich sicher hier bei euch bleiben“, schlägt Raphael vor. „Oh nein, Raph, so nicht.“ Genevieve schlägt ihm auf den Hinterkopf. Dann dreht sie sich zu Ruth um. „Keine Sorge, wenn ihr euch hinstellt, haben wir euch von unten gut im Blick.  Wenn irgendwas ist, macht euch einfach bemerkbar.“ „Und was dann? Unterbrecht ihr einfach das Interview?“ „Ich kann Dario bei euch lassen, wenn dich das beruhigt“, sagt Raphael und zieht einen Pokéball. „Er sollte mit den meisten Gegnern fertig werden, bis wir euch erreichen.“ „Dein Pokémon?“ Sie klingt nun nicht mehr ganz so zickig. Ein roter Lichtblitz schießt aus Raphaels Pokéball und im nächsten Moment materialisiert sich Dario vor unseren Sitzen. Er legt sich automatisch hechelnd auf den Bauch und Raphael tätschelt seinen Kopf, bevor er ihm befiehlt, uns zu beschützen. Dario nickt einmal, dann steht er auf und lässt sich neben Ruth und mir auf die Hinterläufe nieder, die Ohren gespitzt in alle Richtungen zuckend. Alfreds Showstimme lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen unter uns. Privat ist seine Stimme bereits voller Tatendrang und Energie, aber vor Publikum scheint er spezielle Stimmbänder zu haben. Er lacht, scherzt mit dem Publikum, breitet die Arme aus, umfasst die gesamte Menge mit seinem Blick und seinen Gesten. Er ist der perfekte Moderator. Aus den Augenwinkeln spüre ich Raphaels spöttischen Blick auf mir ruhen, aber davon lasse ich mich nicht beirren. auch, wenn ich ihn jetzt näher kennen lernen sollte, für mich wird er immer der Gott der Medien sein. Das große Vorbild, dem ich nachstrebe. „Jasmina, du bist in Gruppe H gelandet! Was hältst du von deiner Konkurrenz?“ „Melissa und ich sind ein kurzes Stück gemeinsam gereist, deswegen freue ich mich sehr auf unseren Kampf“, antwortet sie mit einem selbstbewussten Lächeln. „Er wird zeigen, wie sehr wir uns beide entwickelt haben. Larry konnte ich bisher noch nicht duellieren, aber ich freue mich auf die neue Herausforderung. Sven wird eine harte Nuss, aber ich bin zuversichtlich.“ „Harte Nuss ist gut…“, murmelt Gen. „Wenn sie ihn oder Larry unterschätzt, kann sie ihrem Traum mit Alfreds Taschentuch nachwinken.“ Mein Prusten mühsam unterdrückend lausche ich gebannt den weiterem Kurzinterviews. Alfred steht inzwischen vor einem Jungen, der so jung aussieht, dass ich mich frage, ob er überhaupt schon die Lizenz haben dürfte. „Tim, ich habe gehört, der bist bei vielen hier der Geheimfavorit!“, sagt er und klopft dem Jungen auf die schmalen Schultern. „Wie fühlt es sich an, nach all der harten Arbeit hier zu stehen und die Chance zu bekommen, gegen die anderen Trainer anzutreten?“ „Es… es ist unglaublich.“ Seine Stimme ist leise und nur durch das Mikrofon zu hören, das Alfred wohlwissend vor seinen Mund hält. „Ich weiß nicht, ob ich gewinnen kann, aber ich will mein Bestes geben.“ „Und ob du das wirst. Ein Riesenapplaus für Tim Heartoline!“ Der Lärm ist ohrenbetäubend, Pfiffe und Jauchzen erfüllen die Luft. Tim schaut beschämt zu Boden und ich lächle. Ihm würde ich es wirklich gönnen. „Na, hat er dich gekriegt?“, fragt Gen grinsend. Ich schaue verwirrt zu ihr hinüber. „Gekriegt?“ „Tim wickelt alle um den Finger, aber wenn du ihn einmal kämpfen gesehen hast, vergeht der Kuschelfaktor sofort.“ „Inwiefern?“ „Shh!“ Raphael hält ihr den Mund zu. „Ich will ihre Reaktion im Duell sehen!“ „Iff ha niff gesaf.“ Verunsichert wende ich mich wieder den Trainern zu. Ruth seufzt gelangweilt. „Wenn ich gewusst hätte, dass es hier heute so öde ist, wäre ich morgen nachgekommen.“ „Ach, mit deinem Privatjet?“, frage ich und Ruth schielt zu mir rüber. „Richtig. Und ich hätte aus güldenen Kelchen getrunken und mein hoheitliches Antlitz in silbernen Spiegeln begutachtet.“ Genevieve bricht in einen heiseren Lachanfall aus, aber ich verdrehe nur die Augen. Vielleicht fände ich ihre Kommentare unterhaltsamer, wenn sie mich nicht in einer Höhle hätte einsperren wollen. „Carlos, Carlos, Carlos, dich hat die letzte Gruppe erwischt? Irgendeine Strategie?“, fragt Alfred den schlaksigen Jungen von zuvor und dieser lässt perfekt weiße Zähne hervorblitzen. „Nur die eine, Alfred. Gewinnen.“ „Oho! So spricht ein wahrer  Trainer! Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen.“ Während meiner Diskussion mit Ruth hat Alfred die Runde gemacht und ist nun mit seiner Befragung fertig. Er läuft schwungvoll aufs Podium und breitet ein weiteres Mal die Arme aus. „Meine Damen und Herren, es folgt eine zwanzigminütige Pause! Erfrischen sie sich, es gibt Teigtaschen und Gemüsespieße vor dem Areal! Und gleich wartet auf sie die Meinung der Favoriten für nächstes Jahr, lassen sie sich diesen Leckerbissen also nicht entgehen!“ Richard richtet sich auf und streckt sich, dann verschwindet er an uns vorbei aus der VIP-Box. „Da geht er hin“, meint Gen. „Wir sollten auch los“, sagt Raphael und steht auf. Dario spitzt die Ohren, rührt sich  aber keinen Zentimeter von der Stelle. „Alfred will sicher noch irgendetwas enorm Wichtiges last-minute besprechen.“ „Holt ihr uns hier ab?“, rufe ich ihnen hinterher. Raphael gibt mir einen Daumen hoch, bevor er mit Genevieve auf der Treppe verschwindet. „Wenn ich nicht wüsste, wozu Mel fähig ist, würde ich das hier für einen schlechten Witz halten“, sagt Ruth schließlich und ich nicke bedächtig. „Babysitting der Extraklasse.“ „Babysitting von einem Pokémon.“ Dario hebt den Kopf und schaut sie argwöhnisch an. „Nimm es nicht persönlich.“ „Ich hatte mich wirklich auf das Turnier gefreut…“, murmele ich und starre gerade aus auf die Monitore, die Wiederholungen der Gruppenkonstellationen und Trainerprofile laufen lassen. „Aber wenn sie wirklich hier ist...“ „Ich bin überrascht, dass du die zweite Begegnung überlebt hast.“ „Ich auch.“ Wir schweigen. Ruth sagt nichts, aber ich spüre, dass sie vor Neugierde fast platzt. Einen Moment lang erwäge ich, sie auf dem Trockenen sitzen zu lassen, aber stattdessen gebe ich nach. Ich habe die Alph-Ruinen-Geschichte ja erst drei oder viermal erzählen müssen. „Also seid ihr durch Glück entkommen“, fasst Ruth zusammen, als ich fertig bin. „Ich hatte gehofft, ihr hättet ihr irgendwie die Stirn bieten können, aber ich schätze, das war zu viel verlangt.“ „Kein Glück für uns“, stimme ich zu. „Was wirst du tun, wenn das Turnier vorbei ist?“ „Mich in meinem Zimmer vergraben, vermutlich.“ Sie lacht humorlos. „Ganz normal weitermachen, schätze ich. Trainieren, wann immer ich kann und unserem Bodyguard ein paar Überstunden bescheren.“ „Wirst du nicht weiter reisen?“ „Oh, du bist so naiv, Abby.“ Ruth reibt sich die Augen. „Denkst du, ich darf Protrainer werden? Ganz ehrlich?“ „Naja, du hast zwei Orden und warst in einem Pokécenter untergebracht“, kontere ich gereizt. „Ich habe mit meinen Eltern einen Deal ausgehandelt.“ Ruth legt ihre Hände in ihren Schoß und reibt ihre Finger nachdenklich aneinander. „Wenn ich meine Studien vorziehe und genug vorarbeite, kann ich die resultierende freie Zeit meinem unproduktiven, kindischen Hobby widmen. Ich musste mehrere Monate schuften, bevor ich zwei Wochen frei nehmen durfte.“ Ich schweige. Was kann ich dazu sagen? Ich bin mitten in der Nacht von zu Hause abgehauen, aber unsere Situationen sind wohl kaum vergleichbar. „Jetzt guck nicht so“, fährt Ruth mich an. „Das letzte, was ich will, ist dein Mitleid. Wir sind im Krieg, schon vergessen?“ „Sieht aber so aus, als kämpfen wir wieder auf derselben Seite“, sage ich und sie schnaubt. „Eine durch die Umstände erzwungene Allianz, ja. Aber glaube nicht, dass ich dich deshalb mag.“ „Nicht im Traum.“ „Wo hast du überhaupt deinen Loserfreund gelassen? Ich dachte, ihr wart so dicke miteinander.“ „Wir haben uns in Viola City getrennt“, sage ich kühl. „Und er ist kein Loser.“ „Nein, natürlich nicht. In deiner Welt ist niemand ein Loser, oder? Alles eitel Sonnenschein, jeder ist für sein Glück selbstverantwortlich und alle Menschen sind schön auf ihre Weise.“ „Du redest wie eine alte, verbitterte Frau, Ruth“, keife ich zurück. „Ich kann dir Faltencreme besorgen, wenn du willst.“ „Feil lieber an dienen Comebacks. Waren die schon in Azalea so schlecht oder war ich da von deinen Klamotten abgelenkt?“ Und so geht es weiter. Ich kann nicht sagen, dass ich Ruths Beleidigungen vermisst habe. Ich kann auch nicht das Gegenteil behaupten. Kapitel 41: Sand- und Schneestürme (Wer ist X?) ----------------------------------------------- Durch unseren Wortaustausch abgelenkt bemerken wir die Unruhe erst, als ein Kind schreit. Darios Ohren schießen in die Höhe und er dreht den Kopf, bleibt aber an seinem Platz. Ruth dreht sich langsam zur Treppe um. Ich folge ihrem Beispiel, aber dort ist niemand. Unterdessen wird das Geschrei leiser, aber ein Schluchzen schwillt immer wieder an. Ich stehe auf und schiele vorsichtig die Treppe hinunter. Eine Mutter kniet neben ihrem Sohn auf dem Fußboden und streicht ihm beruhigend über sein goldblondes Haar. Ich schaue mich zu Ruth um, die mir einen warnenden Blick zuwirft, laufe dann jedoch zu den beiden hinunter. „Ist alles in Ordnung?“, frage ich vorsichtig. Die Frau sieht zu mir auf. Sie kommt mir merkwürdig bekannt vor. „Mein Voltoball…“, stammelt der Junge und die Erinnerung kommt mit einem Schlag zurück. Ich habe sie gestern im Pokécenter des Stadions getroffen. „Was ist mit deinem Voltoball?“, frage ich und gehe neben dem Jungen in die Hocke. Er wischt sich über die Augen, während seine Mutter beruhigend seine Schultern reibt. „Schwester Joy hat es nicht gefunden“, sagt sie und ich spüre, wie mein Mund sich öffnet. So etwas passiert nicht. Kein Pokécenter hat je Pokémon von Trainern verloren. Es passiert selten genug, dass ein Pokémon über Nacht im Center bleiben muss. Aber was wenn… Mir läuft es mit einem Mal kalt über den Rücken. Was, wenn Mel nicht hier ist, um Ruth und mich zu töten? Was, wenn sie auf einer offiziellen Mission ist? „Du bist so eine egoistische Idiotin!“, schimpft Ruth, die mit Dario im Schlepptau die Treppen hinunter läuft und sich ängstlich umsieht. Ich stehe auf und flüstere etwas in ihr Ohr. Sie erstarrt. „Abby, sag nicht, dass du vorhast, was ich denke.“ „Wir müssen Raphael finden“, sage ich. „Wenn sie wirklich hier sind, könnten wir sie stellen!“ „Bist du lebensmüde?!“, zischt Ruth zurück und packt mich an den Schultern. „Sie haben ein Pokémon gestohlen, na und? Was kümmert uns das?“ „Es kümmert uns was, weil wir die einzigen sind, die wissen, dass… dass sie hier sind.“ Ich schaue zu der Frau, die ihrerseits verwirrt zurückschaut. Ich will keine Panik verursachen. Ruth öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch in dem Moment erschallt Alfreds Stimme vom Wiesensektor, gefolgt von der Vorstellung der drei Favoriten. Ich beiße mir auf die Lippen. Wir sind zu spät. Verdammt! Ich kann Raphael und die anderen nicht informieren, ohne ihnen vor aller Augen die Situation zu erklären. „Lass es gut sein, Abby.“ Ruth sieht sich finster um. „Wir sagen einem der Wächter hier Bescheid und der kann sich darum kümmern.“ „Ja, weil er mit Sicherheit stark genug ist, um Teal oder Lee aufzuhalten!“, zische ich zurück. „Wenn man uns überhaupt glaubt.“ „Wir haben keine Chance. Keine. Chance.“ Ruth schaut zu dem beginnenden Interview hinüber, dann sieht sie mich wieder ernst an. „Wir werden jetzt einen der Sicherheitsleute ansprechen und wenn er uns nicht hilft, dann war´s das. Kapiert?“ „Wenn wir Te- ihnen einfach freie Hand lassen, werden sie so viele Pokémon stehlen, wie sie wollen. Es wird in einer Katastrophe enden.“ „Es kümmert mich nicht!“ „Es würde dich kümmern, wenn es deine Pokémon wären“, sage ich. Wir schweigen uns an. Als sie nichts mehr sagt, wende ich mich Dario zu. „Kannst du uns beschützen?“, frage ich ihn und er bleckt zustimmend die Zähne. „Dann los.“ Wir ziehen die Blicke aller Umstehenden auf uns, als wir uns zwischen den Menschen hindurch zwängen, Dario dicht an unserer Seite. Die Pokémon der Favoriten haben eine Art eigenen VIP-Standard und so verwundert es mich nicht, dass Dario von vielen der Anwesenden erkannt wird. Zum Glück sind seine Bisse genauso berüchtigt wie sein Temperament, wenn Raphael ihn nicht unter Kontrolle hält und so macht man uns schnell Platz, auch wenn ein Raunen hinter uns ansteigt. Das Areal verlassend erreichen wir einen der Sicherheitsmänner, den Jungen, den Richard vor Beginn der Auslosung in Verlegenheit gebracht hat. Als er uns auf sich zulaufen sieht, Dario voran sprintend, macht er einen Schritt zurück und zieht seine Cappi vom Kopf. „Ihr- ihr seid doch die von eben“, stammelt er und ich nicke ungeduldig. „Wer hat hier das Kommando über die Sicherheitskräfte?“, frage ich und er schaut mich verdattert an. „Ich weiß nicht…“ „Wer ist dein Vorgesetzter?“, keift Ruth ihn entnervt an. „Von wem bekommst du deine Befehle?“ „Er- er nennt sich X.“ Der Junge knetet seine Cappi. „Wir wissen nicht, wer er ist, nur dass er das Kommando hat. Wir dürfen ihn nur in einem absoluten Notfall kontaktieren, mehr weiß ich nicht!“ „Dann kontaktier ihn“, sage ich. „Wir haben Grund zur Annahme, dass Team Rocket hier ist und Pokémon aus den Pokécentern des Stadions stiehlt.“ Seine Augen weiten sich. „Das kann nicht sein! Team Rocket?“ „Ja, gottverdammt, jetzt ruf schon diesen X an!“, zischt Ruth ihn an. Der Wächter nickt hastig und zieht ein Walkie-Talkie aus seiner Weste. Sie reibt sich die Schläfen. „Warum bin ich immer nur von Idioten umzingelt?“ „Gleich und gleich gesellt sich gern“, meine ich trocken und sie verdreht die Augen. „Deine Konter werden immer niveauloser. Ich hoffe nur, dieser X ist besser, als sein Geheimname klingt. Irgendwo hört es mit dem Drama auch auf.“ Wer immer X ist, der Junge kontaktiert ihn. Mehrere Male muss er in das klobige Gerät sprechen, bevor eine verzerrte Stimme antwortet, kaum verständlich hinter einem an und absteigenden Rauschen. „Hier spricht William Stevens, X, ich wiederhole, hier spricht William von Standpunkt D5. Melde Notfall, bitte um Verstärkung.“ „Hier sshsh X. Was für shhshs Notfall?“ William schaut kurz zu uns herüber und ich nicke. „Einige Zivilisten glauben, Team Rocket gesichtet zu haben.“ „Nicht wirklich gesehen…“, murmelt Ruth, aber ich bringe sie mit einem schnellen Blick zum Schweigen. Solange X kommt, ist mir egal, warum. „Komme shssh sofort.“ Ein lautes Knacken ertönt, als die Verbindung getrennt wird. „Könntet ihr hier warten?“, fragt William. „X… X wird Details erfahren wollen.“ „Wir werden ganz sicher nicht alleine losstürmen“, sagt Ruth und verschränkt sie Arme. Als sie meinen Blick zu Dario sieht, hebt sie eine Augenbraue. „Vergiss es, Abby. Ohne mich.“ „Wir können Team Rocket solange aufhalten, bis X ankommt!“, verteidige ich mich. „Wenn wir Pech haben, sind sie mit den Pokémon verschwunden, bevor jemand sie stoppen kann.“ „Wir sind ja auch so geeignet, Mel und Teal zu stoppen“, sagt Ruth. „Hörst du dir manchmal zu? Ich welcher Welt lebst du? Held spielen bringt dich in der Realität nur um!“ „Wir haben Dario.“ „Gütiger… Warum tue ich mir das an? Ich hätte in der Box bleiben sollen. Ich hätte verdammt noch Mal zu Hause-“ Der Himmel verdunkelt sich. Zuerst glaube ich, dass eine Wolke vor die Sonne treibt, denn mit einem Mal stehen wir im Schatten, doch der Schatten wird größer und größer, bis ich schließlich den Kopf hebe. Weißes, glattes Gefieder, gewaltige, handartige Schwingen und muskulöse Beine füllen mein Sichtfeld und ich kann nur erschrocken zur Seite springen, Ruth mit mir ziehend, bevor das Lugia mit einem gewaltigen Beben auf dem Platz vor dem Pokémonareal landet. Damit wäre zumindest X´ Identität geklärt. Eine schlaksige Gestalt springt schwungvoll vom Rücken des legendären Pokémons und richtet seine gold-schwarze Cappi, die windzerzaustes, schwarzes Haar aus seinen Augen hält. Statt dem Anzug, den er damals im Radioturm getragen hat, ist er heute leger gekleidet. Gold ruft Lugia zurück, dann wendet er sich William zu. „Wo wurde Team Rocket gesichtet?“, fragt er und William deutet mit zittriger Hand in unsere Richtung. Für ihn muss die Identität seines Kommandoleiters ein genauso großer Schock gewesen sein wie für uns. „Ihr seid die Zivilisten?“ Ich nicke, stumm. Ruth wirft mir einen amüsierten Blick zu, dann übernimmt sie das Gespräch. „Wir haben Team Rocket nicht gesehen, aber wir sind sehr sicher, dass sie in diesem Moment die Pokécenter im Stadion berauben.“ „Woher habt ihr die Informationen?“ Ich fange mich wieder und reiche Gold meine Hand. „Hallo Gold. Ich bin Abby, das ist Ruth. Sollen wir dich auf dem Weg aufklären?“ Er nickt. Und so laufen wir los, Dario einige Meter voran, Gold zwischen mir und Ruth. Seine Schritte sind weit und rhythmisch und ich kann nicht umhin, ihn für seine Ausdauer zu bewundern. Trotz diverser Fluchten und Sprintstrecken, die ich auf meiner Reise hinter mich gebracht habe, bin ich nach wenigen Minuten des Joggens und Berichtens außer Atem, während Gold beinahe unberührt sein Tempo fortführt. Als ich bei meiner Begegnung mit Zach und seinem Absol ankomme, kneift Gold die Augen zusammen, sagt aber nichts weiter dazu. Zum Schluss schildert Ruth das Treffen mit dem Jungen, dessen Pokémon nicht mehr auffindbar ist. „Verdächtig“, stimmt Gold zu. Ich kann sehen, dass er beunruhigt ist, ob es an den Neuigkeiten über Team Rocket oder etwas anderem liegt, kann ich nicht sagen. „Erinnerst du dich… an mich?“, frage ich keuchend, als das Stadion immer näher rückt und wir unsere Schritte verlangsamen. Gold schaut mich flüchtig an, schüttelt dann aber entschuldigend den Kopf. „Ich erinnere mich nicht gut an Gesichter, tut mir leid.“ Wahrscheinlich hätte ich das erwarten sollen, aber es tut trotzdem weh. Gold ist neben Red und Alfred mein größtes Idol und dass er unseren kurzen Wortaustausch, der mir wie ins Gedächtnis gebrannt ist, vergessen haben soll, zieht schmerzhaft in meiner Brust, aber ich dränge das Gefühl zur Seite. Das Indigostadion ragt vor uns in die Höhe, ein Stahlkonstrukt, das mein gesamtes Sichtfeld einnimmt. Die Sicherheitsleute heben die Köpfe, aber als sie Gold erkennen, lassen sie uns sofort durch. Einer von ihnen, ein kräftiger Mann mit dichtem Bart macht einen Schritt in unsere Richtung. „Was ist los, X?“ Also wissen doch einige, um wen es sich bei X handelt, aber er scheint der einzige der Anwesenden zu sein. Eine höhere Position vielleicht?. Gold geht weiter, ohne langsamer zu werden und der Mann fällt in unseren Schritt ein. Golds Stimme sinkt zu einem Wispern herab. „Team Rocket.“ „Ach du scheiße.“ Der Mann bleibt stehen, schließt aber sofort wieder zu uns auf. „Brauchst du Hilfe?“ „Ruf Rockey. Schick sie rein, wenn ich das Zeichen gebe, nicht vorher.“ Er fällt zurück. „Geht klar, X.“ Wir lassen ihn und die anderen Wachen hinter uns und treten durch den Haupteingang ins Stadion ein. Golds Schritte verlangsamen sich augenblicklich, die Sohlen seiner Turnschuhe geben keinen Laut von sich, als er über den Fliesenboden schleicht. „Welches Pokécenter?“, fragt er und ich deute nach links. Zu dritt folgen wir dem linken Gang, der sich kreisförmig um den Kampfplatz schmiegt. „Wenn wir Team Rocket finden, geht ihr in Deckung“, flüstert Gold. „Ich übernehme den Rest.“ „Dario kann dir helfen“, sage ich und nicke in Richtung Luxtra, das genauso leise wie wir neben uns her trottet. Gold schmunzelt. Tolle Idee, Abby, denke ich wütend. Als wenn Gold Hilfe bräuchte. Wir gehen an zwei Pokécentern vorbei, bevor ich die Hand ausstrecke und Gold zunicke. „Das da ist es.“ „Bleibt hinter mir. Wenn etwas passiert, nehmt Luxtra und versteckt euch.“ „Du willst Team Rocket alleine besiegen?“, fragt Ruth. „Wir wissen nicht, wie viele es sind.“ „So viele können es nicht sein.“ Golds Blick schweift in die Ferne. „Außerdem habe ich schon ganz andere Kämpfe hinter mir. Los jetzt.“ Wir betreten das Pokécenter, dessen elektrische Türen sich bei unserem Näherkommen sirrend öffnen. Schwester Joy lächelt uns an, freundlich wie immer. „Willkommen im Pokécenter“, begrüßt sie uns. „Soll ich eure Pokémon heilen?“ Gold wirft ihr ein entwaffnendes Lächeln zu. „Danke, aber wir sind aus einem anderen Grund hier. Ich habe gehört, einige der hier abgegebenen Pokémon sind verloren gegangen. Wie konnte das passieren?“ „Verloren gegangen?“ Er nickt. „Es tut mir Leid, aber ich muss das Pokécenter durchsuchen. Wäre das möglich?“ Schwester Joy kommt hinter der Theke hervor. „Es muss ein Missverständnis vorliegen…“ Gold legt eine Hand an seinen Gürtel, seine sechs Pokébälle bedrohlich unter seinen Fingern. Joys Blick folgt seiner Bewegung. „Ich bitte sie, alles ist in Ordnung!“ „Dann sollte es kein Problem damit geben, wenn ich das Center durchsuche, nicht wahr?“ „Natürlich nicht.“ Sie tritt zur Seite und Gold tippt einen seiner Pokébälle an. Rotes Licht spiegelt sich in den glänzend polierten Fenstern und Wänden. Neben Gold sitzt, eine Pfote leckend, ein Nachtara. Sein Schweif ist ordentlich um seine Pfoten geschlungen und die langen, schwarzen Ohren zucken vor und zurück. Die fluoreszierenden Ringe auf seinem Fell geben schaurig gelbes Licht ab. „Was spürst du?“, fragt Gold. Nachtara hebt den Kopf und testet die Luft, dann kratzt es mit einer krallenbewerten Pfote über die Fliesen. „Also, Schwester Joy“, fährt Gold fort. „Wer sind die beiden anderen Personen, die sich hier aufhalten?“ Seine Miene wird ernst. „Und wer sind sie?“ Schwester Joy erwidert Golds Blick einige lange Sekunden, während derer Überraschung und Schock ihre Züge dominieren, doch dann löst sich ihre Anspannung mit einem Mal. Ihre Schultern sacken hinunter, ihr offener Mund schließt sich zu einem grimmigen Lächeln und sie legt den Kopf schief. Als sie ihre Hand hebt und an ihren pinken Haaren zieht, zucke ich zusammen, aber sie gleiten problemlos von ihrem Kopf und geben einen weißblonden Haarschopf zum Vorschein, der zerzaust und dicht über ihre Schultern fällt. Ruth zieht scharf die Luft ein. Es ist nicht Mel, aber es gibt dennoch nur eine Möglichkeit. „Zu schade“, sagt sie langgezogen und greift hinter ihren Rücken. „Was hat mich verraten?“ Ihre weiße Schürze gleitet raschelnd zu Boden und sie knüpft das rosa Kleid auf, das ihre schmale Gestalt herunter rutscht. Das schwarze Top und die genauso schwarzen Shorts sprechen Bände, genauso wie das rote R, das auf ihrer Brust aufgedruckt ist. „Eine Prophezeiung und ein weinender Junge“, sagt Gold. Sie seufzt theatralisch. „Wird man mich festnehmen?“, fragt sie und zieht eine Schnute. „Gale.“ Nachtara hebt den Kopf und richtet seinen Blick auf die Frau. Ich kann seine Augen nicht sehen, aber vielleicht ist das besser so. Das Team Rocket-Mitglied erstarrt, ihre Augen rollen in ihren Höhlen nach hinten und ihr ganzer Körper beginnt, unkontrolliert zu zittern und zu beben. So krass war Ruths Reaktion damals im Brunnen nicht. Dann wiederum wurde sie nicht von Golds Nachtara mit einem Horrorblick fixiert. Gold stößt ein scharfes Pfeifen aus und, wie abgesprochen, tauchen vier Polizisten im Eingang auf, Officer Rockey an vorderster Front, eine Pistole in den Händen und zwei blutrünstig aussehende Fukano zu ihren Seiten. „Gute Arbeit, Gold. Festnehmen!“ Die drei Polizisten rauschen an ihr vorbei, einer legt der Frau Handschellen an, der andere tastet sie nach Waffen ab und nimmt ihre Pokébälle weg und der Letzte sichert mit seiner eigenen Waffe die Treppen ab. Er nickt Rockey zu. „Zwei sind im Lagerraum“, erklärt Gold. „Alles klar.“ Ihr Blick fällt auf Ruth und mich. „Was macht ihr denn hier?“ „Sie sind die Hauptzeugen.“ Ich will etwas sagen, da legt Dario die Ohren an und knurrt, das Geräusch rollt aus den Tiefen seiner Kehle und kleine Blitze entladen sich an seinen Pfoten und seinem Fell. „Da kommt was!“, rufe ich, kurz bevor eine gigantische Sandwolke aus dem hinteren Bereich des Pokécenters schießt und mir die Sicht nimmt. Hustend und würgend stolpere ich nach vorne, schütze meine Augen mit einer Hand während ich mit der anderen blind voran taste. Meine Finger finden nur wirbelnden Sand und Staub und dann… einen Arm. „Gold?“ „Ja?“, kommt seine Stimme zurück. Aus mehreren Metern Entfernung. Wessen Arm auch immer ich festhalte, die Person reißt sich los. Ich kneife meine Augen zusammen, bis ich nur noch dunkle Schemen erkennen kann. Darios Knurren und das wilde Schnappen von Fukano erfüllt die verschleierte Luft. Ruth hustet hinter mir, Rockey schreit ihren Polizisten etwas zu und in allem Durcheinander drehe ich mich um, bis ich eine dunkle Gestalt aus dem Pokécenter fliehen sehe. „Warte!“, schreie ich, aber es ist zu spät. Ihm folgt eine kleine Gestalt, das Pokémon, das für den Sandsturm verantwortlich ist, vermutlich. Ich fluche und drehe mich um. Darios Schatten ist von hier aus gut zu erkennen, seine flüssigen Bewegungen wirbeln Staub und Sand auf und ein gewaltiger Sprung befördert ihn in Richtung der Gestalt, die ich für einen Polizisten gehalten habe. Die Person schreit auf, als Dario seine Zähne im Fleisch seines Armes vergräbt. „Matt!“ Rotes Licht durchbricht die sandige Luft und ein manngroßes Pokémon taucht irgendwo zu meiner Linken auf. „Blättertanz!“ Ein Wind kommt auf, gewaltiger noch als der Sandsturm, den Team Rocket entfacht hat und wirbelt durch das gesamte Pokécenter, bis aller Sand in die Ecken und nach draußen getrieben wurde. Rasiermesserscharfe Blätter trudeln zu Boden und decken die weißen Fliesen in ein Meer aus grünem Laub. Golds Meganie stampft mit einem seiner muskulösen Beine auf und schnaubt zufrieden, die pinke Blüte um seinen Halsansatz wiegt sich in der übrig gebliebenen Brise seiner Attacke. Wir alle wenden unsere Aufmerksamkeit Dario zu, der seine Kiefer weiterhin fest um den Arm des zweiten Team Rocket-Mitglieds geklammert hat. Der Mann winselt und schreit, sein langes, schwarzes Haar fällt ihm fettig ins Gesicht und auch seine Wollmütze kann seine Ungepflegtheit nicht verbergen. „Nehmt ihn fest, los!“, ruft Officer Rockey und ihre Kollegen eilen zu dem Rüpel, um ihm Handschellen anzulegen und seine Pokébälle in Beschlag zu nehmen. Dario lässt unwillig los und trottet zurück an unsere Seite. „Einer von ihnen ist entkommen“, sage ich. „Ich habe ihn davon laufen sehen.“ „Komm.“ Gold läuft, ohne auf eine Antwort zu warten, an mir vorbei aus dem Pokécenter und nach links Richtung Ausgang. Ruth und ich nicken uns zu, bevor wir ihm hinterher rennen, Dario dicht auf unseren Fersen. Wir haben ihn kaum eingeholt, da schießt Gale, sein Nachtara, zwischen unseren Beinen hindurch und an Gold vorbei, schlittert um die Ecke und verschwindet nach draußen. Keuchend schließen Ruth und ich mit Gold auf, der aus dem Stadion stürzt und sich suchend umschaut. „Da oben!“, presst Ruth hervor und deutet in den Himmel. Mein Blick folgt ihrer Geste. Tatsächlich. Im ungebrochenen Blau des Himmels verschwindet eine helle Silhouette am Horizont. „Tsz.“ Gold ruft Gale zurück, dann zieht er einen anderen Pokéball. Lugia materialisiert sich über uns und dreht ihren gewaltigen Kopf in Golds Richtung. Der greift nach den Hornplatten an ihrem Schwanzende und klettert hinauf, während Lugia mit gewaltigen Flügelschlägen Wind aufwirbelt und sich in die Höhe befördert. Gold sitzt kaum in ihrem Nacken, da schießt sie schon in Richtung Himmel, nur noch ein weißer Schatten. „Na Wahnsinn.“ Ruth streicht sich Sand aus den Haaren und von den Kleidern und schaut ein letztes Mal Richtung Himmel, bevor sie sich umdreht und zurück ins Stadion geht. Dario und ich folgen ihr. Im Pokécenter finden wir eine sehr unzufriedene Officer Rockey vor. „Zwei Festnahmen…“, murmelt sie, während sie den Computer von Schwester Joy unter die Lupe nimmt. „Wir werden alle Trainer befragen müssen, deren Pokémon hier eingetragen sind. Luke, erstell eine Liste und sorg für die nötigen Vorbereitungen. Ich will keine Panik. George, check das Lager. Ich will alle fehlenden Pokébälle notiert haben. Martin, sicher alles ab. Keiner kommt hier rein, bis ich die Spuren nicht gesichert habe. Und lass die Gefangenen nicht aus den Augen.“ Ruth hüstelt betont, um Officer Rockeys Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Es gelingt ihr erst beim zweiten Ansatz. Rockey schaut genervt von ihrer Arbeit auf. „Was ist?“, fragt sie brüsk. „Dürfen wir gehen oder werden wir noch befragt?“ „Befragt?“ „Wir sind Zeugen“, erkläre ich. Rockeys Blick wandert zwischen uns hin und her, dann huscht Erkenntnis über ihre Züge. „Ihr seid die zwei von eben.“ „Wir haben Alarm geschlagen, als wir von dem verschwundene Pokémon erfuhren“, sage ich. Rockey zieht ein Notizheft aus ihrer blauen Brusttasche und kommt hinter der Theke hervor, um sich vor uns aufzubauen. Während ich von meiner gestrigen Begegnung mit dem Jungen berichte und Rockey von seinem vermissten Voltoball berichte, beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie Dario mit gesenktem Kopf den Boden beschnüffelt, nur um Sekunden später wieder meine Seite zu trotten und sich hechelnd zwischen Ruth und mich zu setzen. Er wirkt zufrieden. „Ist das dein Luxtra?“, fragt Rockey, als ich fertig erzählt habe. Ich schüttele den Kopf. „Es gehört einem Freund von mir, Raphael Berni.“ „Ah, Raphael.“ Sie nickt. „Officer!“ Der Polizist namens George läuft zu Rockey hinüber, eine Liste in den Händen und reicht sie ihr. „Das sind die Codes der fehlenden Pokébälle. Neben den Regalen haben wir einen Sack leerer Pokébälle gefunden, wir haben Team Rocket wohl beim Auffüllen der leeren Plätze überrascht. Bis wir alle Informationen haben, wird es noch eine Weile dauern, aber ich habe mit Luke die ersten Codes abgeglichen.“ „Danke.“ George nickt ihr steif zu, zurrt seine Mütze zu Recht und verschwindet wieder im Lager. Rockey überfliegt die Liste, runzelt dann die Stirn und liest ein zweites Mal darüber. Ein Schatten legt sich über ihre Züge, aber sie faltet die Liste und steckt sie wortlos in ihren Notizblock. Ich will gerade fragen, was sie von der Liste hält, da höre ich Schritte. „Hast du ihn erwischt?“, fragt Rockey Gold, der durch die Tür ins Pokécenter kommt. Sein Haar ist windzerzaust und seine Finger und Lippen sind blau. Da ist Lugia wohl im Turbotempo durch die Lüfte geflogen. „Er hatte zu viel Vorsprung. Zuerst habe ich aufgeholt, aber am Silberberg hat er mich in einem Schneegestöber abgehängt.“ „Männlich?“ „Ich bin ziemlich sicher. Er fliegt ein helles Flugpokémon, mehr konnte ich nicht erkennen.“ Ich muss an Richards Togekiss denken, schüttele den Gedanken aber schnell wieder ab. Richard weiß überhaupt nicht, dass wir hier sind. Außerdem ist er mitten in einem Interview. Rockey reibt sich die Nasenwurzel und seufzt. „In Ordnung. Danke für deine Unterstützung, Gold. Ohne dich hätten wir die beiden hier nicht fangen können.“ „Keine Ursache. Hast du noch Fragen oder kann ich wieder auf Patrouille?“ „Geh ruhig. Wir sehen uns ohnehin bei der Konferenz.“ Gold nickt dankbar, winkt Ruth und mir flüchtig zu und verschwindet dann aus dem Pokécenter. „Ihr solltet auch gehen“, sagt Rockey an uns gewandt. „Kann ich euch irgendwo finden, falls es Fragen gibt?“ „Wir sind im Laplace eingecheckt“, antwortet Ruth für mich, als sie sieht, dass ich keine Ahnung habe, wie unser Hotel heißt. „Ruth Zolwyk und Abbygail…“ „Hampton. Abbygail Hampton.“   Nachdem Officer Rockey unsere Daten aufgenommen hat und ich einen letzten Blick auf die beiden festgenommen Team Rocket-Mitglieder geworfen habe, machen Ruth, Dario und ich uns auf den Rückweg zum Pokémonareal. Wie erwartet ist das Interview beendet und Menschenmassen strömen durch den Eingang und verstopfen die Straße, die Stadion und Hotelanlagen verbindet. Ich erkenne Raphaels roten Haarschopf von Weiten; er diskutiert angeregt mit dem Sicherheitsjungen mit der Cappi und ist im Inbegriff, los zu stürmen, als er uns in der Menge entdeckt. Erleichtert lässt er die Arme sinken und kommt auf uns zu gejoggt, Genevieve und Richard im Schlepptau. „Da seid ihr ja!“, ruft er uns zu und umarmt mich, kaum dass wir in Reichweite sind. „Als das Interview vorbei war, wart ihr aus der Box verschwunden. Ich dachte, euch wäre etwas passiert.“ „Mehr oder weniger“, sage ich und löse mich von ihm. Er ruft Dario zurück und nimmt meine Hand. „Zurück ins Hotel?“ „Ich bitte darum.“ Der Rückweg ist gefüllt von unserer Erzählung, Genevieves ungläubigen Einwürfen und Richards nachdenklichem Schweigen. Auch Raphael wirkt beunruhigt und wirft Richard den ein oder anderen vielsagenden Blick zu. Was die beiden im Stillen befürchten, kann ich nur raten, aber ich beschließe, Raphael heute Abend darauf anzusprechen. Für´s erste bin ich froh, dass Team Rockets Plan im Keim erstickt wurde und auch wenn Mel, Teal und der geheimnisvolle Mann weiterhin auf freiem Fuß sind, fühlt es sich wie ein kleiner Sieg an. Das nagende Gefühl, etwas übersehen zu haben, kann ich trotzdem nicht verdrängen. Kapitel 42: Nicht die ganze Wahrheit (Weiße Federn) --------------------------------------------------- „Warum hat Dario ihn nicht angegriffen?“, frage ich spät abends Sku, die neben mir auf einem Kopfkissen liegt und leise schnurrt. Ihre Augen sind halb geschlossen und betrachten mich aus den Tiefen ihres beige-violetten Fells. Raphael hat mich gekonnt abgewimmelt und so lange mit Berichten von dem Interview und Abendessen abgelenkt, bis ich ihn in Ruhe ließ. „Er hat den anderen Rocket angegriffen, obwohl er viel weiter weg war und nicht direkt neben mir stand“, fahre ich fort. „Und später, als er über den Boden geschnüffelt hat, ist er dem Geruch nicht nach draußen gefolgt. Als würde er ihn nicht als Bedrohung wahrnehmen.“ Sku öffnet den Mund und fast glaube ich, sie würde mir antworten, doch stattdessen rollt sie ihre pinke Zunge aus und gähnt mir herzhaft und mit grausamen Mundgeruch ins Gesicht. Seufzend lasse ich meinen Kopf nach hinten sacken und starre an die Decke. Zach hat mich vor einer gefährlichen Nacht gewarnt. Vielleicht auch vor Team Rocket? Wusste er vielleicht sogar, dass uns eines der Mitglieder bekannt sein würde? Verdammt, mir fehlen die Details! Männlich, mit einem hellen Flugpokémon. Ich rattere alle mir bekannten Flugpokémon in meinem Kopf ab und, als das nicht reicht, ziehe ich meinen Pokédex aus dem Rucksack neben meinem Bett und durchsuche die Datenbanken, bis meine Augen von dem leuchtenden Bildschirm brennen und tränen. Es kommen nur eine Handvoll Pokémon in Frage: Panzaeron, Togekiss und Swaroness. Pelipper und Wingull sind auch weiß, aber ich bin ziemlich sicher, dass das betreffende Pokémon größer war. Richard besitzt ein Togekiss, aber er war bei dem Interview und die Wiederholungen auf PCN belegen, dass er nicht einfach verschwunden ist. Und was die anderen beiden Pokémon angeht, so grenzen sie meine Suche nicht unbedingt ein. Wütend lege ich den Pokédex auf den Nachttisch und drehe mich zu Sku um, die tiefenentspannt schnurrt und eine Pfote nach mir ausstreckt, die ich behutsam nehme. Morgen werde ich mich nicht abwimmeln lassen.   Der 1. Oktober bricht mit rollendem Donner und gleißenden Blitzen an. „Scheiß Wetter…“, murmelt Gen, die sich mit Richard in unserer Suite zum Frühstück eingefunden hat. Ihr silbernes Haar sitzt in einem losen Dutt auf ihrem Kopf auf, einzelne Strähnen stehen in alle Richtungen ab und außer einem türkisenen Bademantel ist sie unbekleidet. Raphael hat sie wie immer aus dem Bett gescheucht, zu Richys großer Belustigung, der mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht immer wieder zu ihr hinüber schielt. „Die Nachrichten haben von einem sonnigen Turnier geredet“, stimme ich missmutig zu. Die ersten Kämpfe werden um 14:00 Uhr ausgetragen und bisher sprechen die violetten Wolken nicht von einem schnellen Aufklaren des Himmels. „Die Eröffnungszeremonie können sie knicken.“ Richy beißt in einen Apfel. „Hätten Misty und ihre Schwimmerinnen organisieren sollen. Denen wäre das Wetter recht.“ „Du willst nur Mädels in Bikinis sehen“, spottet Gen, die Augen halb geschlossen. Als Raphael sie anstupst, wirft sie ihm einen wütenden Blick zu. „Ich schlaf schon nicht, Mister Frühaufsteher. Ich ruhe nur meine Augen aus.“ „Natürlich.“ „Wird Zach auftauchen?“, frage ich an Raphael gewandt. Wenn er von Mel und Teal wusste, kann er mir bestimmt Antworten zu dem entkommenen Team Rocket Mitglied geben. Außerdem möchte ich sein Gesicht gerne einmal bei Tageslicht sehen, um es mit Carolines Zügen zu vergleichen. Dass die Beiden Bruder und Schwester sind, kommt mir immer noch sehr unwirklich vor. Es ist Richard, der antwortet. „Hast ihn hier gesehen, oder nicht? Er wird kaum für ´ne Prophezeiung eingeflogen sein.“ „Es hat keinen Sinn, darüber zu spekulieren“, sagt Raphael und schaut aus dem Fenster. Dicke Regentropfen strömen in kleinen Bächen die Glasscheibe herab und der Himmel leuchtet grell auf. „Wenn er auftaucht, dann unangekündigt.“   Unangekündigt ist das richtige Wort. Wir haben kaum in der VIP-Launch des Stadions Platz genommen, da steht er plötzlich mit verschränkten Armen hinter uns im Eingang. Ruth zuckt zusammen, ich atme erschrocken ein und die anderen VIP-Gäste, Ruths Eltern unter ihnen, stoßen kurze Schreie oder ein geschocktes Kreischen aus. Nur Richard bleibt völlig unberührt. Mit seinem charakteristischen Grinsen geht er auf Zach zu und greift zur Begrüßung seinen Unterarm. „Hast Abby ´nen ganz schönen Schrecken eingejagt, Kumpel.“ „Wirklich?“ Zach dreht sich zu mir um. „Das tut mir leid.“ „Kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“, fragt Richy und zieht Zach mit sich nach draußen, noch bevor der zu einer Antwort ansetzen kann. Die beiden verschwinden hinter einer Abbiegung. „Die sind ja richtig dicke“, meint Ruth unbeeindruckt. Genevieve zuckt die Achseln. „Richy hat ihn zu seinem persönlichen Rivalen erklärt“, sagt sie, ein amüsierter Unterton in ihrer Stimme. „Was Zachy davon hält, werden wir wohl nie erfahren.“ „Dafür, dass du von niemanden Vivi genannt werden willst, gehst du sehr großzügig mit anderer Leute Spitznamen um“, sagt Raphael spöttisch. Gen zuckt sie Achseln. „Er sollte dankbar sein. Ich bin immerhin die Meisterin der Kosenamen.“ „Sicher.“ „Warum das?“, frage ich. Die Duelle haben noch nicht begonnen und außer der Wiederholung der gestrigen Losung und Trainerzusammenschnitte läuft nichts Interessantes auf den gigantischen Bildschirmen. Raphael antwortet, bevor Gen zu Wort kommt. „Der Namenbewerter hat ihre Spitznamen in den Himmel gelobt, um ihr Geld abzuzocken und jetzt bildet sie sich etwas darauf ein.“ „Ich brauche keinen Namenbewerter, um mir zu sagen, dass meine Pokémon die besten Spitznamen der Region haben.“ Ich muss an den Wahrsager und Namenbewerter in Dukatia City denken, der unter der Tarnung seines Geschäfts als Carolines Untergrundinformant gearbeitet hat. Ob Gen ihn gefragt hat? „Weil X auch so ein guter Spitzname ist.“ Raphael grinst breit. „Da hat Abbys Mutter ja bessere Ideen parat.“ „X? Wie Gold?“, frage ich überrascht. „Mein X war zuerst da.“ „Und was für ein Pokémon ist X nun? Gott…“ Ruth schlägt die Beine übereinander, verschränkt die Arme und rutscht in ihren Sitz hinein. „Unnützes Gelaber…“ Gen streckt ihr die Zunge heraus. „Das ist ein Geheimnis. Aber ich kann dir die Namen verraten.“ Sie zwinkert Ruth verschwörerisch zu, doch die stöhnt nur. „Bring es hinter dich.“ „Zero, X, Alpha, Vee, Delta und Cross.“ „Hurra.“ „Glanzleistung, Gen. Wahrlich eine Offenbarung.“ „Gibt sie mit ihren Namen an?“, fragt Richard grinsend, der mit Zach im Schlepptau hinter uns auftaucht. „Ich finde die ehrlich gesagt ziemlich cool“, gebe ich an Genevieve gewandt hinzu. „Besser als manch andere hier.“ Ich sehe betont zu Ruth, die wütend aufschaut. „Und was habt ihr da draußen so Geheimes besprochen?“, fragt Gen. Mir entgeht der kurze Blick zwischen Richy und Raphael nicht. „Hab ihm meine Liebe gestanden, Vivi.“ Sie verzieht das Gesicht. „Geez, sag´s mir halt nicht.“ Und so bleibt eine berechtigte Frage unbeantwortet. Zach geht an Richy vorbei und stellt sich ans Geländer. Eins der anwesenden Kinder, ein Junge meines Alters, der mit seinen Eltern hier ist, schaut sehnsüchtig zu ihm hinüber, ein Foto in den Händen, aber Zachs Blick ist in die Ferne gerichtet, sein schwarzes Haar weht um sein makelloses Gesicht und ein schwarzer Schal verbirgt seinen Mund und einen Teil seiner Nase. Mit seinen Skinny-Jeans sieht er ziemlich emo aus, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Der Junge lässt entmutigt den Kopf hängen und schaut zu Boden. „Es geht los“, verkündet Genevieve aufgeregt und stellt sich zu Raphael an die Rehling. Die Gruppenkämpfe stellen sich als einziger Wirrwarr von Kommandoschreien, Kreischen, Stampfen, Zischen und allen anderen Geräuschen heraus, die während eines heißen Pokémonkampfes entstehen könnten. Kamerateams weichen Felsbrocken aus, Getränke werden verschüttet, als Erdbebenausläufer die vordersten Zuschauerreihen durchrütteln und Regenwolken duellieren sich mit Sandstürmen und Blizzards, die mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagen. Die VIP-Launch ist vor den meisten der Attacken geschützt, aber die Wetteränderungen erleben wir trotzdem an eigenem Leib. Oohs und Aahs werden laut, wann immer einer der Trainer einen besonders strategischen Trick aus dem Ärmel zieht und seltene oder andersfarbige Pokémon tauchen auf den Bildschirmen auf, um dort in Übergröße durch die Luft zu fliegen oder ihren Gegner zu attackieren. Trotz aller Verwirrung wächst die Gruppenliste, deren Mitglieder bepunktet und innerhalb aller Teilnehmer gerankt werden. „Drei auf Mark“, sagt Raphael. „Drei dagegen.“ Genevieves Wangen glühen, als sie in seine Hand einschlägt. Ich lehne mich etwas mehr auf die Rehling, um meinen Rücken zu entlasten. Sku, die ich nach etwa einer Stunde rausgelassen habe, sitzt bequem auf meinen Schultern, die Pfoten fein säuberlich über meine Stirn gefaltet und kitzelt mit ihrem Schweif meine Nase. Immer wieder werfe ich Blicke zu Zach, der neben Richard in der Ecke der Box steht und sich leise mit ihm unterhält. Je mehr Zeit ich mit den Vieren verbringe, umso deutlicher werden die Allianzen. Genevieve und Raphael gegen Zach und Richard. Bei dem Gedanken an einen Doppelkampf zwischen den Favoriten wird mir ganz warm ums Herz. Den Vorschlag muss ich Alfred unbedingt machen. „Könntest du dir das vorstellen?“ Ich drehe erschrocken den Kopf. Ruth schaut mich nicht an, aber es war ihre Stimme. „Was?“ „Protrainer zu sein“, sagt sie, so leise, dass ich sie kaum über den Lärm der Kämpfe und Alfreds Moderation verstehen kann. „Nicht wirklich“, gebe ich nach einer kurzen Überlegung zu. „Ich bin nicht so der Trainierfreund.“ „Dafür ist dein Skuntank aber ziemlich stark“, erwidert Ruth schnippisch und schielt zu Sku hinauf, die sie angähnt. Ruth verzieht angewidert das Gesicht. Sie hat Sku den erniedrigenden Sieg gegen ihre Pokémon wohl nicht ganz verziehen. „Ich hatte Sku, seit ich acht war“, kontere ich. „Ich hatte nichts Besseres zu tun, da kommen schon ein paar Level zusammen.“ „Wo kommst du überhaupt her?“, fragt Ruth. Ich ziehe eine Augenbraue hoch, aber das sieht sie nicht. Warum kommt es mir so vor, als wäre Ruth plötzlich ganz… normal? „Kanto. Orania City. Ich bin an meinem fünfzehnten Geburtstag von zu Hause ausgerissen, hab ein Ticket geklaut und bin nach Johto gefahren.“ Ruth schnaubt. „Wenn es so einfach wäre…“ „Willst du Protrainer sein?“ Sie zuckt die Achseln. „Werde ich niemals können, also ist es egal.“ Falsche Frage. Ich spüre, wie ihre Mauern sich wieder aufbauen. „Im Gegensatz zu anderen hier Anwesenden habe ich Verpflichtungen.“ „Jaja…“ Wir wenden uns wieder den Kämpfen zu, aber der traurige Ausdruck in Ruths Augen entgeht mir nicht. Sie kann sagen was sie will. Sie will da unten stehen.   „Gyaaaaahhhh…“ Genevieve streckt sich, als wir auf dem Weg zurück zum Hotel sind. „War das ein Tag. Ey, Richy, redest du auch nochmal mit uns oder ziehst du bei Zach ein?“ „Zach schläft in ´nem Zelt, Gen.“ „Flitterwochen in der freien Natur, klingt wundervoll. Warum war ich nicht zur Hochzeit eingeladen?“ „Was, neidisch?“ Er grinst sie wölfisch an. „Willst du auch was von diesem Götterkörper?“ Gen leckt sich neckend über die Lippen, Raphael lacht laut, Zach verzieht keine Miene und ich werde knallrot. Ruth schaut mich amüsiert an. „Soweit bist du dann wohl noch nicht mit deinem Lover gekommen, was?“ „Wir sind nicht-“ Ich stocke. Sind wir? Ruth sieht mich mitleidig an, dann fällt sie zurück zu ihrer Familie, die mit etwas Abstand hinter uns läuft. Ein wehleidiges Brummen hinter mir erweckt meine Aufmerksamkeit. Trotz der Uhrzeit ist es immer noch sehr hell und Sku läuft mit Schwanz über den Augen in meinem Schatten. Als sie meine Aufmerksamkeit bemerkt, lässt sie sich platt auf den Rücken fallen. Genevieve grinst mich frech an, belässt es aber dabei. Ich rufe Sku zurück, schicke Hunter für einen kleinen Nachmittagsflug los und halte dann abwägend Gotts Pokéball in meiner Hand. Er ist für große Menschenmassen nicht geeignet, aber wenn ich mit ihm reisen und kämpfen möchte, wird er sich damit anfreunden müssen. Rotes Licht explodiert aus meiner Hand und Gott setzt sich zur Begrüßung auf seine Hinterbeine. Ich kraule seinen Kopf. „Mach kein Theater, ja?“, flüstere ich ihm zu, bevor ich den anderen nachlaufe.   „Kann ich dich kurz sprechen?“ Zach dreht sich zu mir um. Seine blauen Augen ruhen auf mir und ich schlucke schwer. Mysteriös und ungesprächig mag er sein, aber verdammt nochmal, er sieht umwerfend aus. „Es geht um vorgestern Nacht“, erkläre ich. Er nickt und lehnt sich an die Hotelfassade. Hier trennen sich unsere Wege, Richy meinte ja, er habe ein Zelt. Kein Wunder, dass ich ihn mitten in der tiefsten Wildnis gefunden habe. Ich sehe mich um. Richard bleibt einen Moment länger am Eingang stehen und schaut zu Zach und mir herüber, zuckt dann aber die Achseln und verschwindet im Hotel, gefolgt von Ruth und ihren Eltern und einem weiteren Pärchen, das hier eingecheckt hat. Als wir alleine sind, spreche ich meine Zweifel endlich aus. „Warum wusstest du, dass Team Rocket hier ist?“ Zach sieht mich lange an, dann lächelt er schwach. „Habe ich Team Rocket erwähnt?“, fragt er. Ich denke an unser Treffen zurück. Jetzt, wo er es sagt… „Absols Warnungen sind immer akkurat. Ich kenne sie schon eine sehr lange Zeit und kann die Bedeutung ihrer Schreie erkennen.“ Er schaut in die Ferne. „Sie sprach von Verfolgern und einem Unheil, das bevorsteht. Nur du, auf den das zutraf, konnte wissen, wer damit gemeint ist.“ „Du wusstest also nicht, dass Team Rocket die Pokécenter ausrauben würde? Oder dass Teal und Mel mich in dieser Nacht suchen und finden würden, wenn ich nicht sofort ins Hotel zurückkehre?“ Er schaut mich überrascht an. „Nein. Ich kenne diese Namen nicht.“ Gott knurrt. „Ruhig!“, zische ich. Gott drückt sich auf den Boden, aber seine Rückenflamme knistert weiterhin bedrohlich. „Kennst du jemanden, auf den Dario nicht feindselig reagieren würde, selbst in einer feindseligen Umgebung?“, frage ich. Die Sache mit der Prophezeiung hat mich aus der Bahn geworfen. Natürlich, ich war diejenige, die die Verbindung zu Team Rocket gezogen hat. Er hat nur ein Unheil erwähnt. Aber da war noch etwas anderes, das er gesagt hat. Was war das noch gleich? Er denkt kurz nach. „Raphael. Dann die anderen Favoriten, also Genevieve, Richard und ich. Alfred, vermute ich, wahrscheinlich auch Erik.“ „Sonst niemand?“ Ich schaue ihn entsetzt an. Das hieße ja… „Ich weiß es nicht, Abbygail. Vielleicht sind es mehr. Das sind diejenigen, von denen ich es weiß. Du solltest Raphael fragen, nicht mich.“ „Du hast Recht. Tut mir leid, dass ich dich aufgehalten habe.“ Ich winke ihm zum Abschied, dann laufe ich ins Hotel zurück. Richard steht direkt neben der Eingangstür und packt mein Handgelenk, als ich an ihm vorbei laufe. Ohne ein Wort zieht er mich mit sich in die öffentliche Männertoilette. Ich bin so geschockt, dass ich vergesse, irgendwie zu reagieren. Erst als er mich gegen die Wand drückt und mir bedrohlich in die Augen schaut, versuche ich, mich loszureißen. Vergeblich. „Was habt ihr- AHH!“ Gotts Zähne verkeilen sich tief in Richards Schulter und mir steigt der Geruch von versengtem Haar in die Nase. Richard lässt mich automatisch los und versucht, Gott von seiner Schulter zu reißen, doch er verbrennt sich nur die Finger. „Fuck!“ „Was willst du von mir?!“, schreie ich ihn an. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Was sollte das? Er hebt ergeben die Arme. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, aber er macht keine Anstalten, mich oder Gott anzurühren. Nach kurzem Zögern gebe ich Gott den Befehl, ihn loszulassen. Richard nickt mir dankbar zu. „Sorry. Das kam anders rüber, als es sollte.“ „Allerdings.“ Ich schaue ihn wütend an. „Was habt ihr besprochen? Du und Zach?“ „Wegen der Frage entführst du mich?“, frage ich geschockt. „Das hättest du mich im Foyer fragen können!“ „Nein.“ Richard betastet die Bisswunde an seiner Schulter und zuckt zusammen. „Also, was habt ihr besprochen?“ „Ich habe ihn gefragt, woher er wusste, dass Team Rocket hier ist und auf wen Dario nicht aggressiv reagieren würde.“ „Sonst nichts?“ „Nein.“ Er seufzt. Erleichtert? „Was ist los mit dir und Zach?“, frage ich. „Seit er da ist, benimmst du dich komisch und dauernd schaust du Raphael so vielsagend an. Was geht hier ab? Was erzählt ihr mir nicht?“ „Medien, ne?“ „Was?“ „Du willst in den Medien arbeiten, oder?“ „Ja, später. Warum?“ Er lacht. „Da hast du die Antwort auf deine Frage. Manche Sachen kann man Leuten, die nur auf Stories heiß sind, nicht sagen.“ Er dreht sich um und will gehen, aber Gott baut sich bedrohlich vor ihm auf. „Ich könnte dein Schmusetier wegpusten, wenn ich wollte. Also lass mich durch.“ Er klingt… müde. Und gefährlich. Ich bezweifle nicht, dass er Recht hat. Gott hat kaum Level 20 erreicht. Richard mag sich gerade wie ein Krimineller verhalten haben, aber er ist immer noch ein Favorit. Wenn er mir etwas hätte antun wollen, hätte er sechs sehr effektive Möglichkeiten gehabt. Ich rufe Gott zurück. Meine Finger zittern und ich umklammere den Pokéball, um mich zu beruhigen. Richard ist verschwunden, bevor ich mich zu Boden sinken lasse und tief ein- und ausatme, bis sich mein Herz beruhigt. Was war das denn gerade?   „Ich werde dich nicht beschützen. Ich jage meine eigene Beute.“ Die Worte, die mir bei meinem Gespräch mit Zach entfallen waren, kreisen jetzt durch meinem Kopf wie ein Karussell. Wieder und wieder. Beute. Welche Beute. Wen jagt Zach? Mir läuft ein Schauer über den Rücken. „Abby?“ Ich drehe mich erschrocken um. Raphael steht mit einer Tasse dampfenden Tamottee vor dem Sofa und schaut mich besorgt an. „Alles okay bei dir? Seit wir zurück sind, bist du kreidebleich.“ „Mir geht´s gut“, lüge ich. Mir geht es nicht gut. Ich fühle mich, als wäre ich knapp dem Fall von einer Klippe entgangen. Richards Gesicht geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wenn ich Zach etwas anderes gefragt hätte, was hätte er dann getan? Was hätte ich fragen müssen? Und warum weicht sogar Raphael meinen Fragen zum Thema Zach aus. „Manche Sachen kann man Leuten, die nur auf Stories heiß sind, nicht sagen.“ „Abby!“ Ich schrecke hoch. „Du machst mir Angst, verdammt.“ Er setzt sich neben mir aufs Sofa und nimmt mich in die Arme. „Was ist denn los?“ Ich klammere mich an ihn, fester, als ich es je getan habe und schlucke die Tränen hinunter, die mich zu übermannen drohen. „Erzählst du mir etwas nicht, weil ich storygeil bin?“, frage ich mit erstickter Stimme. Raphael versteift sich. „Was möchtest du wissen?“ Ich schweige. Als ich die Frage schließlich stelle, hat sie mehr Gewicht, als ich gedacht hätte. Alles entscheidet sich hier. „Was für ein Flugpokémon hat Zach?“ Raphael antwortet nicht. Ich umarme ihn fester. Düstere Erinnerungen an ausgestrahlte Kämpfe tauchen in meinem Gedächtnis auf. Kämpfe von Zach. Ich habe seinen Werdegang nie bewusst verfolgt, aber ich erinnere mich an den einen Kampf, den einen Angriff. Schneeweiße Federn, die nach dem Angriff zu Boden taumeln.  „Es ist ein Swaroness, oder?“ Raphael nickt. Seine Hände finden meine Schultern und er drückt mich sanft von ihm weg, um mir in die Augen sehen zu können. „Was immer du glaubst, herausgefunden zu haben, Abby, es ist nicht die ganze Wahrheit. Handle nicht vorschnell. Bitte.“ Ich nicke. Ich werde nicht vorschnell handeln. Zumindest nicht so, wie Raphael es erwartet. Ich will Reporter werden. Und als Reporter suche ich stets nach der ganzen Wahrheit. Ich stehe auf und gehe ans Fenster. „Ich muss mal kurz mit Officer Rockey telefonieren“, sage ich und Raphael schaut abrupt zu mir auf. „Abby, bitte! Es ist nicht so, wie du denkst!“ „Vertraust du mir?“ „Natürlich.“ Ich sehe ihm in die Augen. „Ich werde nichts sagen. Versprochen. Ich möchte nur etwas fragen.“ Raphael zögert. Aber nur einen Augenblick. „Ich vertraue dir.“ Kapitel 43: Das Versprechen von Rache (Dunkelheit) -------------------------------------------------- Ich bin mir Raphaels Blick bewusst, als ich ans Fenster gelehnt die Nummer tippe, die Officer Rockey mir und Ruth gegeben hat, bevor wir weggeschickt wurden. Es gibt da noch etwas, dass ich abklären möchte. „Officer Rockey, mit wem spreche ich?“ „Abbygail Hampton, wir sind uns gestern bei dem Rocket Fall begegnet.“ „Ah, Abbygail. Ist dir noch etwas eingefallen?“ „Nein.“ Ich zwinkere Raphael zu, der erleichtert ausatmet. Ganz vertraut hat er mir dann wohl doch nicht. „Ich stehe in Informationsaustausch mit einer Kollegin von ihnen. Holly.“ „Holly? Ich erinnere mich, dass sie so etwas erwähnt hat. Warum rufst du an?“ „Mich würde interessieren, welche Pokémon gestohlen wurden.“ „Das sind geschlossene Informationen, Abbygail“, ertönt Rockeys ruppige Stimme. „Ich kann dir nicht einfach polizeiliche Informationen anvertrauen.“ „Ich glaube, sie könnten in Zusammenhang mit Hollys Nachforschungsgebiet stehen“, hake ich nach. „Sie wird mich ohnehin aufklären, sobald sie die Informationen erhält.“ Ein Risiko, aber mehr als Nein sagen kann sie ohnehin nicht. „Wird sie das.“ Sie klingt belustigt. „Fein. Zusammen mit den anderen Diebstählen, die in den letzten drei Monaten von Team Rocket ausgeführt wurden, belaufen sich die Zahlen auf…lass mich nachsehen… vier Kleinstein, ein Tannza, drei Smogon und elf Voltobal.“ Mir bleibt die Luft weg. Die Löcher. Die Pokémon. Alles macht mit einem Mal Sinn. „Sie wollen die Höhlen sprengen!“, presse ich schließlich hervor. „Das vermuten wir derzeit“, sagt Rockey. „Aber es gibt zu viele Ungereimtheiten. Die Löcher sind nicht groß genug, um die Pokémon unterzubringen, die Platzierung ist unbemerkt so gut wie unmöglich und alle Pokémon gleichzeitig zur Explosion zu bringen ist ebenfalls sehr fragwürdig. Außerdem steht ihnen ein ungemeiner Trainingseinsatz bevor. Keines der Pokémon lernt Explosion unter Level 30, die meisten sogar erst über Level 40.“ „Was ist mit Finale?“ „Unsere Spezialisten haben die freigesetzte Energie anhand der Lochmengen berechnet, die Holly dokumentiert hat. Finale wird nicht reichen, um die Höhlen zu sprengen. Nur mit Explosion kommen sie annähernd auf die benötigte Stärke und selbst dann ist fragwürdig, ob die Höhlen dauerhaften Schaden nehmen würden.“ „Ein Ablenkungsmanöver?“ „Vielleicht. Aber das ist Polizeiarbeit. Bist du sicher, dass dir keine Details mehr zu dem Diebstahl eingefallen sind?“ Ich schaue zu Raphael. „Ganz sicher.“ Als ich aufgelegt habe, lasse ich mich neben ihm aufs Sofa sinken und fasse knapp Rockeys Erläuterungen zusammen. „Was wollen sie damit bezwecken?“, fragt er. „Ich habe keine Ahnung.“ Ich seufze. „Ich lege mich glaube ich hin. Ich bin total erledigt.“ „Alles klar.“ Raphael umarmt mich noch einmal fest, dann stehe ich auf und verschwinde in meinem Zimmer. Ich schaue auf mein Handy. Es ist früher Abend. Ich laufe ein wenig durch mein Zimmer, dann lasse ich mich in Klamotten auf mein Bett fallen. Von wegen schlafen. Der Tag hat gerade erst begonnen. Ich bleibe mindestens eine Stunde tonlos liegen, bis ich sicher bin, dass Raphael denkt, ich schlafe. Dann stehe ich vorsichtig auf und schleiche über den Fußboden Richtung Fenster. Ich bin kaum an der Tür vorbei, da höre ich ein Klopfen. Ich bleibe stehen und gehe vorsichtig zu meiner Zimmertür. Raphaels Schritte hallen aus dem Wohnzimmer, dann öffnet sich die Suite-Tür. „Yo.“ Richard. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Meine andere Mission kann warten. Ich gehe neben der Tür auf die Knie und lege mein Ohr an das Holz. Die Stimmen der beiden erreichen mich klar und deutlich. Ein Hauch schlechtes Gewissen stellt sich ein, weil ich meinen besten Freund belauschen will, aber hier geht es schließlich um die Wahrheit. „Was ist passiert?“, fragt Raphael. Er klingt gereizt. „Seit Abby hoch gekommen ist, ist sie völlig durch den Wind.“ Pause. „Was ist mit deiner Schulter passiert?“ „Kleiner Zwischenfall.“ „Wenn du ihr zu nahe gekommen bist, Richy, ich schwöre dir-“ „Reg dich ab, Mann. Ihr Igelavar hat mich gebissen.“ „Was hast du mit ihr angestellt?!“ „Ist sie hier?“ „Sie schläft. Was immer du also zu sagen hast, sag es leise, oder ich befördere dich durchs Fenster nach draußen.“ Etwas an seinem Ton klingt, als meine er das wörtlich. Ich muss lächeln. Es tut gut, zu wissen, dass er mich verteidigt. Schritte, als Richard sich auf eins der Sofas setzt. „Warum hast du sie hergebracht?“ „Bitte?“ „Alles lief perfekt, bis sie hier ankam! Sie schnüffelt jedem nach. Wenn wir nichts unternehmen, kommt sie noch dahinter.“ „Sie weiß es.“ „WAS?!“ „Leise!“, zischt Raphael. „Sie hat es alleine rausgefunden. Und du warst nicht gerade subtil, wenn ich das so sagen darf.“ „Was genau hast du ihr gesagt?“ „Ich habe gar nichts gesagt. Sie weiß, dass Zach an dem Überfall beteiligt war. Mehr nicht.“ „Geil. Wirklich geil.“ Richards Stimme ist bitter und zornig zugleich. Ich kann mir sein Gesicht nur zu gut vorstellen. Er hat es mir in der Toilette von ganz Nahem gezeigt. „Reg dich ab. Sie hat eben mit Rockey telefoniert und kein Wort gesagt.“ „Du hast sie mit Rockey telefonieren lassen? Bist du des Wahnsinns, Raphael?! Hier geht´s nicht um deine kleine Scheißromanze, hier geht´s um Zach, kapierst du das? Er hat sich ein Kartenhaus zusammen gebaut und wenn nur der kleinste Zweifel laut wird, bricht alles um ihn herum zusammen!“ „Sie wird nichts sagen. Ich verspreche es. Und sie ist keine Scheißromanze. Sie ist meine beste Freundin. Und wenn du noch ein Wort gegen sie sagst, hast du ein echtes Problem mit mir.“ „Tze.“ Ich richte mich langsam auf. Aber das lange Knien scheint meine Beine mehr geschwächt zu haben, als ich dachte, denn ich schaffe es nicht, das Knarzen der Dielen zu verhindern. In der Bewegung erstarrt lausche ich. „Was war das?“ „Wirst du paranoid, Richy?“ „Ich hab was gehört, verdammt.“ Ich bewege mich langsam rückwärts von der Tür weg – und stolpere geradewegs über meinen Rucksack. „Sie ist wach!“ „Weg von ihrer Tür, Richard, ich warne dich!“ Ich verliere keine Zeit. Ich renne blind durch mein Zimmer zum Fenster, reiße es auf und atme kalte Nachtluft. Hinter mir im Wohnzimmer rumpelt es, als Raphael Richard zu Boden wirft. Die Tür wird aufgerissen und die beiden rangelnden Jungs fallen förmlich in mein Zimmer. Keine Zeit für einen subtilen Abgang. „Hunter!“, rufe ich und seine Gestalt materialisiert sich direkt vor dem Fenster, freudig krächzend und mit weit ausgebreiteten Flügeln. „Bring mich heil da runter!“, schreie ich und springe aus dem Fenster auf seinen Rücken. „Abby!“ Raphaels Ruf hallt mir nach, als ich wenig elegant durch die Luft segele und mich an Hunters Körper festklammere, der geschockt mehrere Meter zu Boden gerissen wird, bevor er mit den Beinen strampelnd seine Flügel in Bewegung setzt und uns halb gleitend, halb fallend nach unten befördert. Ich habe kaum festen Boden unter den Füßen, da sprinte ich los. Im Lauf rufe ich Hunter zurück und befreie stattdessen Gott, der innerhalb eines Sekundenbruchteils die Situation erfasst, das Feuer auf seinem Rücken auflodern lässt und voranschießt. Er und ich gegen den Rest der Welt. Wenn ich mich nicht irre, ist Zachs Lager dort, wo ich ihn vorgestern Nacht gefunden habe. Es wird Zeit, die ganze Wahrheit herauszufinden. Ich kann Geschrei hinter mir hören, das allmählich leiser wird, als ich mehr Distanz zwischen mich und das Laplace bringe. Gott knurrt zufrieden und springt einige Male hin und her, seine Energie grenzenlos. Die Ausdauer hätte ich auch gerne. Erde und Geröll ersetzen das weiche, noch nasse Gras des Plateaus und schon bald kann ich vor mir in der Dunkelheit die gewaltigen Steinmassen aufragen sehen, die wie Treppenstufen der Natur auf das Gebirge dahinter zuführen. Weit oben, inmitten von Felsklüften und Steinbrocken, die vom Gipfel der Berge herabgerollt sind, flackert ein Feuer. „Es ist… offiziell…“, keuche ich an Gott gewandt und bleibe mit auf die Knie gestützten Händen vor der Wand aus Stein stehen. „Klettern ist eine…  Voraussetzung… für Trainer.“ Er knurrt zustimmend. Seine roten Augen reflektieren im Schein des Feuers und er kratzt mit klauenbewährten Pfoten über den steinigen Untergrund. „Dann mal los.“ Ich sehe mich ein letztes Mal nach Raphael und Richard um, aber falls sie die Verfolgung aufgenommen haben, sind sie noch zu weit entfernt. Die Kletterpartie wird ihnen Zeit geben, mich einzuholen, aber mit etwas Glück kann ich Zach alleine erwischen. Nach der Felswand in den Alphruinen befürchte ich das Schlimmste, aber die Felsklüfte hier sind schräger, mit tiefen Einkerbungen und guten Haltemöglichkeiten für Hände und Füße. Einige Griffe hier, ein großer Schritt da und schon habe ich die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht. Es wird nicht die einzige Stufe sein, die ich erklimmen muss, aber immerhin besteht keine allzu große Gefahr, in meinen Tod zu stürzen. Gott folgt mir und mit etwas Schwung schafft er es, fast die gesamte Länge des Felsens entlang zu sprinten und sich den letzten Meter hinauf zu hieven. Gemeinsam erreichen wir den ersten Vorsprung. „Gute Arbeit“, lobe ich ihn und seine Flammen glühen für eine Sekunde stolz auf. Dann machen wir uns an die nächste Kletterrunde. Das schwerfällige Hufgetrappel erreicht meine Ohren erst, als ich vor dem letzten Felsvorsprung stehe, die Hände bereits in Position. Ich reiße den Kopf herum und entdecke eine Staubwolke, die auf mich zukommt. „Schnell“, flüstere ich und klettere mit neugefundener Energie das letzte Stück nach oben. Die Wolke kommt näher, aber noch ist sie weit genug entfernt. Stimmen. Ich hebe vorsichtig den Kopf. Das Feuer erleuchtet alle umliegenden Steinbrocken und die Felswand dahinter, sowie die leere Fläche dazwischen. Inmitten einiger Steine eingekesselt, ein Lagerfeuer in der Mitte und Schlafsäcke um die lodernden Flammen verteilt, sitzen vier Personen. „-eine totale Pleite“, sagt die Frau, während sie rhythmisch mit dem Griff ihres Jagdmessers auf einen kleinen Steinbrocken schlägt. „Der Boss wird uns köpfen.“ „Alles lief perfekt.“ Eine Männerstimme. Jung. Ich luge an einer Felsformation vorbei und erhasche einen Blick auf die versammelten Gesichter. Da sitzt Zach, ein Bein an den Körper gezogen, das andere ausgestreckt. Seine Augen ruhen auf dem Jungen, der gesprochen hat und jetzt nervös fortfährt. „Es muss eine Lücke gegeben haben. Jemand von uns.“ „Juan, da gehe ich jede Wette drauf ein“, zischt die Frau. Was ihre Stimme mir bereits gesagt hat, zeigt der Schatten ihrer hakigen Nase im Feuerschein nun deutlich. Mel. Teal, der auf dem Rücken neben ihr liegt und seine in den Himmel gestreckte Hand mustert, lacht. „Juan ist dümmer als ein Stück Toast. Seine Gefangennahme ist kein Problem.“ „Wir haben Eliza verloren“, sagt Mel leise. Bedrohlich. „Ich mochte sie.“ Der Stein unter ihrem Jagdmesser zerspringt. „Sie war genauso krank wie du, da gebe ich dir Recht.“ „Sie war gut.“ Bedauern schwingt in ihrer Stimme mit, sowie das Versprechen von Rache. „Verdammt gut.“ Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Ich muss hier weg. Und trotzdem bewegt mein Körper sich keinen Zentimeter. „Der einzige, der entkommen ist, ist unser neuer 1. Rang.“ Ich kann erkennen, wie Mel den Kopf hebt und Zach mustert. „Frage mich, wie das passieren konnte. Du entkommen, niemand sonst…“ Zach sieht sie an. „Was willst du andeuten, Melanie?“ „Nichts, Zacharias. Aber man muss sich wundern.“ Sie wirft ihr Messer in die Höhe und fängt den wirbelnden Griff gekonnt wieder auf. „Du kommst aus dem nichts. Keine Verbindung zu Verbrechen, keine Vorstrafen, gar nichts. Ein erstklassiger Trainer und so jemand tritt Team Rocket bei?“ „Ich habe meine eigenen Gründe, Mel.“ Er sieht weg. „Außer mir gehen sie niemanden etwas an.“ „Lass ihn, Mel“, sagt Teal und setzt sich schwungvoll auf. „Er hat uns schon mehrmals den Arsch gerettet.“ „Niemand muss mich retten, klar?!“ Ihr Messer schnellt in Richtung seines Auges. Teal verzieht keine Miene. „Leute…“, beginnt der Junge. „Wegen der Informationslücke…“ „Danke, Cory.“ Teal schiebt Mels Messer zur Seite und dreht sich zu Zach um. „Wer hat uns verraten?“ „Niemand.“ „Wie sind wir dann aufgeflogen?“ „Jemand hat unseren Plan durchschaut.“ „Jemand ist nicht die Antwort, die ich hören will!“ Mel springt auf, ihr Messer jetzt auf Zach gerichtet, der seelenruhig sitzen bleibt, das Feuer eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen. Unter mir höre ich Stimmen. Leise. Dann lauter. „Eine Freundin von Raphael“, sagt Zach. „Sie scheint dich zu kennen, Mel.“ „Du meinst-“ „ABBY! WO STECKST DU?!“ Mel reißt den Kopf herum und zum ersten Mal sehe ich die eingefallene, dunkle Höhle, die der Verlust ihres Auges zurückgelassen hat. Ohne Augenklappe sieht die Wunde trotz der verstrichenen Zeit grausam aus. „KOMM RUNTER!“ „Sie ist hier! Sie ist hier!“ Mels Kreischen erfüllt die Stille und ich höre nur noch das Klopfen meines Herzes, das wie ein Hammerschlag von innen gegen meine Brust drückt und das gezischte Scheiße!, das Richard unter mir von sich gibt. „Gott, Rauchwolke!“, befehle ich und springe auf. Ich sehe noch Mels Gesicht, als sie mich erkennt, bevor dichter, schwarzer Rauch die Luft erfüllt und mein Sichtfeld auf einen halben Meter beschränkt. Ich taste mich zum Vorsprung vor und gehe in die Hocke, um hinab zu klettern, da sirrt etwas an meiner Wange vorbei. Der Schmerz kommt nicht, aber die Kälte des Metalls bleibt. Ich schwinge mich hinunter, Gott dicht hinter mir her schlitternd, und lande unsanft auf dem steinigen Vorsprung. „Raphael?“, frage ich hustend, meine Kehle trocken von dem Rauch. „Hier!“ Ich folge seiner Stimme. Meine Sicht ist hier unten wesentlich besser, aber es kann nur noch Sekunden dauern, bevor sich die Rauchwolke auch über uns lichtet und unseren Aufenthaltsort preisgibt. „Wir müssen dich hier raus bringen.“ Raphael packt meine Hand und zieht mich mit sich hinunter. Gemeinsam rutschen wir die Steinklüfte hinab und ich könnte schwören, dass die Reibung meine Schuhsohlen aufreißt, aber wir kommen heil an. Richard ist nur wenige Meter hinter uns. Ängstlich schaue ich nach oben. Der Rauch ist verschwunden und die drei, nein, vier Rockets stehen an der Kante des Steilhangs und schauen zu uns herab. Er ist einer von ihnen, denke ich bitter. Ich mochte Zach, auch wenn ich ihn kaum kannte, aber dass er ausgerechnet mit Mel und Teal zusammen arbeitet, kann ich ihm nicht verzeihen. Was immer diese ganze Wahrheit auch sein mag, Mel will mich umbringen. Und er wollte ihnen verraten, dass ich ihnen auf die Schliche gekommen bin. Als wäre der Hass auf mich nicht schon groß genug. „Was jetzt?“ Richards Tauros, das hier unten auf uns gewartet hat und wohl für die Staubwolke verantwortlich war, schnaubt zustimmend. Seine muskulösen Beine trampeln auf der Stelle, während sein dreiteiliger Schwanz nervös von links nach rechts peitscht. Mel schreit ihre Kumpanen an, springt dann die erste große Stufe hinunter und rennt auf uns zu. „Wir kämpfen.“ Raphael zieht zwei seiner Pokébälle. „Abby, du nimmst Gott und rennst zurück zum Hotel.“ „Ich soll euch alleine lassen?“, frage ich ungläubig. „Es ist meine Schuld, dass wir hier sind, ich kann euch nicht im Stich lassen!“ „Du bist nicht stark genug, um etwas auszurichten“, sagt Richy und ich zucke zusammen. Oh nein, jetzt erst Recht. „Ihr könnt nicht alleine gewinnen“, sage ich und deute Richtung Mel, die wie ein Typhon die Felsklüfte hinunter rast. Zach und die anderen folgen. „Zach ist auf eurem Niveau und Teal ist nicht viel schwächer. Mel will nur mich, sie wird euch gegen Teal kämpfen lassen und mir einfach hinterher rennen!“ Raphael beißt sich auf die Lippen. „Ihr Messer ist weg“, flehe ich. „Teal hat die Pistole, wenn ich sie und den Jungen von euch weglocke, kann ich gegen sie kämpfen!“ Richy gibt ein undefinierbares Geräusch von sich. „Packst du sie?“ Raphael sieht mich ernst an. „Ich packe sie. Versprochen.“ „Okay. Abby, geh auf Abstand, das wird hier bald ein gefährlicher Ort.“ „Oh yeah.“ Richy fletscht die Zähne. „Ich habe lange nicht mehr gegen Zach gekämpft.“ „Wenn das hier vorbei ist, will ich die ganze Geschichte hören!“, rufe ich den beiden noch nach, bevor ich an ihnen vorbei renne und der Felsformation nach links folge. Rote Lichtblitze erhellen den Nachthimmel hinter mir und Mels Lachen wird lauter, als sie mich einholt. Meine Beine sind von dem Klettern erschöpft und ich kann spüren, wie meine Muskeln sich verkrampfen, aber Mels Stimme, ihre wahnsinnige Stimme, treibt mich weiter voran. Als ich glaube, jeden Moment hinzufallen, komme ich zu einer schlitternden Vollbremsung und rufe sowohl Sku als auch Hunter. Skus unwilliges Murren erstickt in ihrer Kehle, als sie Mel und den Junge, Cory, auf uns zu rasen sieht. Sie springt vor mich, bauscht ihr Fell auf und faucht grollend, ihre Krallen in den Erdboden gebohrt. Hunter kreischt laut und flattert bedrohlich mit den Flügeln. Und Gott? Zu meiner großen Überraschung stellt er sich Schulter an Schulter neben Sku, die Feindseligkeit der Beiden im Angesicht dieser Notlage vergessen. Sein Feuer ist voll aufgedreht und erhellt alles im Umkreis von fast zwanzig Metern. Weit hinter Mel und dem hechelnden Cory kann ich düster Gestalten ausmachen, Blitze erleuchten den Himmel, Sandstürme kommen auf und die Erde beginnt, zu beben. Steinkaskaden rollen die Felswände zu meiner Linken herab und sammeln sich in Häufchen am Fuße des Gesteins. Vielleicht ist dies nicht der beste Ort, dieses Kampf auszutragen, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Dieses Duell ist schon lange überfällig. Ich bin lange genug weggerannt. Heute wird es enden. „Hab ich dich endlich gefunden“, sagt Mel und kommt schwer atmend vor mir zum Stehen. „Ich dachte, die Ruinen hätten dir den Gar ausgemacht, aber du warst freundlich genug, mir dein Überleben per Radio mitzuteilen.“ „Gern geschehen“, sage ich grimmig. „Bringen wir es hinter uns.“ „Hinter uns bringen?“ Mel lacht. „Ich werde jede Sekunde genießen. Cory, hier her. Jetzt kannst du beweisen, dass ich Recht hatte, dich mitzunehmen.“ „Sofort!“ Cory nimmt neben Mel Position und zieht die beiden Pokébälle, die zu beiden Seiten seines schwarzen Gürtels befestigt sind. „Los!“ „Du auch, Liebling.“ Mels Arbok materialisiert sich züngelnd und liebevoll zischend neben einem stattlichem Nidorino, dessen Hornspitze abgesplittert ist und einem kompakt aussehenden Glibunkel mit frechem Grinsen im blauen Gesicht. Als es Sku sieht, kichert es hysterisch und hüpft händeklatschend auf und ab. Drei gegen drei. Ich habe noch nie so viele Pokémon auf einmal gegeneinander kämpfen sehen, auch wenn ich mir vorstellen kann, wie es an Raphaels Front aussehen muss. Aber ich habe keine Zeit, mir um ihn Sorgen zu machen. Mein eigener Kampf wird hart genug, auch ohne Ablenkung. „Sku, Kreideschrei, schwäch ihre Verteidigung, Hunter, Aero-Ass auf sein Glibunkel, Glut auf Nidorino!“ „Arbok, Giftblick auf das Stinktier.“ „Energiefokus, Nidorino, Glibunkel, Lehmschelle auf Skuntank!“ Und so beginnt es. Skus Schrei erfüllt die Luft, bevor Arboks Blick sie zum Erstarren bringt, ihr Körper sich zusammen krampft und sie beginnt, unkontrolliert zu zittern. Hunter schießt unterdessen in die Höhe und prescht unaufhaltsam auf Glibunkel zu, das benommen zu Boden geschleudert wird, bevor es sich langsam aufrappelt und Sku mit einer schwachen Bodenattacke angreift. Unterdessen unterbricht Gott Nidorinos in sich gekehrten Energiefokus mit einer Stichflamme, die es aus den Tiefen seines Körpers fördert. Nidorino kreischt und rollt sich durch die feuchte Erde, um seine Verbrennungen zu lindern. „Nochmal angreifen, Sku, versuch, Arbok mit deinem Schlitzer zu treffen!“ „Nidorino, Furienschlag auf ihr Igelavar, Glibunkel, weiter Lehmschelle.“ „Arbok, Wickel. Gib ihr keine Möglichkeit, zu kontern.“ Ich kann gerade noch Hunters herabstürzenden Umriss sehen, bevor er gegen Glibunkel prallt und das blaue Pokémon von seinen Füßen hebt. Gott bemüht sich unterdessen, Nidorinos Furienschlag auszuweichen – vergebens. Jeder zweite Treffer ist ein Volltreffer und als Gott schließlich selbst zum Zug kommt, ist seine Glutattacke schon weit schwächer als noch eine Minute zuvor. Mein Blick gleitet zu Sku, die inzwischen in Arboks muskulösem Körper eingewickelt ist, zittert und sich kaum rühren kann. Ein übler Geschmack wie von Galle breitet sich in meinem Mund aus. Hier geht es nicht nur um Sieg oder Niederlage. Ich habe es ihm versprochen, denke ich verzweifelt. Ich habe ihm versprochen, dass ich sie packe! „Glibunkel, nein!“ Ich mache einen Schritt nach vorne. Hunter sitzt auf Glibunkels blauen Krötenkörper; das Pokémon rührt sich nicht. „Hunter, hol Sku aus Arboks Wickel, Gott, halte Nidorino beschäftigt, du schaffst das!“ „Arbok, Säurespeier auf ihren Vogel!“ Der Blick ihres einen Auges verhärtet sich. „Er wird leiden.“ Cory ruft sein Pokémon zurück. „Nidorino, Hornattacke, beende es!“ Gott springt zur Seite, als Nidorino mit gesenktem Kopf auf ihn zuschießt, aber das abgesplitterte Horn reißt dennoch einen tiefen Schlitz in seine Seite. Winselnd steht er für einige Momente still, bevor seine kleinen Beinchen einknicken und er besiegt zur Seite kippt. Nidorino stampft zufrieden mit seinem Fuß auf, wendet sich dann ab und rennt in Richtung Arbok, das mit weit geöffnetem Maul eine Giftkugel nach der anderen nach Hunter schießt, der wieder und wieder auf sie einhackt, um Sku zu befreien. „Pass auf!“, schreie ich, im selben Moment, in den Cory Nidorino seine Hornattacke befiehlt. Nidorino nimmt Anlauf, springt und schießt auf Hunter zu, der damit beschäftigt ist, Arboks Bissen auszuweichen. Meiner Stimme folgend prescht Hunter mit einem gewaltigen Flügelschlag gute zwei Meter in die Höhe, genug, um Nidorinos Attacke nicht nur auszuweichen, sondern ihn von hinten mit einem Furienschlag anzugreifen. Nidorino reißt den Kopf in die Höhe und schreit, immer noch im Flug, als seine Kräfte ihn verlassen. Sein Angriff hält jedoch stand und sein violettes Splitterhorn trifft das einzige Pokémon, das sich jetzt noch in seiner Flugbahn befindet – Arbok. Arboks Griff lockert sich, als sie sich zischend und züngelnd windet. Sku strampelt sich aus ihrem Wickel und rennt hinkend aber mit beachtlicher Geschwindigkeit außer Arboks Reichweite. Erleichtert atme ich aus. Arbok ist geschwächt und sowohl Hunter als auch Sku sind noch kampffähig. Ich kann gewinnen. Dann bebt die Erde. Zuerst ist es nur ein Vibrieren, ein Rütteln, das sich sekündlich verstärkt, bis ich mein Gleichgewicht verliere und vornüber auf Hände und Knie falle. „Was zur…“ Risse rasen auf uns zu, Spalten im Erdboden, die breiter werden, breiter und breiter bis sie jeden, der hineintritt, verschlingen könnten. Cory schreit, Mel sieht sich wütend um und ich stehe mühsam auf. Sku und Hunter sind innerhalb von Sekunden an meiner Seite, der Kampf vergessen. Der Sandsturm, der anschließend in unsere Richtung rollt, lässt meine Kinnlade langsam herabsinken. Ich hatte gedacht, der im Pokécenter wäre stark, aber was jetzt auf uns zukommt, ist eine ganz andere Liga. Ohne ihre sicheren Proteste abzuwarten, rufe ich Hunter und Sku zurück und renne in die andere Richtung, nur weg von der entfesselten Naturkatastrophe. „Arbok, Säurespeier!“, kreischt Mel und für einen Moment wundere ich mich, wen sie angreift. Keins meiner Pokémon ist draußen und… Schmerz. Ich schreie, als Arboks Gift durch mein Oberteil in die Haut darunter ätzt, meine rechte Schulter nur noch ein Fleck heißen Feuers in meiner Vorstellung. Ich stolpere einige Schritte vorwärts, bevor ich falle und mit dem Gesicht im Dreck liegen bleibe. Der Sandsturm rollt über mich. Halb bewusstlos kann ich Stimmen im Sand ausmachen, aber mein Gehirn zieht keine Verbindungen mehr. Alles wirkt so… abgeschnitten. Flügelschläge. Schnattern. Ächzen. „Wir hauen ab.“ „Hast du sie erwischt?“ „Die Schlampe wird´s überleben.“ „Ich kann sie erschießen.“ „Das ist meine Rache, halt dich da raus!“ „Atlas wird das nicht-“ Ihre Stimmen verblassen und mit ihnen das Tosen des Sturms. Das Pochen an meiner Schulter, das langsam immer tiefer geht, als würde das Gift bis in meine Knochen wandern, wird stumpfer. Ich weiß nicht, wie lange ich dort liege, aber schließlich höre ich Schritte. Einen wütenden Schrei. Jemand geht neben mir in die Knie. Finger befühlen meinen Hals. Ich öffne ein Auge. Ich glaube, es ist Raphael, aber ich bin nicht sicher. Schatten kriechen in mein Sichtfeld und alles verliert seine Farbe. Mir ist schlecht. Und es brennt. „Sie lebt, Gott sei Dank, sie lebt...“ „Was ist passiert?“ „Keine Ahnung, aber sie muss ins Krankenhaus.“ Ich werde hochgehoben. Wo Finger mich berühren, kribbelt es. Ich fühle mich, als würde ich gleich einschlafen. Meine Gedanken verschmelzen mit meinen Eindrücken der Realität. „Schlaf nicht ein, Abby, ich bring dich hier raus.“ Ich liege, halb über einem fedrigen Körper hängend. Blut tröpfelt die Federn entlang. Eine Wunde? „Sag den anderen Bescheid. Und ruf Gold an.“ „So ein Scheiß…“ Jemand setzt sich hinter mich. Dann ruckelt es und plötzlich habe ich das Gefühl, in die Höhe gezogen zu werden, ohne meine Organe mitzunehmen. „Alles wird gut, Abby, alles wird gut.“ Eine Hand, die über mein Gesicht streift. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Dann entzieht sich mir alles und ich falle ins Nichts. Kapitel 44: Zachs Mission (Rückkehr) ------------------------------------ Ich erwache mit violettem Fell in meinem Mund und einem pochenden Gefühl an meinem rechten Schulterblatt. Blinzelnd lasse ich meinen Kopf zur Seite sacken und entdecke Sku, die auf meiner gesunden Seite halb auf mir eingerollt ist und leise schnarcht. Ich puste ihr ins Gesicht und sie reißt die Augen auf. Ein tiefes, zufriedenes Brummen steigt in ihrer Kehle auf und sie reibt ihr Gesicht gegen meins, bis ich vor lauter Fell nichts mehr sehen kann. „Abby?“ Ich drehe den Kopf und entdecke Raphael, der mit dunkel umrandeten Augen auf einem Stuhl an meiner rechten Bettseite sitzt, die Arme auf die Matratze gelegt. Sein Haar steht in alle Richtungen ab und der Abdruck seines Pullovers spiegelt sich eingedrückt auf seiner Wange wider. „Wo bin ich?“, frage ich desorientiert.. Licht fällt durch das Fenster hinter Raphael in den Raum und die Tür zu meiner Linken ist verschlossen. Ein stetes Piepen dringt von irgendwo an mein Ohr. „Im Vertania City Krankenhaus.“ Raphael atmet erleichtert aus, als er merkt, dass ich wieder halbwegs beieinander bin. „Irgendein Pokémon hat dich mit einer Giftattacke angegriffen. Du warst bewusstlos.“ „Mels Arbok…“, murmele ich, als die Erinnerungen langsam zurückkehren. „Warte. Sitzt du schon die ganze Zeit hier?“ Raphael schmunzelt. „Ich war zwischendurch auf Toilette und habe mir sogar einen Dosenkaffee gegönnt.“ Sku reibt sich enger an mich und ich hebe müde eine Hand, um ihren Rücken zu kraulen. Sie schnurrt wohlig. „Wer hat sie rausgelassen?“ „Ich.“ Er grinst. „Als wir ankamen, hat ihr Pokéball vibriert und ist heiß geworden. Ich dachte schon, sie sprengt ihn gleich, deswegen habe ich sie lieber rausgelassen. Sie ist seitdem nicht von deiner Seite gewichen.“ Ich schaue in Richtung Fenster. „Welcher Tag ist heute?“ „3. Oktober, 9:30 Uhr. Die Gruppenkämpfe sind vorbei und sie haben mit den KO-Runden angefangen.“ Er reibt sich die Schläfen. „Mein Geschenk ist wohl ziemlich in die Hose gegangen, was?“ „Noch ist das Turnier nicht vorbei.“ Er verzieht das Gesicht. „Ich bezweifle, dass du fit genug bist, um entlassen zu werden. Die Krankenschwester sagte, du musst mindestens drei Tage hier bleiben.“ „Oh.“ Wir schweigen eine Weile. Ich hatte mich sehr auf die PCS gefreut, dass sie jetzt ohne mich weiterläuft, obwohl ich so nahe dran bin, tut weh. Raphael scheint meine Gefühlslage zu spüren, denn er steht auf und verschwindet aus dem Raum. Kaum zwei Minuten später ist er wieder zurück – mit einem kleinen rollbaren Fernseher. „Ich habe schon alles organisiert“, sagt er und stellt den Fernseher ans Fußende meines Krankenbetts. Dann rückt er seinen Stuhl ans Kopfende und schaltet das Programm ein. „Du solltest dir die Kämpfe live ansehen“, sage ich. „Du bist nicht ans Bett gefesselt.“ „Und dich hier alleine im Krankenhaus sitzen lassen? Nie im Leben.“ Seine Miene wird ernster. „Außerdem ist die Stimmung gerade nicht besonders gut. Ich bin lieber hier.“ „Was ist passiert?“ Raphael seufzt und zappt durch einige Kanäle bis er den Nachrichten-Channel findet. „Sie bringen es seit gestern in Dauerschleife. Ah, hier.“   „Hallo, liebe Zuschauer. Nach einem schockierenden Zwischenfall auf dem Indigo Plateau ist die Stimmung der Pokémon Championship gekippt. Was mit einem harmlos scheinenden Übergriff einiger Team Rocket Mitglieder auf ein Pokécenter begann, eskalierte in der folgenden Nacht zu einem Desaster, das uns alle erschüttert. Zacharias Stray, einer der vier Favoriten für den nächstjährigen Champion-Titel, wurde von seinen Freunden als Mitglied der Verbrechergruppe Team Rocket enttarnt. Nach einem Pokémonkampf, der Teile des Plateaus einstürzen ließ, konnten er und drei weitere Mitglieder fliehen, nicht jedoch ohne eine zufällig anwesende Passantin schwer zu verletzen. Aus Anonymitätsgründen bleibt ihr Name und das Krankenhaus, in dem sie derzeit untergebracht ist, geheim, doch sie ist weiterhin bewusstlos. Nähere Informationen zu ihrem Gesundheitszustand liegen vorerst nicht vor. Die beiden Favoriten, die Zacharias und seine Mitverbrecher stellten und schließlich die Polizei kontaktierten, lehnen jeden Kommentar ab. Gold äußerte sich besorgt ob dieser Entwicklung und sagte, er könne nicht fassen, dass ein so hoch angesehener Trainer sich Team Rocket anschließen würde. Zacharias Stray gilt inzwischen als Schwerverbrecher und wird in Kanto und Johto polizeilich gesucht. Officer Rockey betonte, dass sie keine Rücksicht auf seinen bisherigen VIP-Status nehmen und alles daran setzen werde, ihn hinter Gitter zu bringen. Auch Noah und Gold haben ihr Unterstützung zugesichert, die Favoriten Raphael Berni, Genevieve Keller und Richard Lark haben sich diesbezüglich noch nicht geäußert, doch der Schock über diesen Verrat ist ihnen anzumerken. Raphael wurde seit gestern Morgen nicht mehr gesehen und auch Richard wird in seiner Hotelsuite vermutet. Die gute Nachricht: Bei dem Überfall auf das Pokécenter gelang es Gold und der Spezialeinheit von Officer Rockey, zwei Team Rocket Mitglieder festzunehmen. Die beiden Verbrecher werden seit dem Vorfall ununterbrochen befragt. Zu den Ergebnissen der Championship-“   Raphael schaltet stumm und ich betrachte einige Sekunden lang die Gesten und Mundbewegungen des Sprechers, bevor ich den Kopf nach hinten sacken lasse und die Informationen verdaue. Zach wird gesucht. Zach ist ein Team Rocket Mitglied. Zach arbeitet mit Mel und Teal zusammen. Richard und Raphael haben Zach angezeigt. „Das ist meine Schuld, oder?“, frage ich mit belegter Stimme. „Richard hatte Recht. Ich habe mich eingemischt und deswegen ist Zach aufgeflogen.“ Ich schlucke meine Tränen hinunter. Ich habe kein Recht, zu weinen. Sku schnurrt beruhigend und windet sich unter meinen Arm in meine Umarmung. „Niemand ist schuld“, sagt Raphael, aber er klingt bitter. „Du konntest nicht wissen, wo du hinein läufst. Wir wussten es schließlich auch nicht. Es war Pech und Zach muss jetzt die Konsequenzen tragen.“ „Warum ist er überhaupt ein Rocket?“, frage ich wütend. „Er ist ein erstklassiger Trainer, was bringt ihm dieses Doppelleben?“ „Erinnerst du dich an das, was Gen und ich dir erzählt haben? Über seine Schwester?“ Ich nicke. Nicht nur seine Schwester. Caros Schwester. Ich kenne die Geschichte. Karins traurige Stimme ist tief in meine Erinnerung eingebrannt, genauso wie Caro, die mit zittrigen Händen in ihrem Blumenatelier steht und keine einzige Träne vergießt. „Zach vermutet Team Rocket hinter dem Überfall. Es gab Gerüchte in seiner Heimatstadt und er nahm sie ernst. Richy hat versucht, ihm den Gedanken auszureden, aber es ist ihm nie gelungen, obwohl die beiden schon länger befreundet waren als wir anderen. Später lernten wir ihn dann auch kennen. Sein Hass auf Team Rocket war immer offensichtlich. Dann gewannen sie an Stärke und die Überfälle häuften sich. Er tauchte immer wieder unter und niemand wusste, wo er war oder was er machte.“ Raphael schiebt seine runde Brille nach oben. „Wir wussten nicht, was los war. Er war nie besonders gesprächig, aber das Untertauchen und von der Bildfläche verschwinden war neu. Alfred vermarktete ihn natürlich sofort als mysteriös und als Einzelgänger, das kennen die Leute von Red ja zu Genüge. Aber wir wussten, dass etwas nicht stimmt.“ „Hat er es euch gesagt? Dass er ihnen beigetreten ist?“, frage ich leise. „Nein. Richy hat ihn einmal dabei erwischt, dass er einen Team Rocket laufen ließ, obwohl er ihn problemlos hätte einfangen können. Richard hat sich seinen Teil dabei gedacht und ihn dann darauf angesprochen. Er hat es weder zugegeben noch abgestritten.“ „Aber warum?“ „Es ist seine Mission. Er will Team Rocket von innen infiltrieren und herausfinden, wer für den Tod seiner Schwester verantwortlich ist. Seit über einem Jahr arbeitet er sich in der Hierarchie hoch, erntet Vertrauen und sucht nach den Schuldigen.“ „Ich jage meine eigene Beute…“, murmele ich. Als Raphael mich fragend ansieht, winke ich ab. „Also habt ihr ihn gedeckt?“ „Wir wussten, dass er Team Rocket nicht beigetreten war, um ihnen zu helfen und ich glaube, er wusste, dass wir es wussten. Wir spielten unsere Rolle und er spielte seine.“ „Deswegen war Richy so wütend auf mich. Er hatte Angst, dass ich alles auffliegen lasse.“ „Richard und Zach hatten schon immer eine sehr merkwürdige Beziehung, aber Richard sieht sich nicht nur als sein Rivale, sondern auch als sein bester Freund. Er hätte alles getan, um seine Scharade aufrecht zu halten.“ „Aber warum habt ihr ihn dann angezeigt?“, frage ich. „Wenn ihr seine Scharade aufrecht halten wolltet.“ „Das haben wir getan, Abby.“ Raphaels Gesichtsausdruck nimmt schmerzhafte Züge an. „Wir haben seinen Traum zerstört, damit seine Mission weiterleben kann.“ „Ich komme nicht mehr mit.“ „Denk darüber nach. Mel und die anderen waren dabei. Sie wissen, dass wir Zach erkannt haben. Sie wissen nicht, dass wir längst wussten, dass er ein Team Rocket Mitglied ist. Um Team Rocket davon zu überzeugen, dass er tatsächlich auf ihrer Seite steht, mussten wir ihn anzeigen. So wie es jeder Trainer gemacht hätte, der ein neues Team Rocket Mitglied identifiziert hat. Nun glauben beide Regionen, er sei ein Verbrecher, aber das sichert seine Position innerhalb von Team Rocket. Jetzt können wir nur hoffen, dass er die Verantwortlichen findet und sich die Sache irgendwann aufklärt.“ „Das wird schwierig.“ Ich kraule Skus Kopf. „So leicht wird sich das nicht beweisen lassen.“ „Ich weiß!“ Raphael steht wütend auf und fährt sich durch die Haare. „Ich habe keine Ahnung, ob wir das Richtige getan haben! Richard ist völlig neben der Spur, Gen versucht, die Medien und Fans bei Laune zu haben, Alfreds Image hat einen Riesenschlag abbekommen und du bist über dreißig Stunden bewusstlos gewesen und ich hatte keine Ahnung, ob du bald aufwachst oder nicht…“ „Raphael…“ Ich schlage die Decke bei Seite und stehe mit wackligen Beinen auf. Raphael steht mit dem Rücken zu mir, seine Fäuste geballt. Ich lege meine Arme um seinen Körper und drücke ihn fest. „Ich werde Star-Reporterin, schon vergessen? Ich sorge dafür, dass Zachs Name reingewaschen wird. Ich versprech´s. Er wusste, worauf er sich da einlässt. Ich glaube, er ist dankbar, dass ihr ihn selbst jetzt noch unterstützt. Ohne eure Anzeige wäre seine Tarnung aufgeflogen, oder nicht? Dann wäre alles umsonst gewesen.“ Eine Weile stehen wir so da, bevor Raphael sich aus meiner Umarmung löst und mich anlächelt. „Du hast Recht. Wir haben ihm die Möglichkeit gegeben, seine Schwester zu rächen. Wenn Team Rocket besiegt wurde, können wir uns um den Rest kümmern.“ Als ich die Arme sinken lasse, zucke ich zusammen. „Ouch.“ Ich drehe den Kopf, um einen Blick auf die Wunde zu werfen, kann aber nichts erkennen. „Ich glaube, sie haben hier irgendwo einen Spiegel.“ Raphael durchsucht das Zimmer, bis er einen Handspiegel in einer der Schubladen des kleinen Nachtschränkchens findet. Als er damit zurückkehrt, habe ich mich bereits zurück auf das Bett gesetzt. „Lehn dich nach vorne.“ Er zieht die eine Seite meines weißen Krankenhauskittels nach unten, bis meine Schulter und ein Stück Rücken frei liegen und hält dann den Spiegel schräg. Ich spähe zur Seite. Die Stelle, an der Arboks Gift mich getroffen hat, ist faustgroß und ausgebleicht, wie ein weißer Fleck auf meiner Haut. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Ich vertreibe die Vorstellung von violettem, aufgeschwollenem Narbengewebe aus meinem Kopf und präge mir stattdessen den weißen Hautfleck ein, bevor ich wegschaue. „Sieht gar nicht so schlimm aus. Warum muss ich noch so lange hier bleiben?“ „Weil wir dich im Auge behalten müssen“, ertönt eine weibliche Stimme hinter mir und ich drehe den Kopf erschrocken Richtung Tür. Eine kugelige Frau mittleren Alters mit kurz geschnittenem, grellrotem Haar steht im Eingang, ein Klemmbrett vor ihren gewaltigen Busen gepresst. „Vergiftungen von Pokémon an Menschen sind häufiger, als man denkt, aber meist ist es nur eine kleine Dosis, die sie abbekommen. Eine Wunde dieser Größe kann Komplikationen bereiten, wenn wir dich nicht die nächsten paar Tage im Auge behalten.“ Sie lächelt mich an. „Außerdem glaube ich kaum, dass du genug Energie hast, hier einfach hinaus zu spazieren. Ich garantiere, dass du in einer Stunde schläfst wie ein Baby.“ „Als wenn…“, murmele ich gekränkt und die Schwester lacht. „Ich bin Martha.“ Sie kommt an mein Bett und schreibt einige Werte auf, bevor sie sich an einem Infusionsschlauch zu schaffen macht, von dem ich nicht Mal bemerkt habe, dass er da ist. „Steh bitte nicht einfach auf“, sagt sie und setzt die Nadel wieder in meine Haut. „Ich möchte dich ungern alle fünf Minuten anschließen müssen, weil du zu unvorsichtig bist.“ „Tut mir leid.“ „Auch was.“ Sie lacht. „Die Jugend vergisst schnell. Wenn es dich tröstet, es tut mir leid, dass ich dir das Turnier verderben muss. Wir würden dich nicht hier behalten, wenn wir nicht sicher wären, dass es die sicherste Alternative ist.“ „Ist schon in Ordnung.“ Ich grinse in Raphaels Richtung. „Nächstes Jahr ist sowieso wichtiger.“ „Wenn du etwas brauchst, drück einfach die Klingel.“ Martha lächelt mich warm an, dann verlässt sie mein Zimmer. „Kannst du meine Sachen holen?“ Ich lasse mich in die weichen Kissen sinken. „Ich hätte gerne meinen PokéCom, wenn ich schon hier bin. Und mein Handy.“ „Klar.“ Raphael grinst mich tapfer an, dann verlässt er mich ebenfalls. „Da waren´s nur noch zwei“, murmele ich leise und kraule Skus Hals. Sie brummt wohlig und knetet meine Klamotten mit ihren Krallen. „Ich muss Caroline anrufen“, sage ich. „Sie wird die Wahrheit wissen wollen. Bestimmt versucht Rockey, Infos aus ihr raus zu quetschen. Der Untergrund ist dann auch in Gefahr. Und Louis…“ Der Gedanke an Louis schnürt mir den Hals zu. Es ist der dritte Oktober. Ob er inzwischen wieder in Dukatia ist? Hat er vielleicht sogar schon den Orden? Stark genug ist er. „Vielleicht ist es ganz gut, dass ich hier nichts zu tun habe“, sage ich schließlich und sehe Sku ernst an. „Ich habe viele Anrufe zu erledigen. Mama macht sich bestimmt Sorgen.“ Sku schnurrt zustimmend. Ich habe Marthas Versprechen für einen Witz gehalten, aber so peinlich es ist, schlafe ich ein, lange bevor Raphael mit meinem Rucksack zurückkommt.   Die nächsten drei Tage sind ein steter Wechsel aus Schlafen, Telefonieren und Fernsehen. Die meisten der Kämpfe verlaufen wie erwartet, aber einige Überraschungen gibt es doch. Marcel, der große, schüchterne Junge, der gemeinsam mit Carlos siegreich aus der Fünfergruppe hervor gegangen ist, besiegt den Publikumsliebling in einem harten Kopf an Kopf-Rennen und sichert sich so einen Platz in den Top Acht. Kerry und Martina, das Rivalenpaar, treffen im Viertelfinale aufeinander und Kerry gewinnt um Haaresbreite. Jasmina Zon gerät in ihrem ersten KO-Duell ausgerechnet an den defensiven Mark Eisenthal und steckt eine herbe Niederlage ein. Letztendlich stehen sich im Halbfinale die vier letzten Trainer gegenüber: Mark Eisenthal, Kerry Lou, Katherina Alwig und die bisher völlig unscheinbare Chloe Falkner. Kerry siegt über Katherina, ohne sich mit sonderlich viel Ruhm zu bekleckern, nur einer sehr unfairen Doppelteam Taktik hat er seinen knappen Sieg zu verdanken und Chloe zerstört Marks Defensive mit einem unbändigen Repertoire an Offensivstrategien. Die beiden gehen als Sieger aus dem Turnier hervor und erhalten einen Pokal sowie den eigentlichen Preis: Die Erlaubnis, innerhalb eines Jahres Noah herausfordern zu dürfen. Wenn ich einmal nicht schlafe oder mir im Fernsehmarathon die KO-Duelle und Wiederholungen mit Raphael angucke, der mit erstaunlichem Ehrgeiz ein kleines Notizheft mit Kampfstrategien und Attacken füllt, frische ich meine Telefonkontakte auf. Louis ist bereits auf dem Weg Richtung Teak City. Sein Kampf gegen Bianca verlief besser als erwartet, dank Harleys gekonnten Ausweichmanövern schaffte Miltank es nicht, ihre Walzerattacke aufzubauen. Als ich ihm von allem erzähle, was passiert ist, sagt er lange Zeit kein Wort mehr. „Komm bitte zurück“, sagt er dann. „Kaum sind wir getrennt, passiert dir sowas.“ „Mit dir ist mir sowas auch schon zweimal passiert“, spotte ich, aber seine ehrliche Sorge entgeht mir nicht. Mama weint, als ich anrufe. Sie sagt, sie wusste, dass ich es war, die im Krankenhaus liegt, sie hatte es schon die ganze Zeit im Gefühl. Selbst Papa klingt, als sei ihm bei meinem Anruf ein riesiger Stein vom Herzen gefallen und Tarik prahlt von all den jungen Trainern, die an ihm scheitern. Ich erinnere ihn daran, sie nicht zu hart ranzunehmen, aber er lacht nur und vertraut mir an, einen Plan zur Zähmung von Harpy entwickelt zu haben. Caros Anruf schiebe ich lange vor mir her, aber nach langem Gejammer nimmt Raphael mir schließlich das Handy aus der Hand, wählt Caros Nummer und drückt mir das Telefon in die Hand. Dann setzt er sich auf seinen Stuhl und beobachtet mich wachsam. Keine Chance. „Abby?“ „Hi, Caro.“ „Ich bin geehrt, dem Klang deiner Stimme lauschen zu dürfen.“ „Es tut mir so leid! Es ist nur so-“ „So viel passiert? Was, seid ihr wieder entführt worden?“ „Nicht ganz. Wir wurden lebendig in den Alph-Ruinen begraben und vor ein paar Tagen hat ein Pokémon mich vergiftet und mich ins Krankenhaus befördert.“ „Heilige Scheiße.“ „Kannst du laut sagen. Oh, und Louis und ich sind irgendwie… vielleicht ein Paar?“ Ich höre ihr Stöhnen. „Du bist fünfzehn, lass die Finger von allem, was einen Penis hat, bis du weißt, wie man das Ding benutzt.“ „Caro!“ Sie lacht. „Scherz.“ Ich höre das Klacken ihres Feuerzeugs und den Luftstrom, als sie tief ein und ausatmet. „Warum rufst du an?“ „War in letzter Zeit die Polizei bei dir?“ „Nein, wieso?“ „Es gibt da etwas, dass du wissen solltest…“ Für mehrere Minuten rede ich, ununterbrochen von Caros Stimme. Als ich geendet habe, höre ich ein trauriges Lachen am anderen Ende der Leitung. „Zwei Gesetzesbrecher in der Familie. Sie muss so stolz sein.“ „Er ist nicht böse, Caro, er will nur das Richtige tun!“ „Es gibt kein Richtig und Falsch, Abby. Es gibt nur Taten und Motivation. Zach weiß, was er tut. Danke für deine Warnung, ich sorge dafür, dass hier alles ruhig verläuft, wenn die Bullen kommen.“ „Dann ist gut. Grüß alle von mir.“ „Werd ich. Pass besser auf dich auf. Wenn du so weiter machst, überlebst du dieses Jahr nicht.“ „Haa… danke.“   ooo  „Bereit?“ „Bereiter werde ich nicht mehr.“ „Also Teak City, ja?“ Ich klammere mich in Grypheldis´ Federn fest. Raphael umschlingt mit einem Arm meine Taille, mit dem anderen greift er in Mandys Gefieder. Hunter flattert bereits ungeduldig neben uns her. Ich hebe den Kopf und schaue in den eisig blauen Himmel. Der Sommer ist endgültig vorbei. In meine Jacke eingepackt ist der kalte Wind kein Problem, aber der Flug über halb Johto wird kalt, da bin ich sicher. „Teak City“, stimme ich zu. Grypheldis trabt los, ihre Füße schnellen über die Straße vor dem Vertania Krankenhaus und als ich glaube, wir laufen gleich gegen ein Haus, spannt sie ihre Flügel und hebt vom Boden ab. Hunter kreischt und fliegt, mit meinem Rucksack hinterher. Wie eine Woche zuvor umhüllt mich der eisige, dröhnende Wind und ich schreie vor Glück. Es endet, wie es begann. Und Teak City wartet auf mich. Ich habe gehört, im Herbst soll es dort besonders schön sein. Und wer weiß. Vielleicht gerate ich auf meiner Reise einmal nicht in Lebensgefahr. Allzu sicher bin ich da allerdings nicht. Kapitel 45: Größenwahn und kurze Shorts (RES-Q) ----------------------------------------------- Unter vielen Versprechungen und Umarmungen verabschiede ich mich von Raphael, der mich auf der Route 37 südlich von Teak City absetzt. „Willst du wirklich nicht bleiben?“, frage ich. Er schüttelt traurig den Kopf. „Ich kann Richard und Gen nicht alleine in diesem Schlamassel sitzen lassen.“ Er grinst. „Außerdem habe ich jede Menge Training aufzuholen und Notizbücher zu analysieren.“ „Halt dich tapfer, Favorit.“ Ich drücke ihn ein letztes Mal, dann straffe ich meine Schultern und stapfe durch feuchtes Gras und über verzweigte Waldwege, bis ich Teak City erreiche. Die abgebrannten Ruinen des Bronzeturms ragen am Ende der Stadt gut sichtbar in die Höhe und ich erinnere mich an die Sagen, die Heike uns erzählt hat. Vielleicht werde ich dem Turm in meiner Zeit hier einen Besuch abstatten. Es ist früher Abend und die Straßen sind gefüllt mit Menschen, die meisten von ihnen Anwohner, erkennbar an schweren Einkaufstüten und dem asiatisch angehauchten Kleidungsstil, der sich in den Häusern und Straßenlaternen widerspiegelt. Auf meinem Weg zum Pokécenter begegnet mir jedoch auch ein gutes Dutzend Trainer, die meisten von ihnen zwölf bis sechzehn Jahre alt. Alle sind in angeregte Gespräche vertieft und gestikulieren wild umher, aber außer dem einen oder anderen Wortfetzen kann ich nichts verstehen. Das Pokécenter ist überall ausgeschildert und so finde ich es innerhalb von wenigen Minuten. Wie in Dukatia City ist es gut ausgebaut, mit mehreren Stockwerken, in denen Trainer untergebracht werden können. Ich will gerade einchecken, da klingelt mein Handy. „Abby hier", melde ich mich. „Abby, ich bin´s.“ „Louis?", frage ich verwirrt. "Warum rufst du an? Wolltest du nicht auch heute ankommen?“ „Es ist etwas dazwischen gekommen. Ich bin auf dem Weg nach Viola City.“ „Sag bloß, du hast dich schon wieder verlaufen.“ „Meine Eltern haben gerade angerufen. Meine Großmutter liegt im Sterben.“ „Oh nein…“ „Ich komme nach, sobald ich kann, aber ich muss erst nach Rosalia.“ „Klar… Oh Gott Louis, das tut mir so leid!“ „Ist schon in Ordnung.“ Er schnieft. „Ich werde rechtzeitig da sein, hoffe ich. Ich mochte sie immer sehr gerne, sie… sie war es, die mir den Mut gegeben hat, selbst loszuziehen.“ Als er auflegt, starre ich regungslos auf das Handy in meiner Hand. „Ist etwas passiert?“, fragt Schwester Joy und ich schüttele automatisch den Kopf. „Nein, alles okay“, lüge ich. „Haben sie noch ein Zimmer frei?“ „Fast alle Zimmer, leider.“ Sie lächelt. „Seit einigen Tagen geht ein Gerücht um, dass es auf dem unbebauten Anwesen in der Stadtmitte spukt. Deswegen haben sich alle Trainer hier entschieden, die Nächte dort zu verbringen, um den Geist oder was immer es ist zu sehen.“ „Warum kümmert sich Jens nicht darum?“, frage ich. „Er verwendet doch Geisttypen. Wenn jemand den Spuk beenden kann, dann er.“ „Jens ist derzeit nicht in der Stadt“, erklärt Schwester Joy. „Deswegen sind all die jungen Trainer so entschlossen, das Pokémon zu fangen, bevor er zurückkommt. Eine Mutprobe, sozusagen. Das mag die Jugend hier.“ „Hmm.“ Das Sirren hinter mir kündigt einen neuen Besucher an. Ich drehe mich um. Eine Trainerin, vielleicht zwanzig Jahre, kommt summend in unsere Richtung. Sie trägt Wanderschuhe, viel zu knappe Shorts, ein unbedrucktes, schwarzes T-Shirt und eine ausgebeulte, quietschgelbe Umhängetasche. Dichtes, dunkelbraunes Haar fällt ihren Rücken hinunter wie ein Wasserfall und ein fransiger Pony bedeckt die Hälfte ihrer Stirn. Sie legt fünf kleine Pokébälle auf die Theke. „Eine Heilung und eine Zimmerverlängerung, bitte.“ „Gerne.“ Schwester Joy nimmt die Pokébälle entgegen und legt sie in die Maschine. „Es wundert mich, dass du nicht auch bei der Geistersuche mitmachst, Chris“, fährt sie fort. „Du bist schon seit einer Woche hier, du solltest Bescheid wissen.“ „Es ist ein Pokémon, was ist daran so besonders?“ „Es taucht in unregelmäßigen Abständen auf.“ Joy nimmt die Pokébälle aus der Maschine und gibt sie dem Mädchen namens Chris zurück. „Das sollte dich doch interessieren.“ „Das zeigt lediglich, dass es entweder einem Trainer gehört oder weiter gezogen ist.“ Chris steckt die Pokébälle in ihren breiten Trainergürtel. „Außerdem bin ich nur wegen einem einzigen Pokémon hier.“ „Du hast deine Suche noch nicht aufgegeben?“ „Nicht, bevor ich fündig geworden bin.“ „Welches Pokémon meinst du?“, platze ich heraus. Chris dreht sich zu mir um, so als hätte sie mich bis dahin nicht wahrgenommen. Ihr Blick gleitet kurz über meinen gesamten Körper, dann zuckt sie mit den Schultern. „Ho-Oh.“ „Ho-Oh?!“ Ich starre sie mit offenem Mund an und selbst Schwester Joy muss bei meinem Anblick kichern. „Merkwürdig, nicht wahr? Jeder, der von ihrem Ziel erfährt, reagiert so wie du. Aber sie ist seit über einer Woche hier und weigert sich, die Stadt zu verlassen, bevor sie Ho-Oh gefangen hat.“ „Aber das ist ein legendäres Pokémon!“, protestiere ich. „Das fängt man nicht einfach so.“ „Gold hat ein Lugia. Warum sollte ich kein Ho-Oh bekommen?“ „Gold ist eine ganz andere Liga als Trainer wie wir!“ Chris´ Blick verhärtet sich. „Ich weiß ja nicht, zu welcher Trainerkategorie du dich zählst, aber ich gehöre nicht dazu.“ „Oh, bitte um Verzeihung“, sage ich. „Ich wollte dich nicht beleidigen.“ „Ich weiß.“ Chris wendet sich Richtung Treppe. „Heutzutage ist meine Art nur selten.“ „Was ist denn mit der los?“, frage ich und schaue Chris griesgrämig hinterher. „Sie ist ein wenig eigensinnig“, sagt Joy fröhlich. „Wenn ich in dieser Woche etwas über sie gelernt habe, dann dass sie ihr Ziel nie aus den Augen verliert und es ihr völlig egal ist, wer sich ihr in den Weg stellt.“ Ich ziehe eine Augenbrauen hoch. Schwester Joy lacht. „Du hättest ihre Diskussion mit den Weisen sehen sollen, als man sie nicht auf den Glockenpfad lassen wollte.“ Sie lehnt sich etwas zu mir nach vorne und mir wird klar, dass hier jemand ein großes Pensum Klatsch und Tratsch nachzuholen hat. Tja, niemand ist dafür besser geeignet als Abbygail Charlotte Hampton. „Ich war nicht selbst dabei, aber ich habe mich mit einigen Leuten unterhalten, die zufällig dort waren. Normalerweise werden nur diejenigen durchgelassen, die sowohl den Phantomorden als auch ein Relikt mitbringen. Das Relikt hatte sie, aber nicht den Orden. Daraufhin hat sie über eine Stunde mit dem Weisen diskutiert, bevor sie zur Arena ging, Jens holte und ihn dem Weisen bestätigen ließ, dass sie ein stärkerer Trainer ist als er.“ „Das ist ein Scherz.“ „Oh nein. Jens bat den Weisen, Chris den Durchgang zu gewähren, weil sie in der Tat stark genug ist, den Phantomorden jederzeit zu gewinnen.“ „Warum macht sie das dann nicht einfach?“, frage ich. „Wenn sie so stark ist, kann sie sich doch wohl die zwanzig Minuten Zeit nehmen, die sie in der Arena braucht und den Orden einfach gewinnen.“ „Das verstehe ich auch nicht ganz, um ehrlich zu sein.“ Joy tippt sich an die Lippen. „Aber sie scheint mit Jens und seinem Besucher befreundet zu sein.“ „Besucher?“ „Ein Freund von Jens ist vor Chris hier angekommen. Wegen ihm ist Jens nicht in der Stadt, die beiden sind unterwegs.“ „Und seit einer Woche versucht Chris, das Ho-Oh im Glockenturm zu fangen?“ „Das sagt sie. Sie hat angeblich siebzig Hyperbälle in unserem Markt gekauft. Das sind 84000 Pokédollar, das muss man sich mal vorstellen!“ „Na, reich ist sie auf jeden Fall“, meine ich mürrisch und denke an mein eigenes längst wieder viel zu niedriges Vermögen. Daran muss ich auch noch etwas ändern. „Ich glaube, ich schlafe auch auf dem leeren Anwesen“, sage ich dann zu Schwester Joy. Sie lächelt wissend. „Hoffentlich ist der Spuk bald vorbei, sonst wird das ein sehr schlechter Monat für uns.“   Das verlassene Grundstück zu finden, fällt nicht weiter schwer. Es wird bereits dunkel und die Trainer, die noch unterwegs sind, werden wie von einer unsichtbaren Kraft alle in die gleiche Richtung gezogen. Ich rufe Sku, die wegen meines Krankenhausaufenthalts kaum an die frische Luft gekommen ist und mir den Auslauf jetzt mit einem fröhlichen Quieken dankt, dann schmiegt sie sich um meine Beine und läuft voraus. Bereits nach der dritten Straßenbiegung kann ich zwischen zwei Häuserblocks flackerndes Licht erkennen. Gemeinsam mit Sku folge ich der Straße und erreiche schließlich das Grundstück. Das unbebaute Stück Boden reißt ein Loch in das Profil der sonst so schön ausgebauten Stadt, aber trotz der Leere hat es einen gewissen Charme. Liegen gelassene Stahlträger, alte Kisten und herunter gerissenes Absperrband verleihen dem Anwesen eine eigenartige Atmosphäre, die mir die Haare zu Berge stehen lässt, kaum dass ich in den flackernden Kreis des Lagerfeuers trete, das die Trainer in der Mitte zwischen zerbrochenen Ziegelsteinen entfacht haben. Lachen und Schreie dringen an meine Ohren und der Geruch brutzelnder Marshmallows, Gemüsespieße und Stockbrot füllt meine Nase. "Bist du neu hier?" Ich drehe mich erschrocken um und sehe einen Jungen, etwas älter als ich, der an sein gepimptes Bike gelehnt hinter mir steht. Zwischen ihm und der Trainergruppe liegen gute zwanzig Meter – und ich stehe genau dazwischen. "So offensichtlich?", frage ich und drehe mich zu ihm um. Sku taucht neben mir auf und legt sich flach auf den Bauch. Sie ist misstrauisch. "Nicht wirklich." Er grinst breit und kratzt sich am Ohr. "Ich bin nur jeden Abend hier, deshalb habe ich dich nicht erkannt." "Warum setzt du dich nicht zu den anderen?", frage ich. "Ich gehöre nicht dazu." "Ich auch nicht", entgegne ich lachend. "Ich gehe trotzdem einfach hin." "Das verstehst du nicht… ach, ist ja auch egal. Ich bin Michael. Nenn mich Mik." "Abby. Warum-" Weiter komme ich nicht, denn er schwingt sich schon gekonnt auf das Bike und düst davon. "Komischer Vogel", sage ich und Sku brummt zustimmend. Als ich das Lagerfeuer erreiche, drehen sich einige der Trainer erwartungsvoll um und treten enttäuscht zur Seite, als sie sehen, dass ich kein Geist bin. Ich grinse, lache, stelle mich bei den meisten vor, halte kurze Gespräche und komme schließlich bei einem freien Platz auf dem Stahlträger gleich neben dem Feuer an. Ich setze mich und schaue nach links, nur um ein mir bekanntes Gesicht zu entdecken. "Gib mir eine Sekunde", sage ich, während ich mein Gedächtnis nach dem Jungen durchforste. Langes, dunkelbraunes Haar, Flechtbändchen… "Du bist Toby, richtig? Wir haben dich mit Maisy vor Azalea City getroffen." "Ja, du hast Recht!" Er gibt mir seine Hand und ich schlage ein. "So sieht man sich wieder. Abby, oder? Wo ist dein Freund?" "Ihm ist etwas dazwischen gekommen, wir mussten uns trennen", sage ich. "Ich hoffe, er kann bald nachkommen." "Wir warten auch auf jemanden", gesteht Toby. "Erinnerst du dich noch an Timothy?" "Er war in eurer Gruppe, oder? Der Stille?" "Ja, genau. Er hat gegen Bianka verloren. Wir sind vorgegangen, aber…" "Jens ist weg, ich weiß. Ihr habt Pech." "Kannst du laut sagen. Ah, da kommt George. Hey, George, schau mal, wer hier ist! Abby, erinnerst du dich an sie?" "Nein." Ich hebe den Kopf. Georges weiße Haut ist im Feuerschein orangerot gefärbt und seine schwarzen Röhrenjeans lassen ihn aussehen wie ein Zweig. "Sollte ich?" "Nimm ihn nicht ernst", lacht Toby verlegen. "Er hat nur Augen für Clara." "Wo ist sie im Übrigen?", fragt George und wirft Toby ein Stockbrot zu. "Ich habe sie seit einer halben Stunde nicht mehr gesehen." "Sie hat glaube ich nach einem Klo gesucht und dann-" "KYAAAAA!" In Sekundenschnelle sind alle anwesenden Trainer aufgesprungen. Köpfe drehen sich suchend, ein oder zwei Jungen deuten in unterschiedliche Richtungen und mehr als einer ruft sein Pokémon. Mehrere Sekunden lang ist die Luft erfüllt von Rufen, Geschrei und rotem Licht. Als sich das Chaos gelichtet hat, springt ein Mädchen, vielleicht sechzehn, auf einen schräg stehenden Stahlträger und hebt die Arme. "RUHEEEEE!" Zu meiner großen Überraschung kehrt nicht nur Ruhe ein, jeder der anwesenden Trainer dreht sich automatisch in ihre Richtung und lauscht. "Fehlalarm Leute, einer der Biker hat sich einen Scherz erlaubt. Der Geist taucht erst nach Mitternacht auf, das wisst ihr doch." Sie springt von dem Träger und landet gehockt in knöcheltiefem Matsch. Einer der Spritzer landet auf ihrer Wange, aber sie kümmert sich nicht darum. Im Feuerschein kann ich nicht sicher sein, aber ihre Hochsteckfrisur hat die Farbe glühender Kohlen und sieht so aus, als hätte sie ihre Haare seit einer Woche nicht neu sortiert. Sie sieht verwegen aus. Und unendlich cool. "Wer ist das?", frage ich ehrfürchtig und folge ihr mit meinem Blick. George verdreht die Augen. "Noch eine Fanatikern, na herzlichen Glückwunsch." "Fanatikerin?" "Hör nicht auf ihn." Toby legt kameradschaftlich einen Arm um meine Schulter und deutet subtil in ihre Richtung. "Das ist Wiesel. Niemand weiß, wie sie wirklich heißt, nur dass sie die erste war, die den Geist entdeckt hat und diejenige, die seitdem die Gruppe hier organisiert." "Das klingt wie ´ne richtige Bewegung", sage ich und bemühe mich, Wiesel nicht aus den Augen zu verlieren - vergeblich. "Ist es auch. Wir sind erst seit zwei Tagen hier, aber der Teamgeist, der hier herrscht ist ansteckend. Dich wird es auch noch erwischen, warte es nur ab." "Sie ist doch schon längst auf ihre Masche reingefallen", murrt George und setzt sich wieder neben Toby. "Wetten, diese ganze Bikeraktion war auch von ihr initiiert? Sie merkt, dass immer mehr Trainer herkommen, deshalb muss sie dafür sorgen, dass niemand vergisst, wer hier das Sagen hat. Wir sollten Jens herausfordern und abhauen, sobald wir den Orden haben." "Wir wollen auf Tim warten, oder nicht?", fragt Toby. "Er ist mein bester Freund, ich habe mich in Dukatia City von euch breitschlagen lassen, aber ich werde nicht noch weiter ohne ihn reisen." "Mach was du willst." George spuckt auf den Boden. "Und wo zum Henker bleibt Clara?" "Sorry, Jungs." Ich schaue an George und Toby vorbei und entdecke Clara, deren Locken im Feuerschein golden leuchten. Sie streckt Toby die Zunge heraus und setzt sich dann auf Georges Schoß, der automatisch beide Arme um ihre Taille legt. Toby zwinkert mir zu und ich grinse wissend. "Hast du eben so geschrien?", nuschelt George in Claras dichten Haarschopf. "Ich habe deinen Schrei erkannt." Toby räuspert sich und schaut überall hin, nur nicht zu den Beiden. Ich brauche einen Moment, dann laufe ich knallrot an. Gut, die beiden sind älter, aber trotzdem! "Ja, war ich. Einer von diesen Scheißbikern ist mir gefolgt, als ich vom Klo zurückkam und ich habe mich voll erschreckt." "Keine Sorge, sobald Jens wieder hier ist, können wir diese verfluchte Stadt verlassen." "Bist du sicher, dass du stark genug bist?", fragt Toby neckend. George schüttelt sein fettig glänzendes Haar aus seiner Stirn und schaut ihn wütend an. "Was soll das denn heißen?" "Während du und Clara frisch verliebt durch die Gegend gelaufen seit und euch… anderweitig beschäftigt habt, habe ich trainiert. Dein letzter Kampf ist schon eine ganze Weile her." "Fick dich, Toby." Er hebt ergeben die Hände. "Nur so ein Gedanke." "Sag mal, kennt einer von euch eine Chris?", frage ich nach kurzem Zögern. George und Toby schütteln den Kopf. "Ich habe sie einmal getroffen", sagt Clara plötzlich. "Sie lief in diesen Shorts rum, bei denen man ihren halben Arsch sehen konnte." "Ja, genau die." Ich beuge mich etwas zu den dreien vor. "Angeblich will sie das Ho-Oh im Glockenturm fangen." "Im Ernst?" Clara lacht. "Sie kam mir schon vom ersten Moment an überheblich vor, aber das toppt alles." "Alle mal herhören!" Wiesels Stimme schneidet durch die Gespräche wie ein Messer durch weiche Butter. Alle Augen richten sich auf sie. Ihr feuerrotes Haar leuchtet und ihre Augen strahlen ein unerschütterliches Selbstvertrauen aus. George schnaubt. "Die meisten hier kennen mich bereits. Für diejenigen, die neu dazugekommen sind, ich bin Wiesel und ich bin es, die das Geisterpokémon zuerst entdeckt hat." "Jeder von euch ist hier, um dem Spuk von Teak City ein Ende zu bereiten. Aber ich glaube, wir können mehr sein als das." "Die hat sie ja nicht mehr alle", murmelt George "Shh!" Toby sieht wütend zu ihm rüber. Auch ich hänge gebannt an Wiesels Worten. "Lasst mich erklären", fährt sie fort. "Die Biker in Teak City sind korrupt, jeder weiß das. Sie überfallen alte Menschen und kleine Kinder, die sich nicht wehren können. Sie berauben Trainer in Gruppen, wenn diese alleine unterwegs sind. Sie haben von unserem Vorhaben erfahren und schleichen seit Tagen um diesen Platz, erschrecken unsere Mitglieder, legen falsche Spuren. Sie wollen uns und die ganze Stadt boykottieren." Sie breitet die Arme aus. "Die Biker in dieser Stadt machen sich über uns Trainer lustig. Ihr seid hier, weil ihr fasziniert seid von dem Geisterpokémon, das auftaucht und wieder verschwindet, wie es ihm gefällt, aber ihr seid auch Trainer! Alleine sind wir schwach, aber gemeinsam sind wir stark. Die Biker werden es bereuen, sich mit uns angelegt zu haben!" Schweigen. Gemurmel. "Ich kann den Zusammenhang nicht ganz nachvollziehen…", murmelt Toby in mein Ohr. "Ich auch nicht." Ich denke an Jack, der sich über die Biker in Teak City beschwert hat. An seine Frustration, dort nicht helfen zu können. An seine Wut auf die Trainer, die nur an sich selbst interessiert sind. "Aber ich glaube, das ist eine richtig gute Sache." Ich stehe auf und schaue zu Wiesel. "Ich bin dabei." Wiesels Blick fällt auf mich und die Intensität ihrer Augen verbrennt mich förmlich. Dann strahlt sie. "Wer will sich uns anschließen?" Meine Zustimmung hat den Damm gebrochen. Mehr und mehr Trainer stehen auf und rufen ihre Zustimmung in die Nacht hinaus. Aber einige der Trainer bleiben sitzen, manche gehen sogar kopfschüttelnd. George ist einer von ihnen. Er steht auf, verabschiedet sich von Toby und verlässt gemeinsam mit Clara das Grundstück. Als sich die Fronten geklärt haben, stehen etwa zwanzig Trainer vor Wiesel, die stolz auf die Verbliebenen herabschaut. "Eine Gruppe dieser Größe braucht Struktur", sagt sie. "Wir müssen einen Anführer wählen, seine rechte Hand und Teamleiter. Wir brauchen Regeln und einen Namen. Als erstes der Anführer. Ich stelle mich zur Wahl. Wer möchte einen anderen Kandidaten aufstellen?" Zu niemandes Überraschung bleiben die Trainer ruhig. Wiesel zuckt die Schultern. "Ich wurde hiermit offiziell zur Anführerin gewählt. Ich werde meine rechte Hand ernennen, sobald ich euch alle etwas besser kennen gelernt habe und weiß, wie ihr euch im Einsatz verhaltet. Nun zu unserem Namen. Gibt es Vorschläge?" "Die Rächer!" "Geisterjäger!" "Wiesels Spezialeinheit!" "Rescue!" Wiesel hebt die Hände. Es wird still. "Rescue hat einen guten Klang. Aber warum machen wir das Ganze nicht kompakter? RES-Q, was haltet ihr davon?" Gemurmel. Einstimmiges Nicken. "In Ordnung, liebe Qs", sagt Wiesel und im Schein des Feuers leuchten ihre Wangen. Ich kann förmlich sehen, wie zufrieden sie mit dem Verlauf des Abends ist. "Heute Nacht werden wir uns gegenseitig kennen lernen, Regeln entwerfen und Ausschau nach dem Geisterpokémon halten. Aber eine Regel gilt von Anfang an." Team RES-Q hält gebannt den Atem an. "Die Biker sind der Feind. Und wir stehen im Krieg. Wer sich freundschaftlich mit ihren Mitgliedern gibt, muss mit den Konsequenzen rechnen. Das ist alles." Sie springt von dem Stahlträger und macht die Runde, um jedem die Hand zu schütteln und alle nach ihren Namen zu fragen. Als sie bei mir ankommt, drückt sie meine Hand mit beiden Händen. "Vielen Dank. Ohne dich hätten sich die anderen vielleicht nicht getraut." "Ich finde es gut, dass jemand die Sache in die Hand nimmt", entgegne ich grinsend. "Wir Trainer müssen schließlich auch unseren Teil beitragen." "Du sagst es, Schwester. Wie heißt du?" "Abby. Abbygail Hampton." Sie nickt mir zu, dann geht sie weiter zu Toby. Kaum ist sie weg, sinkt mir das Herz in die Hose. "Die Biker sind der Feind. Und wir stehen im Krieg. Wer sich freundschaftlich mit ihren Mitgliedern gibt, muss mit den Konsequenzen rechnen." Ich muss an Mik denken, der so schüchtern neben seinem Bike stand und wirklich nett wirkte. Ich habe plötzlich ein ganz schlechtes Gefühl bei dieser Sache. Kapitel 46: Geister und Mythen (Ein ehrenhaftes Tanztheater) ------------------------------------------------------------ Nach einer allgemeinen Vorstellrunde werden die unbekannten Gesichter langsam zu Bekannten. Vierzehn der anwesenden Trainer sind auf Ordenjagd, Teak City nur eine Stadt von vielen, die sie besuchen wollen. Drei Trainer sind in Teak City geboren und die restlichen vier Trainer, mich eingeschlossen, reisen und trainieren, ohne Orden zu sammeln und haben ein anderes Berufsziel vor Augen. Wiesel ist die geborenen Anführerin. Sie findet Zeit für jeden von uns und nach etwa zwei Stunden sitzen alle einundzwanzig Trainer mitsamt Wiesel um das Lagerfeuer, essen Stockbrot mit geschmolzenen Marshmallows und lachen lauthals, wenn wieder jemand einen Witz auf Kosten eines Team-Mitglieds macht. Als Mitternacht näher rückt, wird es ruhiger, bis sich schließlich unser aller Augen vom Feuer weg und in die Dunkelheit richten. Ich bin zusammen mit einem Jungen namens Paul die einzige, die den Geist noch nicht gesehen hat, aber die anderen sagen kein Wort, sondern werfen sich nur vielsagenden Blicke zu. "Ihr werdet schon sehen", sagen sie, wieder und wieder. Ihr werdet schon sehen. Der Geist erscheint ohne Vorwarnung. In einem Moment ist die Fläche neben uns leer, im nächsten schwebt er wenige Zentimeter über dem Boden. "Ist das…", murmele ich. "Heiliger Pokéball", stimmt Paul zu, als wir das transparente Blitza beobachten, das den Kopf schief legt und uns mustert. Dann trottet es langsam in unsere Richtung. Sku brummt leise, aber es klingt nicht feindselig. Eher… verunsichert. "Ich habe noch nie den Geist eines toten Pokémon gesehen", gestehe ich. "Ich dachte, die erscheinen nur in Lavandia." "Das dachten wir alle." Wiesel trinkt den letzten Schluck ihres Dosenbiers und stellt die zerknüllte Dose dann auf den Stahlträger neben sich. "Es taucht auf und verschwindet wieder und dass fast jede Nacht zur selben Uhrzeit." "Kann man es fangen?", fragt Vivienne, eine der Pro-Trainerinnen, die erst gestern dazugekommen ist und deren ausladender Körperbau für den ein oder anderen Witz gesorgt hat, die meisten von ihr persönlich initiiert. "Ich habe es probiert, als ich es gefunden habe", sagt Wiesel. "Aber Pokébälle fallen einfach durch seinen Körper." "Schade." "Ich glaube, es will uns etwas sagen", fährt Wiesel fort. Wir schauen wieder zu dem Geisterblitza, das weiter auf uns zukommt. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet und es scheint uns kaum wahrzunehmen. "Welche Richtung ist das?", fragt Toby. Marcel zieht einen kleinen Kompass aus seiner Trainertasche und hält ihn flach auf seine Hand. "Ost, ziemlich genau." Er steckt das Gerät wieder weg. "Richtung Route 42 und Mahagonia City." Grübelnd am Feuer sitzend bemerkt Annette Blitzas Weg erst, als sein Kopf aus ihrem Bauch auftaucht. "GYAAA, MACHT ES WEG, MACHT ES WEEEEG!" Wir springen auf, doch die Panik bleibt aus, als Blitza ohne Regung durch ihren Körper schwebt und dann in Richtung des Feuers geht. "Was zur…", flüstert Annette atemlos und betastet ihren Bauch. Sie ist unbeschadet. Ich blicke zu Blitza. Es macht einen Schritt in das Feuer – und verschwindet. "Er war länger da als sonst", sagt Wiesel. "Wollen wir uns dann um die Regeln kümmern?"   Nach langem Diskutieren legt Wiesel ihren Kugelschreiber bei Seite und betrachtet zufrieden das Regelwerk, das sie auf ein ausgerissenen Blatt ihres Notizblocks geschrieben hat.   Regelwerk von Team RES-Q   1. Die Biker sind der Feind. 2. Die Mitglieder sind in einer Hierarchie geordnet: Mitglieder (Qs) < Teamleiter der jeweiligen Mission < Rechte Hand < Anführer 3. Missionen müssen zu der vereinbarten Zeit wahrgenommen werden, die restliche Zeit steht den Mitgliedern zur freien Verfügung. 4. Mit anderen Trainern, die nicht Teil von Team RES-Q sind, darf nicht über Teaminterne Missionen gesprochen werden. 5. Das Geheimnis des Geisterblitzas soll neben dem Krieg gegen die Biker in Erfahrung gebracht werden, Missionen können dafür von den Teammitgliedern selbst organisiert und bei dem Anführer abgesegnet werden. 6. Jedes Mitglied muss jederzeit erreichbar sein, Handys müssen immer aufgeladen und Nummern ausgetauscht werden. 7. Bei einer Begegnung mit den Bikern außerhalb einer Mission muss das entsprechende Mitglied Verstärkung holen und oder selbst gegen den Biker kämpfen, wenn er sich eines Sieges sicher ist. 8. Bei einer Begegnung mit den Bikern innerhalb einer Mission hat das Ziel der Mission Vorrang, teilnehmende Mitglieder können aber nach Verstärkung rufen, um den Kampf gegen die Biker nicht aufzugeben. 9. Informationen müssen an den Anführer oder seine rechte Hand weitergeleitet werden, sobald möglich. 10. Team RES-Q verbringt jede Nacht auf dem verlassenen Anwesen in Teak City, um seinen Teamgeist zu stärken.   Bestrafungen werden dem Vergehen angepasst und von dem Anführer ausgeführt bzw. entschieden. Im Falle starker Proteste der Mitglieder kann ein Votum vorgenommen werden.   "Jeder schreibt sich diese Regeln ab, dann tauschen wir unsere Handynummern aus. Ab morgen beginnt Team RES-Qs Einsatz!" Eine Welle leisen Jubels folgt, es ist schon fast ein Uhr nachts und keiner von uns ist noch richtig wach. Außer Sku, natürlich. Sie stromert über das Anwesen und verschmilzt mit den Schatten, nur wenn sie in unsere Richtung sieht, kann ich die roten Flecken ihrer reflektierenden Augen in der Dunkelheit erkennen. Nachdem alle Nummern ausgetauscht wurden, falte ich das in kritzliger Schrift abgeschriebene Regelwerk zusammen und stecke es in meine Tasche, dann packe ich meinen Schafsack aus und schlafe, noch bevor das Geraune und Getuschel der anderen verstummt ist.   Der nächste Morgen bricht laut und viel zu früh an. "Alle aufstehen, wir haben einen langen Tag vor uns!", ruft Wiesel viel zu munter. Stöhnen und unwilliges Gemurmel wird laut, aber die Anführerin der RES-Qs lässt nicht locker, bis alle Anwesenden schlaftrunken und mit dunkel umrandeten Augen auf ihren Schlafsäcken sitzen und Wiesel aufmerksam zuhören. "Für heute habe ich mehrere kleine Missionen geplant, damit ich eure Fähigkeiten und euren Charakter besser einschätzen kann. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass ein Biker regelmäßig Besucher des Markts belästigt oder ihre Waren klaut. Erasmus, Edward und Carlotta, wir werden dort die erste Schicht um 8:00 Uhr übernehmen. Toby, Vivienne und Heather lösen euch drei um 12:00 Uhr ab, Luke, Kyle und Abby um 16:00 Uhr. Diejenigen, deren Namen ich nicht genannt habe, sind heute freigestellt, stehen aber bitte auf Abruf bereit, falls es irgendwo kritisch werden sollte. Noch Fragen?" "Ich würde gerne die Kimono-Girls wegen dem Blitza befragen", sage ich. "Sie trainieren schon immer Evolis Entwicklungen, es könnte sein, dass sie etwas wissen." "Guter Plan. Ich ernenne Abby zur Teamleiterin der Aufklärungsgruppe. Abby, such dir zwei Qs aus, die dich begleiten." "Wer will mit?", frage ich grinsend. "Wir werden spätestens um 16:00 Uhr fertig sein." "Ich komme mit." Ein dünnes Mädchen mit schulterlangem, pechschwarzen Haar tritt vor. ich meine mich zu erinnern, dass es sich bei ihr um Corinna handelt. "Ich auch, ich habe ja sonst nichts zu tun." Ein kompakt aussehender Junge namens Julian hebt eine gelangweilte Hand. Seine Augen aber sprühen Funken. "Olivia und ich werden uns in der Stadt ein bisschen nach Klatsch umhören", sagt der braun gebrannte Robin. "Wir kennen uns hier gut aus. Heute Abend haben wir Infos über die Biker, verlass dich drauf, Wiesel." "Fantastisch. Was ist mit dem Rest?" Die verbliebenen sieben schauen sich an. Dann tritt Paul vor, der genau wie ich erst gestern auf die Gruppe gestoßen ist. "Wir verteilen uns in der Stadt, um überall hinkommen zu können, sollte es bremslich werden. Und wenn wir einen von diesen Bikern sehen, dann heißt es tschüss und auf Wiedersehen." Wiesel lacht und klippt sich einige lose, feuerrote Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Dann wäre das geklärt. Team RES-Q, ausschwärmen!"   Das Tanztheater, in dem die Kimono Girls ihre Auftritte haben, liegt östlich von unserem Revier und nördlich des Pokécenters. Wir erreichen das ausgeschmückte Gebäude keine zehn Minuten, nachdem wir uns von den anderen Teammitgliedern getrennt haben, die später den selben Weg nachkommen wollen. Obwohl wir jetzt ein Team sind, können wir nicht mit zwanzig Leuten durch die Straßen Teak Citys marschieren. Das Tanztheater ist mit indigoblauen Ziegel gedeckt, rote Holzfassaden und runde, rote Fenster geben dem ganzen einen asiatischen Touch. "Dürfen wir da einfach rein?", fragt Corinna skeptisch und schaut an sich herunter. Ihre Kleider sind staubig von der Nacht auf dem Grundstück und sie stinkt nach Rauch. Julian und mir geht es nicht anders. "Finden wir es heraus." Ich klopfe. Die Tür wird zur Seite geschoben und eine ältere Frau taucht im offenen Spalt auf. Als sie mich sieht, schiebt sie die Tür wieder zu. "Das war wohl nichts", sagt Julian. "Nicht aufgeben." Ich gehe zu einem der Fenster und schaue unauffällig hinein. Im Inneren erkenne ich Sitzkissen, auf denen alte, in Anzüge gekleidete Herren mit Gehstock sitzen. Die Kimono-Girls tanzen einen langsamen Tanz auf der Bühne, Fächer in beiden Händen. "In unserem Aufzug kommen wir da nicht rein", gebe ich zu. "Habt ihr Ersatzklamotten?" Die beiden nicken. "In Ordnung. Wo kann man sich hier waschen?" "Wir können in ein Pokécenter gehen, oder…" "Oder wir nehmen den See." "Welchen See?", frage ich Corinna überrascht. Ich habe keinen See gesehen. "Hinter dem Markt ist einer, gleich bei dem Haus, das zum Glockenpfad führt. Da können wir uns frisch machen und umziehen. Die Bäume dort bieten eine guten Sichtschutz." "Klingt perfekt. Nichts wie hin." Der "See" ist meiner Meinung nach einer ein kleiner Teich, aber er ist sauber genug und so stehen wir schon bald nacheinander im hüfthohen Wasser, tauchen unter, waschen Staub und Rauchreste von unserer Haut und fahren mit Fingern durch unser Haar. Als wir fertig sind, triefen wir Pfützen auf die Straße. "Das war eine richtig blöde Idee", merkt Julian an, der sich als erstes umziehen darf. Als er hinter den Bäumen hervorkommt, ist sein Haar immer noch feucht, aber seine Klamotten sind trocken und sauber und er riecht kaum noch nach Rauch. Und so stehen wir etwa eine Stunde nach unserem ersten Versuch wieder vor dem Tanztheater der Kimono-Girls. "Auf ein Neues…", murmele ich und klopfe. Die selbe Frau wie eben schiebt die Tür bei Seite. Dieses Mal zögert sie einen Moment länger, aber schließlich scheint sie mein Gesicht doch zu erkennen und zieht die Tür wieder zu. Nur, dass ich dieses Mal einen Fuß in den Spalt klemme. Sie schaut mich feindselig an. "Was wollt ihr hier?", zischt sie tonlos und schaut sich verstohlen um. "Das ist eine geschlossene Veranstaltung und nicht für drei dahergelaufene-" "Es tut mir unendlich leid, sie stören zu müssen", sage ich hastig. "Aber wir müssen wegen einem Vorkommnis dringend mit den Kimono-Girls sprechen. Könnten sie uns wohl sagen, wie und wann wir sie am Besten kontaktieren können?" "Ihr wollt nicht die Vorstellung sprengen?", fragt sie misstrauisch. "Ihr wollt keinen Kampf?" "Kampf?", frage ich verdattert. "Warum sollten wir kämpfen wollen?" "Du wärst überrascht, wie viele Trainer in den letzten neun Jahren hier aufgetaucht sind, um die Kimono-Girls herauszufordern." Sie schaut zu der Bühne. "Keine Vorstellung, ohne dass irgendein dahergelaufener Trainer hier rein spazierte und seinen Pokéball zückte. Alles nur wegen diesem Gold. Jeder will in seine Fußstapfen treten, ich hätte den Burschen damals schon nicht herein lassen sollen. Aber den Zuschauern gefällt das natürlich, manche geben den siegreichen Trainern sogar Belohnungen, aber das hier ist ein ehrenhaften Tanztheater und ich werde nicht zulassen, dass jahrhundertelange Generationen in den Staub getreten werden von dahergelaufenen Trainern wie euch!" Außer Atem beendet sie ihre Tirade. "Ehm", beginne ich etwas überrumpelt. "Tut mir leid?" Die Türwächterin atmet tief aus, dann öffnet sie die Tür einen Spalt weiter. "Worüber möchtet ihr mit meinen Schützlingen reden?" Ich schaue fragend zu den anderen Beiden. Die zucken mit den Achseln. "Wir wollten wissen, ob in letzter Zeit ein Blitza verstorben ist", sage ich schließlich. Die alte Frau zieht die Augenbrauen hoch. "Ich kann mich nicht entsinnen", sagt sie brüsk. "Ist das alles?" "Wir würden das gerne die Kimono-Girls fragen, wenn sie nichts dagegen haben." "Ich habe etwas dagegen." Sie zieht an der Tür und quetscht meinen Fuß etwas fester ein. Ich beiße mir auf die Lippe. "Meine Mädchen haben keine Zeit für so etwas. Sie haben Vorführungen und müssen Trainieren." "Wann haben sie denn Mittagspause?", frage ich verzweifelt, aber die Frau zerrt so fest an der Tür, dass ich einen kurzen Schrei ausstoße und meinen Fuß instinktiv zurückziehe. Die Tür zum Tanztheater schlägt zu. "Wir sind zumindest weiter gekommen als beim letzten Mal", tröstet Julian mich. Corinna kichert, als ich zu den beiden zurück humpele. "Doofe Alte…", murre ich. Mein Fuß tut höllisch weh und es ist nicht so, als hätte ich in der letzten Zeit an Schmerzmangel gelitten. "Da kann man nichts machen." "Was ist der Plan, Teamleiterin?" Ich zögere. "Wir sollten Wiesel Bescheid geben. Wir wollen keine negative Aufmerksamkeit auf unsere Gruppe ziehen und das werden wir, wenn wir weiter nachforschen. Ich schlage vor, wir teilen uns auf und treffen uns in zwei Stunden im RES-Q Revier zur Besprechung. Wir müssen herausfinden, ob hier vor kurzem ein Blitza ums Leben gekommen ist."   Meine Suche führt mich, wie erwartet, ins Pokécenter. Eine klatschliebende Schwester Joy sollte doch über merkwürdige Todesfälle Bescheid wissen. "Tut mir leid, davon weiß ich nichts." Sie legt einen Finger an die Lippen. "Ich hätte davon sicherlich erfahren, schwer verletzte Pokémon kommen schließlich zu mir. Aber ich kann mich wirklich nicht entsinnen." Niedergeschlagen lasse ich den Kopf hängen. Ich will Wiesel etwas anderes präsentieren können als: Keiner weiß was. "Oh, aber du kannst Chris fragen." Ich schaue auf. Schwester Joy schaut mich stolz an. "Soweit ich weiß, kennt sie sich gut mit den Mythen aus Teak City aus, schließlich will sie eine dieser Mythen fangen. Wenn jemand etwas über unheimliche Dinge hier weiß, dann bestimmt sie." Ich schaue auf mein Handy. Inzwischen ist es fast 12:00 Uhr. Ich habe nur noch zwanzig Minuten, bis ich am Treffpunkt sein soll. "Ist sie nicht schon auf dem Weg zum Glockenpfad?" "Sie ist erst vor ein paar Minuten gegangen, wenn du dich beeilst, kann du sie noch einholen." "Danke für den Hinweis!", rufe ich noch, bevor ich aus dem Pokécenter renne und die Straße Richtung Norden entlang sprinte. All das Rennen und Flüchten vor wahnsinnigen Team Rocket-Mitgliedern scheint sich bezahlt gemacht zu haben, denn ich schaffe es tatsächlich, die ganze Strecke durch Teak City in unter fünf Minuten hinter mich zu bringen. Als ich Chris sehe, die schon an der Tür zum Haus der Weisen steht, schreie ich ihren Namen. Sie schaut sich um. Ihr Blick gleitet suchend über mich. Winkend und weiter rufend gehe ich außer Atem und völlig erschöpft auf sie zu. "Sorry, dass ich… dich verfolgt… habe…", keuche ich und stütze mich auf meine Knie. "Kann ich… dich was fragen?" "Wer bist du?" Uh. Das tat weh. Ich richte mich auf. "Abby. Wir haben uns gestern Abend im Pokécenter getroffen, erinnerst du dich?" Sie schaut mich prüfend an. Dann nickt sie. "Ich habe dich nicht erkannt. Du siehst anders aus." "Ich habe die Haare offen", gebe ich zu. "Daran wird es liegen." Ich räuspere mich. "Also, darf ich dich etwas fragen?" Sie verschränkt die Arme. "Nur zu." "Du kennst dich ziemlich gut mit den Legenden in Teak City aus, oder?" Sie nickt. "Gibt es vielleicht eine Legende, die ein… Blitza beinhaltet? Ein totes? Oder seinen Geist?" Chris denkt einen Moment lang nach. "Nein." Ich lasse den Kopf hängen. "Es gibt allerdings eine Theorie." "Eine Theorie klingt super", sage ich. Vielleicht ist diese Chris doch nützlicher als ich dachte. "Wollen wir uns setzen?" "Nein, ich werde ohnehin gleich weiter gehen. Die Legende von Ho-Oh kennst du, nehme ich an?" Ich erinnere mich an Heikes Erzählung der Geschichte. "Drei Pokémon sind in dem Brand im Bronzeturm umgekommen, Ho-Oh hat sie wiederbelebt und alle vier sind geflohen, richtig?" Chris verzieht das Gesicht. "So ungefähr. Einige Elemente dieser Geschichte sind in unterschiedlichen Erzählung verändert worden, aber der Kern der Geschichte bleibt derselbe. Um welche Pokémon es sich handelte, wird nie gesagt." Sie streicht sich den kurzen Pony aus der Stirn. "Vermutungen legen jedoch nahe, dass es sich bei den drei Pokémon um die Evoli-Entwicklungen Flamara, Aquana und Blitza handelte. Was Sinn machen würde, schließlich sind die legendären Raubkatzen ebenfalls Feuer, Wasser und Elektrotypen." "Warte, warte. Legendäre Raubkatzen?" Das ist das erste Mal, dass ich davon etwas höre. Chris seufzt. "Jede Region ist bekannt für die legendären Pokémon, die sie beherbergt. Kanto ist Heimat von den drei legendären Vogelpokémon, Zapdos, Arktos und Lavados, sowie dem genetischen Experiment Mewtu. Johtos bekannte Legenden sind Lugia, das Gold gefangen hat und Ho-Oh, das ich fangen werde. Weniger bekannt sind die drei Wanderpokémon, die durch das Land ziehen und nur durch Zufall oder sorgfältige Jagd gefunden werden können. Die Pokémon Suicune, Raikou und Entei." "Also sind in dem Feuer diese drei Entwicklungen umgekommen, Ho-Oh hat sie wiederbelebt und dadurch wurden sie zu komplett anderen Pokémon, die nun ebenfalls als legendär gelten?" "Das ist die Theorie. Wenn es das war, ich habe einen weiteren Pfad im Glockenturm, den ich nach Ho-Ohs Spuren absuchen muss." Sie wendet sich ab und mein Blick fällt auf ihren Hintern. Verdammt. Ihre Shorts sind wirklich knapp.   Obwohl ich mich beeile, bin ich etwa zehn Minuten zu spät am Treffpunkt. "Tut mir leid", keuche ich. Julian und Corinna rutschen zur Seite, um mir auf dem Stahlträger Platz zu machen. "Was habt ihr herausgefunden?" "Nichts, nur dass niemand etwas von einem toten Blitza weiß", sagt Corinna. "Ich habe erfahren, wie teuer Unterhosen im Vergleich zu früher sind", verkündet Julian und als wir ihn anstarren, lacht er. "Ich habe eine alte Dame befragt. Sie konnte mir nicht helfen, hat sich dann aber dreißig Minuten bei mir über die Unterwäschepreise beklagt." "Ich bin vielleicht fündig geworden", gestehe ich. Corinna und Julian horchen auf. "Eine Trainerin, die derzeit in Teak City ist, Chris, hat es sich in den Kopf gesetzt, Ho-Oh zu fangen." Julian prustet los. "Ich glaube auch nicht, dass sie das schafft, aber sie kennt sich gut mit den Mythen in Teak City aus. Anscheinend sind bei dem Brand im Bronzeturm ein Aquana, ein Flamara und ein Blitza umgekommen. Sie wurden wiederbelebt und sind nun selbst legendäre Pokémon, die durch Johto laufen." "Ich kenne die Legende von den drei Raubkatzen", sagt Corinna nachdenklich. "Mein Großvater hat sie mir damals immer erzählt. Aber das sie aus den Evoli-Entwicklungen entstanden sind, ist mir neu." "Aber… der Brand ist doch schon ewig her." Julian faltet seine Hände vor seinem Gesicht. "Warum sollte der Geist eines toten Blitzas plötzlich hier auftauchen? Warum nicht früher? Und wenn es wirklich wiederbelebt wurde, warum hat es überhaupt einen Geist?" "Ich weiß es nicht", gestehe ich. "Aber wir haben unser Bestes getan. Ich erkläre die Aufklärungsmission für heute abgeschlossen. Ich werde Wiesel bei meinem Schichtwechsel Bescheid geben und dann sehen wir weiter. Gute Arbeit, Qs." "Du auch Abby." Julian klopft mir auf die Schulter. "Mit dir kann man gut arbeiten." "Ich werde ein bisschen shoppen gehen, kommt jemand mit?", fragt Corinna. "Ich muss meine Pokémon trainieren", sage ich grinsend. "Wenn es bald hart auf hart kommt, möchte ich mich ungern nur auf eins meiner Pokémon verlassen können." Sie zuckt die Achseln. "Wir sehen uns dann heute Abend."   Das Training auf Route 37 ist ein angenehmes Stück Normalität. Hätte man mir vor zwei Monaten gesagt, dass ich einmal eine lange Trainingseinheit genießen würde, hätte ich denjenigen ausgelacht. Sku wird in der nächsten Zeit genug mit den Bikern zu tun haben, deshalb konzentriere ich mich vorerst auf Gott, der mir mit einer Reihe Stichflammen und Rauchwolken unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er mir die lange Kampfpause übel nimmt. Seit dem Vorfall auf dem Plateau habe ich ihn tatsächlich nicht mehr gerufen, ich hatte Angst, dass er versehentlich das Krankenhauszimmer in Brand steckt, wenn dauernd unbekannte Personen in mein Zimmer kommen. Seine Feindseligkeit gegenüber Fremden, gegenüber jedem außer mir, ist nicht zu unterschätzen. Jetzt versuche ich, seine Vernachlässigung mit Streicheleinheiten und anspruchsvollen Kämpfen wieder gut zu machen. Level 20 erreicht er innerhalb der ersten Stunde und wir beide sind aufgeregt wie kleine Kinder, als er die Attacke Flammenrad erlernt. Um 15:00 Uhr breche ich unser Training ab, rufe ihn zurück und gebe Hunter freie Bahn, der zufrieden krächzend davon flattert. Er wird mich schon wieder finden. Zurück in der Stadt suche ich mir einen Imbiss, in dem es Teigtaschen gefüllt mit scharfem Gemüse gibt und esse mein Mittagessen auf dem Weg zum Markt. Ich bin nur noch zwei Abbiegungen entfernt, da höre ich plötzlich Schreie, das Jaulen eines Motors und das Quietschen beschleunigender Reifen. Und es kommt direkt auf mich zu. Kapitel 47: Der Bronzeturm (Sieben rote Äpfel) ---------------------------------------------- Ich habe keine Zeit, nachzudenken, ich bleibe nur stehen, breite die Arme aus, stelle mich wie eine Mauer auf die Straße. Keine zwei Sekunden später kommt ein Biker in Schräglage um die Kreuzung geschossen, sieht mich und reißt sein Bike herum, bevor er schlitternd und nur einen Meter vor mir zum Stehen kommt. Sein Gesicht ist unter einem Helm verborgen. Passanten bleiben stehen, drehen sich nach uns um. Aus der Richtung des Markts kann ich das Geräusch von Füßen auf Asphalt hören. Wiesel und die anderen sind fast da. "Weg da!", ruft der Biker und hebt drohend einen Fuß über das Gaspedal. "Ich lasse dich nicht durch", sage ich. Meine Stimme ist ruhig, aber mein Herz schlägt unangenehm laut in meiner Brust. Nur ein Meter mehr und ich läge jetzt überfahren auf der Straße. "Abby, ich bin´s, Mik." Er hebt sein Visor und tatsächlich erkenne ich den Jungen von gestern Abend. "Du bist ein Biker", sage ich, mit weit weniger Überzeugung. "Du bist der Feind." "Wenn ich nicht mitmache, bringen die mich um, Abby, du hast keine Ahnung, ich hab kein Geld, die zwingen mich dazu, bitte, lass mich hier weg, ich hab Angst!" Die Panik in seiner Stimme ist, was mich einen Schritt zur Seite machen lässt. Er tritt aufs Gaspedal und schießt so nah an mir vorbei, dass ich stolpere und auf den Rücken falle. So finden mich Wiesel und die Anderen. "Ist er entkommen?", fragt Wiesel keuchend und reicht mir eine Hand, um mich hoch zu ziehen. Ich nicke. "Er hat mich halb umgefahren. Ich bin gerade noch rechtzeitig weg gekommen." "Was ist mit den Bremsstreifen?", fragt Heather, die gebückt über den schwarzen Streifen auf der Straße steht und ihr krauses, schwarzes Haar aus ihrem Gesicht hält. "Er hat gebremst, als er mich gesehen hat", erkläre ich. "Als ich nicht zur Seite gehen wollte, hat er Vollgas gegeben und ist direkt auf mich zu gekommen." "Mistkerl…", murmelt Toby. "Es wird wirklich Zeit, dass Team RES-Q diesen Verbrechern Einhalt gebietet." "Du sagst es, Bruder." Wiesel zupft ihre Haare zurecht. "Luke und Kyle sollten gleich da sein, ihr drei könnt also gehen. Danke für die gute Arbeit." Die drei winken, dann verlassen sie als angeregt diskutierende Kleingruppe die Hauptstraße. "Ich denke zwar nicht, dass die Biker heute nochmal aufkreuzen, aber sicher ist sicher", sagt Wiesel, während wir gemeinsam zum Markt zurückkehren. Luke wartet bereits auf uns, seine dichten Augenbrauen schießen erleichtert in die Höhe. "Da seid ihr ja, ich dachte schon, es wäre etwas passiert." "Einer der Biker hat eine alte Lady überfallen, aber wir konnten ihn aufhalten, bevor er sie bestehlen konnte." "Wo ist er?" "Abgehauen", sage ich missmutig. Lügen fällt mir leichter als ich gedacht hätte, aber es war schließlich nur eine kleine Änderung der Wahrheit. Das kann man fast nicht als Lüge rechnen. Denke ich. Noch ohne Kyle nehmen wir zu dritt vor dem Markteingang Stellung auf. Während Luke die Augen offen hält, stelle ich mich zu Wiesel und berichte ihr von unserer Aufklärungsmission. "Du denkst also, es könnte der Geist des verbrannten Blitzas aus dem Bronzeturm sein?", fragt sie skeptisch. Ich zucke die Achseln. "Es wäre möglich. Niemand in der Stadt weiß etwas von einem kürzlich verstorbenen Blitza oder will zumindest nicht mit uns reden. Ein wildlaufenden Blitza kann es nicht gewesen sein und ein Trainer hätte es mit Sicherheit ins Pokécenter gebracht." "Da hast du Recht." Wir schweigen eine Weile. "Du hast gute Arbeit geleistet, Abby. Wenn du möchtest, würde ich dir gerne das Kommando über alle Missionen geben, die mit dem Geist in Zusammenhang stehen." "Vielen Dank, Wiesel." Wir beobachten die Menschen, die den Markt betreten und mit Tüten beladen wieder verlassen. Kyle taucht fünfzehn Minuten zu spät auf, weil er verschlafen hat, fängt sich eine Standpauke von Wiesel ein und übernimmt dann zusammen mit Luke die Überwachung der Straßen um den Markt herum, während Wiesel und ich davor stationiert bleiben. "Kann ich dich etwas fragen?", fragt Wiesel nach einer Weile. Ich schaue zu ihr. Mein Herz pocht zu laut in meiner Brust. Hat sie mich schon durchschaut? "Klar." "Als ich zu dieser Gruppierung aufrief, hast du dich sofort bereit erklärt, mitzumachen. Warum?" "Das ist eine etwas längere Geschichte, schätze ich." "Wir haben noch über drei Stunden Zeit." Ich denke kurz nach. "Ich sollte wahrscheinlich damit anfangen, dass ich vor ein paar Wochen von Team Rocket entführt wurde…" Während ich meine Geschichte erzähle, durchläuft Wiesel Gesicht eine Vielzahl sehr unterhaltsamer Ausdrücke. Als ich geendet habe, sieht Wiesel mich eine lang Zeit an, dann lacht sie. "Oh Mann." "Was?", frage ich grinsend. "Nichts, es ist nur… Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du so erfahren in Sachen Böses bekämpfen bist." "Ich würde es nicht als erfahren bezeichnen, wenn man dauernd in Schwierigkeiten gerät", sage ich. "Das vielleicht nicht, aber, puh." Sie lacht wieder. "Also hast du auf der einen Seite zugesagt, weil du weiß, dass die Polizei nicht genug Personal hat, um Teak City in den Griff zu kriegen und zum anderen, weil du Team Rocket eins auswischen willst, die etwas mit den Bikern zu tun haben?" "So ungefähr." Wir beobachten eine junge Frau, die mit einem Baby im Arm den Markt betritt. "Und du?", frage ich schließlich. "Warum hast du RES-Q gegründet?" "Ich komme von hier", sagt Wiesel nach einer kurzen Pause. "Als ich klein war, wollte ich Pro-Trainer werden, aber irgendwie hat mir das Reisen und Trainieren nicht so zugesagt wie meinen Freunden, deshalb habe ich nach meinem dritten Orden aufgehört und bin hierher zurück gekehrt." "Und jetzt bekämpfst du Gesetzesbrecher?" "Sozusagen." Sie lächelt nachdenklich. "Ich wollte der Polizei beitreten, um Johto gegen Team Rocket zu unterstützen, aber dann wurde die Lage hier immer ernster und kein einziger Polizist tauchte auf, um uns vor den Bikern zu schützen. Deswegen wollte ich meine eigene kleine Gruppierung bilden, mit der ich die Bürger Teak Citys unterstützen kann. Als ich das Geisterblitza entdeckte, dachte ich mir zuerst nichts dabei, aber die Neuigkeit sprach sich rum und nur eine Woche später hatte ich alle Trainer auf einem Haufen. Und ich dachte mir, wenn nicht jetzt, wann dann?" "Aber viele der Trainer hier werden früher oder später weiterreisen", sage ich. "Team RES-Q wird nicht bestehen bleiben." "Ich weiß." Sie seufzt. "Aber mit etwas Glück haben wir uns bis dahin einen Ruf aufgebaut. Wenn nur die Trainer, die hier durchreisen, ein paar Tage oder Wochen mithelfen, reicht das schon aus. Und ein fester Kern wird bestehen bleiben. Diejenigen, die hier wohnen, zumindest." "Ich hoffe, dass wir etwas ändern können, während wir hier sind", sage ich und drücke Wiesels Hand.   "Team RES-Q, bitte zuhören!" Wiesel Stimme schneidet durch die laufenden Gespräche und alle Augen richten sich auf sie. Nur das knisternde Feuer unterbricht die Stille. "Unser erster Einsatz war erfolgreich. Abbys Aufklärungsteam hat einen möglichen Ursprung des Geisterblitzas gefunden und wird unter ihrer Leitung seine Ermittlungen fortsetzen. Unsere Patrouille vor dem Markt hat sich bezahlt gemacht, wir konnten den Biker, der dort eine alte Frau belästigt hat, vertreiben, bevor er sein böses Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Er ist leider geflohen, aber das nächste Mal wird er nicht so leicht davon kommen." Zufriedenes Gemurmel wird laut, Toby klopft mir auf den Rücken und auch Julian und Corinna werden von ihren Freunden beglückwünscht. "Erasmus hat mich heute von seinen Fähigkeiten überzeugen können, ich ernenne ihn offiziell zu meiner rechten Hand. Bei meiner Abwesenheit ist sein Wort Gesetz." Erasmus, der mir vorher nie aufgefallen ist, nickt Wiesel respektvoll zu, bevor er von den Umstehenden Qs unter Umarmungen und Händedrücken begraben wird. Sein blondes Haar ist zu einem losen Flechtzopf gebunden, der über seine Schulter fällt und seine Gesichtszüge könnten als die eines Mädchens durchgehen. Was ihn so herausstechen ließ, weiß ich nicht, aber Wiesel wird ihre Gründe haben. "Olivia, Robin, was habt ihr herausgefunden?" Robin tritt vor. "Wir haben uns in der ganzen Stadt nach den Bikern umgehört. Olivia hat Kontakte zu einem ihrer Unterstützer aufgebaut und wird bald Zugang zu den internen Informationen haben. Ihr Hauptquartier ist im Keller einer ihrer Unterstützer, aber wir müssen noch ausfindig machen, von welchem. Bis dahin haben sie einen Überfall auf eine Gruppe Trainer geplant, die erst vor kurzem ihre Starter gefangen haben und in drei Tagen nach Viola City losziehen wollen. Sie lauern ihnen vermutlich entlang der Route 37 auf." "Diese Bastarde…", murmelt Toby. "Anfänger angreifen ist ein Tabu." "Du sagst es, Bruder." Wiesel öffnet eine Dose Bier und wartet, bis der Schaum über ihre Finger läuft, dann nimmt sie eine tiefen Schluck und hält die Dose in die Höhe. "unsere Priorität ist die Vorbereitung auf den Überfall in drei Tagen. Olivia, Robin, findet heraus, wo ihre Basis ist und welche Unterstützer sie haben. Wenn wir wissen, wo sie ihr Geld herbekommen, können wir den Zufluss abschneiden. Abby, Erasmus, ich ersetze eure Marktschichten, Paul und Ginger übernehmen für euch. Erasmus wird mit mir die Planung des Überfalls übernehmen, du kümmerst dich um die Geisteraufklärung." Mein Blick trifft den von Erasmus. Wir nicken uns zu. "Der Rest wird die Straßen patrouillieren. Hat jemand eine Karte? Wir müssen die Straßen abdecken…"   "Also, Teamleiterin, was haben wir heute vor?" Julian knabbert an einem der Äpfel, die wir uns an einem Stand gekauft haben und jetzt an die Hausfassade in einer Seitengasse gelehnt essen. "Sollen wir es wieder in dem Tanztheater versuchen?", fragt Corinna und steckt sich das letzte Stück Kerngehäuse in den Mund, bevor sie den Stiel ausspuckt. "Die Besitzerin lässt uns nicht rein", sage ich nachdenklich. "Bis wir eine Möglichkeit gefunden haben, sie zu umgehen, sollten wir uns an die Spuren halten, die wir haben." "Und die wären?", fragt Julian. "Ich würde am liebsten mit Jens darüber reden, aber der ist ja nicht hier. Bis er zurück ist, sollten wir uns ein wenig im ehemaligen Bronzeturm umsehen." "In der Turmruine? Der Brand war vor 160 Jahren Abby, ich bezweifle, dass wir da noch Spuren finden." "Wer weiß. Wenn Blitzas Geist geblieben ist, dann vielleicht auch die Geister von Flamara und Aquana. Und wenn nicht, können wir dort bestimmt trotzdem etwas herausfinden." Julian zuckt die Achseln. "Du bist der Chef." Mit Wasserflaschen, den restlichen Äpfeln und unseren Pokébällen bewaffnet machen wir uns auf den Weg zur Turmruine. Die Zeit, die ich mit Julian und Corinna verbringe, hat mich den beiden näher gebracht und ich genieße unser freundschaftliches Geplänkel, das erst verstummt, als wir den kleinen Hügel erreichen, auf dessen Spitze der Bronzeturm gebaut wurde. Am Fuß der rustikalen Treppe bleiben wir stehen. Die oberen Stockwerke des Turms sind völlig abgebrannt, verkohlte Holzbalken ragen hier und da in die Höhe, abgebrochene Ziegel und Holzsplitter bedecken den Boden und das Schild, das neben der Treppe steht, ist so vermodert, dass ich die Aufschrift nicht mehr lesen kann. "Dann wollen wir mal", sage ich und steige als erstes die Treppe hinauf. Die Holztür ist niedergebrannt und so können wir unbehelligt ins Innere der Ruine treten. Schwarze Holzpfähle ragen in die Höhe, Bretter und verbranntes Holz liegt überall verstreut und kleine Steinbrocken versperren hier und da den Weg. Während ich nach links, rechts und oben schaue, bemerke ich das gigantische in den Boden gerissene Loch erst, als ich direkt davor stehe und langsam aber sicher nach vorne kippe. Julian packt mein Handgelenk und zieht mich zurück in Sicherheit. "Pass auf, Abby." "Da drüben ist eine Leiter", sagt Corinna und deutet in den rechten Teil des Raumes, wo der Fußboden intakt geblieben ist. "Ist das Ding eigentlich einsturzgefährdet?", fragt Julian nach einer Weile, als es über uns wieder einmal laut knarzt. "Nicht, dass ich wüsste", sagt Corinna. "Aber ich würde im Notfall lieber auf Nummer sicher gehen und abhauen." "Wir bleiben nicht lange", versichere ich schnell. "Haltet Ausschau nach allem, was interessant sein könnte, ich schaue mich unten um." Die beiden nicken und wir teilen uns auf. Das Untergeschoss des Bronzeturms sieht ganz anders aus als das Erdgeschoss, alles ist noch in gutem Zustand, außer dem Moos, das auf den baumdicken Holzpfeilern gewachsen ist. Grauer, glatter Stein bildet das Fundament des Turms und auch ein Brand und 160 Jahre Verwahrlosung konnten ihm nichts anhaben. Der Raum fällt zur Mitte hin ab. Ich gehe die Stufen hinunter und springe dann in die zweite, kleine Vertiefung. Als ich den Kopf hebe, kann ich die verkohlte Decke und blaue Fetzen des Himmels zwei Stockwerke über mir erkennen. "Schon was gefunden?", rufe ich nach oben, aber außer zwei entschiedenen Neins bekomme ich keine Antwort. "Dann suchen wir doch mal weiter…", murmele ich. Dann, als mir klar wird, dass ich bei der Helligkeit hier drin kaum meine eigene Trainer-ID entziffern könnte, rufe ich Gott. Der rote Lichtstrahl erfüllt den ganzen Turm und innerhalb von Sekunden sind Corinna und Julian am Rand des Bodenlochs und schaue besorgt zu mir herunter. "Ist was passiert?" "Nein, alles okay", rufe ich zurück. "Brauchte nur etwas Licht." Die Beiden verschwinden wieder aus meinem Sichtfeld und ich wende mich an Gott. "Einmal aufdrehen, bitte", sage ich. "Aber fackel nichts ab, das hat dem Turm schon einmal nicht gut getan." Gotts Rückenflamme leuchtet auf und er geht zur Seite, um mir Platz in der Senkung zu geben. Ich gehe auf die Knie und suche den Steinboden nach Spuren ab. Meine Finger tasten über die raue Oberfläche und… warte. Rau? Ich schaue genauer hin. Im Vergleich zu dem Steinboden außerhalb der Senke sind die Unebenheiten hier gut fühlbar. "Gott, hier her", murmele ich. Gott folgt meiner Anweisung und beleuchtet die Stelle, die unter meinen Fingern liegt. Ich habe mich nicht geirrt. Schmale Linien, leicht gebogen, immer drei oder vier nebeneinander, verlaufen kreuz und quer über die steinernen Fliesen. "Sieht aus wie… Krallenspuren." Ich betaste die Spuren etwas genauer. "Große Pfoten. Die sind von großen Pokémon mit scharfen Krallen. Und hier." Ich deute auf zwei Einkerbungen, die eine dunkler als die andere. "Die Spuren sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden." "Mit wem redest du da, Abby?" "Kommt runter, das müsst ihr sehen!" Ich höre Schritte über mir, als Julian und Corinna zur Leiter gehen und dann nacheinander hinunter klettern. Julian lässt Corinna den Vortritt. "Hier sind Kratzspuren von großen Pokémon. Aus verschiedenen Jahren", sage ich und warte, bis die beiden zu mir herabgestiegen sind, bevor ich mit meiner Theorie fortfahre. "Das heißt, dass sie seit dem Brand immer wieder hierher zurück gekehrt sind." "Ich glaube, die Bewohner würden es bemerken, wenn ein legendäres Pokémon durch die Stadt läuft", erwidert Julian skeptisch. "Vielleicht, vielleicht auch nicht. Bei Nacht sind kaum noch Menschen auf der Straße und wenn es sich durch den Wald nördlich von hier anschleichen würde, wäre die Chance, es zu entdecken, gleich Null." "Wir dürfen nicht vergessen, dass Wanderpokémon so gut wie nie gesichtet werden", fügt Corinna hinzu. "Sie verstecken sich so gut, dass viele sogar ihre Existenz anzweifeln. Unbemerkt in eine verlassene Ruine zu gelangen stelle ich mir da nicht besonders schwierig vor." Ich nicke ihr dankbar zu. "Schön, die Wanderpokémon kommen hier also immer mal wieder vorbei. Was hat das mit dem Geisterblitza zu tun?" "Ich weiß es nicht", sage ich. "Ich wünschte, wir könnten Gold kontaktieren, er hat die drei Wanderpokémon doch hier angetroffen, oder nicht?" "Das sagt man." Julian rümpft die Nase. "Man sagt auch, dass er Lugia mit nur einem Ball gefangen und Team Rocket alleine ausgeschaltet hat." "Das hat er!", verteidige ich ihn sofort. "Jeder weiß das!" "Richtig, jeder weiß das. Warum weiß das jeder? Weil es die Geschichten sind, die sich um ihn ranken. Ich bezweifle nicht, dass er einen Spitzentrainer ist, aber du kannst nicht von mir verlangen, dass ich Geschichten glaube, die neun Jahre Zeit hatten, von den Medien aufgebläht zu werden." "Er hat Lugia mit einem Meisterball gefangen", sagt Corinna. "Deshalb hat er nur einen Ball gebraucht. Was Team Rocket angeht, kann ich die Gerüchte nicht beurteilen." "Ich habe Gold persönlich kennen gelernt", sage ich. "Und ich kann nur sagen, dass er stärker ist als jeder andere Trainer, den ich je gesehen habe." Julian hebt ergeben die Hände. "Mit Fangirls kann man nicht diskutieren. Ist ja auch egal. Wir haben einen Hinweis, wie finden wir heraus, was er bedeutet?" "Jens würde Bescheid wissen…", sagt Corinna nachdenklich. "Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet. Aber er ist nicht da." "Was ist mit den Vortrainern?", frage ich. "Die wissen sicher mehr über Geister als wir. Vielleicht haben wir Glück und einer von ihnen war schon mal in Lavandia." "Lavandia ist diese Totenstadt, oder?", fragt Julian. Als ich nicke, schüttelt er sich. "Nichts gegen die Lavandianer", sagt er dann. "Aber bevor ich neben einem Massenfriedhof wohne, erschieß ich mich lieber selbst."   Wir warten fast zwei Stunden vor der Arena, bevor sich eine Frau dem Eingang nähert, die mit der weißen Robe, den Gebetskettchen und der flackernden Laterne im hellen Tageslicht verdächtig nach einem Medium aussieht. "Entschuldigung", sage ich, als sie sich dem Eingang nähert und aufschließen will. "Haben sie ein paar Minuten Zeit? Wir würden sie gerne etwas fragen." "Was?" "Wir haben eine Frage und wollten wissen, ob-" "Waaas?" "Die hat ´nen Schuss", sagt Julian und Corinna stößt ihn in die Seite. "Sie ist einfach schwerhörig, Juli, sei nicht gleich so ein Arsch." "Ich bin nicht schwerhörig, vielen lieben Dank auch", sagt das Medium. Sie klingt gekränkt. "Wegen der Frage…" "Waaaaaaaas?" Ich schließe den Mund und schaue sie böse an. Als sie mein Gesicht sieht, lacht sie laut und heiser. "Ich habe eine Bedingung", sagt sie dann. "Ich werd nicht mehr- autsch, verdammt, Coco, jetzt reicht´s!" "Sie ist ein Medium, hab etwas mehr Respekt, das ist ja peinlich." Julian schnaubt, sagt aber kein Wort mehr. "Was für eine Bedingung?" Sie deutet auf meine Hand, die den letzten Apfel unseres morgendlichen Einkaufs hält. "Ich will Äpfel." "Äpfel?" Sie nickt. "Coco, du hattest heute morgen noch das meiste Geld, kannst du ein paar Äpfel besorgen?" "Ja klar, kein Problem." Sie wendet sich an das Medium. "Wie viele?" "Sieben. Sieben Äpfel. Aber nur die Roten." Julian schüttelt fassungslos den Kopf. Während wir auf Corinna warten, unterhalte ich mich mit dem Medium. Zumindest versuche ich es. Das immer wieder kehrende Waaaaas? gefolgt von heiserem und hysterischem Keckern verdirbt mir allerdings ein wenig die Laune und so bin ich froh, als Corinna mit einer Plastiktüte in der Hand die Straße herunter läuft und zu uns stößt. Sie reicht dem Medium die Tüte. Ein Lächeln kindlicher Freude breitet sich auf dem faltigen Gesicht aus, als sie in die Tüte greift und einen perfekt runden, tiefroten Apfel in die Höhe hält. "Zum Wohl", sagt sie und beißt herzhaft hinein. Apfelsaft tröpfelt ihr Kinn hinunter, aber sie sieht so überglücklich aus, dass ich für einen Moment vergesse, wie nervig sie ist. Julian räuspert sich. "Die Frage?" "Sprich Kind. Die Äpfel sind hervorragend." "Was wissen sie über die Geister toter Pokémon?", frage ich. Das Medium schluckt, dann lässt sie sich, wo sie steht, im Schneidersitz zu Boden sinken und beißt nachdenklich in den Apfel. Als sie geschluckt hat, schaut sie zu uns auf. "Setzt euch." Als wir ihr gegenüber Platz genommen haben, stellt sie die Laterne zwischen uns. "Der Geist eines Pokémon verlässt die Welt, wenn es stirbt. Nur die Verbitterten und Hasserfüllten bleiben. Manche Legende sagt, dass so die ersten Geisterpokémon ihren Weg in die Welt gefunden haben. Ein verbliebener Geist erscheint nur an zwei Orten: Nahe des Orts seines Todes oder nahe seines Körpers." "Wie weit kann der Geist sich von beiden Orten entfernen?", frage ich. "Es kommt auf den Geist an, auf seine Willensstärke und auf die Distanz zwischen Körper und Todesort. Liegen die beiden in einer gewissen Entfernung zueinander, kann sich ein Geisterpfad öffnen, ein Streifen zwischen beiden Orten, der durch die Überlappung beider Zentren verstärkt wird." "Und innerhalb dieses Pfads könnte ein Geist frei wandeln?", fragt Coco, gebannt. Das Medium nickt. "Je nach Stärke und Willenskraft des Pokémon kann dieser Geisterpfad sehr lang sein. Wir nennen ihn die graue Zone." "Wie sieht es aus mit Pokémon, die gestorben sind und dann… wiederbelebt wurden?", fragt Corinna. Das Medium kneift die Augen zusammen. "Es geht also um die Legende. Nun, da bin ich euch leider keine Hilfe. Der Geist eines legendären Pokémon wäre in der Tat in der Lage, größere Entfernungen von seinem Körper zurückzulegen, aber der Geist stammt nicht von dem Legendären, sondern von dem ursprünglichen Pokémon. Wenn überhaupt ein Geist entstand." "Sie wissen also auch nicht weiter?", frage ich geknickt. "Ich kann höchstens eine Vermutung äußern." "Vermutung klingt hervorragend." "Als die drei Pokémon im Turm verbrannten, starben sie. Ho-Oh hauchte ihnen mit seiner Zauberasche neues Leben ein. Ihr Geist wurde neu geformt und weil er von dem legendären Vogelpokémon stammte, wurden auch diese drei legendär. Ihre Körper durchliefen eine noch nie zuvor da gewesene Entwicklung und verwandelten sich in die legendären Raubkatzen, doch ihre ursprünglichen Geister hatten keinen Platz mehr in dem neuen Körper. Sie hatten die Hülle des Fleisches bereits hinter sich gelassen, doch weil ihr Körper noch lebte, konnten sie diese Welt nicht verlassen." Andächtiges Schweigen fällt über uns. Dann nimmt die Frau knisternd einen weiteren Apfel aus der Tüte und beißt glücklich hinein. Wir verabschieden uns von dem Medium, das sich uns zum Schluss als Zenobia vorstellt und machen uns gemeinsam auf den Rückweg zum RES-Q Revier auf dem verlassenen Anwesen. Den Regel zufolge müssen wir nur die Nächte hier verbringen, aber es hat sich längst als universaler Treffpunkt unserer Gruppe etabliert. Als wir ankommen, ist es bereits nach dem letzten Schichtwechsel der Marktgruppe. Ginger, Kyle und Luke fehlen, sowie Olivia, Robin und einige anderen, doch der Rest ist um ein knisterndes Feuer versammelt und brütet über Stadtplänen, Wiesel und Erasmus das Zentrum der Diskussion. Als Wiesel mich entdeckt hebt sie eine Hand und winkt uns zu sich. "Wie gehen die Ermittlungen voran, Abby?" "Sehr gut", sage ich. "Ich glaube, wir haben etwas sehr Interessantes herausgefunden." "Haben wir das?", fragt Julian überrascht. Wiesel steht auf. "Was meinst du?", fragt sie. Erasmus nimmt hinter ihr Stellung auf. Ich hole tief Luft. "Ich glaube, Raikou ist in der Nähe." Ein Tumult beginnt, doch Wiesel erstickt ihn mit einer Handbewegung im Keim. "Fahr fort", sagt sie an mich gewandt. "Raikou ist hier. Und es braucht unsere Hilfe." Kapitel 48: Der Pfad des Donners (Team Raikou) ---------------------------------------------- "Raikou?" Ich nicke. Ein Schatten zieht über uns, als graue Wolken den Himmel verdecken. "Der Geist eines gewöhnlichen Blitzas könnte sich nicht so weit von dem Ort seines Todes, der Turmruine, entfernen." Julians Gesicht hellt sich auf. "Aber der Körper seiner legendären Reinkarnation würde das möglich machen." "Die graue Zone", murmelt Coco und nickt aufgeregt. "Der Blitzageist bewegt sich auf einer Nullzone zwischen Todesort und Körper, das macht Sinn!" "Aber woher willst du wissen, dass Raikou Hilfe braucht?", fragt Paul. "Raikou ist ein Wanderpokémon", erkläre ich. "Trotzdem erscheint der Geist seit fast einer Woche und bewegt sich immer in dieselbe Richtung, als wolle er uns etwas zeigen." "Selbst, wenn der Geist uns etwas zeigen will, besonders erfolgreich ist er nicht gerade", meint Annette. "Er verschwindet, bevor er überhaupt das Grundstück verlässt und hier ist Raikou ganz sicher nicht." Wiesel hebt die Arme und alle verstummen. "Der Tag ist noch jung", sagt sie, als alle Augen sich auf sie richten. "Bis Mitternacht können wir nichts unternehmen, geht also euren Beschäftigungen wie sonst nach. Um 23:00 Uhr treffen wir uns wieder hier."   Ich trommele eine Trainingsgruppe zusammen, bestehend aus Vivienne, Annette und Paul und gemeinsam machen wir uns auf den Weg Richtung Route 37. Die Wolken über unseren Köpfen nehmen langsam aber sicher einen violetten Veilchenton an und ich befürchte, dass wir diese Nacht im Regen schlafen werden. Bis zum Start des Gewitters will ich Gott aber so viel Training wie möglich geben, die Missionen von Team RES-Q haben meine Zeit hier ziemlich beansprucht und ich fürchte, dass ich bald noch weniger Zeit haben werde. Der Krieg gegen die Biker hat erst heute begonnen, und schon habe ich gegen eine der Regeln verstoßen. Die Biker sind der Feind. Und ich lasse Mik natürlich einfach durch. "Hier?", fragt Annette und bleibt am Rand einer Wiese nahe des Stadtrandes stehen. Das Licht unserer Pokébälle färbt die Blätter der umstehenden Bäume rot, bevor sich vier Pokémon im Gras materialisieren. Gott, der fauchend an meine Seite springt und sein Feuer hochfährt, ein fröhlich auf und ab schwebendes Hubelupf, das schließlich auf dem Ariados landet, welches sich gelangweilt schüttelt. Hubelupf springt glücklich davon. Das letzte Pokémon weckt düstere Erinnerungen. Vivis Hypno kann nichts dafür, dass es die selbe Pokémonart ist wie das Monster aus dem Steineichenwald, aber bei dem Anblick seiner schmalen Augen und dem Pendel, das es spaßeshalber um seine Nase wickelt, richten sich alle Härchen auf meinen Armen auf. Zum Glück war Gott damals noch nicht in meinem Team, ich weiß nicht, ob ich ihn sonst zurückhalten könnte. "Teilen wir uns auf", presse ich hervor. Die anderen nicken und so stehen wir schon bald an unterschiedlichen Ecken der Wildwiese. Während ich Gott möglichst auf seinen Ruckzuckhieb beschränke, um nicht den ganzen Wald abzufackeln, höre ich hinter mir im Gebüsch etwas rascheln. Ich drehe mich um, kann aber nichts erkennen. Ich habe mich kaum wieder Gott zugewandt, da höre ich es wieder, gefolgt von dem Knacken eines Zweigs. "Was denn?", zische ich tonlos und drehe mich zu dem Busch um. Ich kneife meine Augen zusammen und tatsächlich meine ich, hinter dem dichten Laub eine Bewegung zu erkennen. "Attackier alles mit Ruckzuckhieb, was dir in die Quere kommt", sage ich Gott gewandt, der euphorisch knurrt und sich in den nächsten Kampf stürzt. Das Gras raschelt, als ich zu dem Busch gehe, immer wieder über meine Schulter schauend, doch die anderen Qs sind in ihr Training vertieft. "Wer ist da?", frage ich leise, als ich neben dem Gestrüpp ankomme. Fast erwarte ich, dass ich mir das ganze nur eingebildet habe, aber im nächsten Moment zieht eine Hand einige Äste zur Seite und ich entdecke ein Gesicht. "Hallo, Abby", sagt Mik, der mich durch die Blätter angrinst. "Was machst du hier?", frage ich. "Wenn die anderen dich entdecken, greifen sie an!" "Warum greifst du nicht an?" "Du… du wirst gezwungen, mitzumachen, oder nicht? Das hast du heute morgen gesagt." Er nickt. "Ich wollte mich dafür bedanken, dass du mich hast laufen lassen. Eure Anführerin hätte mich auseinander genommen." Er schaut zu Boden. "Meine große Schwester macht bei den Bikern mit, wenn ich nicht mitmache, bin ich ganz allein. Aber ich will da raus. Irgendwann werde ich ihr sagen, was ich von ihr halte." "Ich kann dich nicht ewig decken", flüstere ich eindringlich. "Verschwinde, bevor dich jemand bemerkt." "Danke nochmal. Du bist ein Schatz." Die Äste schnellen zurück und sein Gesicht verschwindet. Die Schritte, die ich danach höre, hätte ich mir genauso gut einbilden können. "Abby, was machst du da?", ruft Paul. "Dachte, ich hätte was gehört!"   Mit Jacken und Taschen über unseren Köpfen rennen wir einige Stunden später zum Pokécenter. Das Gewitter hat länger gebraucht, als ich dachte, aber dafür kam es umso plötzlicher. Einen Moment standen wir noch auf der Wiese und gaben unseren Pokémon Anweisungen, im nächsten prasselte Regen auf uns herab, als hätte jemand einen Eimer Wasser direkt über unseren Köpfen geleert. Wir werden bald zum Grundstück zurück müssen, aber bis dahin bringt keiner von uns es übers Herz, sich eine Sekunde länger dem Platzregen auszusetzen. Pitschnass und zitternd stürzen wir durch die elektrischen Türen des Pokécenters und eine erschrockene Schwester Joy steht fast augenblicklich mit Handtüchern neben uns. "Kommt rein, kommt rein, das Wetter ist ja fürchterlich!" "Kann man laut sagen", murmele ich und reibe meine Arme und Beine mit dem Handtuch trocken, bevor ich mich an meine Haare mache. "Was macht ihr auch da draußen, schon den ganzen Nachmittag hat sich das Gewitter angebahnt", schilt Joy uns, dann scheucht sie uns an einen der Tische. "Wollt ihr etwas warmes trinken?" "Ich gebe einen aus, keine Sorge, ihr armen Schlucker", sagt Vivi und für das Angebot vergebe ich ihr sogar die Bezeichnung. "Einen Kaffee, bitte." "Eine heiße Schokolade." "Zwei." "Ich nehme einen Tamottee, ungesüßt." Die anderen drei schauen mich mit großen Augen an. "Ich mag´s scharf", verteidige ich mich. Vivi lacht und klopft mir mit einer fleischigen Hand auf den Kopf. "Ist ja gut, andere Spezies. Niemand wird dein Geheimnis erfahren." Annette prustet los und Paul grinst mich unverschämt an. Unsere Getränke stehen kaum auf dem Tisch, da höre ich Schritte auf der Treppe. Nur eine Person ist eingecheckt. Ich schaue zum Aufgang. Chris steht, in zerrissenen Shorts und bauchfreiem Top, auf der ersten Stufe und bindet ihr dunkles Haar zu einem Zopf nach hinten. Als sie mich entdeckt, legt sie den Kopf schief, als wüsste sie nicht genau, wo sie mich einordnen soll, dann winkt sie mir zu und bestellt sich bei Joy eine heiße Milch mit Honig. Ohne zu fragen zieht sie einen Stuhl an unseren Tisch und setzt sich zu uns. Annette wirft mir einen fragenden Blick zu und Paul schaut unauffällig in Richtung ihrer Beine, die skandalös entblößt sind. Nur Vivi ist wie immer nicht auf den Kopf gefallen. "Hallo Fremde, setz dich ruhig." "Danke." Chris´ fehlendes Taktgefühl ist eine Nummer für sich. "Wie lief die Suche gestern?", frage ich, um das Gespräch in Gang zu bringen. Chris stützt ihr Kinn auf eine Hand und seufzt. "Ich kann es nicht finden", sagt sie. "Der Turm ist so verzweigt, dass ich mich jedes Mal verlaufe." "Was ist es?", fragt Paul und wendet den Blick mühevoll von Chris´ langen Beinen ab. "Ho-Oh", sagen Chris und ich gleichzeitig. Pauls Mund öffnet sich, fassungslos. "Was denn, passt doch genau in unseren Wochenplan", sagt Vivi fröhlich. "Chris hier fängt ein Ho-Oh und wir retten ein Raikou, nichts Besonderes." "Ja, total normal…", murmelt Annette und nimmt einen tiefen Schluck Kaffee. Ich tue es ihr gleich und schließe die Augen, als der Tamottee meine Kehle hinab brennt. Ich muss einen Moment lang konzentriert durch die Nase atmen, bevor ich das Feuer in meinem Hals unter Kontrolle bringen kann. "Sie lebt tatsächlich noch", sagt Vivi, die mir gespannt zugesehen hat. "Ein bisschen rot im Gesicht, aber das war zu erwarten." "Ich dachte, dich würde die Sache mit Raikou mehr interessieren", sage ich an Chris gewandt. "Du bist schließlich die Legifängerin unter uns." "Ich will Ho-Oh. Für ein anderes Pokémon haben ich keinen Platz mehr in meinem Team. Außerdem würde die Typenkombination nicht mehr funktionieren und das einzige Feuerpokémon der Raubkatzen ist schon für jemand anderen reserviert." "So spricht der wahre Protrainer", sagt Vivi grinsend. "Du musst stark sein, wenn du ein legendäres Pokémon fangen willst. Wie viele Orden hast du?" Chris schaut sie an, als hätte Vivi gerade ihre Mutter aufs Gröbste beleidigt. "Sind Orden jetzt eine Voraussetzung, um stark zu sein?", fragt sie schneidend, in dem selben Tonfall, in dem sie mich bei unserer ersten Begegnung angefahren hat. Ich weiß ja nicht, zu welcher Trainerkategorie du dich zählst, aber ich gehöre nicht dazu. Vivi schaut sie verwirrt an. "Nein, natürlich nicht, ich dachte nur..." "Orden sind nur ein Stück Metall", sagt Chris und nimmt einen Schluck Milch. "Ob du stark bist oder nicht ist allein von deinen Pokémon und deinen Fähigkeiten als Trainer abhängig, nichts weiter." Chris. Der Name kommt mir mit einem mal sehr bekannt vor. Und nicht nur der Name. Trainer ohne Orden. Dasselbe Muster. Wer hat mir von Chris erzählt? Es war… "Ich besitze keine Orden", sagt Chris schließlich. "Und wenn ich welche hätte, würden sie nichts an meinen Fähigkeiten ändern. Sie sind nur ein Stück Metall. Sie machen mich nicht stärker." "Der Kampf gegen die Arena macht dich stärker", wirft Paul versuchsweise ein. "Warum soll ich mich mit einem Trainer abgeben, der absichtlich mit einem schwächeren Team kämpft, damit Trainer eines gewissen Levels ihn besiegen können. Bevor ich jemanden besiege, der nur halbherzig kämpft, kämpfe ich lieber gar nicht." "Nick." Chris und die anderen drehen sich zu mir um. "Kennst du einen Nick?" "Ich kenne Irena", sagt Chris. "Seine Schwester. Wir sind gute Freunde. Mit Nick habe ich nichts zu tun. Warum fragst du?" "Er hat mir mal von dir erzählt", sage ich vage. "Er meinte, dein Team ist total krass drauf." Chris Gesichtsausdruck entspannt sich etwas und sie nimmt einen Schluck Milch, um ihr süffisantes Lächeln zu verbergen. "Nur so aus Interesse…", fahre ich fort. "Wer hat Entei reserviert?" Chris zuckt die Achseln. "Ein Mädchen namens Ronya. Ich begegne ihr manchmal auf irgendwelchen Routen. Sie folgt Entei seit Wochen." Ronya. Ich werd nicht mehr. Noch ein bekannter Name. "Ihr solltet eine Anti-Orden-Kampagne starten", meine ich lachend, doch wie immer nimmt Chris jede meiner Bemerkungen todernst. "Das wäre gar keine schlechte Idee." "Ich will nicht drängen", sagt Annette, nachdem wir unsere Getränke geleert haben und Vivi bei Joy bezahlt hat, "aber wir müssen langsam los. Es ist schon fast 23:00 Uhr." "Du hast Recht!" Wir springen auf, verabschieden uns von der an Raikou uninteressierten Chris und der mütterlichen Schwester Joy und rennen ein zweites Mal an diesem Abend durch den Regen zum Treffpunkt. Wir kommen ein paar Minuten zu spät, aber Wiesel ist in ein leises Gespräch mit Erasmus vertieft und bemerkt unser Eintreffen erst, als wir uns schon unter die anderen gemischt haben. "Abby, da bist du ja." Sie kommt auf mich zu und legt einen Arm um mich. "Was denkst du, wie viele Leute sollen wir mitnehmen?" Ich denke einen Moment nach. "Wir sollten jemand Starkes mitnehmen", sage ich schließlich. "Und Trainer mit Pokémon, die Surfer, Zerschneider oder Blitz benutzen können, nur für alle Fälle. Wir wissen nicht, was uns erwartet." Wiesel klopft mir auf die Schulter, dann springt sie auf ihren Stammplatz auf dem Stahlträger und breitet die Arme aus. "Liebe RES-Q Mitglieder", beginnt sie. "Wir werden heute Nacht dem Blitzageist folgen und erwarten, von ihm zu dem legendären Pokémon Raikou geführt zu werden, das vielleicht unsere Hilfe braucht. Wir brauchen Leute, die körperliche Arbeit verrichten können und solche, deren Pokémon mit nützlichen VMs ausgestattet sind. Ich plane, maximal fünf Mitglieder mitzunehmen, zusätzlich zu dem Aufklärungsteam von Abby, Erasmus und mir selbst. Wir werden vielleicht die ganze Nacht unterwegs sein und es sieht nicht so aus, als würde das Gewitter bald aufhören." Wie um ihre Worte zu unterstreichen, schlägt irgendwo östlich von uns ein Blitz ein. Es dauert einige Sekunden, bevor der Donner über unsere Köpfe rollt, aber ich bin ziemlich sicher, dass wir dem Zentrum des Gewitters bald näher sein werden als uns lieb ist. Schon jetzt sind wir alle völlig durchgeweicht, Regen tropft von Nasen und Kapuzenspitzen und diejenigen, die eine Brille tragen, sind durch die angesammelten Tropfen so gut wie blind. Es ist keine leichte Entscheidung für die Qs. Ein legendäres Pokémon aus der Nähe zu sehen, begeistert wohl die meisten, die Frage ist nur, ob eine ausgewachsene Lungenentzündung ein guter Tausch ist. Während Wiesel auf Freiwillige wartet, schlägt ein weiterer Blitz ein, dicht gefolgt von Donner. Es kann nicht mehr lange dauern. Schließlich hebt Toby seine Hand. "Ich melde mich für die Muskelarbeit." Wiesel nickt ihm zu. "Wer noch?" Die Qs schauen sich an. Diejenigen, die schließlich die Hände heben, sind mehr als vier - und ausschließlich Protrainer. "Ich sollte anmerken, dass es niemandem erlaubt sein wird, das Raikou zu fangen", sagt Wiesel. Fast alle Hände sinken wieder. Viviennes Hand ist weiterhin erhoben. "Sicher, dass du den Trip durchhältst?", fragt Wiesel, nicht unfreundlich, nur besorgt. Vivienne schlägt sich lachend auf ihren wabbligen Bauch. "Ich bin fett, aber ich kann besser wandern als die meisten hier, das verspreche ich." Ich muss grinsen. Vivi ist wirklich der Wahnsinn. "Sonst niemand?" "Ich!" Ich suche vergeblich in der Trainergruppe, bevor sich die kleine, zierliche Ginger zwischen den anderen hindurch quetscht. "Ich komme mit." Der nächste, der sich meldet, ist Marcel. "Ich habe einen Kompass, falls wir in irgendeiner gottverdammten Höhle ohne Kartenmodul landen", sagt er. "Noch jemand?" Niemand meldet sich mehr und so steht die Gruppe fest: Wiesel als Anführerin mit Erasmus, ihrer rechten Hand, ich, Julian und Corinna als Kerngruppe der Geistermissionen, Toby, Vivienne, Ginger und Marcel. Neun RES-Qs. Zum Glück ist es Nacht, sonst würde unsere kleine Unternehmung einiges an Aufsehen erregen. Nachdem alle Details der Mission geklärt sind, machen wir es uns unter Plastikplanen, die einige der nicht beschäftigten Mitglieder gekauft haben, so bequem wie es eben geht. Es ist immer noch kalt und feucht, aber immerhin können wir geradeaus gucken, ohne eine Handvoll Wasser in die Augen zu bekommen. Das Lagerfeuer bleibt heute aus und so ernähren wir uns von Müsliriegeln, Äpfeln und Beeren, die besagte unbeschäftigte Trainer gekauft haben. Sie sind ziemlich schnell in die Rolle der Versorger geschlüpft und ich bin froh, ein wenig durchgefüttert zu werden, denn ich bin fast pleite und habe keine Zeit, irgendwo Geld zu verdienen. Vielleicht kann ich einen Weg finden, die Arbeit für Team RES-Q mit einer bezahlten Arbeit zu verbinden. So kreisen meine Gedanken und ich merke gar nicht, dass Mitternacht angebrochen ist, bevor Toby mir freundschaftlich auf den Kopf haut. "Wir haben zu tun", sagt er leise und deutet in Richtung der Stelle, an der Blitza zuletzt erschienen ist. Team Raikou, wie ich uns im Stillen nenne, erhebt sich langsam und wartet am Rand der Planen. Dann, wie immer ohne Vorahnung, erscheint das Geisterblitza. Seine Färbung ist im Tod erhalten geblieben, auch wenn sie ausgewaschen aussieht, heller, grauer als in lebendigem Zustand. Es trottet ohne Eile los und direkt auf unsere Feuerstelle zu, aber als es dieses Mal durch die nassen Kohlen geht, verschwindet es nicht, wie die Nächte zuvor, sondern folgt weiter der Richtung der grauen Zone. Donner rollt über unsere Köpfe hinweg und ich frage mich, warum es dieses Mal weitergeht. Liegt es an dem Gewitter? Ist Raikou erst heute in Gefahr? Oder ist sein Geist im Feuer verschwunden, weil sein Körper damals verbrannt ist? Wiesel gibt uns ein Zeichen und wir treten hinaus in den Regen und beginnen die Verfolgung des Geistes, der die Gründung Team RES-Qs in Gang gebracht hat, ohne es zu bemerken. Blitzas Geist bewegt sich auf eine für Verfolger sehr umständliche Weise. Es läuft geradewegs durch alle Gebäude hindurch und mehr als einmal verlieren wir es fast in dem grauen Schleier, den der Regen vor unsere Augen legt, aber jedes Mal gelingt es einem von uns, den gelblich schimmernden Geist in letzter Sekunde zu entdecken, bevor er im nächsten Haus verschwindet und das Spiel von vorne beginnt. Zudem bewegt sich der Geist ohne jede Eile und so brauchen wir fast eine Stunde, bis wir das Durchgangshäuschen Richtung Route 42 entdecken, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass Blitzas Wege uns gezwungen haben, jede Menge Seitengassen und Umwege in Kauf zu nehmen. Um es kurz zu machen: Als wir das Häuschen erreichen und Blitza durch die Tür verschwinden sehen, geht ein kollektives Stöhnen durch unsere Runde. Wir haben unsere Jacken längst in unsere Rucksäcke gestopft. Es gibt einen Punkt, an dem man einfach nicht mehr nasser werden kann und diesen Punkt haben wir erreicht. Nun strömt Regenwasser in dichten, kalten Strömen unsere Gesichter und Körper hinunter, füllt unsere Schuhe und lässt unsere Kleider an unserer Haut kleben. Die Blitze stoßen nun immer häufiger durch die violett-schwarze Wolkendecke und der Donner folgt fast augenblicklich. Wenn wir Pech haben, werden wir noch von einem brennenden Baum erschlagen. "Ihr wollt ihm weiter folgen?", fragt Marcel mit zittriger Stimme. "Die Blitze sind ganz nah. Wenn wir weiter gehen, bringen wir uns in Lebensgefahr!" "Du musst nicht mitkommen, Marcel", sagt Wiesel. "Niemand zwingt dich." Marcel beißt sich auf die Lippen, dann macht er auf dem Absatz kehrt und geht. "Da waren´s nur noch acht", singt Vivi leise und wir machen uns wieder auf den Weg. Das Durchgangshäuschen ist wie immer geöffnet, die Routen werden Tag und Nacht überwacht, damit Trainer zu jeder Zeit weiterziehen können. Als ich allerdings den Mann hinter dem Tresen sehe, wie er halb schlafend auf seinen Arm gestützt da sitzt, tut er mir ziemlich leid. Er wirft uns einen fragenden Blick zu, sagt aber nichts, als acht durchgeweichte Trainer an ihm vorbei gehen und den gesamten Boden mit Wasser und Schlamm verdrecken. "Is´ gefährlich da draußen", ruft er uns noch nach, bevor wir Route 42 betreten. Die Strecke nach Mahagonia City bietet jede Art von Untergrund, die man sich wünschen kann. Ein breiter, erdiger Weg führt zwischen dichtem Wald zum Eingang des Kesselbergs, einer komplexen Höhle, auf die ich bei Nacht wirklich keine Lust habe. Zu unserem Glück (oder Pech) entdecken wir Blitzas Geist kurz vor dem See, der zwischen Wald und Berg verläuft und die Route für alle nicht-Surfer-Benutzer unterbricht. "Sag nicht wir müssen…", beginnt Toby, doch da schwebt Blitza schon über den See. Über uns blitzt es und der Donner ist wie ein Kanonenschuss, der direkt neben meinem Ohr abgefeuert wird. Ich verziehe das Gesicht. "Hat jemand Surfer?" Ginger und Vivi melden sich, keine von den beiden sonderlich begeistert, hier zum Einsatz zu kommen. "Wir können nicht durch das Wasser", sagt Wiesel und schaut in den Himmel, in dem Blitze durch die Wolken zucken und sie von innen erleuchten. "Hier draußen zu sein ist gefährlich, aber ins Wasser zu gehen ist glatter Selbstmord." "Wir müssen es versuchen", sage ich. "Blitza würde uns nicht hierher führen, wenn es nicht dringend wäre." "Wie sicher sind wir, dass Raikou wirklich in einer Notlage ist?", fragt Wiesel und ich beiße mir auf die Lippen. Es ist eine Vermutung, das wissen wir beide. Ich bin inzwischen ziemlich sicher, aber natürlich rechtfertigt das nicht, alle Anwesenden in Lebensgefahr zu bringen. "Wir können morgen wiederkommen", schlägt Vivi vor. "Sobald die Sonne aufgeht. Raikou hat über eine Woche gewartet, wenn es noch lebt, wird es auch noch bis zum Morgen durchhalten." Sie schaut fragend zu Wiesel, die nachdenklich nickt. "Wir verlegen die Mission auf morgen früh", sagt sie. Jeder atmet erleichtert aus. Jeder, außer mir und einer weiteren Person. "Wir können nicht warten", sagt Erasmus. Es ist das erste Mal, dass ich ihn sprechen höre und seine Stimme klingt so viel tiefer als sein Gesicht mich hat glauben machen, dass ich die Verbindung erst auf den zweiten Blick mache. Wiesel schaut zu ihm, genauso geschockt wie wir anderen, dass er vor allen Anwesenden redet. Ich frage mich immer noch, warum sie ihn zu ihrer rechten Hand gemacht hat. "Warum?" "Blitzas Geist ist immer um Mitternacht zu uns gekommen. Er ist nie weiter als das Lagerfeuer gegangen, außer heute, als es gewittert. Die Uhrzeit ist entscheidend, wahrscheinlich, weil jetzt in diesem Moment das Gewitter direkt über uns ist. Raikou ist eine Elektropokémon. Es gibt eine Verbindung." "Was schlägst du vor?", fragt Wiesel. "Abby und ich schwimmen ans andere Ufer. Wenn wir Raikou finden, helfen wir ihm, wenn nicht, sind nur wir in Gefahr." Er schaut zu mir. Sein blonder Zopf ist lose und liegt schwer vom Regen auf seiner Schulter. "Ich bin für alle lebensgefährlichen Aktionen zu haben", sage ich grinsend und unterdrücke die Angst. Ich bin aus schlechteren Situationen herausgekommen, aber es ist jedes Mal ein neues Gefühl der Panik. Wiesel zögert, dann nickt sie. "Ruft, wenn ihr Hilfe braucht." Erasmus nickt, dann geht er in Richtung See. Ich folge nur einen Schritt hinter ihm. "Wie gut schwimmst du?", fragt er, als wir am Ufer stehen. Bis ans andere Ende des Sees sind es vielleicht fünfzig bis sechzig Meter. Ich denke an meine Heimatstadt, an Orania City, an den See und das Meer. Ich bin lange nicht mehr geschwommen. Aber was mir an Kletterkünsten fehlt, mache ich im Wasser doppelt wett. "Ich bin gut", sage ich und Erasmus nickt, als hätte er das schon längst gewusst. "Schwimm um dein Leben." Und das tun wir. Nachdem wir unsere Rucksäcke abgelegt und unsere Schuhe und Socken ausgezogen haben, warten wir auf den nächsten Blitz und als der Donner verklungen ist, nehmen wir Anlauf und springen so weit wie möglich in den See. Das eiskalte Wasser trifft mich wie ein Schlag auf die Brust und drückt meine Lunge zusammen, aber bereits unter Wasser beginne ich, meinen Rhythmus aufzubauen und schwimme los. Als ich auftauche, entdecke ich Erasmus aus den Augenwinkeln, der zwei Meter neben mir schwimmt, seine Bewegungen effizient und kraftvoll. Auf der Hälfte der Strecke überholt er mich, aber das stört mich nicht weiter, zumindest nicht, bis der nächste Blitz einschlägt, nicht weit vom anderen Ufer entfernt. Ich tauche unter, um dem Donnergrollen zu entgehen und meine Angst zu unterdrücken, die bei dem gleißenden Einschlag wieder in meiner Brust empor gesprungen ist. Keine Zeit zum nachdenken. Ich kämpfe gegen das aufgewühlte Wasser an, das gegen mich drückt, nutze jeden meiner Arm- und Beinschläge, um weiter vorwärts zu kommen. Als ich kurz nach Erasmus das andere Ufer erreiche, brennen meine Arme und Beine, aber ich bin froh, wieder im Trockenen zu sein. Oder im Halbnassen. Es regnet schließlich immer noch im Weltuntergangsstil. Erasmus tippt mich an und deutet auf die erdige Grasfläche vor uns. Der Blitzageist ist verschwunden. "Wo ist er hin?", murmele ich. Wir folgen dem ausgetretenen, inzwischen schlammigen Pfad, bis wir zu unserer Linken einen weiteren Höhleneingang finden und zu unserer Rechten einen kleinen, knorrigen Baum, der eine Lichtung zwischen den Bäumen markiert. "Kannst du Raiko auf der Lichtung sehen?" Erasmus joggt zu dem Baum hinüber und schaut durch das Blätterdach hindurch. Er kommt kopfschüttelnd zurück. "Dann ist er in der Höhle." "Das ist wahrscheinlich." Gemeinsam betreten wir den mittleren Eingang des Kesselbergs und werden fast augenblicklich von dem Tosen eines gigantischen Wasserfalls überrollt, der zu beiden Seiten der kleinen Steininsel gegen die Höhlenwände prallt und durch ungesehene Wege seinen Weg nach draußen in den See findet. In den Stein gelaufene Stufen führen zu einer Leiter, die tiefer in den Berg führt, doch soweit müssen wir gar nicht gehen. Vor den Stufen liegt Raikou. Ich öffne den Mund, aber Erasmus legt behutsam eine Hand auf meinen Mund und hält mit der anderen einen Zeigefinger vor seine Lippen. Dann ruft er sein Pokémon. Das Bisaknosp schaut sich unruhig um, aber als es seinen Trainer sieht, nickt es ihm zu. "Wir müssen Raikou nach draußen bringen", sagt Erasmus leise. "Wegen der Blitze?" "Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass Blitzas Geist uns deshalb während eines Gewitters hier her gebracht hat. Raikou ist aus einem unbekannten Grund geschwächt. Ohne es zu fangen, bleibt uns nur die Möglichkeit, es mit Elektrizität zu versorgen." Ich nicke. "Rankenhieb", flüstert er und zwei geschmeidig grüne Ranken lösen sich von Bisaknosps Rücken und wickeln sich behutsam um die Vorderpfoten der bewusstlosen Raubkatze. Erst, als er zieht, reißt Raikou seine Augen auf und brüllt. Ich zucke zusammen, doch Erasmus verzieht keine Miene. Raikou tritt mit seinen Hinterbeinen, brüllt erneut, aber Bisaknosp zieht ihn stetig in Richtung Höhlenausgang. Dann, so abrupt, dass ich erschrocken zurückweiche, schießt einen Funkenstrom die Ranken entlang und schockt Bisaknosp, das ohne einen Laut in sich zusammen klappt. Erasmus flucht leise, dann ruft er sein Pokémon zurück. Ich gehe mit etwas Abstand vor Raikou in die Hocke. "Raikou", sage ich leise, beruhigend. Es knurrt. Sein gelbes Fell knistert, aber das violette, wolkenartige Fell auf seinem Rücken ist stumpf und seine Augen sind trübe. Diese letzte Attacke hat ihm noch mehr Kraft geraubt. Ich versuche zu vergessen, dass Raikou gute zwei Meter lang ist und dreimal so viel wiegt wie ich, als ich ein kleines Stück vor rutsche. "Wir wollen dir nichts tun", sage ich leise. "Wir wollen dich nur rausbringen. Greif uns nicht an, du schwächst dich nur selbst." Erasmus geht neben mir in die Hocke. "Alles wird gut", flüstert er. "Alles wird gut." Ich weiß nicht, wie lange wir so auf Raikou einreden, aber schließlich sind wir nah genug, dass es uns beißen könnte, wenn es sich nur ein bisschen strecken würde. Aber Raikou beißt nicht. Es schaut uns einen Moment länger an, dann schließt es ergeben seine Augen und entspannt seine Gliedmaßen. Erasmus nimmt die linke Pfote, ich die rechte und wir ziehen, langsam, so langsam, dass wir Raikou nicht mal in Bewegung bringen. Erst als wir merken, dass es uns nicht jeden Moment zerreißen wird, ziehen wir kräftiger. Ein Ruck geht durch Raikous Körper, als es sich von den Steinen löst, auf denen es so lange gelegen hat, danach geht es leichter. In Zeitlupe schleifen wir das halb bewusstlose Pokémon hinaus in den Regen, der immer stärker zu werden schient, wenn das überhaupt möglich ist. Wir lassen Raikou auf einem Stück weicher Erde liegen, dann rennen wir zurück in den Schutz der Höhle und warten. Wir warten nicht lange. Wir sind kaum am Eingang angekommen, da reißt ein weißer Blitz den Himmel entzwei und schlägt direkt in Raikous Körper ein. Ich halte die Luft an, fürchte, Raikou dem sicheren Tod geweiht zu haben, aber ich bekomme keine Gelegenheit, meine Vermutung zu überprüfen, denn da schlägt schon der nächste Blitz in Raikou ein. Wieder und wieder trifft ein weißer Stromschlag seinen Körper und ich spüre, wie Erasmus mich zu sich zieht. Erst an ihn gelehnt merke ich, wie sehr ich zittere. Das Klackern meiner Zähne hatte ich für einen Teil der Gewittergeräusche gehalten. Uns gegenseitig Wärme spendend warten wir, bis die Blitze weniger werden und der Regen schwächer wird, so als hätte sich das ganze Gewitter in dieses eine Pokémon entladen. Und vielleicht hat es das. Raikou erhebt sich, schüttelt sein aufgeladenes Fell und wirft einen letzten Blick in unsere Richtung, bevor es mit gewaltigen Sätzen aus unserem Sichtfeld verschwindet. "M-mission erfolgreich", bibbere ich und halte Erasmus eine Hand hin. Als er mich verdutzt ansieht, nehme ich seine Hand und schlage damit gegen meine. "Das nennt sich High-Five, Mr. Rechte Hand", sage ich grinsend. Er lächelt. "Sollen wir zu den anderen zurück?" Ich will nicken, aber in dem Moment schlägt ein weiterer Blitz genau in den See ein. "Vielleicht sollten wir lieber hier übernachten." "Vielleicht hat du Recht." Kapitel 49: Der Krieg beginnt (Verrat) -------------------------------------- Unsere Nacht im Kesselberg ist kalt, unbequem und laut, aber trocken. An eine der Felswände gelehnt, mein Kopf auf Erasmus´ Schulter und sein Kopf auf meinem, kommen wir kaum zu mehr als drei oder vier Stunden Schlaf, aber so bemerken wir sofort, als der Regen abflaut und schließlich aufhört. Mein Handy ist noch in meinem Rucksack, aber als wir übermüdet aus der Höhle treten, ist der Himmel schon nicht mehr ganz so dunkel. Bleiche rosa und orangefarbene Streifen verdrängen die Dunkelheit über den sich verfärbenden Baumspitzen und künden vom nahenden Morgen. Ich schaue zu Erasmus. Er nickt und gemeinsam schwimmen wir Richtung Westen ans andere Ufer, dieses Mal nicht mit der Todesangst im Nacken und ich genieße die Art, wie meine Muskeln sich im Wasser strecken, wie schwerelos ich mich fühle. Es gibt vor allem einen Grund, warum ich meine Reise nach Oliviana City kaum erwarten kann: Der Strand und das Meer. Wie erwartet sind unsere Rucksäcke und Schuhe nicht mehr hier, Wiesel und die anderen müssen sie wieder mitgenommen haben, als sie uns in die Höhle zurückkehren sahen und so laufen wir barfuß, pitschnass und frierend durch das Durchgangshäuschen. "Raue Nacht gehabt?", fragt der Wärter, der gestern Abend halb schlafend an seinem Platz saß. Ich grinse. "Sie haben keine Ahnung." Teak City ist im frühen Morgenlicht wunderschön, die Wasserpfützen reflektieren unsere Spiegelbilder und eine herbstliche Stille liegt über der Stadt. Ein wenig torkelnd machen Erasmus und ich uns auf den Rückweg zum RES-Q Revier. Die nasse Straße befreit unsere Füße etwas von dem Schlamm, der sich dort festgesetzt hat, auch wenn sie nichts zur Erhöhung unserer Körpertemperatur beiträgt. Als wir schließlich das Grundstück erreichen, entdecke ich ein kleines, loderndes Feuer. Auf dem Stahlbalken daneben sitzt Wiesel. Vier leere Kaffeedosen liegen zerdrückt neben ihr auf dem Boden und sie ist vornüber gebeugt, so als würde sie schlafen. Das im weichen Boden glucksende Geräusch unserer Schritte erweckt jedoch ihre Aufmerksamkeit. Sie hebt den Kopf. Ihr rotes Haar ist nass und einige Töne dunkler als sonst und schwarze Ringe heben ihre glasigen Augen hervor. "Ihr seid zurück", sagt sie und atmet erleichtert aus. "Wenn ihr nicht bald gekommen wärt, hätte ich eine Sucheinheit zurückgeschickt. Ihr wart in der Höhle sicher vor dem Gewitter, aber man weiß ja nie." Sie kommt zu uns und umarmt mich und Erasmus, bevor sie ihre Augen reibt. "Tut mir leid, dass ich so aussehe, aber ich habe keine Auge zugetan diese Nacht. Und ihr auch nicht, wenn ich euch so anschaue." Ich lache. "Ein paar Stunden, nicht mehr." "Legt euch ruhig noch ein paar hin", sagt Wiesel und schiebt uns Richtung der Plastikplane, von deren Rändern stetig Wassertropfen fallen. Die Gestalten darunter schnarchen leise, dicht eingepackt in ihre Schlafsäcke. "Was ist mit dir?", frage ich, bevor wir uns von ihr abwimmeln lassen. "Planung." Ich schaue sie fragend an. "Der Überfall der Biker steht morgen an", erklärt sie mit einem müden Lächeln. "Ich muss noch einige Informationen auswerten und überprüfen. Außerdem muss gleich jemand die anderen wecken." "Überarbeite dich nicht", sagt Erasmus. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. "Vier Dosen Kaffee reichen, um mich wach zu halten. Heute Nacht gehe ich früher schlafen, keine Sorge." Ich habe das Gefühl, Wiesel doch noch zum Schlafen überreden zu müssen, aber ich bin so erschöpft, dass ich meinen Schlafsack kaum ausgepackt habe, bevor ich schon darin liege. Aber die klamme Kälte werde ich nicht los und schließlich rufe ich zitternd Sku und Gott. Die beiden fauchen sich leise an, widmen sich dann aber dem wichtigeren Problem, nämlich mir. Ich öffne meinen Schlafsack etwas, sodass Sku neben mir hinein kriechen kann. Ihr dichtes, weiches Fell wärmt den Sack von innen auf und mit Gott, der dicht neben uns liegt und uns neidisch ansieht, verschwindet die Kälte langsam aus meinen Knochen. Ich wache erst auf, als die Sonne hoch am Himmel steht und die angestaute Hitze in meinem Schlafsack zu viel wird. Es dauert einen Moment, bevor ich Skus Kopf entdecke, denn sie hat sich mit der zunehmenden Helligkeit tiefer und tiefer in dem Schlafsack verkrochen. Gott liegt dösend an meinem Kopfende, seine Rückenflamme ist zu einer flachen Glut geschrumpft und steigt und sinkt mit jedem seiner Atemzüge. Ich rufe die beiden zurück, dann schäle ich mich aus dem Schlafsack, ziehe frische Socken und meine Schuhe an und geselle mich anschließend zu den anderen, die um das stetig brennende Lagerfeuer versammelt sind. Ich lasse meinen Blick über die versammelten Gesichter wandern. Toby, Heather und Vivi fehlen, woraus ich schließe, dass es zwischen 12:00 und 16:00 Uhr ist. Ich setze mich zu Ginger, die auf einem der Stahlträger sitzt, ihre schmalen Beine im Schneidersitz gekreuzt. Sie lächelt mich schüchtern an und ich erwidere die Geste. "Wir haben euch gesehen", sagt sie nach einer Weile, in der ich nur den Gesprächsfetzen der anderen lausche. "Ihr habt Raikou aus der Höhle gezogen." Ich nicke. "Er war zu schwach, um alleine raus zu gehen." "Ihr wart sehr mutig", fährt sie fort. "Du und Erasmus. Ich wollte mitkommen, weil ich besorgt um Raikou war, aber als ich vor dem See stand, konnte ich mich nicht mehr dazu durchringen." "Das war nicht mutig", erwidere ich mit einem Grinsen. "Das war Dummheit von unserer Seite aus. Wir hatten Glück, dass wir nicht vom Blitz getroffen wurden. Eine legendäre Raubkatze an den Füßen aus einer Höhle zu ziehen war danach reine Erholung." Sie kichert. "Vielleicht. Wiesel war in jedem Fall schwer beeindruckt." "Geht es ihr gut?", frage ich und deute mit einem Kopfnicken in ihre Richtung. "Sie sah heute Morgen nicht gerade fit aus und sie hat nicht geschlafen." "Sie hält schon durch." Ginger lächelt wieder. Sie hat ein verträumtes Lächeln, als würde ihr Mund reden und ihr Kopf ganz woanders sein. An einem besseren Ort. "Du warst eine von den Nicht-Ordensammlern, oder?", frage ich. "Was ist dein Ziel?" Gingers Wangen nehmen eine dunkle Farbe an und sie schaut zu Boden. "Ich möchte Pokémonzüchterin werden. Nachdem ihre Großeltern gestorben sind, hat Lyra die Pension in Dukatia City übernommen und jedes Jahr nimmt sie einen Schüler an. Ihre nächste Vorstellfrist ist erst im Dezember, aber ich wollte schon früher dort sein, um eine Wohnung zu finden und mich dort einzuleben." "Wohnung? Wie alt bist du?" "Sechzehn." "Das ist krass", sage ich lachend. "Aber Dukatia City wird dir bestimmt gefallen. Ich war vor zwei Monaten dort. Woher kommst du?" "Oliviana City." Sie lächelt wieder ihr verträumtes Lächeln. "Meine Eltern sind für die Instandhaltung des Leuchtturms verantwortlich und wollten, dass ich die Arbeit später übernehme, aber ich habe meinen Mut zusammen genommen und ihnen gesagt, dass ich nach Dukatia City gehe und später meine eigene Pension aufmachen werde." "Fühlt sich gut an, oder?", frage ich wissend. Sie nickt. "Ich habe mich noch nie so selbstständig und lebendig gefühlt. Manchmal liege ich nachts wach, weil ich Angst habe, es nicht zu schaffen, aber dann denke ich…" Sie hebt erschrocken den Kopf. "Tut mir leid! Ich wollt dich nicht langweilen!" "Träume sind nicht langweilig", sage ich. Ginger hebt den Kopf und lächelt. Dieses Mal ist sie ganz da.   "Robin, was haben deine Nachforschungen ergeben?", fragt Wiesel an diesem Abend, als alle Qs um das Lagerfeuer versammelt sind. "Die Gruppe besteht aus drei Trainern, zwei Jungen und einem Mädchen, im Alter von dreizehn und vierzehn. Ihre Pokémon sind vermutlich nicht über Level 10 und sie wurden von ihren Eltern mit Schutz ausgestattet, um unbeschadet bis nach Viola City zu kommen. Die Biker werden ihnen mit einer Gruppe aus ebenfalls drei Mitgliedern an der Waldkreuzung auflauern." "Die Stärke der Biker variiert, deswegen können wir nicht mit Sicherheit wissen, wen sie schicken werden, aber wenn sie nicht von unseren Informationen wissen, sollten ihre Trainer im Level 20 Bereich sein." Olivia hebt eine Hand. "Ja, Olivia?" "Mein Netzwerk ist noch nicht ausgebaut, aber ich habe Informationen zu den Bikermitgliedern sammeln können." "Fahr fort." "In Teak City ist die Gruppe sieben Mann stark. Sie wird geleitet von Alina, kurz Al und ihrem jüngeren Bruder, Michael oder Mik. Die beiden treten als Duo auf und sind berüchtigt für ihre Doppelkämpfe. Die restlichen Mitglieder sind ausschließlich männlich und zwischen siebzehn und fünfundzwanzig Jahren alt. Miks und Als Pokémon bewegen sich in einer Levelklasse 30-35, soweit die Gerüchte stimmen. Der Rest liegt im Endzwanziger Bereich." "Du bist eine wahre Bereicherung für RES-Q, Olivia", sagt Wiesel, sichtlich überrumpelt ob der Details, die von unseren Informationsteam ans Licht gefördert worden. Ich habe zum Schluss kaum noch zugehört. Mik ist einer der Anführer. Ich versuche, ihn mir neben seiner älteren Schwester vorzustellen, wie er alte Frauen ausraubt und Kinder ihrer Items und Pokémon erleichtert. Das Bild passt nicht zu dem Jungen, der panisch davon rennt. Der mir in den Wald folgt, um sich zu bedanken. "In Ordnung." Wiesel steigt wieder auf den schrägen Stahlträger und schaut uns von oben herab an. "Wer hat ein oder mehr Pokémon über Level 20?" Ungefähr zweidrittel meldet sich. "Über Level 25?" Einige der Hände sinken. "Über Level 30?" Meine Hand ist immer noch erhoben und ich schaue mich um. Da ist Toby. Vivis Hand ist wieder gesunken, aber Erasmus hält seine weiterhin in die Höhe. Wiesel ebenfalls. Und… Ginger. "Okay. Über Level 35?" Alle Hände sinken. Wiesel nickt, als hätte sie das erwartet. "Wir sind mehr als doppelt so viele und auch wenn nicht jeder von uns ein erstklassiger Trainer ist, werden wir sie besiegen können. Wir beginnen mit der Mission, sobald es dunkel wird. Die Trainer, die ich für die Mission wähle, werden die Nacht im Wald verbringen müssen. Für den Fall, dass einer der Anführer dabei sein wird, werde ich Erasmus und Abby mitschicken. Außerdem Ginger und Toby. Ihr vier solltet in der Lage sein, die drei Biker auszuschalten. Olivia und Robin, nach der morgigen Mission werden die Biker wissen, dass wir sie beschatten, sorgt dafür, dass wir bis dahin alle Informationen haben, die wir brauchen, um ihr Hauptquartier zu stürmen." Die beiden werfen sich einen Blick zu, dann machen sie kehrt und verschwinden augenblicklich in der Stadt. "Ich werde von hier aus die Organisation übernehmen und mit den anderen Qs im Falle eines Bikerübergriffs unser Territorium verteidigen. Wir können nicht vorsichtig genug sein. Teilnehmer der morgigen Mission, bitte zu mir." Die Gruppe löst sich auf, bis nur noch Ginger, Toby, Erasmus und ich übrig sind. Wir setzen und stellen uns zu Wiesel, die eine ausgedruckte und reichlich zerknitterte Karte von Teak City und Region in der Hand hält. "Es tut mir leid, euch beide schon wieder zu so schlechten Schlafverhältnissen zu zwingen", sagt sie entschuldigend an Erasmus und mich gewandt. "Wir wissen nicht, wann die Biker ihren Hinterhalt planen oder wann die Trainer losziehen, deshalb müssen wir schneller sein. Vivi und Paul werden sich auf Stand-by nahe dem Stadtausgang aufhalten, damit sie im Notfall dazu stoßen können. Ich spreche später mit den Beiden. Der Plan ist wie folgt…"   Einige Stunden später liege ich in meinem Schlafsack auf Posten drei unserer Formation. Wiesel hat unsere Schlafplätze entlang der möglichen Wege gelegt, welche die Trainer nehmen könnten. Jeder Posten ist in Hörweite des nächsten und so versteckt, dass man ihn nicht auf den ersten Blick finden kann. Sku hält neben mir Wache, ihre Augen rote Leuchtsignale in der Dunkelheit. Sie ist bewegungslos. "Weck mich, sobald den kleinsten Verdacht auf einen Biker hast", warne ich sie. Sku schnurrt einmal zustimmend, dann ist sie wieder still. Die Nacht verläuft ruhiger, als ich angenommen habe, das einzige, was mich anfangs wach hält ist die Aufregung. Als ich schließlich einschlafe, ist nur das Rascheln der Blätter über mir und das immer wiederkehrende Schuhu eines Noctuhs zu hören. Skus peitschender Schweif in meinem Gesicht weckt mich am frühen Morgen. Ich öffne verschlafen die Augen und drehe mich zur Seite um weiter zu schlafen. Erst dann fällt mir ein, warum ich im Wald übernachtet habe und ich reiße meinen Schlafsack auf. Ein wenig zu hastig. "Was war das?" "Das war ein Pokémon, du Depp", antwortet eine tiefere, ältere Stimme. Vorsichtig klettere ich aus meinem Schlafsack und spähe durch das Dickicht. Zwei Biker folgen dem Weg der Route, ihre Motorräder neben sich her schiebend, Pokébälle an den nietenbesetzten Gürteln. Ein dritter folgt ihnen mit etwas Abstand. Als ich sein Gesicht sehe, setzt mein Herz einen Schlag aus. Es ist Mik. Selbst, wenn er ernst meint, was er mir gesagt hat, kann ich ihn dieses Mal nicht davon kommen lassen. "Haltet eure verdammte Klappe", sagt Mik drohend. Die beiden anderen Biker drehen sich zu ihm um. "Sorry, Boss", sagt der mit der tiefen Stimme, der andere nickt hektisch. Mik lächelt kalt und die drei setzen ihren Weg fort. Tja. Scheiße. Dieser Mik ist ziemlich überzeugend. Ich habe keine Ahnung mehr, welche Seite von ihm die echte ist. "Leise, Sku", murmele ich und gehe neben ihr in die Hocke, dann ziehe ich mein Handy aus meiner Tasche. Wie erwartet finde ich eine SMS von Toby, der die Position vor mir besetzt und mir vor kaum zehn Minuten vom Kommen der Biker geschrieben hat. Ich leite die Nachricht an Erasmus weiter und ziehe mich dann tiefer in die Schatten der Bäume zurück, bis ich sicher bin, dass die Biker außer Hörweite sind, rolle meinen Schlafsack zusammen, stopfe ihn in meine Tasche und warte. Erasmus´ SMS kommt ungefähr zwanzig Minuten später. Die Biker sind nie an seinem Standpunkt angekommen, was bedeutet, dass sie ihren Hinterhalt zwischen dem dritten und vierten Posten planen. Nun heißt es im Gebüsch sitzen und auf die Trainergruppe warten. Ich vertreibe mir die Zeit damit, Sku eine Bauch- und Kopfmassage zu geben, die sie mit skandalösem Schnurren und einem Kratzer auf meinem Arm belohnt. „Es ist wirklich eine Schande, dass Chris nicht bei uns mitmacht“, sage ich nach einer Weile. Sku hebt fragend den Kopf. „Erinnerst du dich an Nick? Der nette Junge in Azalea City?“ Sku nickt.  „Er hat doch von der Freundin seiner Schwester erzählt, Chris. Ich habe sie hier in Teak City getroffen. Sie schläft im Pokécenter.“ Ich seufze. „Ich wette, sie könnte diese Biker im Alleingang besiegen, wenn sie nicht so sehr mit der Ho-Oh Suche beschäftigt wäre.“ Sku schnurrt zustimmend und rollt sich auf den Rücken, um mir ihren ausladenden Bauch darzubieten. "Fettes Pokémon", murmele ich liebevoll, während ich ihre Bauchrollen zusammendrücke. Sku schnurrt und schlägt mit einer Pfote nach mir. Ich esse eine der Folienkartoffeln, die wir gestern Abend am Lagerfeuer gebacken haben und denke über meine bisherige Reise nach. Flucht aus meinem Haus. Machtkämpfe im Untergrund in Dukatia. Fast umgebracht von Team Rocket und einem Hypno in Azalea. Viola verlief ziemlich harmlos bis auf, ach ja, verschüttet in einer Ruine.  Und natürlich vergiftet auf dem Indigo Plateau. Und jetzt? Krieg gegen eine Gruppe Biker, die vermutlich von Team Rocket angestachelt werden. Ich halte in meiner Kraulbewegung inne und lausche. Außer dem Rascheln der Blätter und dem Rauschen des Windes kann ich nichts hören. Da vibriert mein Handy. SMS von Ginger. Die Trainergruppe ist an Posten eins vorbeigekommen und haben damit die Dominokette der Qs ausgelöst. Ginger wird ihnen folgen, zu Toby aufschließen und gemeinsam mit ihm in meine Richtung kommen. Dann können wir die Biker mit Erasmus von beiden Seiten einkesseln. Es dauert etwa zwanzig Minuten, bis ich ein Rascheln in den Sträuchern neben mir vernehme und Toby entdecke, der sich mit Ginger um Schlepptau durch die Dornenbüsche schlägt. "Sind sie schon durchgekommen?", flüstert er und geht neben mir in die Hocke. Ich schüttele den Kopf. "Lassen sich wohl Zeit." Ich zögere, bevor ich weiterspreche. "Ich habe ihr Gespräch überhört. Mik scheint bei ihnen zu sein." "Gut, dass wir nur die besten sind, was?", fragt er grinsend. Ginger lächelt schüchtern und setzt sich auf meiner anderen Seite ins Unterholz. "Da kommen sie", sagt sie und deutet durch eine Lücke im Gebüsch. Wir folgen ihrem Blick. Tatsächlich kann in eine Gruppe Kinder um die Ecke kommen sehen. Ihr lautes Lachen übertönt alle anderen Geräusche des Waldes und ich muss lächeln bei dem Gedanken, dass wir die Biker fertig machen werden, bevor sie die drei ausrauben können. "Warten wir, bis sie vorbei sind, dann folgen wir ihnen", flüstere ich. Die anderen beiden nicken. Ich schicke Erasmus schnell eine SMS. Kinder an Posten 3, bereit für Klammerangriff Die Gruppe trödelt ziemlich, bleibt hier und da stehen, um ihre Pokémon zu streicheln oder hochzuheben. Das Mädchen, zierlich und mit einer dicken Brille, hebt liebevoll ein Quapsel in die Höhe und presst ihre Wange gegen den Spiralbauch des Wasserpokémons. Die beiden Jungen besitzen ein Vulpix, das seinem Trainer Leckerli aus der Hand frisst und ein Hoothoot, das fröhlich um den Kopf seines Trainers fliegt und immer wieder auf seinem Kopf landet und an seinen Haaren ziept. Als sie schließlich an uns vorbei laufen, folge ich gebannt der Unterhaltung. "Ich werde der stärkste Trainer aller Zeiten!", sagt der größere der Jungs mit der Wollmütze und dem Vulpix. "Niemals, Holger", lacht sein Freund und sein Hoothoot gurrt zustimmend. "Das werde nämlich ich sein." "Redet ihr, was ihr wollt", verkündet das Mädchen. "Aber Mädchen sind klüger als Jungs und stärker, deswegen werde ich eindeutig besser sein als ihr." Ich gluckse und Toby schlägt mir gegen die Schulter. "Quatsch Rebecca, dann wären doch mehr Frauen in der Liga." "Es gibt Frauen in der Liga!" "Ja, aber mehr Männer." "Das stimmt nicht!" "Wollen wir wetten?" Ihre Stimmen verklingen im Wald, als sie sich immer weiter von uns entfernen. Ich gebe Toby und Ginger das Signal und wir schleichen mit etwa zwanzig Metern Abstand den Weg entlang, eine dichte Wand aus Sträuchern, Bäumen und Gebüsch zwischen uns. Eine SMS von Erasmus informiert uns davon, dass er die Polizei angerufen hat. Sie werden natürlich erst kommen, wenn der Überfall schon passiert ist, aber bis dahin werden wir die Biker ausgeschaltet haben. Sku, die neben mir läuft, dreht sich immer wieder verdrießlich um. Dann kratzt sie an meinem Bein und gibt ein grollendes Schnurren von sich. "Ich kann dich jetzt nicht kraulen, Sku", murmele ich abgelenkt. Es ist gar nicht so leicht, nicht versehentlich über eine Wurzel zu fallen. "Und tragen werde ich dich auf nicht." Sku knurrt verzweifelt und beißt nochmal in meine Hose. "Jetzt reicht´s Sku!", zische ich. "Keinen Laut mehr." Sie drückt sich entschuldigend zu Boden. Mein schlechtes Gewissen setzt fast augenblicklich ein, aber ich verdränge das Gefühl genauso schnell wieder. Ich streiche ihr über den Kopf, dann gehen wir weiter. Der Hinterhalt beginnt, kaum dass wir die nächste Waldkreuzung erreichen. Die drei Trainer, deren freundschaftliches Geplänkel während unserer Verfolgung der drei durchgängig zu hören war, verstummt. Motoren grollen auf und zwei der Biker rollen gemächlich auf ihren Motorrädern auf den Weg, wo sie den Durchgang blockieren. Mik taucht hinter ihnen auf und schließt die drei neuen Trainer erfolgreich ein. "Wen haben wir denn da?", fragt er süffisant und zieht einen Pokéball. "Seid ihr drei etwa Anfänger? Und alleine unterwegs?" Die Kinder rücken näher zusammen, Holger macht einen Schritt nach vorne. "Was willst du?", fragt er. Sein Vulpix springt beschützend vor ihn. "Habt ihr Geld von euren Mamis und Papis bekommen?", fragt er. "Wollt ihr es uns nicht geben? Wir versprechen auch, euren Pokémon nicht weh zu tun." Ein roter Lichtstrahl schießt aus seinem Pokéball und ein hin und her hopsendes Riolu materialisiert sich vor seinen Füßen. "Glaub mir, du willst nicht gegen dieses kleine Kerlchen kämpfen." "Ja, Boss, zeigen wir´s den Kids", sagt einer der beiden anderen Biker. Sein Kumpel lacht nur. Keiner von ihnen zieht seinen Pokéball. "Unser Auftritt, Ladies", sage ich und werfe Toby ein breites Grinsen zu, bevor er sich beschweren kann, dann springe ich durch das Gestrüpp und nehme hinter Mik Aufstellung. Toby und Ginger stellen sich an meine Seite. "Wir würden gerne mitmachen", sage ich an Mik gewandt. Er dreht sich langsam um. "Sind noch vier Plätze frei?" Erasmus tritt ebenfalls aus den Schatten und zieht zwei Pokébälle. Die beiden Biker fluchen und greifen nach ihren eigenen. "Oh, Abby." Mik lächelt. "Schön, dich hier zu sehen." Ich kneife die Augen zusammen. Toby stupst mich an. "Woher kennt der Typ deinen Namen?", fragt er. "Hast du ihnen nicht davon erzählt?", fragt Mik und schaut mich überrascht an. "Abby und ich haben uns schon vor eurer kleinen Gruppengründung kennen gelernt." "Da wusste ich noch nicht, dass du einer von denen bist", sage ich grimmig. Sku faucht wieder und kratzt an meinem Bein. "Ich stand ja nur an mein Bike gelehnt", sagt Mik spöttisch. "Schwer zu erahnen, ich weiß." "Ist das wahr?", fragt Toby. "Ja, ist es, aber-" "Dann hast du ihnen bestimmt auch nicht erzählst, wie du mich vor ein paar Tagen hast laufen lassen, oder? Erinnerst du dich an den Markt? Du warst auch da, großer." "Abby? Du sagtest, er hätte dich fast umgefahren." "Er hat gesagt, dass er-" Ich breche ab. Ich weiß, wie unglaubwürdig meine Ausrede klingen wird. "Was? Dass ich gezwungen werde, mitzumachen? Dass ich Angst habe? Dass meine böse Schwester mich bestrafen wird, sollte ich etwas vermasseln?", fragt Mik lachend und reibt sich die Augen, so als hätte er einige Tränen vergossen. "Junge, Junge, Naivität ist keine Tugend, auf die man stolz sein sollte, Abby." Ich kann das Gelächter der Biker kaum noch ertragen. Tränen steigen mir in die Augen und Sku lässt einfach nicht von meinem Bein ab. Sie brummt und knurrt und kratzt, bis ich schließlich rot sehe. "Was willst du, verdammt nochmal?!", schreie ich und trete sie von meinem Bein weg. Sku wird von meinem Fuß getroffen und rollt einen Meter über den Weg, dann springt sie auf und schaut mich entsetzt und anklagend an. "Oh Gott…", flüstere ich. "Sku, es tut mir leid, das wollte ich nicht!" Aber Sku faucht mich an, schießt davon und verschwindet zwischen den Bäumen. "Ohhh, wie kannst du nur, Abby? Dein treues Pokémon treten? Wie tief kann man sinken." Mik grinst und streichelt Riolus Kopf. "Lass mich in Ruhe!", schreie ich ihn an. "Warum erzählst du ihnen nicht noch von unserer Begegnung im Wald, dann haben wir alles abgehandelt!" "Fuck, Abby." Toby macht einen Schritt von mir weg. "Was hast du getan?" "Die Begegnung im Wald… Lass mal sehen." Mik schaut mich nachdenklich an. "Ich habe mich für deine Kooperation bei der Flucht bedankt und du hast mir verraten, dass eure stolze Gruppierung unseren Hinterhalt vereiteln will." "Nein…" Ich starre ihn an. "Ich habe dir gar nichts verraten! Wenn du das gewusst hättest, hättest du Vorkehrungen getroffen!" Mik lächelt. "Das habe ich." Im nächsten Moment höre ich hinter mir das Geräusch mehrerer Pokébälle, die sich öffnen. Langsam drehen wir uns um. Drei weitere Biker stehen mit verschränkten Armen hinter uns, vor ihnen ein Magmar, dessen glühender Körper den Boden verkohlt, ein Nockchan und ein Rasaff. "Oh Fuck." Toby schaut von den dreien zurück zu mir, sein Gesicht wutverzerrt. "Das ist alles deine Schuld! Warum hast dich von diesem Typen einlullen lassen! Dachtest du, er kommt uns zu Hilfe wie ein Ritter in strahlender Rüstung? Was hast du dir dabei gedacht!" "Ich habe ihm nichts erzählt!", schreie ich zurück. "Das ist genau sein Plan, er will, dass wir streiten, damit er leichteres Spiel hat." "Das sagt sich jetzt leicht, was? Ich kann nicht glauben, dass Wiesel dir vertraut hat, dass wir alle dir vertraut haben, Gott…" "Wir müssen kämpfen", sagt Ginger leise. "Alles andere kann warten." "Der Rotschopf hat Recht", sagt Mik. "Meine Schwester lässt sich übrigens empfehlen. Sie hielt es nicht für notwendig, ihre neuen Felgen schmutzig zu machen." Ich beiße mir auf die Lippen und schiele in Richtung der Bäume, in denen Sku verschwunden ist. Sie ist das einzige Pokémon in meinem Team, das mit den Bikern mithalten kann und ich habe sie weggetreten. Sie wollte mich nur warnen. Während wir anderen mit Diskutieren beschäftigt waren, hat sie die Gefahr hinter uns gewittert. Schon vor einer halbe Stunde hat sie mich darauf aufmerksam machen wollen und ich hatte nichts besseres zu tun, als sie zu ignorieren. Wütend auf Mik und auf mich selbst ziehe ich Hunters Pokéball. Er ist immer noch stärker als Gott und sein Flugtyp wird mir gegen die beiden Kampfpokémon zu Gute kommen. Aber ich glaube nicht, dass er lange durchhalten wird. Ich rufe seinen Namen und er schießt aus meinem Pokéball. Während das rote Licht mich noch blendet, fällt mir ein, was Wiesel gesagt hat. Vivi und Paul stehen am Stadteingang Wache. Sie mussten die drei Biker bemerkt haben. Es sei denn… Toby ruft sein eigenes Pokémon, ein Guardevoir, das herablassend auf die anderen Trainer herab sieht. Gingers Pokémon, ein stattliches und ziemlich langweilig aussehendes Muschas, landet klappernd vor ihren Füßen. "Erasmus!", schreie ich hinter mich. "Ruf Verstärkung!" "Halt die Klappe, Abby, du hast gar nichts mehr zu sagen", zischt Toby mich an. "Jetzt halt mal die Luft an, ich will nur heil hier raus, also können wir uns die Standpauke für später aufheben? Hunter, Aero-Ass auf Rasaff!" Während Hunter schon in die Höhe schießt, startet eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse aus Attacken, Pokémonnamen und dem Zischen, Stampfen und Schlagen von angreifenden Pokémon. Hunter prescht auf Rasaff hinunter und trifft ihn mit voller Kraft, Rasaff weicht einen Schritt zurück, ist aber nicht so schwer verletzt wie ich gehofft habe und kontert mit einem Karateschlag, der Hunter im Genick trifft und zu Boden reißt. Guardevoir hebt die schmalen Arme zu einer Konfusion, die Nockchan in die Höhe hebt und wie verrückt zittern lässt, während Muschas auf Magmar zuschießt und dem Feuerpokémon mit seiner Kalkklinge einen tiefen Schnitt zufügt. Hinter mir höre ich intensive Kampfgeräusche und drehe mich nur einmal flüchtig um. Erasmus kämpft mit drei Pokémon gleichzeitig gegen die drei Biker und tippt eine Nachricht in sein Handy. Immerhin einer kann noch logische Entscheidungen treffen, ohne meinen "Verrat" in die Quere kommen zu lassen. Was die Verstärkung angeht, gibt es jedoch nur zwei Möglichkeiten. Entweder die später eintreffenden Qs haben die drei zusätzlichen Biker für die ursprünglichen Biker gehalten und durchgelassen, was bedeutet, dass sie in den nächsten zwanzig Minuten hier sein sollten, wenn sie sich beeilen, oder die Biker haben sie bereits ausgeschaltet, bevor sie her gekommen sind. Keine der beiden Varianten ist besonders hilfreich, nicht mit einem Verhältnis von 3:2 und meinem fehlenden Powerhouse. "Sku, komm zurück!", schreie ich, bevor ich Hunter den Befehl für sein nächstes Aero-Ass gebe. Er kämpft sich hoch, aber Rasaff schlägt ihn mit einem weiteren Karatehieb zu Boden und Hunter bleibt reglos liegen. Ich rufe ihn zurück, stattdessen muss Gott jetzt zeigen, was er drauf hat. Magmars Funkenflug trifft inzwischen Guardevoir, die sich davon wenig beeindruckt zeigt und Nockchan mit einer weiter Konfusion beschäftigt, damit Gingers Muschas seine Kalklinge ungestört gegen Magmar benutzen kann. Gott plustert sich auf und sein Flammenrad trifft Rasaff, doch das schüttelt sich lediglich und macht dann einen bedrohlichen Schritt nach vorne. "Weich seinem Karateschlage aus!", rufe ich ihm zu und Gott sprintet zur Seite, doch Rasaffs Fingerspitzen treffen ihn und er wird zu Boden geschleudert. "Sku, bitte!", rufe ich. Keine Antwort. Ich drehe mich noch einmal um. Es sieht nicht gut aus. Erasmus´ hat nur noch ein kampffähiges Pokémon, sein Bisaknosp. Es hinkt, seine Ranken schlenkern müde durch die Luft und ihm gegenüber stehen ein Vulpix, ein Alpollo und Miks Riolu, auch wenn es ebenfalls ziemlich angeschlagen aussieht. Die drei Neutrainer haben sich an den Rand des Waldweges zurückgezogen und sitzen verängstigt und überfordert auf dem Boden. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Ihr erster Tag als Trainer und schon sind sie Zeuge eines ausgewachsenen Sechs vs. Vier Kampfes. Schließlich löst Nockchan sich aus Guardevoirs Konfusion und trifft es mit einem gewaltigen Patronenhieb, der es, gemeinsam mit Magmars Feuerschlag, ausschaltet. Toby knurrt und ruft sein Meganie, das Guardevoir mit einem Blättertanz rächt, der Nockchan durch die Luft wirbelt und besiegt. Es wird ersetzt durch Sleima. Gott greift Rasaff ein zweites Mal mit seinem Flammenrad an und dieses Mal trifft er Rasaff mitten im Gesicht. Rasaff gibt ein schmerzverzerrtes Grunzen von sich und sinkt dann blind zu Boden. Gotts Ruckzuckhieb erledigt den Rest. Der Biker lacht und ruft als nächstes ein bissiges, aggressives Fukano, das sich augenblicklich mit einem Feuerzahn auf Meganie stürzt. Muschas hat in der Zwischenzeit Magmar erledigt, das jetzt durch ein Smogon ersetzt wird. Egal, wie lange wir kämpfen, es nimmt einfach kein Ende! "Gott, Ruckzuckhieb auf Sleima!", rufe ich ihm zu. Zwei Giftpokémon und ein Feuerpokémon, die Chancen für Meganie sind gleich Null, wenn wir nicht bald etwas unternehmen. Gott rammt Sleima, allerdings erst nachdem es Meganie mit einer Matschbombe angreift, während Smogon es gleichzeitig von der anderen Seite mit seinem Schlammbad attackiert. Gegen drei sehr effektive Attacken hat Meganie keine Chance, es knickt ein und muss zurückgerufen werden. Während Gott versucht, das Sleima auszuschalten, kümmert Muschas sich um Fukano und ich habe einen Moment Zeit, zu Toby zu schauen. Als er meinen Blick bemerkt, schaut er mich grimmig an. Und ängstlich. Niemand hier hat schon sechs Pokémon und es würde mich nicht wundern, wenn Gingers Muschas sogar ihr einziges wäre. Toby hat in jedem Fall keine Pokémon über Level 30 mehr, und die brauchen wir, wenn wir noch mit Mik und den anderen fertig werden wollen. Toby ruft ein drittes Pokémon, ein… Karpador. "Nicht echt, oder?", frage ich perplex. Er schaut mich wütend an. "Ich wollte es hier hoch leveln, damit es zu einem Garados wird, aber dank dir habe ich keine Gelegenheit mehr dazu!" "Du hattest genug Gelegenheit während der Tage, die wir hier waren!", fahre ich ihn an. Ich war vielleicht naiv, Mik zu vertrauen, aber ich bin nicht an allem Schuld, das schief gegangen ist. Karpador übersteht nicht lange. Tatsächlich ist sein Erschienen der Beginn des Endes. Muschas wird von den vereinten Kräften von Sleima und Smogon besiegt, Gott und Fukano liefern sich einen kurzen, aber intensiven Kampf mit ihren Zähnen, aus dem Fukano siegreich hervor geht und bereits eine Minute nach seinem Erscheinen wird Karpador von drei gegnerischen Pokémon gleichzeitig attackiert. Ich werfe einen letzten Blick in die Büsche, um Sku zu finden. Sie würde jetzt zwar auch nichts mehr ändern können, aber ich fühle mich fürchterlich im Stich gelassen, auch wenn ich es war, die sie getreten hat. Ihre rote Augen beobachten mich aus dem Gebüsch. Ich möchte sie anschreien, mich entschuldigen und weinen, alles gleichzeitig, aber ich bleibe still. Warte darauf, dass Sku mir vergibt und mir zu Hilfe kommt, aber sie bleibt in den Schatten verborgen. Ich suche in ihrem Gesicht nach einer Nachricht, ob sie mich verlassen wird. Sicher hält unsere Freundschaft mehr Stand? "Ich sehe, ihr seid fertig", sagt Mik süffisant. Wir drehen uns zu ihm um. Die beiden anderen Biker halten Erasmus an den Oberarmen fest. Als er versucht, sich loszureißen, schlägt einer der beiden ihm mit seinem Helm gegen den Kopf. Erasmus sackt tonlos in sich zusammen und die beiden schleifen ihn zu Mik, der sich den Kindern zuwendet. "Ihr könnt gehen." Die drei schauen ihn fassungslos an. "Na los, bevor ich meine Meinung ändere. Ihr wart von Anfang an nur ein Köder. Was will ich mit euren nicht vorhandenen Items und unterlevelten Pokémon? Husch, husch." Die Kinder rennen los und drehen sich nicht mal mehr um. Es ist wahrscheinlich zu viel verlangt, zu hoffen, dass sie Hilfe holen werden. Die Biker nehmen uns in einen Polizeigriff, der unsere Arme so hinter unserem Rücken verschränkt, dass wir nicht ohne unsere Schulter auszukugeln entkommen können, Toby wehrt sich mit Tränen in den Augen und scheint dieses Opfer durchaus in Erwägung zu ziehen. Er schreit, als sein Bewacher den Griff verstärkt. "Ihr habt euch gut geschlagen", sagt Mik und krault seinem Riolu den Kopf. "Dafür möchte ich euch belohnen. Ihr fragt euch sicher, warum die Verstärkung nicht gekommen ist, die euer lieber Freund hier so verzweifelt angefordert hat. Ich kann es euch sagen. Sie war nie da." "Ihr habt sie ausgeschaltet", zische ich. "Bevor ihr uns von hinten überrumpelt habt." "Das hätten wir getan, Abby, wäre Verstärkung dort stationiert gewesen. Aber das war sie nicht." "Was willst du andeuten?" Toby spuckt auf den Boden. "Dass sie abgehauen sind?" "Nein." Mik lächelt. "Sie waren ganz einfach nie stationiert." Er krault weiter Riolus Kopf. "Wisst ihr, meine Schwester und ich leiten die Biker in dieser Stadt als Team. Wir werden von einem Mann namens Craig unterstützt, mit dem ihr euch besser nicht anlegen solltet, nur nebenbei bemerkt. Sie ist eine hervorragende Trainerin. Sie ist außerdem nicht hier. Wisst ihr, wer noch nicht hier ist?" Ginger zieht scharf die Luft ein, dann greift sie nach ihrem Handy, so unauffällig, dass es mir fast nicht auffällt. Ihr Daumen ist über den Tasten in der Schwebe. "Wer?", fragt Toby, seine Stimme dünn. Mik sieht jedem von uns in die Augen, bevor er grinsend fortfährt. "Wusstet ihr, dass meine Schwester ein Bojelin besitzt? Sie ist ganz vernarrt in das kleine Ding. Seine Art ist eine ziemlich ausgefallene, wie heißt sie noch gleich…ach ja. Meereswiesel." Skus Augen leuchten auf. Ein kleiner Piepton kündigt von einer gesendeten Nachricht. Ein heftiger Schlag auf meinen Hinterkopf zieht mich nach unten. Halb bei Bewusstsein hänge ich nur noch im Griff des Bikers. "Bringt sie ins Hauptquartier." Der zweite Schlag erzielt seine Wirkung. Kapitel 50: Craig (Zwei Titanen) -------------------------------- Aus der Bewusstlosigkeit zu erwachen ist nie schön – und ich spreche aus Erfahrung. Mein Kinn ist auf meine Brust gesackt und ich kann meine Augen kaum fokussieren, mein Schädel dröhnt und alles fühlt sich lose und abgeschnitten an. Als Arbok mich erdrückt hat, hatte ich danach immerhin keine höllischen Kopfschmerzen. Ich lecke über meine trockenen Lippen und schließe meine Augen, um mich einen Moment länger zu erholen. Meine Ohren sind ohnehin in besserem Zustand. Ich höre Stimmen, abgedämpft durch eine Wand oder Tür. Das Scharren von Füßen über Boden. Das Stöhnen meiner Team Mitglieder. Immer noch mit geschlossenen Armen teste ich meine Hand- und Fußgelenke, doch beide sind gefesselt. An die Wand gelehnt lasse ich vorsichtig meinen Kopf nach hinten sacken, was eine Reihe neuer Schmerzen und Farbflecken vor meinen geschlossenen Augen auslöst und ich ziehe scharf die Luft ein. Es dauert eine Weile, bevor ich mich genug unter Kontrolle habe, mein rechtes Auge einen Spalt zu öffnen. Doppelte Bilder kreisen in meinem Sichtfeld und ich warte, bis sie sich überlagern und ich schließlich den dunklen Raum besser ausmachen kann. Es scheint ein Lagerraum zu sein, voller Kisten und Fässer, die in den Ecken und an den Wänden stehen und einem kalten Steinboden, über den meine Fingerspitzen gleiten. Das einzige Fenster ist an der gegenüberliegende Seite und so weit oben, dass ich es nur mithilfe der Kisten erreichen könnte, aber zum Durchklettern ist es ohnehin zu klein. Nicht mal Ginger würde da durchpassen. Wieder halbwegs im Besitz meiner Sehfähigkeiten drehe ich vorsichtig meinen Kopf nach rechts. Das Pochen wird stärker und ich zucke zusammen, aber da muss ich jetzt durch. Toby sitzt neben mir, weiterhin bewusstlos und mit einem dunklen Fleck an seinem Kopf, wo sein Haar blutverklebt ist. Ginger ist halb auf den Boden gerutscht. Der einzige, der wach scheint, ist Erasmus, seine Augen sind halb geöffnet und als ich in seine Richtung schaue, nickt er mir schwach zu. Gefangen sein ist inzwischen meine Spezialität. Ich taste mit meinen zusammengeklebten Händen nach meinem Trainergürtel, entdecke aber schnell, dass sowohl meiner als auch der der anderen weggenommen wurde. Wut macht sich in mir breit. Wenn diese Biker Gott oder Hunter etwas angetan haben, werde ich ihnen das nicht verzeihen. Ein Scharren über mir erweckt meine Aufmerksamkeit und ich hebe den Kopf. Mein Herz macht einen Satz. „Sku“, flüstere ich, während mit Tränen in die Augen steigen. Sku sitzt vor dem kleinen Fenster und schaut zu uns herab, ihre roten Augen krank vor Sorge. „Du hast mich gefunden“, murmele ich, fassungslos. Sie muss geahnt haben, dass wir auch mit ihrer Hilfe keine Chance haben und ist uns deshalb nicht zu Hilfe gekommen und stattdessen nach unserer Gefangennahme gefolgt. Ich weiß nicht, was sie jetzt ausrichten kann, aber ihr Anblick gibt mir neuen Mut. „Hey“, flüstere ich in Richtung Erasmus. Er hebt den Kopf. Seine Augen wandern ziellos hin und her. „Versuch, Ginger aufzuwecken.“ Er schaut mich ratlos an. Ich nicke energisch in Richtung Ginger, was ihm meine Nachricht anscheinend besser zu verstehen gibt, dann wende ich mich an meinen Sitznachbar. „Toby. Toby, wach auf.“ „Hmmm…?“ „Toby“, zische ich und lasse mich zur Seite kippen, bis ich Toby mit meiner Schulter ramme. Er stöhnt und dreht den Kopf. Zufrieden, ihn zumindest geweckt zu haben, schaukele ich mich zurück in Ausgangposition. Erasmus folgt unterdessen ein wenig unbeholfen meinem Beispiel und bemüht sich, Ginger mit seinen zusammengeklebten Füßen zu treffen, vorerst erfolglos. Ich überlasse ihn seiner Aufgabe und rutsche weiter nach links, Richtung Tür. Die Stimmen von draußen sind hörbar, aber ich kann kein Wort verstehen. Wenn ich es schaffe, sie zu belauschen, könnte mir das nützliche Hinweise geben, zumindest, falls ich hier wieder raus komme. Sku weiß, wo ich bin, denke ich. Sie wird Hilfe holen. Ein Blick zum Fenster bestätigt meine Vermutung. Sie ist verschwunden. Jetzt heißt es warten und so viel herausfinden, wie nur möglich. Holly und Rockey werden sich über jede neue Information freuen. „Abby?“ Ich drehe meinen Kopf. Toby schaut mich benommen an. „Was… was machst du da?“ „Ich will das Gespräch belauschen“, sage ich leise. „Sku ist unterwegs, um Hilfe zu holen. Bis sie zurückkommt, will ich wissen, was hier vor sich geht.“ „Warum bemühst du dich?“ Er schließt mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen. „Du hast uns doch… verraten.“ „Sie hat uns nicht verraten.“ Ich schaue überrascht zu Erasmus, der halb auf dem Boden liegt, um Ginger zu erreichen. „Woher willst du das wissen?“, fragt Toby. „Sie hätte jede von Miks Behauptungen von Anfang an abstreiten können, aber das hat sie nicht“, sagt er mit matter Stimme. „Erst gegen die Letzte hat sie sich gewehrt. Wenn sie alles abgestritten hätte, hätten wir ihr eher geglaubt als einem Biker, oder nicht? Das heißt, dass sie sich keiner direkten Schuld bewusst war.“ Sein Fuß erreicht Ginger und stupst gegen ihren Oberschenkel, bis sie stöhnt und eins ihrer Augen öffnet. „Außerdem würde sie nicht ihr Leben für ein fremdes Pokémon riskieren, wenn sie ihre Freunde verrät.“ Toby schweigt. Dann schaut er zu mir. „Ist das wahr?“ „Als ich Mik das erste Mal getroffen habe, war er wie ein anderer Mensch“, sage ich leise. „Ich habe erst Zweifel an seiner Geschichte bekommen, als ich ihn auf der Route belauscht habe. Aber ich habe ihm nie von unserem Hinterhalt erzählt, das schwöre ich!“ „Was ist mit Wiesel?“, fragt Ginger, die sich an der Wand hoch geschoben hat, um aufrecht sitzen zu können. „Wenn sie von Anfang an die Anführerin der Biker war…“ „Ich vertraue Wiesel“, sagt Erasmus schlicht. „Aber Ginger hat Recht“, sage ich. „Die Verstärkung ist nicht gekommen, sie hat uns nie ihren richtigen Namen gesagt und sie ist nicht mit auf die Mission gekommen. Es ist verdächtig.“ Erasmus schüttelt den Kopf. „Habt ihr nichts gelernt? Mik ist ein Schauspieler. Er verschleiert seine Lügen in der Wahrheit, damit sie eher geglaubt werden. Er hat seine Treffen mit Abby mit nur einer einzigen Lüge versetzt und weil sie den Rest nicht abgestritten hat, habt ihr ihm geglaubt. So hat er uns gegeneinander ausgespielt. Dasselbe gilt für Wiesel. Wenn sie wirklich ein Biker wäre, warum würde er uns davon berichten? Er wollte, dass wir sie verdächtigen, um Team RES-Q von Innen auszuschalten.“ „Wie sicher bist du?“, fragt Ginger mit zittriger Stimme. „Ich kann es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Es ist möglich, dass Mik angeben wollte und Wiesel wirklich seine Schwester Alina ist. Aber es kann genauso gut sein, dass er uns austricksen wollte. Solange die anderen nicht von dem Verrat erfahren, sollten sie in der Lage sein, uns bald ausfindig zu machen und zu befreien. Wenn Abbys Skuntank sie nicht schon herführt.“ Ginger ist während seiner Worte weiß geworden und ich erinnere mich düster an das Handy in ihrer Hand. „Du hast sie schon gewarnt, oder?“, frage ich sie. Ginger zuckt zusammen, dann nickt sie. „Ich habe Vivienne eine SMS geschrieben.“ Erasmus lehnt den Kopf an die Wand und schließt die Augen. „Das verkompliziert die Sache.“ „Was tun wir jetzt?“, fragt Toby. „Warten“, sage ich. „Warten und lauschen.“ Ich rutsche weiter Richtung Tür und lege mein Ohr an das Holz. Es dauert eine Weile, bis ich die Geräusche identifizieren und ordnen kann. Füße, die über den Boden scharren, Gelächter, leise Gespräche. Ich schließe meine Augen, konzentriere mich nur auf mein Gehör. Erasmus und die anderen unterhalten sich leise, verstummen allerdings nach einigen Minuten. „-mit ihnen machen?“ „Festhalten, für´s Erste. Craig fragen.“ „Wann kommt er?“ „Wollte irgendwann heute Nachmittag eintreffen und nach den Fortschritten fragen.“ „Hoffentlich macht er uns dieses Mal nicht so runter. Gruselig der Typ. Mik ist nichts dagegen.“ Ihre Stimmen entfernen sich. Ich lecke mir über die Lippen, die Augen immer noch geschlossen. Schon wieder dieser Craig. Mik hat ihn schon bei dem Überfall erwähnt. Craig unterstützt die Biker. Ein Bewohner Teak Citys, vielleicht? Oder ist er das Bindeglied zwischen ihnen und Team Rocket? Gefährlich. Gruselig. Ein hochrangiges Mitglied also. Wahrscheinlich 1. Rang. Mindestens 2. Ich stelle mir jemanden wie Teal vor, der heute Nachmittag hier auftaucht und es läuft mir kalt den Rücken runter. Teals Stärke gepaart mit Mels Charakter, das muss ich mir wohl unter diesem Craig vorstellen. Kein beruhigender Gedanke. Selbst, wenn Sku Hilfe holt, müsste es schon eine sehr kompetente Hilfe sein. Und wen kann sie schon holen? Die Polizei steht außer Frage und hat ohnehin nicht die Leute oder Zeit, sich darum zu kümmern. Raphael. Raphael würde jeden von ihnen fertig machen. Aber natürlich hat Sku keine Möglichkeit an Raphael zu kommen, selbst wenn sie sich an ein Telefon hängt und durch Zufall die richtige Nummer erwischt. Ich muss lächeln. Allein der Gedanke an Sku beruhigt mich. „Hey, Al!“ Ich horche auf. Also ist Alina hier. Dass muss bedeuten, dass sie nicht Wiesel ist. Es sei denn, sie ist geflohen, bevor die anderen RES-Qs sie gefangen nehmen konnten. „Wir haben die vier Kids hier. Ihre Pokémon sind da drüben in der Kiste bei der restlichen Beute.“ Eine leise, gemurmelte Antwort. Ich kann Alinas Stimme nicht verstehen. Schweißtropfen laufen über meine Wange. Ist es Wiesel? Warum redet sie nicht lauter, verdammt? „Was sollen wir mit ihnen machen?“ „…“ „Zwei Mädels, zwei Jungs. Sehen eher arm aus.“ „…“ „Die von Mik ist auch dabei.“ Die von Mik… die haben sie ja wohl nicht mehr alle. Wütend presse ich mein Ohr fester gegen die Tür – bevor sie sich geradewegs in mein Gesicht öffnet. Ich werde umgeworfen, schlage mit meinem Hinterkopf schmerzlich auf dem Steinboden auf und kann nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Genau auf die Stelle, an der man mich bewusstlos geschlagen hat. Also ich den Kopf hebe, steht eine Person im Türrahmen. Fackellicht beleuchtet sie spärlich von hinten und so glaube ich für einen Moment, Wiesel vor mir stehen zu haben. Doch dann legt Alina den Kopf schief und zieht an einer rot glimmenden Zigarette, die ihre scharfen Gesichtszüge zeigt und das Ringpiercing in ihrer Nase aufleuchten lässt. Kurzes, hellrotes Haar bedeckt ihren Kopf, nur zwei Strähnen vor ihren Ohren hat sie bis zu ihrem Kinn auswachsen lassen. Sie deutet auf mich und der Biker hinter ihr nickt. „Das ist sie.“ Alina packt meinen T-Shirt-Kragen und zieht mich mühelos hoch, die Muskeln ihrer Arme wölben sich im flackernden Feuerschien. Ohne viel Anstrengung zieht sie mich aus dem kleinen Lagerraum und schubst mich auf einen Stuhl, der in der Mitte des Raumes steht und von einem der Biker festgehalten wird. Kaum plumpse ich auf den Sitz, legt er ein Seil um meinen Hals und zieht es nach hinten, bis mir das Atmen schwerfällt, dann hält er es ruhig. Meine Augen sind an die Decke gerichtet. „Abbygail, nicht wahr?“ Ihre Stimme ist kalt. Abwesend. „Du bist reichlich unbeliebt, das muss ich dir lassen. Wir haben Warnung erhalten, dass jemand mit deiner Beschreibung möglicherweise auftauchen würde und hier bist du. Meinen Bruder hast du schon kennen gelernt, nicht wahr? Er hat dich sofort erkannt. Er hat deine Identität überprüft und danach alles in die Wege geleitet, um dich mit Profit aufzugreifen. Unsere Unterstützer haben ein Preisgeld auf dich ausgesetzt. Lebendig oder tot, aber wir erhalten die doppelte Belohnung, wenn du lebst. Jemand dort scheint dich nicht zu mögen.“ „Mel“, hauche ich. „Es interessiert mich nicht, wer dich tot sehen will oder warum“, fährt Alina fort. „Ich will nur die Bezahlung. Craig wird dich heute Abend mitnehmen.“ „Woher wusstet ihr… dass wir… euren Plan kennen?“, bringe ich hervor. Meine Kehle wird durch das Seil zusammen gedrückt und ich bekomme kaum genug Luft zum Reden. „Oh, bitte.“ Alina lacht humorlos. „Denkst du, wir merken es nicht, wenn jemand sich in unser Informationsnetzwerk schleicht? Wir haben lediglich dafür gesorgt, dass ihr von dem Hinterhalt erfahrt, mehr nicht. Eure kleine Crew war naiv, zu glauben, sich mit uns anlegen zu können. Nicht so naiv wie du, natürlich. Mik hat eure Gespräche jeden Abend zum Besten gegeben. Wir haben uns alle köstlich amüsiert.“ Mir steigt die Röte ins Gesicht, als ich das heisere, abfällige Lachen der Biker aus allen Richtungen höre. „Bring sie zurück zu den anderen. Craig wird sie abholen.“ Das Seil an meinem Hals wird in die Höhe gezogen, ich stehe unbeholfen auf und strauchele, bevor der Biker mich grob an der Schulter packt und zu dem Lagerraum schiebt, das Seil weiterhin fest um meine Kehle gezogen. Als er die Tür öffnet, steht Toby bereit, ihn zu rammen, nur dass ich zwischen den Beiden stehe. Der Biker löst das Seil und schubst mich gegen Toby und gemeinsam fallen wir zu Boden. Die Tür schlägt mit einem Knall zu. „Diese verdammten Mistkerle!“, schimpft Toby, während ich mich von ihm herunterrolle. „Habt ihr zugehört?“, frage ich missmutig. Toby nickt. „Damit sind sowohl du als auch Wiesel entlastet“, sagt er. „Aber wir haben keine Möglichkeit, den anderen Qs Beschied zu geben. Die haben unsere Handys.“ „Sku wird schon einen Weg finden, uns hier rauszuholen“, sage ich. Hoffentlich. „Sie hat nicht mehr lange Zeit“, sagt Ginger leise. „Wir waren lange bewusstlos.“ Erasmus nickt. „Die Schatten fallen schräg.“ „Warum hat Wiesel dich eigentlich als rechte Hand ausgewählt?“, frage ich nach einer Weile. Erasmus lächelt flüchtig. „Meine kombinatorischen Fähigkeiten haben sie beeindruckt.“ Ich lasse die vergangenen Tage Revue passieren. Es war fast immer Erasmus der die entscheidenden Schlüsse gezogen hat.   Nachdem klar ist, dass wir keine Fluchtmöglichkeit besitzen, heißt es warten. Bei dem Gedanken, dass Sku vielleicht nicht rechtzeitig herkommt oder dass die Hilfe, wer immer sie ist, nicht stark genug sein wird, dreht sich mir der Magen um. Ich kann mir denken, warum Mel mich lebendig haben will. Und ich bin nicht scharf auf irgendetwas, das ihrem kranken Kopf als Racheakt entsprungen ist. Craig kommt, als es dunkel wird. Das erste, was wir von seiner Ankunft mitkriegen, ist eine knarzende, sich öffnende Tür oder Dachluke im Hauptraum, nervöses Gewisper und schließlich perfekte Stille, als schwere Schritte durch das ganze Hauptquartier hallen. Dann beginnen die Verhandlungen und seine Stimme durchdringt jede Tür und jede Wand. Zunächst geht es um Pokémon und Items, die gestohlen wurden und ich denke mit einem flauen Gefühl daran, dass Gott und Hunter ebenfalls unter diese Beutestücke fallen. Egal, was passiert, ich werde die Beiden zurückbekommen. Die Bezahlung wird ausgehandelt und schließlich wechselt das Gesprächsthema. „Das Mädchen?“, fragt Craig. „Sie ist mit drei anderen im Lager.“ „Lebend?“ „Natürlich.“ Stuhlbeine, die über den Boden ratschen. Schritte. Die schwere Holztür öffnet sich und der Name Craig erhält ein Gesicht. Er ist ein Titan, mindestens zwei Meter, breitschultrig, muskelbepackt, mit Sonnenbrille trotz des schummrigen Lichts, hellen Bartstoppeln und einem kurzen blonden Zopf. Als sein Blick auf mich fällt, nickt er zufrieden. „Das ist sie. Steh auf.“ Für einen Moment will ich sitzen bleiben. Einfach nicht mitkommen. Soll er mich doch raustragen. Doch dann fällt mein Blick auf das Pokémon, das neben Craig in den Türeingang tritt. Es als herkömmliches Panferno zu bezeichnen, trifft es nicht ganz. Seine Augen glühen mit etwas, das ich  als spärlich unterdrückte Mordlust identifiziere, seine Arme und Beine sind ungewöhnlich muskulös und definiert und als es seine Fäuste gegeneinander schlägt, sieht es so aus, als suche es nur nach einer Ausrede, jemanden zu Brei zu schlagen. Ohne ein Wort kämpfe ich mich hoch und folge Craig nach draußen. „Was passiert mit den anderen?“, frage ich Alina, die mit den Schultern zuckt und sich an Craig wendet. „Was sollen wir mit dem Pack unternehmen? Wo die herkommen, gibt es mehr.“ Panferno keift und schlägt mit seiner Faust auf den Fußboden. Als seine Pranke sich wieder löst, bröckeln kleine Steinsplitter von seinen Knöcheln. Ich schlucke. „Sind sie gefährlich für das Geschäft?“ „Nein, nur nervig.“ „Dann lass sie. Wir wollen nicht die Aufmerksamkeit der Bullen erregen. Sorg nur dafür, dass die drei verschwinden. Sie könnten den Ort wiedererkennen.“ „Wie du willst, Craig.“ „Wartet“, sage ich, panisch. „Ihr könnt sie nicht umbringen!“ Panfernos Faust trifft mich in meinen Magen und ich klappe stöhnend zusammen. Ich würge, hätte mich übergeben, wenn ich irgendetwas im Magen gehabt hätte. Craig greift in meine Haare und zieht mich hoch. Mein Schrei muss bis auf die Straße zu hören sein. In diesem Moment geschehen drei Dinge. Die Dachluke wird aufgetreten, ein 150kg schweres Walraisa fällt in den Kellerraum und Sku schießt die Treppe hinunter und springt Craig mit ausgefahrenen Krallen ins Gesicht. Craig packt sie im Nacken und reißt sie von seinem Gesicht und schleudert sie weg, aber ich sehe mit großer Genugtun, dass tiefe, rote Striemen seine Haut bedecken und Sku sich schon wieder aufgerappelt hat. Sie sprintet an Panferno vorbei, das schreiend nach ihr schlägt, und rettet sich auf meine Schulter. „Ich bin so froh, dass du hier bist“, sage ich und reibe meine Wange gegen ihren Kopf. Dann gehe ich am Rand des Raumes in Deckung. Walraisa robbt vorwärts und schaut nach oben. Ich folge seinem Blick, während Sku sich an meinen Fesseln zu schaffen macht. Lange, entblößte Beine tauchen auf der Treppe auf, gefolgt von kurzen Shorts und schließlich dem Rest von Chris, die mit zwei Pokébällen pro Hand auf den mittleren Stufen stehen bleibt und aussieht wie der Racheengel höchstpersönlich. Rote Lichtstrahlen schießen aus all ihren Pokébällen und im nächsten Moment ist der Kellerraum gefüllt mit Pokémon. Ein Pikachu, das einen kleinen, goldgelben Orb um den Hals trägt, sitzt auf ihrer Schulter, eine Pfote an ihren Kopf gelehnt, die andere wie ein Commander vor sich gestreckt. Nachtaras gelbe Ringe leuchten in den Schatten, als es elegant auf eine der Kisten springt und sein Fell zu doppelter Größe aufplustert. Gewaldro und Knakrack nehmen zu beiden Seiten von Walraisa Stellung, die Münder zu angsteinflößendem Fauchen aufgerissen, die jeweiligen klingenbesetzen Arme wie Schwerter vor ihren Körpern gekreuzt. Einen Moment lang herrscht gebannte Stille, dann entartet der Keller in Chaos. Die Biker rufen jedes ihrer verfügbaren Pokémon und greifen Chris´ Pokémon gleichzeitig an. Schlammbäder und Funkenflüge gehen auf Gewaldro nieder, das jede der Attacken mit fast belustigtem Ausdruck abfängt, bevor es einen Scanner heraufbeschwört und sich dahinter vor den Angriffen schützt. Pikachu beschwört einen Lichtschild, der Chris´ gesamtes Team einhüllt und den speziellen Schaden halbiert, dann attackieren Walraisa und Knakrack gleichzeitig, das eine mit einem Blizzard, der alle umstehenden Pokémon erfasst, das andere mit einem Erdbeben, das die steinernen Fliesen aufbrechen, Kisten und Fässer zerbrechen und die Biker und mich zu Boden taumeln lässt. Ich bin froh, dass Sku auf meinen Schultern sitzt, sonst hätte die Attacke sie genauso besiegt wie die anderen Pokémon. Es ist ein Bild wie aus dem Lehrbuch. Alle Sleima, Fukano, Vulpix, ja sogar das Panferno von Craig sind mit einem Schlag KO und die Smogon, die dank ihrer Schwebe immun gegen das Erdbeben sind, werden von dem Blizzard steif gefroren und fallen mit einem Klong zu Boden. Chris ist nicht nur krass drauf. Sie ist ein Titan. Craig zischt und ruft sein nächstes Pokémon, ein Meditalis. „Michael, Alina, zu mir.“ Die beiden rennen zu ihm, ihre eigenen Pokémon sicher in ihren Pokébällen. „Scanner, Meditalis“, sagt Craig, gerade rechtzeitig, bevor Nachtara seine Augen aufreißt und den gesamten Raum mit einem Horrorblick festhält. „Wollt ihr schon gehen?“ Chris macht einen Schritt nach unten. „Ihr habt keine Chance.“ „Ich muss dich nicht besiegen, um an dir vorbeizukommen“, brummt Craig. Dann zieht er seinen dritten Pokéball. Ein Schnurgarst materialisiert sich vor ihm. „Blitz!“ „Nein!“, schreie ich und springe ihm hinterher. Ein gleißend heller Blitz erfüllt den Raum und während ich Chris´ hektischen Befehlen lausche, renne ich blindlinks den Geräuschen nach. Ich meine, einen Arm zu packen, doch die jeweilige Person reist sich los und schubst mich weg. Wenige Sekunden später sind meine Augen wieder sehfähig und ich sitze inmitten von Chris´ Überpokémon, die auf mich herabsehen. Sku sitzt auf meinem Bauch und reibt sich wie besessen an mich. „Tut mir leid“, sagt Chris und schaut wütend hinter sich. „Die drei erwische ich nicht ohne Flugpokémon.“ „Wofür entschuldigst du dich?“, frage ich. „Du hast uns allen das Leben gerettet!“ „Hallo?“, ruft Tobys Stimme aus dem Lagerraum. „Was ist passiert?“ Chris ruft all ihre Pokémon außer ihrem Nachtara zurück, das die fünf Biker weiterhin mit seinem Horrorblick in Schach hält. „Die Polizei ist unterwegs.“ „Danke, Chris. Wirklich. Ich schulde dir was.“ Chris nickt ernst. „Ich komme darauf zurück.“ Ich laufe zu dem Lagerraum und öffne die Tür, dann befreie ich die drei von ihren Fesseln. Während wir anschließend im Hauptraum auf die Polizei warten, erzählt Chris uns, wie Sku sie gefunden hat. „Ich kam gerade von dem Glockenturm zurück, da sprang sie mich vor dem Pokécenter an“, sagt sie. „Ich kannte sie nicht, aber sie ließ nicht locker, bis ich ihr folgte. Sie hat mich zu dem Haus eines sehr zwielichtigen Mannes geführt und ist nicht von der Luke gewichen, also habe ich den Mann gefragt, was dort unten ist. Er war kein besonders guter Lügner, und jemand hat geschrien, also habe ich nachgeschaut.“ „Du bist die beste“, flüstere ich Sku zu und umarme sie so lange, bis sie sich losmacht und zu einer der Kisten läuft. Wir suchen unsere Trainergürtel und Taschen zusammen und werden gerade fertig, als Schritte die Treppen herunter kommen. Ich drehe mich um und entdecke Jack, der mir zuwinkt. „Hab gehört, ihr Kids habt da was auf die Beine gestellt“, sagt er und klingt ein bisschen stolz. Auch er erinnert sich an unser Gespräch vor der Dunkelhöhle. „Wir sind Team RES-Q“, sage ich grinsend. „Mit Verstärkung.“ „Hauptsächlich Verstärkung“, lacht Toby. Danach beginnt die Vernehmung. Aber die bin ich ja inzwischen gewohnt. Kapitel 51: Der Beginn einer Legende (Sturzflug) ------------------------------------------------ Nachdem Jack unsere Aussagen aufgenommen und für Hollys Seelenheil sogar schriftlich notiert hat, werden die fünf Bikermitglieder fest genommen und für weitere Verhöre aufs Revier gebracht. Dank der gestohlenen Beute, die weiterhin in dem Keller verstaut war, besitzt die Polizei genug Beweise, sie hinter Gitter zu bringen und mit dem Verschwinden der Anführer Alina und Michael ist Teak City endlich von der Tyrannei der Biker befreit. Ich kann allerdings das Gefühl nicht loswerden, Al und Mik bald wieder über den Weg laufen zu werden und die Liste meiner Feinde in Team Rockets Kreisen steigt von zwei auf fünf. Team RES-Q, das wie erwartet Gingers SMS ernst und eine sehr geschockte Wiesel in Gewahrsam genommen hat, ist nach unserer Rückkehr sehr erleichtert, nicht von seiner Anführerin hintergangen worden zu sein und die Geschichte unserer Gefangennahme und heldenhaften Befreiung durch die bis dahin als wahnsinnig abgeschriebene Chris füllt viele gemeinsame Abende am Lagerfeuer. Schließlich jedoch müssen die Trainer wieder ihren eigenen Verpflichtungen nachgehen und ohne die Biker oder einen mysteriösen Geist löst Team RES-Q sich auf. Wie von Wiesel geplant bleibt der Kern erhalten, bestehend aus ihr selbst, Olivia, Robin und Kyle, die allesamt aus Teak City stammen und das Erbe unserer kleinen Gemeinschaft aufrecht erhalten wollen, für den Fall, dass eines Tages wieder die Hilfe lokaler Trainer benötigt wird. Ginger und viele andere ziehen weiter, nur die Protrainer, die sich den Phantomorden verdienen wollen, bleiben in Teak City und nutzen die Zeit zum Trainieren. Es vergeht eine weitere Woche, bevor Jens zurückkehrt und als er auftaucht, ist er nicht alleine.   „Einigler, Gott, dann Flammenrad!“, rufe ich ihm eines windigen, aber sonnigen Montagmorgens zu. Das Gras ist feucht und durchnässt den Saum meiner Jeans, aber Gotts Training kann nicht warten. Ich habe ihn und Hunter über die letzte Woche auf Level 24 gebracht und bin sehr zufrieden mit der Art, wie die beiden sich entwickeln. „Jetzt Ruckzuckhieb.“ Meine Finger gleiten über die Wölbung meiner Hosentasche, in der mein Handy verstaut ist. Louis hat gestern angerufen. Seine Großmutter ist friedlich verstorben und die Beerdigung wurde gestern abgehalten. Er wird vier bis fünf Tage brauchen, bis er hier ist. Gott sprintet im Zickzack auf seinen Gegner zu, ein dösig dreinschauendes Damphirplex, das wir etwas weiter südlich der Route 37 grasen gesehen haben. Als es von Gotts Attacke getroffen wird, knicken seine kräftigen Beine ein und es sinkt blökend zur Seite. „Gute Arbeit“, sage ich und halte Gott eine Hand hin, in die er unbeholfen einschlägt. „Auf zum nächsten.“ Ich will ihm gerade weiter auf die Waldwiese folgen, wo er ein Hoothoot im Gras entdeckt hat, da höre ich Stimmen, die sich langsam nähern. Die Paranoia macht sich augenblicklich wieder bemerkbar und ich verstecke mich hastig hinter einem Baum. Dann kommen die beiden Gestalten um die Ecke und ich weiß nicht, ob ich mich zu Recht verstecke oder nicht. Die eine Person scheint Jens zu sein, auch wenn ich ihn nur von Beschreibungen kenne. Blondes, mittellanges Haar wird von einem violetten Stirnband aus seinem Gesicht gehalten und ein genauso  gefärbter Schal ist lose um seinen Hals geschlungen. Ein eng anliegender, schwarzer Pullover betont seinen schlanken Körperbau. Neben ihm läuft, zu meinem Entsetzen, der Trainer aus Viola City. Seine Lederjacke ist offen und er kaut geräuschvoll auf einem Bonbon. Als Jens etwas sagt, lacht er laut. Dann fällt sein Blick auf mich. „Gott, wir gehen.“ Ich laufe über die Wiese, weg von Jens und dem anderen Jungen und an Gott vorbei, der mitten im Kampf mit dem Hoothoot steckt. Er fletscht genervt die Zähne, attackiert ein letztes Mal mit seinem Flammenrad und folgt mir dann in großen Sprüngen. Gemeinsam flüchten wir uns ins Pokécenter, in dem ich nach Team RES-Qs Auflösung viel Zeit verbracht habe, um Gott und Hunter in regelmäßigen Intervallen heilen zu lassen und zu essen. Seit gestern habe ich dort auch mit einigen anderen ehemaligen Qs Zimmer gemietet, denn der Oktober hat sich in Teak City bemerkbar gemacht und bei den nächtlichen Regenfällen in einem Schlafsack unter freiem Himmel zu schlafen, ist nicht die beste Idee. Als wir durch die elektrische Tür stürzen, hebt Joy überrascht den Kopf. Wir waren zuletzt vor einer Stunde hier. „Abby, schon wieder da? Hallo, Gott.“ Gott knurrt leise, bleibt aber ansonsten ruhig, was ich als Zeichen nehme, dass er Joy nicht ganz unsympathisch findet. „Jens ist auf dem Rückweg“, verkünde ich und lasse mich an einen der Tische sinken. Gott rufe ich zurück. „Wurde aber auch Zeit“, sagt Joy nickend. „Zwei Wochen die Arena zu schließen… Naja, man muss auch den Arenaleitern eine Auszeit gönnen.“ „Wer ist eigentlich dieser Freund, mit dem er unterwegs ist?“, frage ich. Wenn jemand die Antwort weiß, dann die gute Schwester Joy. „Wir sind Kindheitsfreunde“, sagt Chris, die in dem Moment die Treppe hinunter kommt. Ihr Haar ist nass und sie trägt trotz der herbstlichen Kälte nur ihre Shorts und ein rotschwarz gestreiftes Top. „Er ist wie ich in Alabastia aufgewachsen.“ „Alabastia?“, frage ich entzückt. „Reds Heimatstadt?“ Chris´ Gesichtsausdruck verfinstert sich. „Eine Stadt in Kanto“, sagt sie stattdessen. „Ziemlich klein, aber sehr beliebt, dank diesem Red.“ „Du klingst nicht beeindruckt“, sage ich. „Warum sollte ich?“ Sie setzt sich zu mir an den Tisch und bestellt zweimal Haferbrei mit Honig. Aus irgendeinem Grund hat sie von meiner Geldnot erfahren und füttert mich seit einer Woche durch. Als ich ablehnen wollte, zeigte sie mir einen ID-Auszug ihres Kontostands. Danach ließ ich sie gewähren. Joy verschwindet in der Küche, lässt aber die Tür offen, um lauschen zu können. „Wegen Red ist aus unserer Stadt eine Touristenmetropole geworden, junge Trainer überfluten Blues Labor, weil sie erwarten, wie Red einfach ein seltenes Pokémon geschenkt zu bekommen. Manche von ihnen kommen nicht einmal aus der Stadt. Sie wollen Red nacheifern und verlieren dabei die wichtigen Dinge aus den Augen.“ Sie stützt ihr Kinn auf seine Hand. „Red ist mit Sicherheit einer der stärksten Trainer, die es je gab, aber es ist seine Schuld, dass der Trainer Hype so außer Kontrolle geraten ist. Jetzt geht es nur noch darum, Champion zu werden.“ „Was ist schlimm daran, Champion werden zu wollen?“, frage ich, ein wenig gereizt. Es ist immerhin Raphaels Traum und auch Louis würde sicher nicht nein sagen. Selbst Ruth, die weit davon entfernt ist, ein Protrainer werden zu dürfen, wünscht sich, an der Championship teilzunehmen. „Der Champion wird als der stärkste Trainer der Region betitelt, oder nicht?“ Ich nicke. „Dann ist es ein leerer Titel. Zu Reds Zeiten mag das wirklich das Ziel gewesen sein, aber inzwischen ist es die reinste Medienparade geworden. Dieser Noah ist nicht der stärkste Trainer der Region. Red ist der stärkste Trainer, sofern er nicht tot ist. Gold ist ebenfalls stärker. Vielleicht ist  Blue auch stärker. Und es gibt eine Menge Trainer, die stärker sind, aber nicht im Rampenlicht stehen oder stehen wollen. Der Titel sagt genauso wenig über die Stärke des Trainers aus wie seine Orden. Er ist ein Mittel zum selbstgefälligen Ruhm, nichts weiter.“ Ich starre sie an. Auf der einen Seite, weil ihre Meinung so abstrus, so anders ist, als die der Allgemeinheit, aber vor allem, weil sie irgendwie Recht hat. Es ist unbestreitbar, dass Gold stärker ist als Noah. Folglich ist Noahs Titel streng genommen wertlos. Ich schüttele den Kopf und bin froh, dass Joy in dem Moment mit unseren Essen zurückkommt. „Sei nicht so bitter, Chris“, sagt sie fröhlich. „Es gibt Trainer, die ein Ziel vor Augen haben müssen, um sich zu motivieren. Nicht jedem ist das Training und der Fortschritt selbst Motivation genug.“ Versöhnt steckt Chris sich einen Löffel Haferbrei in den Mund. Im nächsten Moment öffnet sich sirrend die Pokécentertür, Schwester Joy verbeugt sich protokollgerecht und Chris hebt grüßend eine Hand. „Jayden, schon zurück?“ „Hey Chris.“ Ich rutsche meine Rückenlehne hinunter. „Ich hab dieses Mädchen aus Viola gesehen, von der ich dir erzählt… ah, da sitzt sie ja.“ „Oh, das ist sie?“ Chris schaut mich mit erweckter Neugierde an. „Ich dachte, sie wäre mit diesem Möchtegernmacho unterwegs.“ Möchtegernmacho… Da wird Louis sich freuen. Jayden zieht einen Stuhl an unseren Tisch, nimmt Chris den Löffel aus der Hand und beginnt, von ihrem Haferbrei zu essen. „Vielleicht hat sie ihn sitzen lassen.“ „Habe ich nicht“, sage ich und stehe wütend auf. „Er ist ein guter Freund und nicht hier, weil seine Großmutter gestorben ist, also halt deine Klappe.“ Jayden hebt den Blick zu mir, den Löffeln halb in seinem Mund. „Mein Fehler.“ Am liebsten wäre ich gegangen, aber der Haferbrei steht noch immer unangetastet an meinem Platz und ich habe heute noch nichts gegessen, also setze ich mich wieder hin und schaufele den Brei in meinen Mund. „Hast du Ho-Oh schon gefunden?“, fragt Jayden schließlich. „Gestern habe ich einen vielversprechenden Pfad gefunden. Ich glaube, heute kann ich ihn erwischen.“ „Wie stellst du dir das überhaupt vor?“, frage ich, immer noch etwas zickig. Chris schaut mich verwirrt an. „Was?“ „Das Fangen“, sage ich. „Wenn es so einfach wäre, legendäre Pokémon zu fangen, warum tun es dann nicht mehr Leute? Was ist mit Noah? Oder den Favoriten? Nicht mal Red hat ein Legendäres.“ Jayden schnaubt. „Die Favoriten sind nicht stark genug, ganz einfach.“ „Sie sind sehr stark“, kontere ich. „Raphael Berni ist mein bester Freund und seine Pokémon sind teilweise über Level 50.“ „Sag ich ja. Zu schwach. Zumindest für Ho-Oh und Lugia.“ „Ich erwarte Ho-Ohs Level im siebziger Bereich“, erklärt Chris. „Deswegen konnte ich ihn nicht früher fangen.“ Ich verschlucke mich fast an meinem Brei. „Siebzig?!“ Chris nickt. „Zunächst musst du den Respekt des Pokémons erlangen, in diesem Fall durch die Buntschwinge, die ich finden musste, sonst lässt man mich nicht in den Glockenturm. Dann muss ich meinen Weg durch den Turm und an seine Spitze finden und dort gegen Ho-Oh bestehen.“ „Du packst das schon“, sagt Jayden und gibt ihr ihre leere Schüssel zurück. Chris bestellt eine Neue. „Aber beeil dich langsam. Wenn du noch viel länger brauchst, reise ich ohne dich nach Kanto zurück.“ Chris verzieht das Gesicht. „Ich werde es heute beenden. Und wenn ich da oben übernachten muss.“ „Sagt mal“, sage ich nach einer Weile. „Sind legendäre Pokémon eigentlich unsterblich?“ „Warum fragst du?“ „Ho-Ohs Legende geht über 160 Jahre zurück, und damit verbunden auch die der drei Raubkatzen. Sie scheinen nicht zu sterben wie normale Pokémon.“ „Ho-Oh ist in der Lage, tote Pokémon wieder zu beleben“, sagt Chris. „Es würde mich wundern, wenn er sterben könnte.“ „Was könnte so ein mächtiges Pokémon schwächen?“ „Attacken, ganz einfach“, sagt Jayden gelangweilt. „Sie sterben nicht von alleine, aber ich wette, sie können getötet werden. Oder verhungern.“ „Es ist nur…", sage ich langsam, "Raikou geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es war so geschwächt, dass es sich nicht mehr alleine bewegen konnte. Erst die Blitze haben es wieder aufgeladen.“ „Das klingt nach einer zu niedrigen Statik“, sagt Schwester Joy fröhlich, als sie Chris ihren neuen Haferbrei bringt. „In seltenen Fällen bekommen wir Elektropokémon eingeliefert, deren innere Statik zu niedrig ist. Meist haben sie sich nach zu vielen Elektroattacken verausgabt. Dann müssen wir sie unter Strom setzen und wieder aufladen.“ „Warum war Raikou in so einem Zustand?“, überlege ich laut. Chris zuckt die Achseln. „Keine Chance, das jetzt noch herauszufinden. Es wird sich verausgabt haben. Oder überschätzt, je nachdem.“ Das Thema damit abgeschlossen macht Chris sich über ihr Essen her und überlässt Jayden und mich einem unangenehmen Schweigen. „Du bist auch so ein Rebell wie Chris, oder?“, frage ich nach einer Weile. „Keine Orden, keine Turniere, Hass auf Red und alle guten Trainer…“ Jayden lacht. „Ich halte nichts von Orden, das ist wahr. Was Red angeht… Ich würde gerne gegen ihn kämpfen. Ich will sehen, ob er der Legende gerecht wird. Aber das wird nicht passieren. Sein Aufenthaltsort wird schließlich nur an Trainer mit Orden weitergegeben.“ „Das hat Gold nie gesagt“, sage ich. „Blue ist nicht mehr Arenaleiter, du könntest ihn sicher herausfordern.“ „Vielleicht werde ich das tun, wenn ich zurückkehre.“ Er schaut zu Chris. „Macht es dir was aus, wenn ich mich in dein Zimmer verziehe? Ich brauche ´ne Dusche.“ „Geh ruhig.“ „Sag mal, Chris…“, beginne ich, „kann ich dich auf den Glockenturm begleiten?“ „Es ist ein ziemlicher Aufstieg“, warnt sie mich. „Was willst du dort?“ „Bei der Entstehung einer neuen Legende dabei sein“, sage ich grinsend. „Ich habe da so ein Gefühl.“   „Tut mir leid, aber ich kann nur den Bewahrer der Buntschwinge auf den Glockenpfad lassen“, sagt der Weise und schaut mich skeptisch an. „Und die junge Lady hier hat schon gegen eine traditionelle Regel meine Ordens verstoßen. Ich werde nicht noch eine Ausnahme machen, und wenn Jens vor mir auf die Knie geht.“ Chris zuckt die Schultern. „Tut mir leid, Abby.“ Ich unterdrücke die Enttäuschung und lächle. „Kein Problem. Ich gehe dann zurück zum Pokécenter. Viel Glück.“ Als ich dort ankomme, schaut Schwester Joy überrascht von ihrer Arbeit auf. „Schon zurück?“ Ich schüttele den Kopf und laufe die Treppen hoch zu Chris´ Zimmer. Dann klopfe ich. Einige Sekunden vergehen, bevor die Tür sich öffnet und Jayden in ein Handtuch bekleidet vor mir steht. „Hast du ein Flugpokémon?“, frage ich ihn und sein Gesichtsausdruck verändert sich von genervt zu anerkennend. „Oh ja.“ Er schließt die Tür und kommt eine Minute später fertig angezogen aus dem Zimmer. Gemeinsam gehen wir die Treppen hinunter, ich zwinkere Joy zu und dann verlassen wir das Pokécenter. „Einen Schritt zurück, bitte“, sagt Jayden und zieht einen Pokéball. Sein Glurak fällt durch viele Dinge auf. Sein linkes Horn ist stark vernarbt, ein Nietenhalsband liegt lose um seinen Hals und es spuckt in regelmäßigen Abständen Rauchringe in die Luft. Am auffälligsten jedoch ist seine Farbe. Jayden besitzt ein schwarzes Glurak. Die ledrigen Häute seiner Flügel haben eine tiefrote Färbung und seine Schuppen sind dunkelgrau wie Asche. „Wow“, flüstere ich. „Die sind sehr selten, oder?“ Jayden klopft Gluraks Hals und es schlägt zweimal mit den gewaltigen Schwingen, bevor es sich auf alle Viere begibt, sodass wir leichter aufsteigen können. „1:8192. Als er noch ein Glumanda war, ist mir seine Färbung zunächst nicht aufgefallen. Erst bei seiner Entwicklung wurde es offensichtlich. Steigst du auf?“ Ich setze mich auf Gluraks Rücken und Jayden lässt sich hinter mir nieder. „Kurs nach Nord-Nordost“, sagt er an Glurak gewandt, das nickt und sich dann mit schwerfälligen Flügelschlägen in die Höhe hievt, bevor es Geschwindigkeit aufnimmt und über die Stadt davon schießt. „Wir können nicht zu nah an den Turm, sonst erscheint Ho-Oh nicht“, warnt Jayden mich über den tosenden Wind hinweg. „Halt dich weiter Richtung Osten, Glurak.“ „Warum gibst du ihm so viele Anweisungen?“, frage ich nach einigen Minuten, in denen Jayden immer wieder Gluraks Kurs korrigiert. „Weil du da sitzt, wo ich sonst mit meinen Beinen lenke.“ „Oh.“ Als der Glockenturm in Sichtkommt, wird Glurak langsamer und bleibt schließlich flügelschlagend in der Luft stehen. „Näher können wir nicht“, sagt Jayden und schirmt seine Augen vor der Sonne ab, die jetzt hoch über uns steht. „Wie lange wird sie für den Turmaufstieg brauchen?“, frage ich und kneife die Augen zusammen, um den Turm besser erkennen zu können. Die goldene Spitze glitzert im Sonnenlicht und wird von einem umzäunten Bereich umgeben. Er ist leer. Wir warten fast zwei Stunden, während derer Glurak den Turm in immer größeren Kreisen umrundet und hin und wieder über den Wald fliegt, um ein Taubsi aus der Luft zu fangen. Schließlich jedoch entdecke ich Chris´ Form, welche die steilen Treppen des Turmdachs in die Höhe steigt und auf der Plattform stehen bleibt. Sie umrundet die goldene Statue und schaut in den Himmel, auf der Suche nach Ho-Oh. Als sie uns sieht, winkt sie. „Der Moment der Wahrheit…“, murmelt Jayden. „Warum? Sie hat die Buntschwinge und sie ist auf dem Turm. Wo ist jetzt noch das Problem?“ Jayden lacht. „Es ist ein legendäres Pokémon, Abby, du hast es selbst gesagt: Wenn es so einfach wäre, würde jeder Trainer eins haben. Nicht nur der Level ist eine Hürde. Das Pokémon muss erst erscheinen und das tut es nur, wenn es den Trainer als würdig erachtet. Die Buntschwinge und der Turm sind nur Mindestansprüche.“ „Also besteht die Möglichkeit, dass es überhaupt nicht erscheint?“ „Natürlich. Allerdings kann ich mir keinen Trainer vorstellen, der würdiger ist als Chris.“ Chris legt die Buntschwinge wie ein Opfer auf die Goldstatue, dann macht sie einige Schritte zurück und lehnt sich an das Geländer, den Kopf nach hinten gelegt. Mit einem Mal nimmt die Sonneneinstrahlung zu. Die Wolken ziehen wie im Zeitraffer über unseren Köpfen hinweg und geben freie Sicht auf die unendliche Weite des Himmels, der blau flimmert. Glurak fliegt unruhig hin und her, den Kopf paranoid von links nach rechts schwenkend. Nur Jaydens beruhigendes Flüstern hält das Pokémon ab, davon zu fliegen. Chris stößt sich von dem Geländer ab und ruft eins ihrer Pokémon, ihr Nachtara, das auf ihrer Schulter Platz nimmt. Ein Regenbogen zieht in Kreisen über unsere Köpfe hinweg und schließlich kommt der rotgoldene Vogel in Sicht. „Er ist wunderschön…“, murmele ich. Ho-Oh sinkt tiefer und tiefer und landet schließlich auf der Spitze der goldenen Statue. Er betrachtet Chris mit schief gelegtem Kopf, dann breitet er seine gewaltigen Schwingen aus und kreischt. Wind peitscht um Chris´ Körper, die ein Stück zurückweicht, doch ihr Pokémon bleibt unbeeindruckt auf ihrer Schulter sitzen. Was folgt, ist ein Kampf, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Nachtara hält Ho-Oh mit seinem Horrorblick fest, verwirrt ihn mit ihrem Konfusstrahl und heilt sich wieder und wieder mit Mondschein, während Ho-Ohs Attacken von der Spitze der Goldstatue niederprasseln. Feuer, so heiß, dass es blauweiß glüht, schießt auf Nachtara herab, das jede der Attacken abfängt, bevor sie wieder auf Chris´ Schulter landet und eine Sturzflugattacke aus den Höhen des Himmels, bevor Ho-Oh wieder zum Turm zurückkehrt. Inmitten all dessen: Chris, die einen Hyperball nach dem anderen auf das Pokémon wirft. Bei den ersten zehn fiebere ich noch mit, aber Ho-Oh befreit sich jedes Mal ohne scheinbare Mühe und greift sofort wieder an. „Ich dachte, es erkennt Chris als seinen Trainer an“, sage ich. „Es testet Chris´ Willensstärke und ihre strategischen Fähigkeiten. Es wird sich erst fangen lassen, wenn es zufrieden mit ihrer Leistung ist.“ So sagt er und die Zeit verstreicht. Schließlich ist es der 46. Ball, der Ho-Oh fängt. Alles vergeht wie in Zeitlupe. Ho-Oh breitet die Flügel aus, empfängt den Ball und verschwindet in einem Lichtermeer aus Rot. Viermal kugelt der Hyperball vor und zurück, dann bleibt er liegen. Nachtara macht einen Luftsprung und Chris sinkt auf die Knie. Jayden pfeift leise und Glurak schießt auf den Turm herab, wo es seitlich an der Goldstatue landet. Jayden und ich springen ab. „Du hast es geschafft“, sagt Jayden und wuschelt Chris durch ihr Haar. Was ich aus der Ferne nicht erkennen konnte, ist jetzt deutlich zu sehen. Nachtaras Fell ist angesengt, zerzaust und es hinkt. Selbst Chris hat Brandnarben davon getragen, sie ist rot im Gesicht, schwitzt und ihre Hände zittern. Jayden geht vor ihr in die Hocke und reicht ihr den Hyperball, der zu Boden gefallen ist. „Hast du die VM dabei?“ Chris lacht. „Natürlich.“ Sie zieht eine CD-förmige Scheibe und einen veralteten Pokédex aus ihrer gelben Umhängetasche, dann scannt sie den Code ein und ruft Ho-Oh, das aus dem roten Lichtstrahl in die Höhe schießt und flügelschlagend über uns schwebt, bevor es sich auf dem Geländer niederlässt. Aus der Nähe ist es riesig. Von Kopf bis Schwanz ist es gute vier Meter lang, mit doppelt so großer Spannweite. Chris streckt vorsichtig eine Hand nach dem Pokémon aus und nach einigen Sekunden legt Ho-Oh seinen Kopf gegen ihre Handfläche. Dann hält sie den Pokédex in Richtung seines Kopfes und Ho-Oh schlägt die Augen auf. „Kann er jetzt Fliegen?“, frage ich. Chris nickt. „Sag mal…kann ich dich um einen Gefallen bitten?“   Der Wind tost um meine Ohren und ich kralle meine Finger fester in Hunters weiches Gefieder, als er durch die Lüfte schießt, Spiralen dreht und Sturzflüge ausprobiert. Mehr als einmal bin ich fast von seinem Rücken gefallen, aber er drosselt seine Geschwindigkeit jedes Mal gerade lang genug, dass ich meine Balance wieder erlangen kann, bevor der Höllenritt weitergeht. Ich werde mich nicht beschweren. Und als wir zu dritt inmitten Teak Citys landen, richten sich alle Augen auf uns. Es ist der Beginn einer Legende. Und ich war dabei. Kapitel 52: Reflektion in der Dunkelheit (Geisterstunde) -------------------------------------------------------- Chris und Jayden reisen am nächsten morgen ab und ich winke ihnen, als sie auf ihren sehr außergewöhnlichen Pokémon in die Lüfte schießen und den Umstehenden Ohs und Ahs entlocken. Chris´ eigentümliches Vorhaben hat in der Stadt viel Aufsehen erregt und sie jetzt mit dem legendären Pokémon davon fliegen zu sehen, weckt die unterschiedlichsten Reaktionen. Während die einen die Neuigkeit in alle Richtungen verbreiten, oft mit übertrieben farbenfrohem Vokabular, ist die konservativere Seite Teak Citys nicht ganz so freundlich. "Es sollte verboten sein", beschwert sich eine alte Frau bei ihren Freundinnen, als ich vier Tage später nach meinem morgendlichen Training auf dem Rückweg zum Pokécenter bin. "Wo führt das noch hin?" Ich erspare mir eine Diskussion und gehe an ihr vorbei in das Gebäude. Toby und Timothy sitzen bereits an unserem Stammtisch in der rechten Ecke und löffeln dampfende gelbe Suppe. Als Joy mich sieht, verschwindet sie in der Küche und bringt mir ebenfalls einen Teller. "Wie lief das Training?", fragt Toby und tunkt etwas Brot in seine Suppe. Er hat Jens bereits besiegt, wartet aber auf Timothy, der mit seinem Training noch etwas hinterher hinkt. Von Carla und George haben die beiden sich glücklicherweise getrennt. Die beiden Stinkstiefel haben Jens herausgefordert, kaum dass die Arena wieder geöffnet war und sind noch am selben Tag weitergezogen. "Sehr gut", sage ich wahrheitsgemäß und beginne mit dem Essen. Sku hat endlich Level 35 erreicht und Hunter und Gott sind je um zwei weitere Level gestiegen. Timothy und Toby trainieren gewöhnlich mit mir, aber heute wollten sie ihre Reisevorräte auffrischen. "Louis kommt heute?", fragt Timothy. Ich nicke. "Er war gestern schon an der Waldkreuzung, aber dann wurde es zu dunkel und er musste sein Lager aufschlagen. Er wird in den nächsten paar Stunden hier eintrudeln, denke ich." "Wenn er und Tim Jens kurz hintereinander schlagen, können wir zusammen nach Oliviana City reisen", sagt Toby. "Klar, warum nicht", stimme ich zu. "Ist noch jemand von den ehemaligen Qs hier?" "Vivi ist auf jeden Fall schon weg. Erasmus auch, glaube ich." "Schade." Wir beenden unser Mittagessen und machen uns dann auf den Weg zu den Waldwiesen vor Teak City. Tobys Karpador hat sich im Verlauf der letzten Woche endlich entwickelt und nimmt nun fast den gesamten verfügbaren Platz auf der Wiese ein, deshalb zieht es Tim und mich weiter nach Süden. Die erste, die Louis entdeckt, ist jedoch Sku. In ihren Kampf verwickelt, schnuppert sie plötzlich in der Luft, dreht sich um und prescht mit ungewohnter Geschwindigkeit an mir vorbei. "Sku, was zur- Louis!" Da steht er, bepackt mit seinem riesigen Rucksack, strubbligem blonden Haar und den Kratzern und blauen Flecken, die ich schon von unserer ersten Begegnung in Dukatia City kenne. Nur sein Gesichtsausdruck ist etwas ernster und seine Augen sind eingefallen, so als hätte er lange Zeit nicht viel geschlafen. Als er mich sieht, ringt er sich jedoch ein strahlendes Lächeln ab und fängt ächzend Sku, die ihm in die Arme springt. Ich laufe zu ihm und bleibe einen Moment lang etwas ratlos vor ihm stehen, dann umarme ich ihn, Sku zwischen uns eingequetscht und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. "Da wären wir wieder", sage ich breit grinsend. "Und ich bin nur einmal entführt worden, seit ich hier bin." "Herzlichen Glückwunsch", sagt Louis lachend und setzt Sku auf dem Boden ab. "Du kannst mir die Details später erzählen. Ich bin hungriger als ein Relaxo." "Das bezweifle ich", sage ich. "Hungriger als Sku wäre schon eine Sensation." Sku straft mich mit einem sehr unfreundlichen Blick und ich kraule ihren Kopf, bis sie mir schnurrend vergibt. "Wir haben heute Suppe gegessen, Joy sollte noch welche übrig haben." Louis zieht eine Augenbraue hoch. "Wer ist wir?" "Toby und Timothy", erkläre ich. "Zwei von den Jungs, die wir mit Maisy getroffen haben." "Hoffentlich nicht der eingebildete Typ", murmelt Louis. "George und das Mädchen sind schon weiter gegangen", beruhige ich ihn. Gemeinsam machen wir uns auf den Rückweg. Tim und Toby entschuldigen sich, sie wollen das verpasste Frühtraining nachholen und so gehen Louis und ich alleine zum Pokécenter. "Sei froh, dass du nicht früher gekommen bist", sage ich. "Jens war nicht da und ich habe diesen Typen aus Viola City wieder gesehen, der dich besiegt hat und-" Ich stocke, als ich Louis´ düsteren Gesichtsausdruck sehe und könnte mich im nächsten Moment selber ohrfeigen. "Tut mir leid, so war das nicht gemeint." "Ist schon in Ordnung." Louis´ Augen sind rot, aber vielleicht hat er keine Tränen mehr übrig, denn sie bleiben trocken. "Hast du ein Zimmer im Pokécenter?" Ich nicke und denke an unsere Zeit in Azalea City zurück. Damals waren wir gezwungen, uns ein Doppelbett zu teilen. "Dann hole ich mir wohl auch eins", sagt Louis nachdenklich. "Lange werden wir ja nicht mehr hier bleiben." "Du musst dich wegen mir nicht stressen", sage ich. "Du kannst so lange trainieren, bis du dich sicher fühlst und wir können uns ein bisschen die Stadt ansehen, wenn du willst." "Danke, aber ich will Jens so schnell es geht besiegen und dann weiter." Wir machen es uns an einem der Tische bequem, Louis bestellt sich eine doppelte Portion Suppe mit Brot und fängt an zu essen, sein Blick stetig auf seinen Löffel gerichtet und still wie noch nie zuvor. "Ist alles okay?", frage ich nach einer Weile. Er schrickt ertappt zusammen. "Ja klar, alles super." "Willst du darüber reden?" Er wird bleich. "Nein, alles… nicht jetzt. Vielleicht später." Ich nicke, immer noch misstrauisch. Louis isst seine Suppe zu Ende, mietet dann ein Zimmer neben mir und geht nach oben, um zu duschen und seine Sachen abzustellen. Ich bleibe ratlos mit einer sehr neugierig dreinschauenden Joy alleine. "Er benimmt sich sehr komisch", sage ich schließlich. "Ist das der Junge, dessen Großmutter gestorben ist?", fragt Joy und ich nicke. "Ach nein, der Arme. Er braucht jetzt eine Freundin, die bei ihm ist." Sie zwinkert mir zu und ich werde augenblicklich knallrot. "Ich bin oben", sage ich hastig und verschwinde in mein eigenes Zimmer. Ich kann den Wasserstrahl von nebenan hören und komme nicht umhin, zu lauschen. Als das Plätschern schließlich aufhört, warte ich ein paar weitere Minuten, dann gehe ich zu seiner Tür und klopfe. Einen Moment lang glaube ich, er wird mich im Flur stehen lassen, doch dann öffnet sich die Tür und Louis tritt zur Seite, um mich rein zu lassen. "Was ist los?", frage ich, als ich es mir auf seinem Bett bequem gemacht habe. "Wenn es wegen deiner Großmutter ist, sag es mir, aber dein Verhalten macht mir Angst. Ich bin deine Freundin. Ich will dir helfen." "Freundin?", fragt Louis. Ich werde rot. "Also. Naja." "Schon klar." Louis lässt sich auf einen Stuhl gegenüber sinken und faltet seine Hände. "Ich habe dich nie gefragt, wo du hin willst", sagt er schließlich. "Oliviana City? Was kommt danach?" "Ich… ich weiß noch nicht." "Wirst du nach Kanto zurückkehren?" "Nun ja, meine Familie wohnt dort. Ich kann nicht ewig von zu Hause weg bleiben." "Es ist nur so." Er stockt, dann holt er tief Luft. "Als Oma starb, wurde meine Mutter sehr emotional. Und ich wollte sie aufmuntern, deswegen habe ich ihr von dir erzählt. Ich habe nichts gesagt, aber sie hat ihre Schlüsse gezogen und, naja." "Dass wir…" Ich kann es nicht aussprechen. "Aber sind wir das, Abby?" Louis hebt den Kopf und Tränen stehen in seinen Augen. "Sie hat mich ausgefragt, nach deiner Art, was du machst, vorhast, wie du so bist. Und während ich ihr davon erzählt habe, wurde mir klar, dass du immer auf dem Sprung bist. Du reist durch die Gegend, du findest schnell Freunde und du bleibst nie lange an einem Ort. Ich bin Protrainer, für´s erste reise ich auch viel, aber ab hier wird es schwieriger für mich. Ich werde länger in einer Stadt bleiben müssen, um stärker zu werden. Monate, vielleicht. Wir haben uns drei Wochen nicht gesehen. Wir werden jetzt vielleicht ein oder zwei Monate zusammen haben und dann bist du wieder weg für wer weiß wie lange." Er stockt und reibt sich die Augen. "Wir sind noch so jung und… ich kann nicht erwarten, dass du alles hinschmeißt und mich begleitest, wo immer ich hin gehe, aber du kannst nicht von mir erwarten, dass es mir nichts ausmacht, dich nur alle paar Monate sehen zu können." "Worauf willst du hinaus?", frage ich langsam. Mein Kopf dröhnt. Ich habe Louis noch nie so ernst gesehen. "Was ich damit sagen will, ist: Es wäre mir lieber, wenn wir uns auf unsere Freundschaft konzentrieren, damit ich keine falschen Hoffnungen bekomme und mich nicht noch mehr in dich verliebe. So, jetzt ist es raus." "Ich…" Ich kann nichts sagen. Meine Kehle ist trocken und meine Augen brennen. Es ist nicht mal das Gefühl, dass ich etwas verliere. Unsere Liebesgeschichte war kurz und romantisch und ein bisschen unbeholfen, aber die längste Zeit war Louis nur mein Freund. Ich verliere nichts. Was wirklich wehtut, ist die Zurückweisung. Das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt, dass die Art, wie ich bin, ein Problem darstellt. Ungebeten kommt mir Caros trauriges Gesicht in den Sinn, als ich mich von ihr verabschiedet habe. Raphaels Worte, als ich ablehnte, mit ihm zusammen zu reisen, obwohl er mich darum bat. Die tränenerstickte Stimme meiner Mutter, die mich bittet, zurück zu kommen und ihr keine Sorgen mehr zu bereiten. Ich schlucke die Tränen hinunter und stehe auf. Dann zwinge ich mich zu einem Lächeln. "Freunde, alles klar. Morgen fordern wir Jens heraus, dann zeigst du´s ihm." "Abby…" "Ich gehe ins Bett, glaube ich. Ich bin müde." Bevor Louis mich zurück rufen kann, gehe ich in mein Zimmer, schließe behutsam die Tür hinter mir und lasse mich dann aufs Bett fallen. Meine Finger in die Bettdecke gekrallt, meine Augen ins Laken gedrückt, taste ich blind nach Skus Pokéball. Im nächsten Moment leckt ihre raue Zunge über einige Tränen, die meine Wangen hinunter laufen und sie strampelt sich unter meinen Kopf, sodass sie wie ein Fellkissen unter mir liegt. Erst jetzt erlaube ich mir, zu schluchzen. Aber nur leise. Neben mir höre ich in Louis´ Zimmer ein ähnliches Geräusch.   Als wir uns am nächsten morgen im Foyer des Pokécenters treffen, ist die Stimmung alles andere als entspannt. Ich bemühe mich, so zu tun, als wäre nichts geschehen und auch Louis scheint bemüht, den Vorfall gestern Nachmittag zu vergessen, aber die Leichtigkeit unserer Freundschaft ist verloren gegangen und auch wenn ich inständig hoffe, dass nicht zu viel kaputt gegangen ist, bin ich nicht ganz sicher. Wir frühstücken gemeinsam und finden schließlich ein Thema, das uns leicht von der Zunge geht. "Wiesenior wird Probleme haben", sage ich und lutsche an meinem Löffel. "Gegen Geisterpokémon sind ihre Normalattacken nutzlos." "Dafür sind Geisterattacken gegen ihren Normaltyp ebenfalls wirkungslos", kontert Louis. "Außerdem hat sie eine Geheimwaffe." Ich grübele kurz, dann geht mir ein Licht auf. "Kann sie noch Gesichte?" Louis nickt und bemüht sich um sein unbekümmertes Grinsen. Es ist fast überzeugend. "Das macht die Sache natürlich einfacher. Bist du sicher, dass du soweit bist?" "Ich werde es probieren", sagt Louis. "Wenn ich verliere, habe ich trotzdem an Erfahrung gewonnen und weiß, was mich das nächste Mal erwartet. Außerdem soll die Arena ziemlich ausgefallen sein, das möchte ich unbedingt sehen." Schwester Joy taucht an unserem Tisch auf und bringt uns einen Kakao für Louis und meinen Tamottee. Sie ist kaum verschwunden, da höre ich Schritte und schaue zur Treppe. "Guten Morgen!", begrüßt Toby uns gut gelaunt, mit einem nicht ganz so gut gelaunt drein schauenden Timothy, der sich die Augen reibt und gähnt. "Na, gut geschlafen?", fragt Toby und lässt sich ihm gegenüber neben mich auf einen Stuhl sinken. Ein kränklicher Gesichtsausdruck huscht über Louis´ Gesicht, aber er nickt und schüttelt die Hände der beiden. "Timothy möchte Jens auch herausfordern", sage ich, um das Thema zu wechseln. "Auch heute?", fragt Louis. Timothy nickt und macht ein Peace-Zeichen ins Joys Richtung. Sie reckt ihren Daumen in die Höhe und verschwindet in der Küche. Dank Tobys Redseligkeit vergeht der Rest des Frühstücks in munterer Unterhaltung. Toby berichtet von seinem eigenen Arenakampf, gibt Louis Strategievorschläge und Ratschläge, ich erzähle von meiner Begegnung mit Jayden und wie Chris das Ho-Oh gefangen hat und schließlich finden wir uns in einer dramatischen Nacherzählung unserer Erlebnisse im Team RES-Q wieder. Louis´ Gesichtsausdruck entspannt sich von Minute zu Minute und schon bald macht er die ersten Scherze, die ihm Sympathiepunkte bei den beiden anderen Jungs bringen. Timothy trinkt stillschweigend seine beiden Tassen schwarzen Kaffee und wirkt am Ende unserer Unterhaltung halbwegs lebendig. Schließlich jedoch kommt unser langes Frühstück zu einem Ende und Louis und ich verabschieden uns, um uns zur Arena auf zu machen. Timothy wird den Leiter danach herausfordern. "Wie lief dein Kampf gegen Bianca eigentlich?", frage ich, während wir der Hauptstraße Richtung Arena folgen. "Wie gesagt, ziemlich entspannt. Ich habe seit Bianca kaum trainiert, weil ich so viel um die Ohren hatte, die drei sind genauso stark wie gegen sie." "Es wird ein harter Kampf." "Ich bin ein harter Gegner." Ich werfe einen Seitenblick zu Louis. Sein Selbstvertrauen ist gestiegen. Ist es, wie Raphael vorhergesagt hat? Fängt es jetzt schon an? "Louis?" "Ja?" Er klingt etwas panisch. "Warum möchtest du an der Championship teilnehmen?", frage ich ihn. Er schaut mich verwirrt an. "Weil es das Ziel aller Protrainer ist. Die ultimative Anerkennung." "Aber du, persönlich. Warum willst du dort mitmachen." "Ich… keine Ahnung, warum fragst du das so plötzlich?" "Chris hat mir zu denken gegeben und ich will einfach etwas… überprüfen, denke ich." Louis denkt nach. "Wahrscheinlich, weil ich mir selbst beweisen will, dass ich etwas schaffen kann, wenn ich will. Ich will etwas Großes erreichen, etwas, das nicht jeder schafft. Ah, wir sind da." Bisher habe ich die Arena nur von außen gesehen und sie unterscheidet sich nicht besonders von den anderen asiatisch angehauchten Häusern, außer dass sie viel größer ist. Als wir jedoch eintreten, empfängt uns undurchdringliche Schwärze. "Hohohoho", keckert eine weibliche Stimme in der Dunkelheit. "Hallo?" "Hohohohohohohoho, ein Herausforderer!" Louis und ich machen einige tastende Schritte nach vorne, bis der Boden, auf dem wir stehen, sich verändert. Glas? Plötzlich geht ein Scheinwerfer an, so grell, dass ich meine Augen instinktiv schließen muss. Als ich sie wieder öffne, entdecke ich einen Kampfplatz, der ganz aus Sicherheitsglas besteht. Ich wage einen Blick nach unten und muss schlucken. Nebelschwaden und Dunkelheit sind unter uns, nichts weiter. Der Scheinwerfer selbst ist so eingestellt, dass er nur den Kampfplatz beleuchtet. Alles darum liegende bleibt im Schatten. Uns gegenüber tritt eine in Gebetskettchen und graue Roben gekleidete Frau, deren weißes Haar in langen Strähnen über die eine Seite ihres Gesichts fällt. sie lächelt uns mit einem zahnlosen Mund an und mir läuft es kalt über den Rücken. "Hohohoho", lacht sie ein weiteres Mal und tritt auf eine kleine Glasfläche, die vom Kampfplatz abgegrenzt ist, genauso wie wir. "Der Weg ist verborgen. Besiege mich und ich lasse dich passieren." "Dann wollen wir mal", murmelt Louis. Ich trete einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu lassen, dann ruft er sein Wiesenior. Winry keckert glücklich und setzt sich auf die muskulösen Hinterbeine, ihr langer Schwanz elegant um ihren Körper gewickelt. "Hohoho, eine mutige Wahl. Wir werden sehen, ob sie dich in den Abgrund stürzt oder deine Weisheit den Weg erleuchtet! Kämpfe mit mir, treuer Wächter!" Sie wirft einen Pokéball in die Höhe und ein Shuppet erscheint in der Luft, seine Form flackert zwischen unsichtbar und sichtbar hin und her. "Gesichte, Winry." "Hohoho, Irrlicht, Geliebtes." Winry, die zuvor ratlos durch die Gegend geguckt hat, konzentriert sich und folgt plötzlich Shuppet mit ihren Augen. Zufrieden entrollt sie ihren Schweif und peitscht damit über den Boden. Shuppet umkreist sie unterdessen und lässt kleine, blaue Lichter hinter sich in der Luft zurück, die einladend vor und zurück schwenken. "Fall nicht darauf rein", ruft Louis, doch da hat Winry schon eines der Lichter angesprungen. Sie zischt, als das Fell ihrer Pfote Feuer fängt. "Räche dich mit Ruckzuckhieb!" "Groll, Geliebtes." Zwei Ruckzuckhiebe später ist das erste Shuppet besiegt, aber Winrys Energie wird von der Verbrennung stetig reduziert. Außerdem schwächt das Feuer ihren Angriff und so besiegt sie das zweite Shuppet erst nach weiteren zwei Runden, die sie noch mehr Kraft kosten. "Hohoho, du hast gewonnen", lacht das Medium und ruft ihr besiegtes Pokémon zurück. "Aber sei gewarnt, ich bin nur der erste Wächter. Der Weg durch die Dunkelheit reflektiert, Herausforderer." "Reflektiert, na super…", murmelt Louis ein wenig motzig, als wir den Kampfplatz überqueren und am anderen Ende in völlige Finsternis starren. "Wie soll mir das bitte helfen." "Hast du dein Handy dabei?", frage ich. "Du könntest du Taschenlampenfunktion benutzen." "Die hat kaum Reichweite, das weißt du doch", sagt Louis bitter und gemeinsam schwelgen wir einige Sekunden lang in Erinnerungen an dunkle Ruinen und das Irren durch perfekte Dunkelheit. "Du musst nicht alles sehen können", sage ich. "Reflektion wird dir den Weg zeigen. Wir können es versuchen." "Wie du meinst." Louis kramt sein Handy hervor und macht den Lichtstrahl an. Dann schwenkt er damit über den Boden. Tatsächlich entdecken wir einen schmalen Weg aus dickem Glas, der über den Nebelschwaden in vielen scharfen Ecken und Kanten tiefer ins Innere der Arena führt. Vorsichtig balancieren wir über den schmalen Grad. "Ich hoffe wirklich, dass da unten ein Netz hängt", murmele ich. Louis lacht. Er hat von so einem Netz schon mal Gebrauch machen müssen. So verschlungen der Weg auch ist, wir erreichen nach höchstens zehn Metern die zweite Kampfplattform. Ein weiteres Medium sitzt im Lotussitz an der gegenüberliegenden Trainerposition. Als sie uns sieht, murmelt sie ein leises Mantra, dann hebt sie den Kopf. "Ich bin Dorothea. Die Geister dieser Welt sind meine Vertrauten und Verbündeten und ich werde niemanden hindurch lassen, der ihren Ruf nicht ehrt." Aus der Dunkelheit hinter ihr löst sich ein Alpollo, das mit einem breiten Grinsen über ihren Kopf davon schwebt und auf seinen Gegner wartet. Louis ruft Wiesenior, das immer noch brennt und sich die glühenden Pfoten leckt und leise wimmert. "Winry, Gesichte." "Halte sie fest mit deinem Horrorblick, mein Herz." Beide Pokémon starren einander ein, Winrys Körper ist wie festgefroren, Alpollo seiner Unsichtbarkeit beraubt. "Ruckzuckhieb, schnell." "Konfusstrahl." Winrys Attacke trifft Alpollo, das diese jedoch gut wegsteckt und einige tanzende Lichter in Winrys Richtung schickt. Sie schlägt nach den leuchtenden Punkten und wendet sich verwirrt von ihrem Gegner ab. "Nochmal Ruckzuckhieb, komm schon!" "Fluch, mein Herz. Bringe dein Opfer dar." Winry schießt los, allerdings in die falsche Richtung, stolpert und schrammt hart über den Boden. Louis zuckt zusammen. Alpollo fliegt inzwischen auf sie zu, umkreist sie und greift schließlich mit seiner violett-schwarzen Geisterhand in Winrys Brust. Ihr stockt der Atem, doch auch Alpollo verliert einen Großteil seiner Energie und schwebt geschwächt zurück zu seiner Trainerin. "Winry, komm schon…" Louis beißt sich auf die Lippen, aber er kann nichts tun, als sein Starter, geschwächt durch die Verbrennung, den Fluch und die verwirrte Selbstverletzung zur Seite kippt und bewusstlos liegen bleibt. Er ruft sie zurück und zögert einen Moment. Dann materialisiert sich Harley, sein tänzerisch sehr talentiertes Ultrigaria. "Rankenhieb!" "Finsterfaust!" Die Attacken treffen fast gleichzeitig, doch Ultrigaria ist frisch aus dem Pokéball und Alpollo hat sich selbst durch den Fluch geschwächt. Es sinkt besiegt zu Boden und wird zurück gerufen. "Ihr seid würdig", sagt Dorothea. "Folgt dem Licht in der Dunkelheit und ihr werdet euer Ziel erreichen." Diesem sehr allgemeinen Ratschlag folgend, suchen Louis und ich den nächsten Glaspfad, der dieses Mal noch verschlungener und schmaler ist als der Letzte. Auf dem dritten Kampfplatz kommt uns als erstes ein echohaftes Hihihihihihihi entgegen. Dann tritt eine hutzlige Frau in Mediumkleidern aus den Schatten und schwenkt ein Behältnis voller Weihrauch. Der Duft ist so stark, dass mir schwindlig wird. " Du bist weit gekommen, Fremder, doch die Macht der Geister ist unsterblich! Hihihihihi!" "Korrigier mich, wenn ich falsch liege", flüstert Louis hinter vorgehaltener Hand. "Aber ist hier jeder Vortrainer völlig durchgeknallt?" "Keine Ahnung", sage ich fröhlich. "Aber ich weiß schon, wie uns das vierte Medium begrüßen wird." "Zwirrlicht, tapferer Krieger, leihe mir deine Kraft!" "Los, Harley." Die beiden Pokémon beäugen sich argwöhnisch, Zwirrlicht huscht ein wenig unsicher hin und her, während Ultrigaria sich in ihrem mächtigen Körper dreht und wendet und allem Anschein nach ein kleines Tänzchen vorführt. "Säure, Harley!" "Nachtnebel." Harley spuckt dunkle Säure aus ihrem Körper auf das kleine Zwirrlicht, das nicht rechtzeitig ausweichen kann, dafür aber bildet sich ein schwarzer Nebel um Harley, der sie verletzt. Eine weitere Säureattacke von Harley beendet allerdings Zwirrlichts Kampf. Das Medium keckert leise und ruft als nächstes ihr Driftlon, das keine Zeit verliert und Harley mit seinem Windstoß attackiert, der sehr effektiv ist und Harley, der schwächsten in Louis´ Team, ziemliche Probleme bereitet. "Säure, Harley, schieß ihn ab", ruft Louis. "Blase sein Pokémon weg, mein Krieger, lasse es den Wind der Gerechtigkeit spüren!" Der Wind der Gerechtigkeit trifft Harley ein weiteres Mal, bevor ihre Säure Driftlon besiegt. Das Medium keckert und ruft ihr Pokémon zurück. "Hihihihi… geh weiter, Fremder. Finde dein Heil im Tod." "Sehr freundlich…", murmelt Louis und wir gehen an ihr vorbei und über den im Handylicht reflektierenden Weg zum letzten Vorkampf. "Du kennst also das nächste Medium?" "Wir haben sie in der Raikou-Angelegenheit ausgefragt", erkläre ich. "Sie ist genauso exzentrisch wie die anderen hier, aber ich glaube mittlerweile, das ist Voraussetzung." "Ist sie das?" Ich kneife die Augen zusammen und entdecke eine dunkle Gestalt am Ende des Glasplatzes. Ihr Gesicht ist in den Schatten verborgen. "Zenobia?", rufe ich. Ein leises Lachen erfüllt die Arena. "Waaaaas?" Kapitel 53: Der Weg ist das Ziel (Meine Zahnbürste ist größer) -------------------------------------------------------------- "Hallo, Zenobia." "Abby? Hast du mir Äpfel mitgebracht?", fragt das Medium interessiert. Ich schüttele den Kopf. "Leider nicht." "Waaaas?" Louis seufzt und zieht seinen Pokéball. "Wenn du Alte genauso schwach ist, wie ihre Vorgänger, dann hab ich sie in zwei Minuten erledigt." "Oh, aber ich bin die stärkste von ihnen", sagt Zenobia, gekränkt. "Wenn du mich besiegst, gebe ich gewöhnlich einen Hinweis auf das Team unseres Arenaleiters, aber jetzt möchte ich dir nicht mehr helfen." "Fein", murmelt Louis genervt. "Los, Harley." Ultrigaria materialisiert sich, das Spiegelbild im Glasboden folgt ihrem Tanz. Zenobia lächelt. "Kämpf, mein Äpfelchen." Ein Frosdedje erscheint vor ihr in der Luft und Raureif bildet sich auf allem in zwei Metern Umkreis. "Eissturm", befiehlt sie. "Giftpuder!" Ultrigaria beschleunigt ihre Drehungen, bis violette Sporen aus ihrem Körper regnen, doch Frosdedjes eisiger Atem bläst ihre Attacke davon und gefriert Harley in wenigen Sekunden. Louis beißt sich auf die Lippen und ruft stattdessen Ethan, der die Kampffläche zu einem großen Teil ausfüllt und Frosdedje anbrüllt. Sie huscht zur Seite und legt den Kopf schief. "Doppelteam, dann Konfusstrahl und Unheilböen, Äpfelchen", befiehlt Zenobia lächelnd. "Ethan, attackier sie mit deinem Biss, los!" Ich reibe meine Oberarme, während ich den Kampfverlauf beobachte. Frosdedjes Form verschwimmt, bis sie sich zu teilen scheint und schließlich ist Ethan umringt von acht Doppelgängern, die langsam um ihn herum schweben. Garados schnappt nach den Scheinbildern, trifft aber nicht das Richtige und wird im nächsten Moment von dem Konfusstrahl getroffen. Verwirrt schüttelt es den Kopf, ringt sich aber zu einem normalen Angriff durch, der wie der vorherige daneben geht. "Komm schon, Ethan…", murmelt Louis und ballt die Fäuste. "Du bist stärker, du musst sie nur treffen!" "Du solltest Äpfelchen nicht unterschätzen", lacht Zenobia. In genau dem Moment breitet eines der Abbilder seine Arme aus und eine dunkle Woge aus Eis, Wind und Nebel schießt auf Ethan zu, der schreit und den Kopf hin und her wirft. Sein nächster Biss zerreißt zwei der Doppelgänger. "Ethan, lass dich nicht verwirren, das Frosdedje rechts von dir ist das Echte, greif sie an!" "Nochmal Unheilböen, Äpfelchen." Ethan schüttelt die Verwirrung ab, reißt den Kopf herum und brüllt in Frosdedjes Richtung, die zusammenzuckt. Er schießt vor und seine Kiefer schließen sich mit einem lauten Knacken um Frosdedjes Körper. Seine Zähne und sein Maul gefrieren und dem gegnerischen Pokémon gelingt es, seine Attacke durchzuführen, auch wenn sie durch die Position geschwächt ist. Ein Knurren entweicht Ethans gefrorener Kehle und er reißt den Kopf hin und her, um Frosdedje weiter durch seinen Biss zu schwächen, schließlich erträgt er die Kälte jedoch nicht  mehr und muss Frosdedje loslassen, das sich sofort zwischen ihren verbliebenen Doppelgängern versteckt. "Du hast sie fast, Ethan, noch einmal Biss!" "Unheilböen." Die beiden schießen erneut aufeinander zu, doch dieses Mal packt Ethan Frosdedje mit seinen Kiefern und beißt so fest zu, dass sich ihre Doppelgänger in Luft auflösen und Frosdedje besiegt in seinem gigantischen Maul hängt. Zenobia ruft ihr Pokémon zurück. "Du hast gewonnen, herzlichen Glückwunsch. Wenn du mir einen Apfel mitbringst, gebe ich dir einen Tipp." "Ich brauche keinen Tipp", murmelt Louis und ruft Ethan zurück. "Pokécenter?", fragt er an mich gewandt. Ich nicke. "Vielleicht solltest du dir den Tipp anhören", sage ich, als wir von dem Pokécenter zurückkommen und an dem Obstmarktstand vorbei kommen. "Wenn du ihr einen roten Apfel mitbringst, wird sie dir sicher helfen." "Ich kann Jens alleine besiegen", sagt Louis. "Ich brauche keine Hilfe." Ich bleibe stehen. "Selbstvertrauen ist gut, Louis, aber Überheblichkeit bringt dich nicht weiter." Er seufzt. "Tut mir leid. Ich will einfach ohne Hilfe gewinnen, das ist alles." "Wie du meinst." Wir gehen zurück zur Arena, unsere Handys in den Händen und machen uns auf den düsteren Weg ins Innere der Arena. Die Vortrainerinnen sind verschwunden, aber als wir die letzte Kampfplattform erreichen, entdecke ich Zenobia, die am Ende auf uns wartet. "Habt ihr einen Apfel dabei?", fragt sie. "Nein." "Waaaaas?" Sie lacht und verschwindet in der Dunkelheit. Wir überqueren das gläserne Kampffeld und kommen schließlich am anderen Ende an. Wo Zenobia verschwunden ist, entdecken wir gläserne Treppenstufen ohne Geländer, die sich spiralförmig in die Tiefe schrauben. "Die wollen uns echt umbringen…", murmelt Louis und macht sich an den Abstieg. "Ich hätte fast Lust, runter zu springen, nur um zu sehen, wie sie mich retten." "Wenn sie dich retten", verbessert Louis. "Denk dran, was die eine Alte gesagt hat: Finde dein Heil im Tod. Würde mich nicht wundern, wenn sie das ernst meint. Das hier ist immerhin eine Geisterarena." "Ich glaube, das wäre inzwischen aufgefallen", lache ich. Louis bleibt stehen. "Was ist?" Als er sich umdreht, hält er sein leuchtendes Handy unter sein Gesicht und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen und furchteinflößender Grimasse an. "Was, wenn die Trainer sterben und nur ihre Geister die Arena verlassen? Muhahah- autsch!" Ich schlage vorsichtshalber nochmal auf seinen Kopf. "Weiter geht´s, Wahnsinniger. Wenn du so weiter machst, können wir dich als Vortrainer anmelden." Das Ende der Treppen kommt schneller als erwartet. Vor uns erstreckt sich ein riesiges Kampffeld aus schwarzem, rauem Stein, der den Boden und die Wände bedeckt und mich sehr an den Stil der Turmruine erinnert. Nach und nach erwachen blaue Fackeln an den Wänden zum Leben und hüllen den Kampfplatz in ein gespenstisches Licht. Am Ende der Fläche steht Jens auf einem kleinen Podium, das mit herunter gebrannten, schwarzen und weißen Kerzen und alten Schriftrollen bedeckt ist. Zu beiden Seiten des Podiums knien die vier Frauen, klimpern mit ihren Gebetskettchen und singen ein tiefes, düsteres Mantra, das an den Wänden widerhallt und seine eigene Melodie entwickelt. Jens hebt den Kopf und tritt von dem Podium herab auf den Platz. "Willkommen in Teak City", sagt er und zieht sein Stirnband fest. "Dies ist die Stadt der legendären Pokémon. Vor vielen Jahren hatte ich eine Vision von einem starkem Trainer, der eines der legendären Pokémon fangen würde. Ich glaubte, dieser Trainer zu sein, doch viel Zeit ist seitdem vergangen und ich habe gelernt, meine Fähigkeiten nicht zu überschätzen. Ich werde dich dieselbe Erkenntnis lehren. Tritt vor und zeige mir, ob du würdig bist." "Wünsch mir Glück", murmelt Louis, dann steigt er auf die leicht erhöhte Kampffläche und zieht seinen Pokéball, genauso wie Jens. Rotes Licht erhellt die Arena und im nächsten Moment stehen sich Winry und ein fies grinsendes Nebulak gegenüber. "Ein Normaltyp, interessant", sagt Jens und steckt die Hände in die Hosentaschen. "Nebulak, beginn mit Horrorblick." "Gesichte Winry, los, dann starte mit Ruckzuckhieb." "Kontere mit Tiefschlag." Die beiden Pokémon starren einander an, dann schießt Winry auf Nebulak zu, wird jedoch von einer nebligen Faust in den Bauch getroffen und nach hinten geschleudert. Sie rappelt sich auf und attackiert Nebulak erneut, das wild kichert und sich in der Luft dreht und auf und ab fliegt. Winrys Ruckzuckhieb trifft es und es wird in die Höhe katapultiert, fängt sich aber schnell wieder. "Nochmal Ruckzuckhieb, Winry." "Hypnose, Nebulak." Winry trifft Nebulak ein weiteres Mal, das allerdings rechtzeitig nach oben schießt und von der Attacke nur gestreift wird. Dann umschwirrt er Winry und schaut ihr in die Augen, bis Winry schläfrig wird und zur Seite kippt. Nebulak keckert. "Gute Arbeit, beende es mit Fluch." "Wach auf, Winry, komm schon!" Aber Winry wacht nicht auf. Nebulak schwebt zu ihr herab, greift in ihren Burstkorb und beginnt, zu zittern. Dann sinkt es besiegt zu Boden und lässt eine verfluchte und schlafende Winry zurück, die durch die Attacke stark geschwächt wird. "Jetzt du, Zobiris. Zeig ihr deinen Mogelhieb." Zobiris materialisiert sich augenblicklich vor Winry und schlägt blitzschnell mit seinen Händen beidseitig gegen ihren Kopf. Winry stöhnt im Schlaf und öffnet verwirrt ein Auge. Dann packt sie der Fluch und sie fällt besiegt in sich zusammen. Louis beißt sich auf die Lippen und ruft Winry zurück. Dann greift er nach dem nächsten Pokéball. "Harley, los." Harley materialisiert sich auf dem Kampfplatz und kreiselt vor und zurück. Zobiris legt den Kopf schief. "Schlafpuder, dann Säure." "Kontere mit Scanner und Schattenstoß" erwidert Jens gelassen. Ultrigaria pumpt eine Ladung grüner Pollen aus ihrem Mund, die an Zobiris´ Scanner abprallt, den dieser um sich herum aufgebaut hat. Der Säureattacke kann es jedoch nicht ausweichen und wird mit voller Wucht getroffen, bevor es einen Schatten in Richtung Ultrigaria schießt, der Harley zurück weichen lässt. "Nicht Säure, Louis", zische ich. "Das ist nur halb so effektiv." "Mist, du hast Recht." Louis zieht die Stirn kraus. "Harley, Rankenhieb, gib alles, was du hast." Eine Weile attackieren sich die beiden Pokémon gegenseitig mit ihren Offensivattacken, Harleys Rankenhieb gegen Zobiris´ Schattenstoß, aber kurz bevor eines der beiden besiegt werden kann, ruft Jens sein Zobiris zurück. "Was hat er denn jetzt vor?", fragt Louis leise. Er schwitzt, obwohl es ziemlich kalt hier unten ist. Der Kampf verlangt ihm einiges ab. "Los Gengar!", ruft Jens. "Finsterfaust!" "Mann ey…", zischt Louis. "Harley, ausweichen, dann Rankenhieb." Gengar taucht auf dem Kampfplatz auf und schlägt in die Luft. Eine Faust aus sich windenden Schatten schießt auf Harley zu und trifft sie mit voller Wucht. Ihre halb ausgefahrenen Ranken fallen lasch zu Boden. Louis ruft sie zerknirscht zurück und Gengar führt ein schadenfrohes Tänzchen auf. Jens grinst zufrieden.  "Los, Ethan! Es hängt an dir!" Garados´ gewaltiger Körper materialisiert sich in einem roten Lichtermeer vor Gengar, das schluckt, dann seine Fassung wieder gewinnt und Ethan die lange Zunge herausstreckt und Grimassen zieht. "Biss!" "Tiefschlag, dann Hypnose." Gengar schießt nach vorne und trifft Ethan mit voller Wucht mit seinem Tiefschlag, dann springt es nach hinten und hopst zufrieden auf und ab. Garados schnappt nach Gengar und vergräbt seine gewaltigen Zähne in dem violetten Schattenkörper, aber Gengar macht sich frei und kontert mit seiner Hypnose, die Ethan aus dieser Nähe erwischt. Eingeschläfert sackt Ethan zu Boden. "Zurück Gengar. Zobiris, Mogelhieb." Gengar verschwindet wieder in seinem Pokéball und Zobiris materialisiert sich wie zuvor direkt vor Garados und attackiert es mit seinen kleinen Händen. Ethan zuckt zusammen, schläft aber weiter. "Wach auf, verdammt!" "Gut, jetzt du, Traunfugil. Zeig ihnen deine Bürde!" Ein kleines Traunfugil erscheint an Stelle von Zobiris und umschwirrt den schlafenden Ethan, bevor es eine düster aussehende Wolke über seinem Kopf freisetzt, die wächst und wächst und Garados schließlich mit gewaltiger Kraft zu Boden drückt. Ethan bebt und zuckt einige Sekunden, dann sackt sein Kopf zur Seite. Der Kampf ist vorbei. "Nein…", murmelt Louis und sinkt auf die Knie. "Das kann nicht sein." Ich reibe seine Schulter und ziehe ihn hoch. "Du kannst dich später revanchieren", sage ich leise. Louis nickt. Er wirkt wie benommen. "Ethan?", sage ich und deute auf sein besiegtes Garados. Louis nickt abwesend und ruft sein Pokémon zurück. Er war so sicher, dass er gewinne würde, das sehe ich jetzt. Und Jens hat mit ihm den Boden gewischt. Jens kommt zu uns, sein Traunfugil schwebt schüchtern über seiner Schulter. "Selbstvertrauen ist eine Tugend, die wir erlernen müssen", sagt er und nimmt Louis bei den Schultern. "Aber sehr oft wandelt sie sich nach den ersten Siegen in Selbstüberschätzung um. Ich habe denselben Fehler gemacht. Es brauchte Gold und einige andere Trainer, um mir zu zeigen, dass wir nie aufhören dürfen, an uns zu arbeiten. Sieh deine Niederlage als einen Schritt in die richtige Richtung." Louis schaut betreten zu Boden. "Ich habe Bianca mühelos geschlagen, deswegen dachte ich, es würde von jetzt an so weiter gehen. Ich hätte mehr trainieren sollen." Jens nickt. "Ein Freund von mir ist kein großer Fan von Orden", sagt er dann. "Für ihn ist nur wichtig, stärker zu werden. Er will jeden Tag besser sein als am Tag zuvor. Training ist für ihn kein Mittel zum Zweck, es ist der Zweck selbst. Der Weg ist das Ziel, du kennst sicher das Sprichwort." "Also weiter trainieren?", fragt Louis. "Immer weiter trainieren, bis ich stärker bin?" "Wir dürfen nie aufhören, an uns zu arbeiten. Und unter uns: ein bisschen Kombinatorik in deinen Attacken würde auch nicht schaden." Louis läuft rot an.   "Oh Mann. Ich fühle mich wie ein Vollidiot", sagt Louis verbittert, als wir die Arena verlassen und Timothy, dem wir begegnet sind, Glück für seinen Kampf gewünscht haben. "Ich dachte, ich kann die Arena abhaken und mich sofort wieder auf den Weg machen. Wie dumm ich war!" "Du warst nicht dumm", sage ich. "Du hattest viel um die Ohren und hast dein Training dabei ein wenig aus den Augen verloren, das ist alles." "Vielleicht hast du Recht." Er seufzt. "Timothy wird bestimmt gewinnen und dann reist ihr ohne mich weiter." "Ich reise nicht ohne dich", protestiere ich. "Ich habe dich erst gestern wieder getroffen!" "Abby. Seit wann bist du in dem Pokécenter eingecheckt?" "Seit… ein paar Tagen." "Dann bist du fast pleite oder?" Ich werde rot. "Und wenn schon. Ich kann mir Arbeit suchen." "Das hättest du längst getan, wenn es welche gäbe, oder?" Volltreffer. Nach Team RES-Qs Auflösung habe ich alle Läden in Teak City abgeklappert, aber niemand hat eine Aushilfe gebraucht und auch wenn Schwester Joy mich gut leiden kann, lief der Monat sehr schlecht und sie konnte sich keine Vergünstigung leisten. Nur dank Chris´ Vorzahlung meines Essens bin ich überhaupt in der Lage gewesen, solange eingecheckt zu bleiben, aber Louis hat natürlich Recht. Ein oder zwei Nächte hält mein Budget noch aus, danach heißt es Tschüss warmes Bett und Hallo kalt-nasser Schlafsack. "Fein, du hast mich erwischt", sage ich, während wir das Pokécenter betreten. Die Tische sind gefüllter als noch heute morgen und ich entdecke eine Gruppe ehemaliger Qs, die zwei Tische zusammen gerückt haben und Folienkartoffeln mit Quark essen. Als sie mich sehen, winken sie. "Wer sind die?", fragt Louis leise, als wir in ihre Richtung gehen. "Mitglieder von unserem Team", sage ich. Dann lauter, "Hey, Leute. Ihr seid noch hier?" "Einige hier haben den oh so großen Jens noch nicht bezwungen", sagt Julian und grinst breit. Dann stößt er einen Schmerzlaut aus, als Corinna ihm gegen sein Schienbein tritt. "Du bist so unsensibel!" "Jaja… Zicke. Hey, Chef. Wer ist dieser überaus gut aussehende Typ, den du da bei dir hast?" Die anderen lachen los und Edward klopft Julian auf den Rücken. Ich strecke ihnen die Zunge raus und setze mich  mit Louis dazu. "Das ist Louis, ein Freund von mir", sage ich. "Louis, das sind ehemalige Qs: Der mit dem großen Mundwerk ist Julian, seine bessere Hälfte sitzt gegenüber und heißt Corinna, die anderen sind Edward, Annette, Paul und Carlotta." Ich deute nacheinander auf die sechs und schon bald sitzen wir alle tratschend, lachend und Kartoffeln schlemmend am Tisch. "Wo ist Toby?", frage ich, nachdem wir alle gesättigt sind. "Zuletzt hab ich ihn auf den Wiesen gesehen", sagt Edward. "Er wird Timothy anfeuern, nehme ich an." "Habt ihr alle den Orden noch nicht?", frage ich überrascht. "Ich dachte, alle Protrainer hätten Jens sofort herausgefordert." "Nicht alle", sagt Julian und grinst breit. "Manche von uns haben den oh so- Corinna, wenn du mich noch einmal trittst, dann gnade dir meine Faust!" Corinna hebt unschuldig die Hände und zwinkert mir zu. "Alles Komplizen hier", murmelt Julian beleidigt und schlürft an seinem Saft. "Was er damit sagen will, ist, dass ich und Edward unseren Orden noch nicht haben", sagt Annette und schaut peinlich berührt auf ihre Hände. "Wir wollten die Woche noch trainieren, aber haben irgendwie nicht genug Zeit gefunden und gestern gegen Jens verloren." "Ihr wart zu beschäftigt mit anderen Sachen", sagt Paul lachend. "Edward hat an Geschenken für Carlotta gebastelt und Annette musste unbedingt ihre Garderobe auffrischen." "Seid nicht so", sagt Corinna. "Das ist kein Rennen. Jeder sollte sich so viel Zeit nehmen, wie er braucht." "Ich habe auch verloren", sagt Louis und grinst sein Zahnlückengrinsen. "Es klappt eben nicht immer." "Wann wollt ihr weiter ziehen?", frage ich. "Wir wollten eigentlich gemeinsam nach Oliviana City gehen", sagt Julian. "Aber da…" Er schaut misstrauisch zu Corinna, die ihn unschuldig ansieht. "…da einige von uns leider nicht gegen Jens gewonnen haben wegen… Gründen, wollen wir uns jetzt aufteilen und dann in Oliviana City treffen." Louis schaut triumphierend in meine Richtung. Ich ignoriere ihn. "Und wie wollt ihr euch aufteilen?", frage ich. "Carlotta, Annette und ich bleiben hier, um zu trainieren und Jens erneut herauszufordern", erklärt Edward. "Julian, Corinna und Paul ziehen morgen weiter. Toby und Timothy werden entweder zu der einen oder der anderen Gruppe dazu stoßen." "Warum Carlotta?", frage ich. "Sie hat den Orden doch." "Ich kann meinen Freund nicht alleine lassen, nachdem er mir all diese Geschenke gemacht hat", sagt Carlotta und küsst ihn kurz auf den Mundwinkel. "Die waren ziemlich süß." "Oh, seid ihr jetzt zusammen?", frage ich aufgeregt. "Herzlichen Glückwunsch!" Edwards Ohren laufen rot an und Louis´ Gesichtsausdruck verfinstert sich für einen kurzen Moment, dann fängt er sich aber. "Siehst du Abby, das ist doch die perfekte Lösung", sagt er. "Ich bleibe mit den drei hier und trainiere und wenn wir Jens besiegt haben, holen wir euch in Oliviana City ein. Ihr werdet ja wohl eine Weile dort sein, oder?" "Eine Weile ist gut", sagt Julian mürrisch. "Jasmin gilt als die stählerne Wand. Niemand kommt so leicht an ihr vorbei. Wenn es einen Wendepunkt in der Arenaleiterstärke gibt, dann bei ihr. Ich habe von Trainern gehört, die mehrere Monate an ihr zu knabbern hatten, bevor sie gesiegt haben." "Das habe ich auch gehört", sagt Corinna. "Früher soll sie schüchtern und unsicher gewesen sein, aber die Jahre als Arenaleiter haben ihr Erfahrung und Selbstvertrauen gegeben und inzwischen ist sie eine der gefürchtetsten Arenaleiterinnen von Johto, nur übertrumpft von Sandra." "Und sie soll launisch sein", sagt Paul. "Wenn sie schlecht drauf ist, nimmt sie eins ihrer ausgemusterten Pokémon und kämpft mit ihm, obwohl die nicht mehr von der Liga für ihre Arena zugelassen sind. Und das Schlimmste ist: Meistens merkt niemand den Unterschied, weil sie ohnehin so stark ist. Dreimal ist sie zu Unrecht angezeigt worden und jetzt ignoriert die Liga die meisten Beschwerden." "Na, dann viel Spaß", sage ich grinsend. "Zum Glück muss ich mich nicht damit rumschlagen." "Warum bist du eigentlich kein Protrainer?", fragt Julian. "Stark genug bist du doch, oder?" "Ich will keiner vorgeschriebenen Route folgen", sage ich. "Außerdem will ich Reporterin oder irgendwas mit Medien werden." "Radiofutzi?", fragt Julian breit grinsend und reißt seine Beine auseinander, sodass Corinnas Tritt daneben geht. "Hah, damit hast du nicht ge-AUUU!" "Volltreffer", sagt Corinna und schlägt in Annettes dargebotene Hand ein. "Beine zu, Dummkopf, das ist gefährlich." Julians Kopf liegt auf dem Tisch, seine Augen sind geschlossen und er stöhnt und flucht sehr geräusch- und fantasievoll. In dem Moment öffnen sich die Türen des Pokécenters und wir drehen uns alle, mit Ausnahme von Julian, gespannt um. Ein breit grinsender Timothy steht im Eingang, begleitet von einem strahlenden Toby, der ihn hinein schiebt. "Gewonnen!", ruft Timothy und hebt den Phantomorden in die Höhe. Unser gesamter Tisch bricht in Jubelschreie aus und springt auf, um Timothy zu gratulieren, der nie zu Team RES-Q gehört hat und trotzdem automatisch in die Gruppe aufgenommen wird. Die beiden werden an den Tisch geschoben und mit Kartoffeln ausgestattet. Danach beginnt der Kampfbericht, der von den anderen mit anerkennendem Nicken, Stöhnen oder nachträglichen Ratschlägen kommentiert wird. Louis, dem seine Niederlage noch frisch im Gedächtnis ist, sieht zunächst ziemlich blass aus, nimmt sich aber schließlich ein Beispiel an Edward und Annette, die aufmerksam zuhören und die Tipps und Strategien für später behalten. Ein entspannter Nachmittag geht in einem genauso entspannten Abend über und schon bald sitzen wir in Julians und Pauls Zimmer, die das größte Doppelzimmer unserer Gruppe abbekommen haben, spielen Flaschendrehen, Wahrheit oder Pflicht und reden bis tief in die Nacht.   Am nächsten Morgen stehen Toby, Timothy, Corinna, Julian, Paul und ich mit gepackten Rucksäcken am westlichen Ausgang Teak Citys vor dem Durchgangshäuschen und verabschieden uns mit Umarmungen und Handschlägen von den Zurückbleibenden: Louis, Carlotta, Annette und Edward. "Wann kommt ihr nach?", frage ich zum dritten Mal an diesem Morgen. Louis umarmt mich und tätschelt dann meinen Kopf. "Sobald wir alle unseren Orden haben. In zwei bis drei Wochen, vermutlich." "Habt ihr alles?", fragt Julian über die allgemeine Unruhe. "Ja, Mama", sagt Toby grinsend und klopft ihm auf den Bauch. "Hast du deine Ei-äh, ich meine, deine Zahnbürste dabei?", verbessert er sich, als er Corinnas strafenden Blick sieht. "Das glaubst du aber, dass ich meine Zahnbürste dabei habe", sagt Julian frech grinsend. "Und sie ist größer als deine, darauf kannst du Gift nehmen- Au! Corinna, wenn du noch einmal-" "Na dann, auf geht´s!", übertönt Paul die beiden. Die ehemaligen Qs recken die Fäuste in die Höhe und marschieren los. Bevor ich das Häuschen betreten, schaue ich mich ein letztes Mal nach Louis um. Er ist schon auf dem Rückweg und unterhält sich lachend mit Annette. Ein kurzes Stechen in meiner Brust, aber dann ist es vorbei und ich kann lächeln. "Abby, sind dir Wurzeln gewachsen?", ruft Julian und ich drehe mich um und laufe zu den anderen. Es ist Sonntag, der 26. Oktober. Viel ist passiert. Viel hat sich verändert. Und meine Reise geht weiter. Kapitel 54: Blitz und Donner (Drei Chaoten und ein Blitzableiter) ----------------------------------------------------------------- Route 38 ist ein hügeliger Streifen Landschaft, umringt von den dichten Laubwäldern Johtos und gefüllt mit vereinzelten Baumgruppen, hohem Gras, weißen Zäunen, Weiden und Abhängen, welche die gesamte Wegstrecke auf mehrere Ebenen heben. Festgetretene Pfade markieren die häufig begangenen Wege, verlaufen sich aber zusehends, je weiter wir vordringen. Außer Louis bin ich noch nie mit anderen Protrainern gereist und ich stelle bald fest, dass sie Routen anders ablaufen als ich. Wo ich den Wegen folgen will, weichen sie von allen Pfaden ab, durchforsten systematisch das hohe Gras, suchen gezielt Augenkontakt mit anderen Trainern, die wir treffen und gehen im Allgemeinen jeden Umweg, der irgend möglich ist. Wilde Pokémon werden von dem Aufruhr angelockt und eines nach dem anderen bekämpft, besiegt oder gefangen. Ich schließe mich den allgemeinen Treiben an und nutze die Gelegenheit, Hunter und Gott zu trainieren und schaue interessiert den anderen bei ihren Kämpfen zu. Tobys Garados trifft dank seiner Statuswerte fast auf keinen Widerstand, lediglich die Trainer, denen er begegnet, stellen eine Herausforderung dar. Julians kleines Camaub scheint größere Probleme damit zu haben, wach zu bleiben, als gegen seine Gegner zu gewinnen und Julian verflucht es stetig und gutmütig. Corinna, nie weit von ihm entfernt, stellt sich zu meiner Überraschung als leidenschaftliche Käfertrainerin heraus, die mit ihren Pokémon Pionskora, Skaraborn und Pottrott jedem Gegner einheizt. Timothys Team ist ausgeglichener, aber die Liebe für seine Pokémon ist in jedem Angriff offensichtlich, manchmal etwas zu sehr, denn er wechselt oft aus, statt sein Pokémon besiegt werden zu lassen, was ihn vieler guter Chancen beraubt. Paul ist das genau Gegenteil. Seine Angriffe sind wenig durchdacht und offensiv, ob zum Guten oder Schlechten. Durch unsere von Training geprägte Fortbewegung erreichen wir erst am frühen Nachmittag eine kleine umzäunte Hügelkuppe, die von einigen Bäumen umgeben ist und einen Aprikokobaum beherbergt. Wir sind immer noch in Sichtweite des Durchgangshäuschens, trotzdem ziehen bereits dunkle Wolken auf. "Wir sollten ein Lager aufschlagen", meint Julian grimmig und ruft sein Pokémon zurück, bevor es zu regnen beginnt. "Ich hab gestern schon geduscht." "Es ist doch erst 16:00 Uhr!", protestiere ich, aber Gott versteckt sich bereits zwischen meinen Beinen und knurrt den Himmel an. "Mag sein", sagt Toby. "Aber es ist fast November, die Sonne geht in einer Stunde unter und so wie´s aussieht, haben wir ein ziemliches Unwetter über uns. Wir sollten unser Lager aufschlagen, bevor wir kein Licht mehr haben." Gesagt, getan. Ich helfe den anderen dabei, die Zelte aufzustellen und unsere Schlafsäcke darin unterzubringen, dann verteilen wir hastig unsere Essenrationen und werden gerade rechtzeitig fertig, bevor der Regen in Strömen auf uns niederprasselt. In Decken und Jacken eingewickelt sitze ich mit Corinna in dem kleinsten der Zelte und lausche dem Regen, der auf unser Zelt plätschert. "Kennst du Julian schon lange?", frage ich, nachdem wir mit Essen fertig sind und nebeneinander vor dem Zeltausgang sitzen und in den Regen hinausschauen. Tobys Garados und einige andere Wasserpokémon genießen das Wetterspektakel und liegen in Pfützen oder rennen durch das nasse Gras. Hin und wieder erhellt ein Blitz die dunkelgraue Wolkendecke, aber das Donnergrollen ist leise und weit entfernt. "Wir kommen beide aus Ebenholz City", sagt sie. "Wir sind mit den Legenden von mystischen Drachenpokémon und natürlich Sandra groß geworden. Als wir vierzehn waren, haben wir Sandra gebeten, uns Route 45 hinunter zu eskortieren, aber das hat sie abgelehnt." Sie schmunzelt. "Wir sollten alleine einen Weg finden. Ich weiß nicht, wie oft wir uns verlaufen haben. Fast einen Monat mussten wir jeden Tag umdrehen und nach Hause zurück gehen, weil wir voller Schrammen und blauer Flecke waren oder uns verlaufen hatten." "Habt ihr es geschafft?", frage ich. Sie lacht. "Oh ja, und wie. Julian wurde es irgendwann zu doof, mein Geheule nervte ihn und eines Tages war er nicht wie sonst an der Brücke und ich glaubte, er wäre ohne mich los gegangen. Ich habe mir die Augen ausgeheult, das kannst du mir glauben. Abends kam er freudestrahlend zurück und klingelte und ich schlug ihn KO." "Nicht wirklich?!", frage ich entsetzt. "Was ist passiert?" "Es stellte sich heraus, dass er den Weisen, der die Drachenhöhle bewacht, weggelockt hat, illegal in die Höhle vorgedrungen, in den Strudeln halb ertrunken ist und es trotzdem noch irgendwie geschafft hat, sich ein Dratini zu fangen. Er hat Hausarrest für den Rest des Monats bekommen und eine gehörige Standpauke von Sandra, aber danach haben wir uns auf sein Dratini geschnallt und sind den Fluss runter geschwommen, der die Route entlang fließt." "Das klingt ziemlich gefährlich", meine ich nach einer Weile. "War es auch." Corinna schüttelt amüsiert den Kopf. "Ich habe meinen Knöchel umgeknickt und Julian hat sich den Arm gebrochen und wir mussten vier Wochen in Rosalia City bleiben, bevor er die Erlaubnis bekam, weiter zu reisen." "Dann habt ihr einiges durchgemacht", sage ich. "Wie lange seid ihr schon unterwegs?" "Mit allem drum und dran fast ein Jahr." Sie lacht. "Ich gebe zu, dass wir nicht die unproblematischste Reise hatten, aber ich würde keine Sekunde eintauschen. Probleme schweißen zusammen. Und ich bin wirklich froh, euch Qs kennen gelernt zu haben. Diese Art von Gemeinschaft hat mir echt gefehlt." Ich nicke andächtig. Dann grinse ich. "Meine Reise war auch nicht ganz ohne…", beginne ich und schon bald lauschen wir gegenseitig gebannt den verrücktesten Erlebnissen, die wir hatten. Und das sind bei keinem von uns wenige. Am nächsten Morgen ist der Boden weich und das Gras feucht vom gestrigen Regen, aber das hindert unsere Gruppe nicht, nach einem kleinen Frühstück bestehend aus Äpfeln und Butterbroten von gestern Abend unsere Reise fortzusetzen. Gott weigert sich, ins hohe Gras vorzudringen und so lasse ich ihn neben mir her trotten, während Hunter alles, was sich bewegt, aus dem Flug heraus attackiert und mir stolz zu Füßen legt. Als Julian und Corinna nach etwa zwei Stunden zu mir aufholen, beobachten sie mit sichtlichem Vergnügen Hunters Darbietungen. "Na, das erklärt die Schneise des Todes", sagt Julian. "Welche Schneise?", frage ich und drehe mich um, als Corinna mit dem Daumen hinter uns zeigt. Der gesamte Weg ist in regelmäßigen Abständen mit besiegten Pokémon übersät. "Oh", sage ich schließlich. "Ups." Dann brechen wir in hysterisches Lachen aus. Hunter, der immer noch vor mir sitzt und seine Kopfstreicheleinheit erwartet, krächzt fröhlich und flattert auf meine Schultern, wo er sich flügelschlagend niederlässt. Gott faucht leise und sein Rücken flammt so stark auf, dass meine Hose beinahe Feuer fängt. "Jungs, Jungs, aufpassen!", rufe ich entsetzt und springe zur Seite, um Gotts Flammen zu entgehen. Er schaut mich beleidigt an. "Da ist jemand eifersüchtig", sagt Corinna fröhlich. "Ja, Abby, entscheid dich Mal für deinen Zukünftigen", sagt Julian grinsend und weicht geschickt Corinnas Tritt aus. "Noch einmal erwischst du mich nicht, junge Dame." "Das werden wir noch sehen." Der Himmel klart mit der Zeit auf und gegen Mittag können wir uns eines klaren Himmels und warmen Sonnenstrahlen erfreuen, auch wenn die Winde stärker und kälter werden, je näher wir der Hafenstadt Oliviana City kommen. Wir nutzen das gute Wetter für ein Mittagspicknick, knabbern Gurken und Möhren und trinken Tee aus dem gestern aufgefangenen Regenwasser, den wir über einen kleinem Feuer brühen. Tamot ist leider nicht dabei, aber das ist schon in Ordnung. Hunter und ein Tauboss ziehen über uns ihre Kreise und nach der kleinen Pause beginnen die ersten Freundschaftskämpfe, auch wenn wir darauf achten, unsere Pokémon nicht zu sehr zu schwächen. Die meisten haben sich zwar sorgfältig mit Supertränken, Gegengiften und anderen Heilitems ausgestattet, aber ein Pokécenter wird es trotzdem erst in Oliviana City geben und bis dahin gilt es noch viele Gegner zu besiegen, Trainer und wilde Pokémon gleichermaßen. Als es dämmert, entdecke ich am Ende der Route die Silhouette einiger Gebäude gegen den stetig dunkler werdenden Horizont, die auf einer Hügelkuppe nicht weit von unserem Standort stehen. "Was ist das?", frage ich Paul, der gerade neben mir geht und mit seinem Pokédex beschäftigt ist. Er hebt den Kopf. "Oh, das wird die Kuhmuh-Farm sein. Hey Leute, wir haben die Route fast geschafft!", ruft er den anderen zu, die etwas hinter uns laufen. Ein allgemeiner Jubel erhebt sich in die Lüfte und Hunter krächzt glücklich, aber die Begeisterung ist gedämpft von Müdigkeit. Unsere Füße tun weh und niemand hat Lust, noch eine Nacht draußen zu verbringen, zumal der Himmel sich wieder zuzieht und es nach nahendem Gewitter riecht. Mit dem Geruch bin ich inzwischen vertraut. "Hunter, komm her!", rufe ich und als er neben mir landet, schwinge ich mich auf seinen Rücken. "Ich kundschafte aus und frage, ob wir die Nacht in einem der Schober verbringen dürfen", verkünde ich und der Jubel wird ein bisschen lauter. Ich grinse, tätschele Hunters Hals und erwarte den Moment des Abflugs, wenn mein Magen in meine Kniekehlen sackt. Er kommt und ich schieße in die Lüfte. Fliegen ist eine dieser Fähigkeiten, die man erst wertschätzt, wenn man sie besitzt. Der Wind brennt in meine Augen und meine Fingerknöcheln frieren fast augenblicklich ein, aber das Gefühl, frei zu sein, überall hin zu kommen, unbesiegbar zu sein, macht jeden Schmerz wett. Ich lenke Hunter ein wenig unbeholfen mit meinen Oberschenkeln Richtung Farm und spüre die ersten Tropfen, die mir in die Augen schießen. Auf Grund seines noch etwas niedrigen Levels kann Hunter nicht sehr lange in der Luft bleiben, aber meine Befürchtungen erweisen sich als unnötig, denn wir rasen über die Wiesen und Hügel hinweg und landen keine fünf Minuten später vor dem Eingangstor der Farm. Aus der Ferne habe ich nur die Gebäude erkennen können, aber die Farm nimmt ein gutes Drittel der gesamten Route 39 ein. Ein Haupthaus steht im nördlichsten Teil des Grundstück und mehrere Ställe wurden seitlich über die Jahre angebaut. Eine kleine Aprikokoplantage von sechs Bäumen liegt gleich neben dem Eingangstor und große Weiden erstrecken sich bis weit nach Süden. Am Ende fällt der Boden ab, aber ich kann die Spitze eines Silos über den Hang hervor ragen sehen. Dahinter geht es in steilen Abhängen bis nach Oliviana City. Selbst aus dieser Entfernung ist der Leuchtturm und das Meer sichtbar. Ich tätschele Hunters Hals und betrete das Anwesen. Zwei junge Frauen sind auf den Weiden damit beschäftigt, die Pokémon zusammen zu treiben und in die Ställe zurückzubringen. Die zwei Ponita bedürfen keiner großen Überredungskunst. Die ersten Tropfen fallen zu Boden und schon galoppieren sie über die Wiese und in Richtung ihres Stalls. Etwa zehn Miltank und drei Tauros lassen sich ohne Widerwillen oder große Begeisterung von den Frauen von der Weide führen und werden schließlich vor dem Stall angebunden, bevor die beiden zur Weide zurückkehren und mich entdecken. "Trainer?", fragt die etwas größere. Ihr dunkelbraunes Haar ist zu einem Bauernzopf zusammengebunden, der halb aufgelöst ist und sie zieht zwei dicke Handschuhe aus ihrer Latzhose, die sie sich über zieht. "Wenn du Unterschlupf suchst, geh ins Haupthaus, meine Mutter kann dir helfen." "Oh", sage ich, etwas verwirrt. "Danke." Ich wende mich mit Hunter dem Hauptgebäude zu, nicht, ohne vorher ein letztes Mal zu der Weide zu gucken. Vier Pokémon sind noch draußen und von der schwarz-weißen Färbung schließe ich auf drei Elezeba und ein Zebritz, die aufgeregt mit den Hufen scharren und die Köpfe schnaubend vor und zurück werfen. Damit wäre wohl die Frage nach der Stärke des Gewitters geklärt. Apropos Gewitter. Der Regen wird stärker und in der Ferne höre ich das erste Donnergrollen. Es kann nicht mehr lange dauern. Ich rufe Hunter zurück und laufe die letzten Meter bis zu Eingangstür, die halb offen steht. "Entschuldigung?", rufe ich, als ich den Flur betrete und außer einem gigantischen Treppenhaus niemanden vorfinde. "Ich wurde hier hin verwiesen, es tut mir leid, dass ich…" Eine etwas ältere Frau taucht in der Tür des linken Flügels auf und wischt sich ihre Hände an ihrer Schürze ab. Ein Tuch ist um ihren Kopf gewickelt, aber graubraune Haarsträhnen sind hier und da unter dem Stoff hervor gerutscht. "Trainer?", fragt sie und ich nicke. "Ich bin mit fünf anderen unterwegs", erkläre ich. "Ich bin vorgeflogen, um zu fragen, ob wir womöglich in einem der Ställe unterkommen können." "Ach was, Ställe, wofür haben wir denn das Haus ausgebaut", sagt die Frau und winkt mich zu sich. Ich folge ihrer Anweisung und finde mich in einer geräumigen Küche mit großem Esstisch und Sitzbänken wieder. Neben den Küchentheken prasselt ein Feuer in dem Kamin und mir wird augenblicklich wärmer. "Mein Mann ist gerade im Keller, er sollte gleich hochkommen, aber keine Sorge, wir haben schon einmal zehn Trainer unterbringen müssen, deine Freunde bereiten uns keine Probleme." "Vielen Dank." "Ach was." Sie macht sich ein zwei großen Töpfen zu schaffen, die auf dem Herd vor sich hin brodeln. "Ich habe mir schon gedacht, dass wir bei dem nahenden Gewitter Besuch kriegen würden und dementsprechend gekocht. Man lernt, sowas mit der Zeit zu erahnen. Und natürlich haben unsere Elezeba die halbe Weide niedergetrampelt, so aufgeregt waren sie. Schon seit heute Morgen geben sie keine Ruhe." "Werden die vier auch in die Ställe gebracht?", frage ich. "Nur die kleinen", sagt die Frau und probiert einen Löffeln von dem Eintopf. "Zebritz ist schon erfahrener, sie muss draußen bleiben. Als Blitzableiter, sozusagen." "Blitzableiter?", frage ich und lasse mich auch einer der Bänke nieder. "Wie das?" "Die vier haben die Fähigkeit Blitzfänger, was im Grunde bedeutet, dass sie alle elektrischen Attacken und eben auch Blitze anziehen", erklärt sie. "Das macht die Gewitternächte lauter, aber immerhin haben wir keine Brandgefahr hier. So hoch auf einem Hügel kann das schnell zu einem Problem werden." Sie seufzt und rührt abwesend in dem Topf. "Vor fünf Jahren ist unser Haupthaus zu großen Teilen abgebrannt. Danach haben wir in ein Elezeba investiert und später noch drei dazu bekommen. Letztendlich hatte es auch etwas Gutes, so konnten wir von Grund auf renovieren. Bisher war mein Mann immer dagegen, aber so hatte er keine Wahl." Wie auf Kommando höre ich das Knarzen von Treppenstufen und einige Sekunden später taucht ein dickbäuchiger Mann mit sehr muskulösen Armen im Türrahmen auf. "Lästert Elsa wieder über mich?", fragt er an mich gewandt und geht dann zu ihr hinüber, um den Eintopf zu probieren. "Sie lästert immer mit Trainern über mich, das ist ihre Lieblingsbeschäftigung." "Werner, wir essen gleich! Finger weg! Ah!" Er greift sie um die Taille und hebt sie aus der Küche. Elsa lacht und windet sich und atmet erleichtert aus, als ihr Mann sie absetzt und in Seelenruhe zu dem Topf zurück geht, um einen Löffel zu probieren. "Sie ist kitzlig, musst du wissen. Oh, das ist wunderbar, du hast dich selbst übertroffen." Elsa richtet ihre Schürze und das Kleid darunter, dann lässt sie sich mit einem selbstzufriedenen Blick mir gegenüber an den Tisch sinken. "Aber warum lasst ihr nicht alle vier draußen?", frage ich, um die Unterhaltung wieder aufzunehmen. "Weil", sagt eine Stimme hinter mir, "sie ungestüme, kleine Chaoten sind, die sich in ihrer Aufregung überladen und dann darf ich sie nach Oliviana City ins Pokécenter fahren, weil sie überladen sind und nicht wissen, wohin mit ihrer Energie." Ich drehe mich auf dem Sitz um und entdecke die Frau von draußen. Sie trägt immer noch die Handschuhe und im Schlepptau hat sie fünf sehr durchnässte Qs. "Wir sind da", sagt Julian, der tropfnass ist und aussieht, als wäre er gerade in einen Kuhfladen getreten. Die Tatsache, dass er nur einen Schuh trägt, ist zumindest ziemlich verdächtig. "Ich hoffe, du hast einen Deal für uns ausgehandelt, Abby, sonst schmeiße ich irgendetwas auf den Boden." Er schielt zu Corinna, die neben ihm steht. "Vermutlich sie." "Hey!" Das entlockt sogar der so ernst aussehenden Frau ein Schmunzeln, die ich wegen ihrer ähnlichen Gesichtszüge als Elsas Tochter identifiziere. "Immer diese Mädchen, was?", sagt sie und wirft Julian ein freches Grinsen zu. "Kommt, ich zeig euch, wo ihr eure nassen Klamotten hinschmeißen könnt. Papas Gesichtsausdruck nach zu urteilen ist das Essen fast fertig." "Oh ja", sagt Werner und isst einen weiteren Löffel. "Wenn du willst, kannst du mitgehen, aber du siehst noch trocken aus", sagt Elsa. "Mir geht´s gut", sage ich. "Also ist Zebritz der einzige, der die Blitze abfangen kann?" "Die einzige, ja", verbessert Elsa schmunzelnd. "Wir haben sie auf einem relativ hohen Level bekommen, deswegen hat es nicht lange gedauert, bis sie sich entwickelt hat. Die drei anderen waren jünger und dementsprechend schwächer, aber weil wir mit Susan nie Probleme haben, ließen wir sie anfangs mit draußen. Am nächsten Morgen lagen sie zittrig und paralysiert auf der Weide. Es war zum Glück nur ein kleines Gewitter, nicht so wie heute, sonst hätten die Folgen weit schlimmer sein können. Susan weiß, dass sie bei zu viel Statik im Körper starke Elektroattacken benutzen muss, aber die drei kannten noch keine und so mussten wir sie nach Oliviana City fahren, um die Statik mit einer Maschine abbauen zu lassen." "Sind sie immer noch so schwach?", frage ich. "Nein, jeder von ihnen kann inzwischen wenigstens Schockwelle, aber ihre Körper können einfach noch nicht so viel Elektrizität aufnehmen, wie ein Gewitter mit sich bringt. Wir müssten sie trainieren, aber Cora und Frieda haben viel auf der Farm zu tun und sind ohnehin lieber mit ihren Ponita unterwegs. Susan kümmert sich gut um sich selbst, nach einem Gewitter lassen wir sie ohne Aufsicht ins hohe Gras, bis sie sich entladen hat, aber unsere Chaoten würden wir nie wieder finden." "Gab es schon Probleme mit den dreien?", frage ich, neugierig geworden. "Sie haben den Chaotenruf nicht ohne Grund weg", sagt Elsa. "Ray und Clover sind die Ungestümen, aber auf Jay muss man wirklich Acht geben. Er hält sich bedeckt und sobald man ihm den Rücken kehrt, haut er ab." "Klingt nach einem ziemlichen Rabauken", sage ich und Elsa lacht. "Oh ja." "Frieda, das Essen ist gleich fertig!", ruft Werner, der immer noch neben dem Eintopf steht und die jüngere der Töchter im Flur entdeckt hat. Elsa und ich drehen uns um. "Das Wetter bringt mich um", murmelt Frieda und tritt durchweicht in die Küche. "Die Pokémon sind in den Ställen, Susi steht auf der Weide und ist bereit für Action. Gib mir mal den Löffel, Papa." "Esst euch nicht satt, bevor die Gäste wieder unten sind, großer Gott!", ruft Elsa, steht auf und nimmt Frieda den Löffel aus der Hand. "Zieh dich um, wir essen gleich am Tisch wie anständige Leute." Frieda hebt ergeben die Hände, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet im Treppenhaus. "Und du, weg von dem Eintopf." Werner nimmt einen letzten Löffel des Eintopfs, dann flüchtet er sich an den Tisch. "Liebe Güte…", murmelt Elsa und beginnt, den Tisch zu decken und Brot zu schneiden. Wenige Minuten später kommen fünf frisch gekleidete Qs, eine in Bademantel und Pantoffeln gekleidete Frieda und Cora nach unten und setzen sich an den gewaltigen Tisch. Elsa stellt die beiden Töpfe und zwei Körbe frisch geschnittenes Brot auf den Tisch und schon bald ist nur noch unser Kauen und ein gelegentliches Kompliment an Elsas Kochkünste zu hören. Dann beginnt das Gewitter. Blitze erhellen den Himmel hinter den Fenstern und Donner folgt in immer kürzer werdenden Abständen. Es dauert nicht lange, bevor die ersten Lichtsäulen in Susan einschlagen, die auf der Weide steht und mit den Hufen scharrt. "Eure Unterbringung kennt ihr ja schon", sagt Cora und steht auf. "Wenn ihr Probleme beim Einschlafen habt, euer Pech." Sie grinst und fängt sich einen bösen Blick ihrer Mutter ein. "Ihr könnt euch im Haus frei bewegen, bleibt nur nach Möglichkeit drinnen, auch wenn euch in Susans Nähe nichts passieren sollte, aber sie hält eben nur Blitze in einem gewissen Umkreis ab." "Was waren das eigentlich für Handschuhe, die du vorhin anhattest?", fragt Toby und sammelt mit etwas Brot die letzten Eintopfreste aus seinem Teller auf. "Die isolieren, sonst krieg ich einen Schlag", sagt Cora. "So, ich bin weg, ich hab noch zu tun." "Telefonate mit ihrem Freund, wette ich", murmelt Julian und weicht Corinnas Ellbogenstoß elegant aus. Cora streckt ihm die Zunge raus, dann verschwindet sie nach oben. "Cora entwirft Pokémonsättel", sagt Werner und lehnt sich nach hinten. "Sie hat früher schon immer gerne gezeichnet und irgendwann ist sie dann auf Sättel gekommen. Sie will ihr Hobby zum Beruf machen, aber bisher ist die Anfrage noch etwas gering. Viele Pokémon lassen sich auch ohne Sättel reiten oder werden von ihren Trainern mit selbst gemachten Sätteln versorgt. Die sind nicht so hochwertig wie Coras Designs, aber oft funktionstüchtig genug." "Ihr ganzes Zimmer ist voll mit Designs", sagt Frieda und nimmt sich noch etwas von dem Eintopf. Ihr dunkler Pony fällt in ihre Augen. "Sie hat Entwürfe für Ponita und Gallopa, Elezeba, Zebritz, Tauros, Bisofank und für Kronjuwild. Dafür hat sie sogar einen Abnehmer bekommen." "Wirklich?", frage ich aufgeregt. "Von wem?" "Lass mal nachdenken, das war irgendeine berühmte Trainerin, glaube ich. Gi… Ge…" "Genevieve Keller?", frage ich vorsichtshalber. Friedas Gesicht hellt sich auf. "Ja, genau! Diese Favoritin. Sie war vor Monaten mal hier und hat sich von Cora einen Sattel designen lassen, der in Kämpfen nicht im Weg ist. Sie war so begeistert, dass sie sich eine Spezialanfertigung hat machen lassen." "Wo lässt man sich bitte Sättel machen?", fragt Paul. "Unten in Oliviana City ist ein Sattler tätig. Er macht zwar normalerweise andere Lederwaren, aber er hat schon drei oder vier von Coras Entwürfen verarbeitet. Daher haben unsere Ponita ihre Sättel." "Was es nicht alles gibt", murmelt Toby. Dann steht er auf. "Ich bin müde, Leute. Morgen müssen wir früh raus, also schlage ich vor, dass wir schlafen gehen." "Bin ich für", sagt Julian gähnend. "Coco, kommst du?" Corinna nickt. "Die Räume sind sehr gemütlich", sagt sie an Elsa gewandt. "Noch einmal vielen Dank, dass wir hier übernachten dürfen." "Ach was." Elsa macht eine wegwerfenden Handbewegung, dann beginnt sie mit dem Abräumen. Unsere Gruppe verabschiedet sich von den restlichen Familienmitgliedern und geht die Treppen hinauf, bis wir den Dachboden erreichen. "Da wären wir", sagt Toby stolz und breitet die Arme aus. "Unser Quartier für die Nacht." "Schick", sage ich. Zwei Dachschrägen verkleinern den Raum etwas, aber die Fläche ist groß genug, um zehn oder mehr Schlafsäcken Platz zu bieten. Alte Geräte und Deckenstapel liegen in den Ecken und wir bedienen uns sofort, denn trotz der geschlossenen Fenster ist es hier oben ziemlich kalt. Blitze erhellen die Nacht und Donner prallt auf meine Ohren wie Kanonenschüsse, aber das bin ich ja seit Raikous Rettung gewohnt und zu wissen, dass es hier einen funktionierenden Blitzableiter gibt, ist durchaus beruhigend. Leises Flüstern begleitet meine Gedanken, kurz bevor ich einschlafe. Als ich erwache, ist es noch genauso dunkel wie zuvor. Schlaftrunken drehe ich mich in meinem Schlafsack um, nur um von einem weiteren Blitz endgültig wach gerüttelt zu werden. Mit trockener Kehle schäle ich mich aus meinem Schlafsack und schleiche auf leisen Sohlen an den Fenstern vorbei zur Tür – und bleibe stehen. Ich bin noch nicht ganz wach, aber… sollte nicht nur Zebritz auf der Weide stehen? Kapitel 55: Bindung (Verrückte Herausforderung) ----------------------------------------------- Ich laufe den Gang entlang und die Treppenstufen hinunter, bis ich in der Eingangshalle ankomme. Das einzige Licht kommt aus der Küche und ich renne hinein. Frieda sitzt alleine am Tisch und brütet über Papierstapeln, eine Tasse dampfender Flüssigkeit neben ihr. Als sie mich hört, schaut sie überrascht auf. "Hast du Durst?", fragt sie. Ich schüttele den Kopf. "Eins von den Elezeba ist ausgebrochen", sage ich schnell. "Ich habe es vom Dachboden aus auf der Weide gesehen. "Diese verdammten…", murmelt Frieda, nimmt einen letzten Schluck aus ihrer Tasse und steht auf. "Wenn er noch nicht zu weit weg gelaufen ist, sollten wir ihn zu zweit einfangen können. Würdest du mir helfen?" "Natürlich." Gemeinsam laufen wir nach draußen in den strömenden Regen. Susan, das Zebritz, steht seelenruhig auf der Weide, an einen langen Strick angebunden und betrachtet interessiert ihren kleinen Artgenossen, der freudig durch die Gegend springt. Als er uns sieht, nimmt er reiß aus. "Das ist Jay, dieser hinterhältige…", flucht Frieda und rennt in Richtung der Stallungen. "Wenn er ein oder zwei Blitze abkriegt, ist das kein Problem, aber ich will nicht herausfinden, wie viele er maximal verträgt. Hier, nimm die." Direkt hinter der Stalltür hängen die isolierenden Handschuhe, die Cora zuvor getragen hat und die Frieda mir jetzt in die Hände drückt. Dann zieht sie eine große, metallisch glänzende Decke von einem Strohballen und wirft sie sich über die Schulter. "Bis die anderen hier sind, ist Jay über alle Berge", sagt sie, während wir auf die Weide laufen und uns dabei die Handschuhe anziehen. "Wofür ist die Decke?", frage ich und blinzele den Regen aus meinen Augen. Matsch spritzt unsere Beine empor. "Wenn er bewusstlos ist, können wir ihn damit zurück tragen", erklärt Frieda. "Du willst kein überladenes Elektropokémon mit bloßen Händen anfassen, glaub mir." Susan schnaubt, als wir an ihr vorbei laufen. Jay ist nirgends zu sehen. "Er muss schon beim Silo sein", ruft Frieda, als sie vorläuft. Im nächsten Moment erhellt ein gewaltiger Blitz die Nacht und schlägt krachend etwa zweihundert Meter von uns hinter dem Abhang ein. "Da. Komm!" Es ist in Momenten wie diesen, da ich spüre, dass meine Ausdauer sich verbessert hat. Ich lege einen Zahn zu und hole fast zu Frieda auf, bevor ein zweiter Blitz vor uns einschlägt, gefolgt von einem dritten und vierten in kurzer Folge. Frieda flucht und sprintet los. Sie ist schon am Rand des Weidenhangs ankommen, als ein Stein unter ihrem Fuß nachgibt, sie umknickt und den Abhang hinunter fällt. Ihr kurzer Schrei geht in dem tosenden Donner unter, der den nächsten Blitz begleitet. "Frieda!" Ich renne auf den Abhang zu und rutsche zu ihr hinunter. Sie liegt im Matsch und hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Knöchel. Als sie mich sieht, winkt sie ab. "Mir geht´s gut. Bring Jay hier weg, er hält nicht mehr lange durch…" Sie beißt sich auf die Lippen und lässt sich wieder auf die Seite sacken, Hände um ihren Knöcheln geschlungen. Ich nehme die Decke, die neben ihr zu Boden gefallen ist und nähere mich vorsichtig Jay, der etwa fünfzig Meter entfernt im Schlamm liegt. Kleine Blitze entladen sich von seinem aufgestellten Fell in die Luft und er zuckt unkontrolliert, seine Augen drehen sich panisch hin und her. "Alles gut", murmele ich und laufe auf ihn zu. Der Gedanke, jeden Moment von einem Blitz erschlagen zu werden, ist nicht neu, aber ziemlich unpraktisch und so schiebe ich ihn bei Seite und erreiche Jay nur wenige Sekunden später. Ich breite die Decke neben seinem Körper auf und packe seinen Kopf mit meinen behandschuhten Händen. "Hör mir zu, Jayjay", sage ich und schaue ihm in die ängstlichen Augen. "Ich bringe dich hier weg, also arbeite mit mir, okay?" Ein Blitz schlägt weiter entfernt beim Anwesen in Susy ein und gibt mir das Zeichen, mich zu beeilen. Ich rolle Jay so gut es geht auf die isolierende Plane, dann packe ich den Griff, der an allen vier Seiten angebracht ist und beginne mit dem Ziehen. Mein erster Gedanke ist der Stall, aber die Idee erweist sich schnell als nicht umsetzbar. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich kann Jay nicht den Hang hinauf ziehen. Zweimal rollt er fast von der Plane herunter, bevor ich das Vorhaben aufgebe. Ich bin nicht mal sicher, ob ich alleine wieder hochkommen würde. Verzweifelt schaue ich mich um und entdecke das Silo, das nahe des Waldes westlich der Weide steht. "Ist das Silo offen?", schreie ich über den prasselnden Regen in Friedas Richtung, die an den Hang gerobbt ist, um sich dort ein wenig vor dem Unwetter zu schützen. "Ja!", ruft sie zurück. "Tritt kräftig gegen die Tür, wenn sie nicht aufgeht!" Ich nicke und beginne, Jay in Richtung Silo zu schleifen. Der nächste Blitz schlägt direkt in ihn ein und ich unterdrücke einen Schrei. Ich muss Jay hier weg bringen, egal wie. Als wir das Silo erreichen, rüttele ich am Türgriff und trete schließlich, wie Frieda empfohlen hat, mit aller Kraft gegen das rostige Metall. Die Tür springt auf und ich ziehe Jay mühsam hinein. Als ich sicher bin, dass er weit genug von dem offenen Unwetter entfernt ist, laufe ich nach draußen und helfe Frieda, die schon auf halbem Wege zu uns ist und sichtlich humpelt. Sie stützt sich dankbar auf meine Schulter und gemeinsam gehen wir ins Silo. Die Tür hinter uns zu schlagend lasse ich mich erleichtert neben Jay und Frieda auf den Boden sinken. Der innere Teil des Silos besteht aus einem Metallkäfig, verstärkt mit Backsteinen und Beton. Die hintere Hälfte des runden Gebäudes liegt höher und ist mit Treppen erreichbar und beherbergt eine Kurbeln und Knöpfe, um das eigentliche Silo darüber zu öffnen oder zu schließen, das wie ein gewaltiger Metalltrichter über uns hängt. "Er sieht nicht gut aus", murmelt Frieda und streicht mit behandschuhten Händen über Jays Kopf. Der arme Kerl zittert wie verrückt und sein Fell knistert und entlädt sich sekündlich. "Wir müssen ihn entladen", sage ich. Frieda nickt. "Wir hätten die drei besser trainieren sollen… Verdammt." "Wir kriegen das schon hin", sage ich. "Schon deinen Knöchel, ich mache das schon." "Wie willst du das schaffen?", fragt Frieda skeptisch, aber ihr Gesicht ist angespannt, so als würde sie ziemliche Schmerzen unterdrücken. "Ich bin Trainer, mir fällt schon was ein", sage ich. Leichter gesagt als getan. Ich habe zwar meine Pokémon dabei, aber keins von ihnen ist ein Erdtyp. Das wäre vielleicht hilfreich gewesen. Aber man kann schließlich nicht alles haben. "Hey, Jayjay", flüstere ich und gehe neben ihm auf die Knie. Das kleine Elezeba zittert und seine Augen rollen panisch in ihren Höhlen. "Alles wird gut, okay? Ich bin immer noch hier." Das Zittern bleibt, aber meine Stimme scheint ihn etwas zu beruhigen. Ich rufe Gott, der bei gleich zwei Fremden sofort laut knurrt. "Das sind Freunde", sage ich streng. "Dreh dein Feuer ein bisschen auf, bitte. Wir sind völlig durchgeweicht." Gott schaut mich skeptisch an, dann macht er es sich zwischen mir und Frieda gemütlich, rollt sich ein und lässt das Feuer auf seinem Rücken heiß auflodern. "Oh, das ist praktisch", sagt Frieda mit brüchiger Stimme und zieht ihre Schuhe und nassen Klamotten aus. Ich tue es ihr gleich. Mit nassen Sachen neben einem überladenen Elektropokémon zu sitzen, ist vielleicht nicht die beste Idee. In Unterwäsche und mit den Handschuhen bewaffnet ziehe ich Jay auf der Decke zu den Metallstreben, die das gesamte Gebäude von innen stabilisieren. Ich sehe mich ein letztes Mal um, überprüfe, dass das Metall nicht auf den Boden geleitet werden kann, dann ziehe ich Jay das letzte Stück, bis sein Bein den Stahl berührt. Wie erwartet springt die Elektrizität sofort auf den Stahl über. Jay schnaubt hysterisch und reißt seinen Huf weg, aber ich packe sein Bein mit meiner rechten und seinen Kopf mit meiner linken Hand und halte ihn fest in der Position, während ich beruhigend auf ihn einrede. Draußen tost das Gewitter weiter wie bisher und mir ist furchtbar kalt, so weit von Gott entfernt bringt seine Flamme nicht viel, aber ich reiße mich zusammen und halte Jay weiterhin fest. "Ich bin hier", murmele ich, immer wieder, wie ein Mantra. "Ich bin hier, Jayjay, alles wird gut. Ich bin hier." Als ich mich nach einer Weile zu Frieda umdrehe, ist sie zur Seite gesackt, eine Hand immer noch um ihren Knöchel gelegt. Sie schläft. "Wenigstens einer von uns…", murmele ich erschöpft und streiche beruhigend über Jays Hals. Er ist inzwischen ruhiger geworden, sein Körper hat sich entspannt und er versucht schon seit einer Weile nicht mehr, sich loszureißen. "Hey, Jayjay", sage ich und warte, bis seine Augen sich auf mich richten. "Probier mal deine Schockwelle." Jay macht ein unglückliches Gesicht, presst aber sein Bein gegen das Metall und ein Stoß Elektrizität setzt den gesamten Silokäfig unter Strom. "Nochmal", sage ich. Jay wiederholt die Attacke auf meine Anweisung wieder und wieder. Allmählich entspannt sich sein Körper und schließlich lässt er erleichtert den Kopf zur Seite sacken. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber der Donner hat schon vor einer ganzen Weile aufgehört und auch der Regen lässt langsam nach. Dem Gefühl meiner Augenlider nach zu urteilen ist es inzwischen schon früher Morgen. Erschöpft und ausgelaugt ziehe ich Jay von dem Metall weg und lasse mich neben ihm auf den Boden fallen, wo ich mich in Gotts Nähe zusammenrolle. Der schläft inzwischen selbst, sein Rückenfeuer ist zu einer sachten Glut abgesunken, aber aus dieser Nähe reicht mir die Wärme. Ich bin schon fast eingeschlafen, da spüre ich das Stupsen einer weichen Pokémonnase in meinem Nacken. Ich öffne ein Auge und schaue nach oben. Jays Gesicht schaut dankbar zu mir herab und er tänzelt ein wenig vor und zurück, bevor er sich hinter mir einrollt und seinen Kopf auf meine Taille bettet. Froh, zu sehen, dass er die Nacht überstanden hat, murmele ich ein leises Gute Nacht und schlafe fast augenblicklich ein.   Licht strömt in das Silo und ich stöhne, als die Sonnenstrahlen direkt in mein Gesicht fallen. Gott zischt, angestachelt durch meine Unwilligkeit und ich rufe ihn zurück, bevor er irgendjemanden angreifen kann. Ursache meines Erwachens ist Frieda, die humpelnd von der offenen Silotür zurückkommt und sich an ein Treppengeländer stützt. "Wir müssen meinen Eltern Bescheid sagen", sagt sie und verzieht ihr Gesicht, als ihr Knöchel sich wieder bemerkbar macht. "Es ist schon morgen, sie sind bestimmt krank vor Sorge." "Ich hole sie", sage ich. "Du schaffst den Weg nicht, es ist zu rutschig draußen und du solltest deinen Fuß schonen." Sie nickt, wenn auch unzufrieden. "Ich bin wirklich begeistert", sagt sie dann. "Warum?" Sie deutet nach draußen. Ich schatte meine Augen ab und gehe vorsichtig auf die Weide. Jay tobt und sprintet und schlittert über die matschige Weide, wirft den Kopf vor und zurück und freut sich allem Anschein nach seines Lebens. Als er mich sieht, hält er inne und läuft zu mir. Er hat mich kaum erreicht, da reckt er seinen Kopf und leckt mir über den Hals, was mir einen Schlag verpasst. Ich zucke zusammen, tätschele aber seinen Hals. Jay wiehert und drückt seinen Kopf in meine Armbeuge. "Du hast dir einen Freund für´s Leben gemacht", sagt Frieda von drinnen. "Ich habe ihn noch nie so zutraulich oder gehorsam gesehen." "Wir haben auch einiges durchgemacht gestern Nacht, was, Jayjay?", frage ich grinsend und das Elezeba schnaubt zustimmend, dann springt er zweimal in die Höhe und stellt sich seitlich zu mir. "Oh je", lacht Frieda. "Was?", frage ich, verwirrt. "Er will, dass du ihn reitest." Ich schaue entsetzt zu ihr, dann zurück zu Jayjay, der fröhlich nickt und mich anwiehert. "Aber… er ist so klein!" Seine Schulterhöhe liegt ungefähr auf meiner Hüfte, vielleicht etwas höher. "Für die kurze Strecke sollte es gehen", sagt Frieda. Dann wirft sie mir die isolierende Decke zu. "Nimm die als Sattel. Ganz statikfrei ist der Gute vermutlich nicht. Und steig erst auf, wenn ihr über den Abhang seid, den schafft er sonst nicht." "Klar…", murmele ich, die Decke in Händen. "Willst du wirklich, dass ich mich auf dich setze?", frage ich vorsichtshalber. "Ich bin nicht gerade leicht." Jayjay schnaubt belustigt und wackelt mit dem gestreiften Hinterteil. "Oh je…", sage ich, dann falte ich die Decke, sodass sie besser auf Elezebas Rücken passt und setze mich vorsichtig auf seinen Rücken. Jay wiehert glücklich und trabt los. Er ist nicht besonders schnell, aber er scheint mein Gewicht gut tragen zu können, zumindest auf kurze Distanz. Ich steige ab und führe ihn zu dem Abhang, der rutschig und voller Matsch ist. "Da kommen wir nicht ohne Hilfe hoch", sage ich leise und rufe Hunter, der sich über uns in der Luft materialisiert. Eigentlich wäre ich mit ihm zurück zur Farm geflogen, aber ich kann Jayjays Angebot schlecht ablehnen, wenn er mich so drängt. Hunter landet auf meinen Schultern und krächzt freudig, dann fällt sein Blick auf Jay. Er klappert aufgeregt mit dem Schnabel, hebt flügelschlagend von meinen Schultern ab und landet stattdessen auf Jayjays Rücken. Jay schnaubt, dann macht er einen kleinen Sprung in die Höhe, von dem Hunter sich wenig beeindruckt zeigt. Er reißt den Kopf hin und her, dann läuft er los, sprintet, springt, wälzt sich und schafft es doch nicht, von Hunter loszukommen, der fröhlich krächzend auf seinem Rücken sitzen bleibt und gelegentlich in die Höhe fliegt, nur um Sekunden später wieder auf ihm zu landen. Als Jay schließlich aufgibt, reibt Hunter seinen fedrigen kopf an Jayjays Wange. Ich beobachte die beiden belustigt und Frieda kichert hinter mir im Silo. "Jungs", sage ich schließlich, "wir haben zu tun. Hunter, trag mich den Abhang da hoch, Jayjay, du musst dich da irgendwie selbst hochkämpfen." Jay nickt, nimmt Anlauf und sprintet auf den matschigen Hang zu. Er bewältigt die ersten Meter problemlos, wird dann langsamer und kämpft auf dem letzten Meter mit seinen rutschenden Hufen, findet aber schließlich Halt und erklimmt die Kante. "Jetzt wir", sage ich und schwinge mich auf Hunters Rücken, der krächzt und losflattert. Keine zwei Sekunden später sind wir auf dem oberen Teil der Weide angekommen und ich steige ab. "Also dann, Jayjay, wir reiten zur Farm und holen… Frieda!" "Ja?" "Wir müssen keine Hilfe holen, du kannst einfach auf Hunter reiten!" Sie taucht im Siloeingang auf, ihr verletztes Bein angehoben. "Wirklich?" "Klar. Los Hunter, hol sie ab." Hunter krächzt und flattert zu Frieda hinunter, die vorsichtig auf seinen Rücken steigt. Als er abhebt, gibt sie einen kurzen, erstickten Schrei von sich und schon landen die beiden neben uns. Ich bin in der Zwischenzeit auf Jayjays Rücken gestiegen und bemühe mich, seine Größe zu ignorieren. Auf seinem Rücken muss ich wie ein plumper Idiot aussehen. "Na dann, auf geht´s. Zur Farm!" Jayjay galoppiert los, merkt schnell, dass ich dafür zu schwer bin und verlangsamt zu einem holprigen Trab. Meine Oberschenkel sind fest um seinen Bauch geklammert und ich halte mich so gut es geht an seiner weißen Mähne fest. Neben mir fliegt Hunter und krächzt entzückt, als er Jayjay überholt. Schließlich dreht er eine scharfe Kurve, fliegt hinter uns und überholt uns erneut. Jayjay schnaubt und beschleunigt seine Schritte wieder zu einem Galopp. Wir sind schon fast bei der Farm und die letzten hundert Meter laufen und fliegen die beiden Kopf an Kopf. Als wir die Farm erreichen, ist Hunter der einzig entspannte. Frieda klettert mit zittrigen Händen von seinem Rücken herunter und hält sich eine Hand vor den Mund. Ich gebe zu, die ein oder andere scharfe Kurve hätte Hunter sich sparen können. Ich selbst habe Probleme, normal zu gehen, so verkrampft sind meine Beine und Jayjay schnaubt und hechelt erschöpft. Hysterische Stimmen dringen aus dem Haus und plötzlich wird die Tür aufgerissen und Elsa stürzt heraus und in Friedas Arme. "Ich dachte, euch wäre etwas Schlimmes passiert!", flucht sie und umarmt und küsst ihre jüngste Tochter, bis diese sie peinlich berührt wegschiebt. Als sie ihren Fuß aufsetzt, zuckt sie zusammen. "Bist du verletzt?" "Nur ein umgeknickter Knöchel, es ist halb so wild." "Frieda!" Cora taucht hinter den Ställen auf und rennt zu ihrer Schwester, während Toby, Julian und die anderen Elsa nach draußen folgen und zu mir laufen. "Was ist passiert?", fragt Toby, der als erstes bei mir ist. "Das möchte ich auch wissen", sagt Elsa, nun wütend. "Was habt ihr bei dem Wetter draußen gemacht?" "Jay ist ausgebüxt", erklärt Frieda und stützt sich auf ihre Schwester. "Ich hab mir den Fuß verstaucht, Jay ist kollabiert und der Matsch war zu rutschig, als dass wir hätten zurück gehen können. Wir haben die Nacht im Silo verbracht und Abby hat Jay die ganze Nacht über entladen. Nur dank ihr hat er das Gewitter überlebt." "Wirklich?" Elsa dreht sich zu mir um. "Vielen Dank, Abby. Aber jetzt kommt erst Mal rein, ihr müsst hungrig sein." Das Frühstück entpuppt sich als Festmahl. Pfannkuchen, Rührei, warmes Brot mit selbstgemachten Käse- und Marmeladensorten, Saft, Tee, Kaffee und Reste des Eintopfs von gestern Abend. Frisch gestärkt können Frieda und ich nun die offenen Fragen der anderen beantworten und schließlich trifft auch Werner ein, der bereits die Strecke bis nach Oliviana City mit seinem Traktor abgefahren ist. Als er Frieda sieht, hebt er sie kurzerhand in die Höhe und verarztet danach ihren Fuß mit Kühlsalbe und Verbandszeug. Anschließend entschuldigen wir uns, nehmen ein Bad und holen dann in unseren jeweiligen Räumen dringend nötigen Schlaf nach. Als ich später aufwache, steht die Sonne schon tief. Es muss früher Nachmittag sein. Ich flechte mir einen Zopf, dann gehe ich die Stufen hinunter und finde die restlichen Qs samt Werner und Cora in der Küche beim Kartenspiel vor. Als Cora mich sieht, steht sie auf. "Können wir uns kurz unterhalten?", fragt sie. Ich nicke und wir verlassen die Küche, um uns im Wohnzimmer auf das Sofa zu setzen. "Du hast ja von Mama erfahren, dass Frieda und ich uns um die Ponita kümmern, oder?", fragt sie dann. Ich nicke. "Wir haben beide viel auf der Farm zu tun, aber ich habe mit Mama gesprochen und wir sind beide der Meinung, dass die Elezeba in ihrem jetzigen Zustand zu gefährdet sind. Wir können sie nicht hundertprozentig vor den Gewittern schützen, deswegen müssen wir sie zusätzlich zu den Ponita trainieren, damit sie auch bei Gewittern nicht in Gefahr sind. Dass du gestern Jay vom Dachboden aus entdeckt hast, war ein Glücksfall. Darauf können wir nicht immer hoffen." "Aber ihr habt doch keine Zeit, oder?", frage ich. "Du musst Sättel entwerfen und Frieda kümmert sich sicher auch um irgendetwas." "Die Finanzen", stimmt Cora zu. "Sie wird die Farmleitung übernehmen, wenn es unseren Eltern zu viel wird. Aber die Sicherheit der Pokémon geht vor." Sie schmunzelt. "Natürlich würde es uns die Arbeit erleichtern, wenn jede von uns sich nur um ein Elezeba kümmern müsste." "Meinst du…" Ich schaue sie an. "Wenn du willst, und Jay, natürlich, würden wir ihn dir gerne schenken", sagt Cora. "Ohne dich hätten wir ihn ohnehin verloren und ich glaube, nach deiner Rettungsaktion letzte Nacht wird er nicht von deiner Seite weichen wollen. Zebritz sind sehr störrisch, sie lassen sich nur von ausgewählten Menschen reiten und meist muss die Bindung bereits als Elezeba geknüpft worden sein. Und so, wie du auf Jay angaloppiert gekommen bist, scheint die bei euch zu existieren." "Das… ich weiß nicht, was ich sagen soll." "Du musst ihn natürlich nicht nehmen!", wirft Cora schnell ein. "Du und deine Freunde sind Trainer, deshalb dachte ich…" "Nein, nein, ich meine, ich würde ihn gerne nehmen, wenn ich darf", bringe ich hervor. "Gut, dann wäre das geklärt", sagt Cora und steht auf. "Wir haben keinen Pokéball, du musst ihn selber fangen." "Klar, kein Problem." Immer noch perplex folge ich Cora nach draußen, wo ich Hunter auf Jayjays Rücken vorfinde. Er krächzt freudig und flattert mit den Flügeln, bleibt aber, wo er ist. Jayjay bäumt sich freudig auf und galoppiert in meine Richtung und Hunters Gesicht nimmt einen träumerischen Ausdruck an, als er durch die Gegend getragen wird. "Hey, Kleiner", begrüße ich ihn. Er leckt über meine Wange. "Uh, lecker. Danke auch." Ich ziehe einen leeren Pokéball aus meiner Tasche und halte ihn vor mich. "Möchtest du-", beginne ich, doch Jay wiehert bereits fröhlich und presst seine Schnauze gegen den Ball. Ein rotes Licht umhüllt ihn und im nächsten Moment muss Hunter in die Höhe fliegen, um nicht zu Boden zu fallen. Er krächzt empört. Viermal vibriert der Pokéball, dann ist er still und ich halte mein viertes Pokémon in der Hand. "Jetzt hast du einen Spielkameraden, der genauso verrückt ist, wie du", sage ich an Hunter gewandt. Er flattert begeistert mit den Flügeln, landet auf meinen Schultern und stochert mit seinem Schnabel durch meinen frisch geflochtenen Zopf. Ich seufze. Zwei von der Sorte wird eine Herausforderung. Kapitel 56: Treppen und Salzgeruch (Trainerstau) ------------------------------------------------ Nachdem ich Jayjay wieder rausgelassen habe, damit er mit Hunter spielen kann, begleite ich Cora in ihr Zimmer. „Wenn er sich entwickelt, wirst du einen isolierenden Sattel brauchen“, sagt sie. „Ich habe schon vor Jahren ein Design für Susan entworfen, aber sie lässt niemanden auf sich reiten, deswegen konnte ich ihn nicht ausprobieren.“ „Wie viel wird der kosten?“, frage ich misstrauisch. „Nur die Produktionskosten“, sagt sie und schließt die Tür auf. „Die verrechnet Erhard mit mir.“ Die linke Seite ihres Zimmers ist mit einem Bett und einem Schrank ausgestattet, die rechte Seite beherbergt einen großen Eckschreibtisch, Regale voller Bücher und Ordner, die fein säuberlich beschriftet sind. Als Dekoration des Ganzen fungieren lose Blätter. Beschriftet, bekritzelt, beschrieben und bemalt, sie liegen auf dem Schreibtisch, auf dem Drehstuhl, auf dem Boden, sogar auf dem Bett. Ungerührt tritt Cora in die wenigen freien Bodenflächen, zieht einen Ordner aus ihrem Regal und blättert darin, bis sie einige Zettel herauszieht, die aneinander geklebt und mehrfach gefaltet sind. „Hier.“ Sie reicht mir die Zettel und ich betrachte die ordentlich beschrifteten Lederschnitte und Entwürfe. „Du findest seinen Laden nahe der Arena, du solltest keine Probleme haben, ihn zu finden.“ „Okay, aber… wie hoch werden die Produktionskosten sein?“, hake ich nach. „Ein Sattel von der Größe… zwischen 40.000 und 60.000 PD, denke ich.“ Als sie mein Gesicht sieht, lacht sie. „Keine Sorge, du kannst in Raten zahlen.“ Ich schlucke. Selbst, wenn ich in Raten bezahlen kann, das ist eine gewaltige Summe Geld, und ich bin nicht gerade dafür bekannt, ein stetiges Einkommen zu haben. Meist geht mein verdientes Vermögen sofort mit Nahrungsmitteln und Schlafstätten drauf. Aber hey, wer weiß. Vielleicht überrascht dieser Erhard mich ja mit einem tollen Deal. Für die bin ich immer offen. Ich nehme die Entwürfe entgegen und falte sie säuberlich entlang der Knickstellen zusammen. „Falls ich aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage sein sollte, den Sattel zu finanzieren, gäbe es eine Alternative?“ Cora verzieht das Gesicht. „Es gibt immer Alternativen, das macht mein Geschäft so unlukrativ.“ „Ich verspreche, den Sattel zu kaufen, sollte ich an das Geld kommen“, sage ich. Cora seufzt, dann nimmt sie einen weiteren Zettel aus dem Ordner. „Wir können den Schritt deiner Hose mit isolierendem Material verstärken, damit du nicht in direktem Kontakt zu Jays Fell stehst, oder eine Decke mit Bauchgurt versehen.“ „Hose klingt gut“, sage ich. „Na, dann komm.“ Cora geht aus ihrem Zimmer. „Wir sollten noch eine alte Decke im Stall haben. Mama kann dir den Stoff an eine deiner Hosen nähen.“   Elsa erweist sich als talentierte Näherin und kaum eine Stunde später trage ich meine neue Anti-Para-Hose, wie ich sie insgeheim nenne. Die Beweglichkeit um den Schritt ist wegen des dickeren Stoffs etwas eingeschränkt und das silbrig glänzende Material gibt mir einen futuristischen Touch, aber abgesehen davon bin ich sehr zufrieden. Weil es schon spät ist, lädt Werner uns ein, diese Nacht noch bei ihnen zu übernachten und dann am nächsten Morgen nach einem kleinen Frühstück abzureisen. Unsere Gruppe nimmt dankend an und gemeinsam verbringen wir den restlichen Tag damit, auf der Farm zu helfen, gegen wilde Pokémon zu kämpfen, die sich der Farm nähern und mit Cora und Frieda Brettspiele zu spielen. Am nächsten Morgen ziehen wir gestärkt Richtung Süden weiter. „Du hast so ein Glück Abby, ohne Scheiß“, beschwert Julian sich, nachdem wir die ersten Kilometer hinter uns gebracht haben. „Ich will auch ein Elektropokémon geschenkt bekommen!“ „Fang dir lieber eins“, sagt Corinna und kneift ihn in die Backe. „Niemand würde dir ein Pokémon schenken.“ Jayjay, der neben mir herläuft, wiehert zustimmend und dreht den Kopf zu Hunter, der sich von ihm tragen lässt und das augenscheinlich zutiefst genießt. Als er Jayjays Blick bemerkt, schmiegt er seinen Kopf an Jayjays Wange und krächzt liebevoll. „Da haben sich aber wirklich zwei gefunden“, sagt Toby lachend. „Wer ist für eine Hochzeit?“ Alle Hände schießen in die Höhe. „Du kannst die Schwüre verlesen“, sage ich grinsend. Toby nickt ernst. „Hunter, Ibitak von Abby der Großen, willst du Jayjay, Elezeba von Abby der Kühnen, zu deinem rechtmäßigen Ehemann nehmen, bis dass der Pokéball euch scheide?“ Wie auf Kommando krächzt Hunter. Julian prustet los und Paul hält sich eine Hand vor den Mund, um nicht loszulachen. Timothy grinst nur.  Toby fährt ungerührt fort. Ich bewundere ihn für seine Kontrolle. „Und willst du, Jayjay, den dir angetrauten Hunter zu deinem rechtmäßigen Ehemann nehmen und schwören, ihn stets auf deinem Rücken zu tragen, wenn seine Flügel sich der Faulheit hingeben?“ Jayjay schnaubt zustimmend und so ist die Zeremonie beendet. Julian pflückt ein paar Blumen, die dem Herbst trotzen, vom Wegrand und bestreut die beiden mit Blütenblättern und Timothy summt die traditionelle Hochzeitsmelodie. Toby legt einen Arm und mich und bald planen wir alle lachend und prustend das zukünftige Eheleben meiner beiden Pokémon. Wir sind so vertieft, dass wir die Steilabhänge erst bemerken, als Julians Fuß ins Leere tritt und er schreiend den Weg hinunter schlittert, die Arme für bessere Balance hin und her rudernd. Er kommt unversehrt auf seinem Po an und streckt einen Daumen in die Höhe. „Weg für das Brautpaar gesichert!“ Corinna kichert, dann rutscht sie ihm hinterher und hilft ihm lächelnd hoch. „Ich wüsste schon, wessen Hochzeit wir als nächstes planen können“, sagt Paul grinsend, woraufhin Julian und Corinna wie vom Blitz getroffen auseinander springen. Toby lacht schallend und die Qs folgend den beiden hinunter. Von hier aus sind es nur noch wenige Kilometer bis nach Oliviana City, aber je mehr Abhänge wir mehr oder weniger elegant hinter uns bringen, desto deutlicher ist die Hafenstadt erkennbar. Der Geruch von Salz hängt in der Luft und ich atme erleichtert ein. Es riecht nach Orania City. Nach Heimat. Vielleicht sollte ich bald zurückkehren. Nur kurz. Nur für einen kleinen Aufenthalt.  Die restlichen zwei Stunden vergehen wie im Nu. Wir klettern besonders steile Abhänge herab, werden hier und da von einem Trainer aufgehalten, der Toby oder einen der anderen herausfordert, tauschen Informationen aus und entdecken sogar einige wilde Tauros, die in einem Tal zu unserer Rechten im kniehohen Gras weiden. Als Paul Anstalten macht, hinunter zu klettern, reißen sie jedoch die Köpfe herum, geben ein dröhnendes Muhen von sich und galoppieren die gegenüberliegenden Steilhänge hinauf, ihre Hufe klackern über die steinige Erde und in Sekundenschnelle verschwindet die gesamte Herde im angrenzenden Wald. „Deine Schleichkünste sind atemberaubend“, sagt Julian und klopft Paul auf die Schulter. „Unterrichte mich, Meister.“ „Halt die Klappe, Juli.“ Die Idylle hält, bis wir den letzten Abhang hinter uns lassen und Oliviana City nur noch einen Steinwurf entfernt liegt. Zwei Trainer sitzen auf den Stufen, die Route 39 von der Stadt trennen und schauen sich griesgrämig zu uns um, als sie unsere Schritte hören. „Was wollt ihr denn?“, fragt der eine, ein bulliger Typ mit Zigarette im Mundwinkel und einem schwarzen Tattoo, das unter dem Kragen seines Pullis hervor schaut. Sein Kumpel raucht ebenfalls, ist aber hager und klein, mit stechend dunklen Augen und grün gesträhntem, hoch gegeltem Haar. „Wir verkaufen Staubsauger“, sagt Toby verächtlich und präsentiert seinen ohnehin gut sichtbaren Pokéballgürtel. „Seid ihr blind?“ „Pass auf, was du sagst, Neuling“, grollt der Bullige und steht auf. Er ist groß, aber Toby überragt selbst er nicht. Dafür ist er zweimal so breit – und nicht wegen Fett. „So läuft das hier nicht.“ „Wie läuft es denn?“, fragt Julian und baut sich neben Toby auf. Im Vergleich zu den Beiden wirkt seine Präsenz geradezu lächerlich, aber er weicht nicht von der Stelle. „Es sind schon genug Trainer in der Stadt“, sagt der kleinere der Beiden und erhebt sich. „Wir sorgen dafür, dass keine schwachen Trainer die Plätze wegnehmen.“ „Du solltest deinen Mund nicht so voll nehmen“, sage ich. „Selbstüberschätzung hat noch kein Duell gewonnen.“ „Ist das eine Herausforderung, Puppe?“, fragt er und rollt seine schwarzen Shirtärmel hoch. „Eins gegen eins, du und ich?“ „Kannst du haben, Angeber.“  Sein Freund tritt zur Seite und verschränkt schmunzelnd die Arme. Toby lehnt sich zu mir herab. „Sicher, dass du ihn schaffst?“ „Ich lasse mir nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Möchtegerntrainern sagen, wohin ich reisen darf“, sage ich kalt. „Mach dir keine Sorgen. Sku hat schon gegen ganz andere Gegner kämpfen müssen.“ Toby und die anderen treten nach hinten und schließlich stehen nur noch ich und der Junge in einem Kreis. Ich rufe Sku, die ihr Fell fauchend aufstellt, er sein Sniebel, das fies grinst und den Kopf schief legt. „Toxin, Sku, los!“ „Komm ihr zuvor mit deiner Finte!“ Sku holt tief Luft, wird im Spucken aber von Sniebel überrascht, das erst rechts antäuscht, dann blitzschnell nach links umschwenkt und mit scharfen Klauen gegen Skus Seite prallt. Sku faucht, windet sich herum und spuckt Sniebel ihr Toxin mitten ins Gesicht. Das Pokémon springt kreischend zurück und reibt sich das Gesicht, aber das Gift ist bereits eingezogen. „Gut, jetzt Schlitzer, bevor Sniebel sich erholt!“ „Zeig´s ihm, Abby!“, ruft jemand hinter mir, aber ich kann die Stimme nicht zuordnen. Ich bin ganz auf den Kampf fokussiert. „Sniebel, nochmal Finte.“ Die beiden Pokémon rasen aufeinander zu, Sku holt mit einer Pfote aus, wird aber wieder von Sniebel ausgetrickst, das sich unter ihrer Attacke weg duckt und Sku in den Bauch schlägt, woraufhin Sku mit ihrer anderen Pfote drei tiefe Striemen in Sniebels Seite reißt. Sniebel nimmt wimmernd Abstand und greift sich an den Kopf, als das Gift tiefer in ihren Körper eindringt. „Bleib bei Schlitzer, Sku, die Finten können dir nichts anhaben!“ Der Junge zischt. „Sniebel, Planänderung, steig auf Kratzfurie um!“ Sniebel springt Sku an und schlägt mit ihren zwei Klauen wieder und wieder auf Sku, die faucht und spuckt und Sniebel mit einem gewaltigen Schlag ihrer Pranke von sich reißt. „Ein letztes Mal, los!“, schreie ich, als Sniebel vergeblich versucht, sich aufzurichten. Sku springt in einem großen Satz auf Sniebel zu und bleibt direkt über ihm stehen. Sie holt mit ihrer rechten Pfote zu ihrem Schlitzer aus, ihr Schweif senkrecht in die Höhe gestreckt. „Nein!“ Ihre Pranke schießt auf Sniebels Gesicht zu und bleibt Zentimeter entfernt in der Luft stehen. Ein Schauer geht durch Sniebel, als das Toxin ihm die letzte Kraft raubt und sein Kopf bewusstlos zu Boden sackt. Sku lässt ihre Pfote sinken, faucht Sniebels Trainer mit einem wilden Ausdruck an und läuft dann zu mir zurück, wo sie auf meinen Rücken klettert, ihren Unterleib auf meine Schulter setzt und die Pfoten auf meiner Stirn faltet. Hunter krächzt begeistert und flattert freudig erregt von Jayjays Rücken aus auf und ab. „Wir gehen jetzt hier durch nach Oliviana City“, sage ich und kraule Skus Kopf. „Wenn ihr also zur Seite gehen würdet…“ „Das wird dir noch leidtun“, brummt der Bullige der Beiden. „Wir verschwinden, Gabe.“ „Tz.“ Er ruft Sniebel zurück. „Wir werden uns wieder sehen, Puppe. Und dann kämpfen wir mit all unseren Pokémon.“ Er schielt zu Jayjay, der bedenkenlos eine Blume beschnuppert und dann frisst, Hunter fröhlich auf seinem Rücken auf und ab hopsend. „Ich freu mich drauf“, knurre ich. Die beiden ziehen ab und ich werde von den anderen Qs beglückwünscht. „Dem hast du es so richtig gezeigt“, sagt Toby grinsend und wuschelt mir durch die Haare. „Saubere Arbeit.“ „Ich kann solche Leute nicht leiden“, stimmt Julian zu. „Die halten sich für sonst was und haben nicht mal das Können, dich nach ihrer Angeberei auch ordentlich in den Boden zu stampfen.“ „Weicheier“, sagt Paul und spuckt auf den Boden. „Mich interessiert eher, warum sie hier gesessen haben“, sagt Corinna, als wir uns wieder in Bewegung gesetzt haben. „Die Stadt ist zu voll? Was soll das bitte heißen?“ „Wahrscheinlich ist hier Trainerstau, weil keiner an Jasmin vorbei kommt“, sagt Julian und kratzt sich am Kopf. „Irgendwo müssen die Leute ja trainieren und schlafen. Es kann nicht genug Platz für jeden geben.“ „Wir werden es bald feststellen“, sage ich und schiele zu Sku empor, die immer noch auf meinem Rücken sitzt und mich von meiner Stirn herab liebevoll mustert. „Und du solltest selber laufen“, sage ich an sie gewandt. „Du wirst dick und fett und dann muss ich dich auf Diät setzen.“ Sku schnaubt empört, klettert aber gehorsam von meinem Rücken und trottet neben mir her, mit gerade genug Distanz, dass ich sie bequem am Kopf kraulen kann. Oliviana City fällt zum Meer hin seicht ab, östlich steht auf einem Hügel der Leuchtturm und westlich entdecke ich in der Ferne eine Villa und die Kampfzone. Als wir die Stadt betreten, kommen wir fast sofort an der Arena vorbei, einem gewaltigen Gebilde aus Stahlstreben, die wie übergroße Mikadostäbe ineinander verkeilt sind und der Arena das Aussehen eines Nadelhaufens geben. Gerade, als wir am Eingang vorbeigehen, verlässt eine junge Trainerin mit hängendem Kopf die Arena und murmelt wütend vor sich hin. Von dem, was ich verstehen kann, ist es nicht ihre erste Niederlage. Das Ledergeschäft von Erhard finde ich ebenfalls, es ist nur eine Straße weiter ausgeschildert und nachdem ich einen Treffpunkt mit den anderen ausgemacht habe, rufe ich Sku, Hunter und Jayjay in ihre Pokébälle zurück und trete ein. Eine kleine Türklingel kündigt von meinem Erscheinen und so bleibt mir keine Zeit, die Räumlichkeiten unter Beschlag zu nehmen, bevor ein kleiner Mann von ähnlicher Statur wie Werner aus dem hinteren Teil des Geschäfts kommt und mir zunickt. „Womit kann ich helfen?“, fragt er und ich krame die Sattelentwürfe aus meiner Tasche. „Cora von der Kuhmuh-Farm hat mich hierhin verwiesen“, sage ich und reiche ihm die Zettel. Er nimmt sie entgegen und nickt in sofortigem Verständnis. „Möchtest du so einen?“, fragt er dann und reibt seinen weißen Schnurrbart. „Es dauert eine Weile, bis ich den fertig haben kann.“ „Es ist nicht dringend“, sage ich schnell. „Außerdem müsste ich vorher genug Geld zusammen bekommen.“ „Knapp bei Kasse, hm?“ Er runzelt die Stirn. „Benutzt du die da, um dein Zebritz zu reiten?“, fragt er dann und deutet auf meine ummodellierte Hose. „Ja, aber er ist noch ein Elezeba“, sage ich. „Ah, dann hat es wirklich keine Eile“, stimmt Erhard zu. „Ich schreibe mir auf, dass du diesen Entwurf möchtest. Wenn du ihn brauchst, ruf mich an, dann kannst du ihn eine Woche später hier abholen, wie klingt das?“ „Sehr gut, vielen Dank. Und wegen des Geldes…“ „Ah, mach dir da keine Sorgen“, sagt Erhard. „Viel kann passieren, bis dein Pokémon sich entwickelt. Wenn du jetzt mit Sparen anfängst, solltest du keine Probleme haben und was dir noch fehlt, kannst du in Raten abzahlen. So machen es die meisten Trainer hier.“ „Ich dachte, nur wenige kaufen Coras Designs“, sage ich verwirrt. Erhard nickt. „Das stimmt schon, aber auch wenn Sättel eher Luxus sind, gibt es immer Bedarf an einfachen Zaumzeugen oder gepolsterten Lederriemen. Die verschiffe ich sogar bis nach Kanto“, fügt er ein wenig stolz hinzu. Mit seiner Telefonnummer in meinem Handy und einem leichteren Herz verlasse ich Erhards Geschäft einige Minuten später und mache mich auf die Suche nach dem örtlichen Pokécenter. Wie erwartet ist es überfüllt. Trainer stehen vor dem Tresen Schlange, hinter dem Schwester Joy unermüdlich die Heilmaschine betätigt, während drei junge Trainer mit Tabletts und Putzutensilien zwischen den Anwesenden entlang wuseln. Ich entdecke die anderen Qs, die weiter vorne in der Schlange stehen und jetzt nacheinander ihre Pokébälle abgeben. Unsere Pokémon hatten zwar eine lange Pause, während wir auf der Farm waren, aber Verletzungen sollte trotzdem das Pokécenter heilen, nur um sicher zu gehen. Sie schnappen sich den letzten freien Tisch und etwa fünfzehn Minuten später kann auch ich mich zu ihnen gesellen. „Das ist doch unnormal“, sagt Julian missmutig und schielt auf die anderen Trainer, die genauso wenig begeistert von der Situation scheinen wie er. „Schwester Joy sagt, die Zimmer sind schon seit Monaten  ausgebucht.“ „Anscheinend haben sie in den letzten zwei Wochen den Leuchtturm für die Trainer geöffnet“, fügt Corinna hinzu. „Wegen der Gewitter wollen sie die Trainer nicht draußen lassen, aber davor haben sie in Schlafsäcken jeden freien Platz besetzt.“ „Muss ein ganz schönes Chaos gewesen sein“, sagt Toby. „Jasmin kann nicht nur Befürworter in der Stadt haben.“ „Hat sie auch nicht“, sagt eine mir sehr bekannte Stimme und wir drehen uns um. Vivi steht hinter uns und grinst frech, als wir sie euphorisch begrüßen. „Rückt mal, ich bin dick, ich brauch den Platz. Ah, das ist besser.“ Eingequetscht auf der Bank tauschen wir uns aus. Vivi ist gemeinsam mit Erasmus und Heather eine Woche vor uns abgereist, hat ihr Glück gegen Jasmin versucht, verloren und trainiert seitdem täglich, um so schnell wie möglich den Leuchtturm verlassen zu können. „Es ist laut, voll und kalt da drin“, erklärt sie und gestikuliert angeregt. „So viele Trainer auf einem Haufen kann nur schief gehen, wenn niemand da ist, der die Sache unter Kontrolle hält. Gingers Eltern wurden schon am ersten Tag von zwei Idioten eingeschüchtert und halten sich seitdem aus den Trainerangelegenheiten raus, aber eins sag ich euch, wenn diese Typen nochmal einen auf dicke Hose machen, dann werde ich sie eigenhändig ins Meer werfen.“ „Zwei Typen?“, frage ich misstrauisch. „Einer groß mit Tattoos, der andere klein mit grünen Strähnen und einem-“ „-einem fiesen Grinsen, oh ja, genau die zwei.“ Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Gabe und Kevin. Seit ihr auch von den beiden belästigt worden?“ „Sie haben´s versucht“, sagt Paul breit grinsend und klopft mir auf die Schulter. „Aber Abby hat den Winzling auseinander genommen.“ „Wir haben nur eins gegen eins gekämpft“, sage ich schnell. „Es war kein richtiger Kampf.“ Vivienne ignoriert diesen Beitrag geflissentlich und lässt sich stattdessen von den anderen berichten, wie absolut dominant mein Sieg war und wie Gabe gedemütigt auf die Knie gesunken ist, nachdem ich den Boden mit ihm gewischt habe. „So oder so ähnlich“, wimmele ich Julian nach einer besonders ausgeschmückten Attackenbeschreibung ab. „Also übernachten alle Trainer jetzt im Leuchtturm?“ „Nicht alle“, sagt Vivi. „Einige haben Übernachtungsmöglichkeiten bei Stadtbewohnern gefunden oder sind schon so lange hier, dass sie Pokécenterzimmer ergattert haben. Manche mussten aber ausziehen, weil sich ihr Aufenthalt so stark in die Länge gezogen hat, dass sie nicht mehr mit dem Bezahlen hinterher kamen.“ „Der Leuchtturm ist kostenlos?“, frage ich begeistert. Sie nickt. „Klar.“ Ich lehne mich zurück und grinse breit. So lässt es sich leben. „Wollen wir dann?“ „Warum nicht.“ Julian steht auf. „Sichern wir uns ein paar Schlafplätze, danach ist immer noch Zeit für eine Erkundungstour.“ „Du musst uns von dem Arenakampf erzählen“, fügt Toby hinzu. Vivi nickt. „Der Leuchtturm hat sich in die reinste Tauschbörse verwandelt“, erklärt sie, während wir das Pokécenter verlassen und uns über die grau gepflasterten Straßen zum Leuchtturm aufmachen. „Informationen über Jasmins Pokémon und ihre Attacken werden versteigert oder gegen Items eingetauscht. Gabe und Kevin spielen sich zwar am meisten auf, aber sie haben schon sehr oft gegen Jasmin verloren. Das bedeutet leider auch, dass sie den Informationsmarkt in den Händen halten, sie wissen einfach am meisten.“ „Und trotzdem gewinnen sie nicht?“, murmelt Paul. „Die sollten sich nicht so aufspielen.“ „Ich glaube immer noch, dass sie absichtlich verlieren, um sich an den Trainern ein Vermögen zu verdienen“, sagt Vivi. „Als die Sache mit dem Leuchtturm noch neu war, haben sie am Eingang gestanden und Geld von Trainer verlangt, die dort schlafen wollten. Meinten, es wäre ihr Job, das Geld einzusammeln. Scheiß Loser.“ „Warum tut niemand etwas dagegen?“, fragt Corinna aufgebracht. „Jasmin oder die Polizei oder… oder wir! Wir sind immer noch Team RES-Q, oder? Wir sollten diesen Typen zeigen, dass sie so nicht mit den Trainern hier umspringen können.“ „Ich bin sofort dabei“, sagt Vivi. „Aber wenn wir dort reingehen und uns als Gruppe der Gerechtigkeit aufspielen, weiß ich nicht, ob die restlichen Trainer uns unterstützen werden. Die meisten hier sind wütend und frustriert und wollen für sich bleiben. Das Gemeinschaftsgefühl von Teak City können wir hier nicht erwarten.“ „In Teak City gab es auch Unwillige“, sage ich und schaue zu Toby, der wissend nickt. Als er auf seinen besten Freund Timothy warten wollte, ging es seinen mitreisenden Carla und George nur darum, weiterzukommen. Sie haben sich Wiesel nie angeschlossen. „Das mag sein, aber hier sind eine ganze Menge Trainer, die so denken“, wirft Vivi ein. „Gabe und Kevin sind vielleicht die Schlimmsten, aber alleine sind sie nicht. Es gibt mehrere Trainer, die Neuankömmlinge falschen Informationen geben oder zu horrenden Preisen anbieten.“ „Was ist mit Jasmin?“, frage ich. „Die Polizei hat besseres zu tun, das ist klar, aber wenn sie für diesen Trainerstau verantwortlich ist, sollte sie wenigstens versuchen, nicht alles außer Kontrolle geraten zu lassen.“ „Jasmin ist da anderer Meinung“, sagt Vivi achselzuckend. „Sie sieht ihre Aufgaben als Hüterin des Leuchtturms und des Ordens. Sie wird nicht weniger ernst kämpfen, nur um die armen kleinen Trainer zu entlasten. Und nur weil sie den Turm zur Verfügung gestellt hat, kümmert es sie noch lange nicht, was darin vorgeht, solange der Turm selbst nicht darunter leidet.“ „Ich dachte, der Leuchtturm wird von Gingers Eltern geleitet“, sage ich verwirrt. „Schon, aber erst seit einigen Jahren“, erklärt Vivi. „Davor war er Jasmins Domäne. Das Ampharos, das im obersten Stockwerk für Licht sorgt, gehört ihr.“ So weiter diskutierend erreichen wir schließlich die Stufen, die zum Leuchtturm hinauf führen. Die Brandung tost gegen die steinigen Hänge und die Schiffe im Hafen sind aus dieser Entfernung klein wie Spielzeuge. „Und hoch mit uns“, sagt Vivi und öffnet die große mit Eisen verstärkte Holztür des Leuchtturms, deren blauer Lack wegen der salzigen Luft abgeblättert ist. „Die unteren Stockwerke sind schon belegt, wir müssen also ganz nach oben.“ Der Eingangsbereich ist weiß gestrichen, blaugraue Dielen bedecken den Boden und einige Bänke und Topfpflanzen verleihen dem 1. Stock ein angenehmes Ambiente. Wären da nicht das gute dutzend Schlafsäcke, die auf engstem Raum nebeneinander liegen und nur zwei schmale Streifen Fußboden freilassen. Einer führt zu einer roten Aufzugstür, an der das Schild DEFEKT hängt, die andere zu einer Treppe, die nach oben führt. „Wie hoch ist der Leuchtturm noch gleich?“, fragt Julian und betrachtet mit Bedauern den kaputten Fahrstuhl. „Fünf Stockwerke, aber das letzte ist nicht für uns zugänglich“, erklärt Vivi. Julian seufzt theatralisch. Wir beginnen unseren Aufstieg. Jedes Stockwerk ist überfüllt mit Schlafsäcken, aber nur wenige Trainer sind zu dieser Tageszeit anwesend. Diejenigen, die es sind, strafen uns mit verächtlichen Blicken. „Die Stimmung hier ist ja schlimmer als auf einem Friedhof“, meint Julian nach einer Weile nicht ganz leise und fängt sich böse Blicke und einen Stoß in die Rippen von seinem ewigen Gewissen Corinna ein. Nach vier Treppen mit ziemlich hohen Stufen brennen meine Beine, aber ich bemühe mich, unsere Ankunft in einem positiven Licht zu sehen. Erstens ist es kostenlos und zweitens haben Beinmuskeln noch niemandem geschadet. Was mich aber aus der Bahn wirft, sind George und Carla, die Schulter an Schulter die Treppe blockieren. „Tut mir leid“, sagt George. „Kein Zugang für euch.“ Kapitel 57: Glimmende Zigaretten (Hafenbar in Nöten) ---------------------------------------------------- „Was soll das heißen?“ Toby zwängt sich zwischen Vivi und mir nach vorne und schaut zu George hinauf, der ihn desinteressiert beobachtet. „Hier ist kein Platz mehr, sucht euch einen anderen Schlafplatz“, sagt George. „Das würden wir gerne selbst überprüfen“, sagt Toby wütend. „Was ist los mit dir George,  du warst früher nicht so ein Arsch.“ George lehnt sich seitlich an den Gang. „Es geht nicht um mich. Der Leuchtturm ist überfüllt und wir wollen nicht noch mehr eingeengt werden. Es ist schlimm genug, dass Jasmin mit nicht autorisierten Pokémon kämpft.“ „Das klingt, als wärst du eingeschnappt, weil du verloren hast“, sagt Toby und George kneift die Augen zusammen. „Fick dich, Toby. Deine kleine Fanatikermeute kommt hier nicht rein.“ „Lass die Einschüchterungstaktik, George“, sagt Vivi, die sich nun ebenfalls an mir vorbei zwängt und sich neben Toby stellt. „Ich bin auch seit einer Woche hier, ich weiß, dass noch genug Platz für sechs Leute ist, also zieh Leine.“ George lacht und tritt zur Seite. „Ertappt.“ „Du solltest dich mit Gabe und Kevin zusammen tun“, sagt sie genervt. „Vergleich mich nicht mit diesen Hirnlosen“, murmelt George. Carla schmiegt sich an ihn und ich schaue weg, als ich an den beiden vorbei gehe und das vierte Stockwerk betrete. Ich kann George nicht unbedingt verübeln, dass er sich uns in den Weg gestellt hat. Obwohl Vivi bereits damit beschäftigt ist, die schon liegenden Schlafsäcke enger zusammen zu rücken, um Platz für uns zu machen, ist jeder freie Meter mit irgendetwas belegt. George seufzt theatralisch und verzieht sich dann mit Carla nach draußen. „Na bitte, passt perfekt“, sagt Vivi schließlich zufrieden und stemmt die Hände in ihre breiten Hüften. „Kuschelzeit wie in Teak City.“ „Kuschlig ist das richtige Wort“, kommentiert Julian und stupst einen Schlafsack mit der Fußspitze an. „Jetzt ist der Turm endgültig ausgelastet“, stimmt Corinna zu und schaut sich unsicher um. „Wo sollen Annette und die anderen schlafen, wenn sie herkommen?“ „Vielleicht hat bis dahin jemand Jasmin besiegt“, sage ich hoffungsvoll. Corinna nickt, wenig überzeugt. Ich lege meinen Schlafsack an eine der freien Stelle und verabschiede mich dann von den anderen, die gemeinsam zurück auf Route 39 gehen wollen, um zu trainieren. Jayjay würde das zwar auch gut tun, aber da ich kein Protrainer bin, habe ich andere Prioritäten. Und Priorität Nummer eins ist die gleiche wie immer. Geld verdienen. Mein erstes Ziel ist der Hafen. Ich frage mich bei einigen Matrosen bis zum Bootshaus durch, in dem eine griesgrämig dreinschauende Dame mittleren Alters am Schalter sitzt. Sie nimmt meine Kleider mit einem kurzen Blick zu Kenntnis, setzt ihre Brille ab und seufzt. „Womit kann ich helfen?“ „Entschuldigung, dass ich ohne Vorwarnung herkomme“, beginne ich, etwas verunsichert, „Aber ich wollte mich erkundigen, ob ich in Teilzeit-“ „Nein.“ Ich verstumme. „Schau nicht so verletzt“, fährt die Kassiererin mich an. „Das hier ist ein Ticketstand, keine Jobbörse. Wenn du hier ernstlich anfangen willst, dann schreib eine Bewerbung und reiche sie über den Postweg ein, so wie es jeder andere tut. Und nur, wenn du vorhast, zu bleiben.“ Sie lässt ihren Blick ein weiteres Mal über meine grasbefleckte, silbern abgesteppte und zerrissene Hose gleiten. „Und deinem Aussehen nach zu urteilen willst du nur ein bisschen schnelles Geld.“ Ertappt. „Danke für ihre Mühe“, sage ich, dann mache ich mich daran, das Bootshaus zu verlassen, als mein Blick über die Preisliste der Tickets schweift. Ich schlucke schwer. Die zweiwöchige Fahrt von Oliviana City nach Orania City mit der M.S. Aqua kostet 15.000 PD, eine ebenfalls zweiwöchige Rundfahrt mit der M.S. Love der Zolwyks kostet 1.500.000 PD. „Möchtest du ein Ticket kaufen?“, fragt die Frau brüsk. Ich schüttele den Kopf und verschwinde aus dem Bootshaus. Das Ticket allein zu kaufen wird problematisch, aber dann noch Jayjays Sattel? Ich müsste fast 70.000 PD zusammen bekommen, mehr Geld, als ich jemals besessen habe. Frustriert setze ich mich an den Steg, ziehe meine Schuhe aus und lasse meine Füße im kalten Meereswasser baumeln. Dann rufe ich Hunter, der beim Anblick des Meeres begeistert krächzt und sich davon macht, um sein Frühstück zu besorgen. Als nächstes lasse ich Gott aus seinem Pokéball. Er durfte wegen der vielen ihm unbekannten Gesichter kaum raus und hat sich ein wenig Zeit an der frischen Luft redlich verdient. Der Anblick des Wassers löst bei ihm eine gegenteilige Reaktion aus, als bei Hunter und er weicht zischend zurück, bevor er auf meinen Schoß krabbelt und sich dort einrollt, sein Feuer erloschen. „Vielleicht sollte ich eine Weile hier bleiben“, sage ich leise. Gott spitzt die Ohren, lässt die Augen aber geschlossen. „Ich könnte wieder schwimmen“, fahre ich fort. „Zumindest, bis das Wasser zu kalt wird. Wenn ich einen Job finde, kann ich mein Vermögen aufstocken, euch vier trainieren…“ Mein Blick verweilt auf den sacht schwappenden Wellen und den Wingull, die kreischend über uns ihre Kreise ziehen. Gott gähnt, hebt den Kopf und schaut mich ungläubig an. Ich betrachte sein kleines Gesicht, dann lache ich. „Du hast Recht, du hast Recht“, sage ich und streiche über seinen Rücken. „Immer vorwärts!“ Gott brummt zufrieden, faucht aber schnell, als ich ihn von mir hebe und aufstehe. „Wenn du dich benimmst, darfst du draußen bleiben“, sage ich und er kneift die Augen zusammen. Sein Rückenfeuer glüht fauchend auf, aber dann trottet er an meine Seite und macht allen Anschein eines gutmütigen Pokémon. Zumindest, bis wir dem ersten Matrosen begegnen. Bei dem Salz- und Schweißgeruch stellt Gott sich fauchend auf die Hinterbeine und kleine Flammen bilden sich in seinem Rachen. Ich schaue ihn böse an. „Was hast du denn da für einen feinen Racker?“, lacht der Matrose und geht in die Hocke, um Gott aus nächster Nähe zu betrachten. „Er mag Fremde nicht besonders“, erkläre ich und werfe Gott einen wütenden Blick zu, doch der ist voll und ganz auf den Matrosen fokussiert, Zähne gebleckt und Rückenfeuer voll aufgedreht. „Gott!“ Endlich hebt er den Kopf und schaut mich halb entschuldigend, halb rebellisch an. „Lass ihn, lass ihn.“ Der Matrose tätschelt Gotts Kopf, als dieser zu mir schaut und reißt seine Hand lachend weg, als Gott automatisch nach seinen Fingern schnappt. „Mein Quaputzi ist auch nicht besser. Er hat mal einen Freund von mir KO geschlagen, weil der ihn von hinten überrascht hat.“ „So weit ist es bei uns noch nicht gekommen“, sage ich grinsend. „Auf welchem Schiff arbeitest du?“ „Oh, auf der Aqua, sie hat vor einigen Tagen angelegt.“ Er deutet zu dem weißen Schiff, das in den Wellen auf und ab schaukelt. „Eine Schönheit, nicht wahr? Oh, aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt! Ich bin Konstantin, aber jeder hier nennt mich Stanz.“ „Ich heiße Abby“, stelle ich mich vor. „Abby, schön dich kennen zu lernen.“ Er schüttelt meine Hand. Seine Finger sind dick und schwielig. „Und was macht ein so junges Ding wie du hier?“ „Reisen“, sage ich vage. „Protrainer, hm?“, rät Stanz. „Von denen gibt´s hier ja mehr als genug. „Trainer ja, aber nicht professionell“, sage ich. „Ich will einfach ein bisschen mehr von der Welt sehen, das ist alles.“ „Na, das Bedürfnis kann ich nachvollziehen.“ Stanz lacht schallend. „Ich bin hier geboren. Jeden Tag sehe ich die Schiffe, die ablegen und die Matrosen mit ihren Geschichten und denke mir, das musst du auch machen, Konstantin. Also habe ich angeheuert.“ „Ich bin von zu Hause ausgerissen“, gestehe ich und bevor ich mich versehe, begleite ich Stanz in die Stadt. Unsere Unterhaltung läuft wie von selbst. Eine Weile glaube ich, dass wir in Richtung Pokécenter unterwegs sind, aber Stanz steuert schnurstracks daran vorbei und öffnet schließlich die Tür zu einer herunter gekommenen Hafenkneipe. Misstrauisch rufe ich Gott zurück und trete ein. Was von außen wie eine echte Spelunke gewirkt hat, entpuppt sich schnell als einfaches aber ordentliches Lokal. Runde Tische stehen verteilt auf der linken Seite des Restaurants, rechts führen Treppen in die höheren Stockwerke und eine Bar thront auf einem leicht erhöhten Podest. Stanz zwinkert mir zu, dann begrüßt er einige der Matrosen, die an den Tischen sitzen und setzt sich schließlich an die Bar, wo er eine Klingel betätigt. Ich setze mich neben ihn, immer noch unsicher. Ich möchte mein Geld ungern für ein teures Mittagessen ausgeben, solange ich das Nahrungsangebot in der Stadt noch nicht untersucht habe. Dem Klang der Klingel folgend taucht eine junge frau mit schwarzen Rasterlocken und blauen Flechtbändchen aus der Küche hinter der Bar auf, ein Handtuch über die Schulter geworfen, ein zweites an ihrer Schürze beschäftigt und ein drittes in ihren Händen. Als sie Stanz sieht, strahlt sie ihn an. „Stanz, altes Haus, du auch wieder im Lande?“, fragt sie und greift über den Tresen hinweg seinen Unterarm. „Tut mir leid, dass ich letzten Monat keine Zeit für ein Pläuschchen hatte, aber du kennst ja das Geschäft.“ „Kein Stress, Ivy!“ Er lacht. „Bring mir ein Bier und Abby hier ein…“ „Ein Leitungswasser“, sage ich nach kurzem Zögern. „Ach was, Leitungswasser“, sagt Stanz und klopft auf den Tresen. „Bring ihr ´nen Saft oder so. Der geht auf mich, Abby, keine Sorge.“ „Sofort.“ Ivy bindet sich das dritte Handtuch um ihre Stirn, um die Rasterlocken aus ihrem Gesicht zu halten. „Das Übliche zu essen?“ „Was immer du da hast.“ Sie imitiert einen Pistolenschuss mit ihren Fingern und macht ein Katsching-Geräusch, dann verschwindet sie wieder in der Küche. „Meine älteste Freundin“, sagt Stanz zufrieden. „Jeden Monat, wenn wir anlegen, ist sie die erste, die ich besuche. Und ihr Lokal hat sehr gute Küche, trotz der herunter gekommenen Fassade. Sonntags ist hier All-You-Can-Eat, dann findest du jeden Matrosen hier, der was auf sich hält. Nicht mal Jasmin, die Arenaleiterin, lässt sich Ivonnes Sonntagsküche entgehen.“ Ich schiele an einer Kaffeemaschine vorbei in die Küche, deren Vorhang bei Seite gezogen ist. Ivy wuselt von einem Herd zum anderen, nur ein anderer Koch ist mit ihr dort und der ist damit beschäftigt, einen Haufen Kartoffeln zu schälen. „Sie wirkt gestresst“, sage ich. „So ist das in der Gastronomie.“ Stanz stützt sich auf seine breite Hand. „Wobei du schon Recht hast. Ihr Freund, der hier Bartender war, hat vor zwei Monaten mit ihr Schluss gemacht. Seit dem stemmt sie die Küche, die Bar und die Zimmerverwaltung fast alleine. Nur Karl, der Küchenjunge, hilft ihr.“ „Und stellt sich dabei nicht mal schlecht an, aber das reicht eben nicht“, sagt Ivy, die in dem Moment aus der Küche kommt und uns zwei Schüsseln mit dampfendem Reis, pochierten Ei und Gemüse vorsetzt. Dann gießt sie mir ein Glas Saft ein und zapft Stanz ein großes Bier. „Na komm, iss´ schon“, lacht Stanz. „Du bist eingeladen.“ Ich bedanke mich, dann stürze ich mich auf den Reis. Ivy grinst breit. Ich lausche der Unterhaltung der Beiden, während ich esse. Ihre Freundschaft ist leicht zu hören, aber auch Ivys Sorge um ihr Lokal wird schnell klar. Sie spricht diesen Teil zwar leiser, aber ich sitze zu nah, als dass sie mich aus der Unterhaltung ausgrenzen könnte. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte“, gesteht sie. Stanz nickt ernst. „Hast du keine Stellenangebote raus gegeben?“ „Natürlich habe ich das, aber die Kids sind mit Trainieren beschäftigt und eine Festanstellung kann ich derzeit nicht bezahlen.“ Stanz schielt zu mir. Ich schiele zurück. „Ich schwöre dir, Stanz, ich würde den ersten nehme, der mir unter die Finger kommt, aber diese Trainer haben keine Zeit für Arbeit!“ Ich hebe vorsichtig eine Hand. „Stimmt was nicht mit dem Essen?“, fragt Ivy entsetzt und nimmt mir fast den Teller unter der Gabel weg. „Nein, nein, alles in Ordnung!“, werfe ich schnell ein. „Ich wollte nur etwas fragen.“ Ivy schaut mich überrascht an. „Dann frag doch einfach.“ Ich grinse. „Wieviel verdient man und wann kann ich anfangen?“   „Täglich Arbeiten, von 15:00 Uhr bis 22:00 Uhr, außer montags, für 450 PD die Stunde“, erkläre ich Sku. „Wenn ich eine Stunde Pause abziehe, komme ich pro Tag auf 2.700 PD und pro Woche auf… 16.200 PD!“ Ich schaue sie begeistert an. Es ist stockduster und ich kann nur ihre rot leuchtenden Augen erkennen, die das Licht des Leuchtturms über uns reflektieren. Ich sitze an die Turmmauer gelehnt auf dem Balkon, der um den vierten Stock herum geht und den Aufstieg zur Leuchtturmspitze beherbergt. Die Tür ist verschlossen, aber der Balkon ist offen zugänglich. „Damit kann ich in einer Woche mein Ticket nach Hause finanzieren! Und ich kann Geld für Jayjays Sattel ansparen.“ Sku gibt ein brummenden Schnurren von sich und stupst mich mit ihrem breiten Kopf an. „Ja, ich weiß, ich brauche auch neue Winterklamotten und Essen muss ich auch kaufen. Aber theoretisch! Ich habe noch nie so viel Geld verdient. Und so schwer kann der Job nicht sein.“ Sku keckert leise.   Oh, wie falsch ich gelegen habe. Mein erster Arbeitstag beginnt am 30. Oktober. Pünktlich um 15:00 Uhr stehe ich vor Ivonnes Lokal, dessen Namensschild ich erst auf den zweiten Blick entdeckt habe: Ivys Hafenbar. Ivy scheucht mich in den Abstellraum, drückt mir Putzeimer, Staubwedel und diverse Reiniger samt Handschuhen in die Arme und schickt mich nach oben, um die Zimmer auf Vordermann zu bringen. Drei Stunden später tauche ich ziemlich erschöpft unten auf, bringe meine Putzutensilien weg und werde fast augenblicklich mit einer Schürze ausgestattet und in die Küche geschickt, wo ich den restlichen Abend abwechselnd mit Geschirr spülen  und Kartoffeln schälen verbringe. Einige Male werde ich auch als Kellnerin eingesetzt und trage Getränke und Speisen zu den Matrosen, die an den runden Tischen Karten spielen und sich schallend unterhalten. Ich schnappe einige Gesprächsfetzen auf, aber die Worte machen keinen Sinn, so konzentriert bin ich darauf, die schweren Tabletts und leeren Teller nicht fallen zu lassen. Gegen 22:00 Uhr werden es weniger, viele der Gäste gehen nach oben in ihre Räume oder verlassen das Lokal. Nur einige bleiben noch an der Bar sitzen und unterhalten sich dort mit Ivy, die jetzt auch die Zeit für Unterhaltungen findet. Stanz ist ebenfalls dort und zwinkert mir zu. Schließlich klopft Ivy mir auf die Schulter und wünscht mir eine gute Nacht. „Wird es immer so stressig?“, frage ich matt. „Heute fand ich es ziemlich entspannt, dank dir.“ Mein Gesicht muss mich verraten haben, denn sie lenkt schnell ein. „Es war dein erster Tag, Abby, kein Grund zur Panik. Je öfter du so viel Druck ausgesetzt bist, umso besser wirst du damit umgehen können. Bald wirst du dich hier unterfordert fühlen.“ Ich schaue sie skeptisch an und sie lacht schallend. „Geh ins Bett, Kleine.“   Am nächsten Morgen ist mir gar nicht nach aufstehen zu Mute. Die Sonne scheint durch die kleinen Fenster des Leuchtturms direkt in mein Gesicht und meine Arme, Beine und mein Rücken tun weh. Schließlich ist es Hunger, der mich aufstehen lässt. Ich bin eine der ersten, die aufsteht. An der gegenüber liegenden Wand liegen zwei leere Schlafsäcke und ein Junge neben dem Balkonausgang zieht sich gerade um. Ich nehme meinen Rucksack, überprüfe, ob noch alles da ist und mache mich dann auf den Weg zum Strand. Am liebsten würde ich direkt beim Leuchtturm schwimmen, aber die Strömung ist dort zu stark und die tosende Brandung drängt stetig gegen die steile Klippe an der Ostseite des Hügels, auf dem der Turm steht. Im Hafen zu schwimmen ist wegen der Schiffe und Boote untersagt und so bleibt mir nur eine Möglichkeit. Der Strand liegt westlich von Oliviana City auf Route 40. Der Kampfzoneneingang ist dort, aber den Besuch spare ich mir für später auf, wenn überhaupt. Ich war noch nie dort, aber ich kann mir denken, dass dort nur die stärksten Trainer gegeneinander antreten. Auf dem Weg durch die Stadt komme ich an einer Bäckerei vorbei und kaufe mir dort ein reduziertes Käsebrötchen. Bis ich mein erstes Gehalt erhalte, muss ich noch zum Ende der Woche warten. Etwa eine Stunde später weichen die Pflastersteine der Stadt dem Sand und schon bald finde ich mich zwischen algenbewachsenen Felsen und schwappenden Wellen wider. Dass ich bei meiner Pack-Aktion damals an alles gedacht habe, außer meinem Bikini, macht mich heute noch wütend. Was habe ich mir dabei gedacht, meine Ohrringe und die anderen Accessoires mitzunehmen? Ich denke wehmütig an meine Tops und Strumpfhosen, die Dornenbüschen und Schlamm zum Opfer gefallen sind und ziehe schnell meine Hose und die Hoodie aus, gefolgt von Schuhen und Socken. Ich falte alles zusammen, stopfe es in meinen Rucksack und rufe dann Gott, Hunter und Jayjay, damit sie sich die Zeit ein wenig vertreiben können. Jayjay trabt interessiert auf das Wasser zu, tänzelt aber schnell zurück, als das Wasser über seine Beine schwappt und elektrisch knistert. „Du bleibst besser weg vom Wasser“, rate ich ihm, bevor ich in Unterwäsche in das kalte Meer steige und langsam durchatme, um mich an die Temperatur zu gewöhnen. „Gott, passt du auf meinen Rucksack auf?“ Gott knurrt und rollt sich neben der Tasche ein. Hunter zupft liebevoll an Jayjays Mähne, dann flattert er davon, um sich sein Frühstück zu besorgen. Ich plantsche ein wenig im seichten Wasser, bis ich aufgewärmt bin und meine Muskulatur sich entspannt hat, dann schwimme ich los. Es ist das erste Mal seit Monaten, dass ich eine längere Zeit am Stück schwimme und nicht alle zwei Minuten Pause mache. Der Wind und das Salzwasser wecken mich auf und ich beschließe, Schwimmen wieder aktiv in meinen Tagesablauf zu integrieren. Schaden kann es nicht und man weiß schließlich nie, wann man das nächste Mal um sein Leben schwimmen muss. Eine Weile später schließen sich andere Schwimmer meinem Beispiel an. Ich bleibe so gut es geht unter Wasser, damit das Fehlen meines Bikinis nicht auffällt und unterhalte mich kurz mit einer jungen Frau, die hier täglich schwimmt und Trainer zu Duellen herausfordert, die nach Anemonia City schwimmen. „Keiner nimmt die Mühe auf sich, die Strecke zu schwimmen“, beklagt sie sich. „All diese Trainer reiten auf ihrem Pokémon und lassen sich bequem herum kutschieren. Das mindeste, was sie leisten können, ist ein Kampf, um mich aufzuwärmen.“ Sie lacht und schwimmt an mir vorbei weiter ins Meer. Als ich sicher bin, dass außer mir niemand in der Nähe des Strands ist, steige ich aus dem Wasser, trockne mich schnell ab und ziehe meine Sachen an, die dank Gotts Nähe angenehm warm sind. Hunter hat sich während meines Schwimmens ein sehr dickes Karpador geangelt und es gemeinsam mit Gott verspeist. Nur Jayjay hält sich wie ich an eine vegetarische Diät. Die Sonne steht noch ein wenig schräg, aber es ist ein sonniger Tag, zumindest für den morgen anbrechenden November und ich mache es mir mit Gott als Heizkörper etwas abseits des Strandstreifens neben einem Fels gemütlich und krame meinen PokéCom aus meinem Rucksack. Das kleine Gerät hat seit seinem Kauf in Viola City einiges durchgemacht, fast täglich lausche ich den Nachrichten und seit meiner Rückkehr vom Indigo Plateau war Zach das Thema Nummer eins. Aber seit ein paar Tagen gibt es wieder andere Neuigkeiten und ich bin gespannt, ob etwas Neues dazu gekommen ist.   „Wir begrüßen sie herzlich zu den 10:00 Uhr Nachrichten! Mein Name ist Daniel und ich habe Neuigkeiten für sie, die sich gewaschen haben.  Nach dem Indigo-Debakel hat Rockeys Spezialeinheit ihre Suche verschärft und es ist ihr zusammen mit Gold und Noah gelungen, drei weitere Rockets festzunehmen, als diese am Montag versuchten, ein Pokécenter auszurauben. Dank ihres schnellen Handelns konnten alle Pokémon an ihre ursprünglichen Trainer zurückgegeben werden. Die überraschende Festnahme der Bikergruppe in Teak City war fast drei Wochen ein Rätsel, nun endlich hat die Polizei sich bezüglich der Umstände geäußert. Jack Ryle, Mitglied der Rockey Spezialeinheit und Verantwortlicher für die Festnahme der fünf Verbrecher, sagte in einem Interview, dass die Biker nur dank einer Gruppe engagierter Trainer im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren gefangen werden konnten. Die Anführerin der selbst ernannten RES-Qs stand zu einem Kommentar zur Verfügung: „Wir sind froh, die Polizei mit unseren Handlungen unterstützt zu haben“, sagte die 16-jährige Camilla Poll, bei ihren Teammitgliedern besser bekannt unter dem Alias Wiesel. „Wir wollten die Tyrannei in Teak City beenden und das haben wir geschafft. Auch wenn wir unerwartet Hilfe bekamen.“ „Weitere Informationen zu der mysteriösen Hilfe gibt es nicht, es geht aber das Gerücht um, dass es sich dabei um die Fängerin des legendären Vogelpokémons Ho-Oh handelt.“   Ich schmunzele. Chris wird nicht um ein bisschen Ruhm herum kommen. Dann wiederum wurde sie nicht mal namentlich erwähnt. Wahrscheinlich würde niemand sie erkennen, wenn sie nicht gerade mit ihrem Ho-Oh auf der Straße landet.   „Richard Lark hat kurz nach der diesjährigen Pokémon Championship angekündigt, Claire, die achte Arenaleiterin Kantos, am 1. Dezember herauszufordern und seine Rivalen Raphael Berni und Genevieve Keller dazu angeregt, dem Warten der Fans ebenfalls ein Ende zu bereiten. Zacharias Stray bleibt weiterhin unauffindbar.“   Natürlich bleibt er das. Ich drehe meinen PokéCom in meinen Händen und lausche gedankenverloren dem Rest der Nachrichten. Wenn er weiterhin Team Rocket ausspioniert, wird er in ihrem Hauptquartier sein und das wurde bisher noch nicht aufgefunden. Es gibt zwar Vermutungen, aber die Rockey Spezialeinheit hat vorerst noch keine Stürmung geplant, und mit gutem Grund, wie ich finde. Ich weiß, dass Gold und Noah stark sind, auch wenn ich ihre Fähigkeiten mit Sicherheit nicht mal annähernd erahnen kann, aber auch Team Rocket hat starke Trainer. Einer von ihnen Zach. Ich frage mich, wen er in einer direkten Konfrontation unterstützen würde. Wenn Team Rocket für den Tod seiner Schwester verantwortlich war, dann muss er wollen, dass sie alle verhaftet werden. Aber warum sollte er dann der Polizei den Rücken kehren und stattdessen auf eigene Faust Informationen sammeln? Ich bin nicht sicher, ob er für uns kämpfen würde. Aber ich hoffe es inständig. Den Rest des angebrochenen Morgens verbringe ich mit Julian und Corinna auf Route 39, wo ich Jayjay und Hunter zusammen kämpfen lasse. Die beiden erweisen sich schnell als gutes Team und bevor ich mich zu Ivonnes Hafenbar aufmache, hat Jayjay drei Level geschafft. Auf dem Weg zurück in die Stadt überprüfe ich die Daten meiner Pokémon in meinem Pokédex. Sku ist weiterhin auf Level 35, Hunter und Gott je auf Level 26 und Jayjay Level 14. Damit stehen noch zwei Entwicklungen aus, Gott wird zu einem Tornupto, wenn er Level 36 erreicht und Jayjay entwickelt sich schon auf Level 27 zu einem Zebritz. Ich lächle zufrieden in mich hinein. Wir sind wirklich weit gekommen.   Wie Ivy versprochen hat, ist der zweite Tag leichter als der erste. Womit ich nicht meine, dass er leicht ist. Die Zimmer werden nur flüchtig geputzt, weil ich gestern so gründlich war und so bleibt mir mehr Zeit fürs Geschirr spülen. Es ist außerdem weniger Betrieb als gestern, weshalb ich öfter Kellnerin spielen darf und die letzte Stunde meiner Arbeit mit Seemannsgeschichten an Ivys Bar verbringe, wo wir den noch verbliebenen Matrosen Getränke zapfen und ansonsten ein offenes Ohr haben. Pünktlich um 22:00 Uhr schickt Ivy mich weg und ich gehe, Sku neben mir her trottend, zurück zum Leuchtturm. Im Erdgeschoss schlafen bereits alle, aber aus dem zweiten Stock höre ich leise Stimmen. Ich steige die Treppen hinauf, Sku auf meinem Rücken und entdecke, natürlich, Gabe und Kevin, die rauchend in ihrer Ecke des Leuchtturms sitzen. Noch glimmende Zigarettenstummel liegen direkt neben ihren Schlafsäcken und Kleidern und der ganze Raum ist gefüllt mit abgestandenem Rauch. „Raucht draußen“, murmele ich wütend und halte mir eine Hand vor den Mund, um dem Geruch zu entgehen. „Und passt auf wegen der Glut.“ „Süß, sie macht sich Sorgen“, sagt Gabe grinsend und drückt seine Zigarette auf dem Schlafsack seines Nachbarn aus. Der Stoff glimmt auf und beginnt zu rauchen. Sku faucht und Gabe drückt lachend das kleine Feuer aus, dann steckt er sich seine nächste Zigarette an. Ich werfe den Beiden einen letzten abfälligen Blick zu, dann steige ich die Treppenstufen hinauf und atme erleichtert die frische Luft der oberen Stockwerke ein. Diese Beiden haben Ärger auf der Stirn geschrieben, soviel steht fest. Kapitel 58: Sticheleien (Jasmins Gerechtigkeit) ----------------------------------------------- Die verbleibenden Tage bis zu meiner ersten Bezahlung verstreichen wie im Flug. Training, Schwimmen, die Arbeit in Ivys Bar und einige kleine Konflikte mit Gabe und Kevin halten mich auf Trab und Montag kommt, bevor ich mich versehe. Meinen freien Tag verbringe ich mit Toby und den anderen beim Training. Wir nehmen belegte Brote und Beerensaft mit und frühstücken auf einem nicht ganz so steilen Abhang, bevor unsere Pokémon an die Arbeit müssen. Jayjay ist inzwischen stark genug, auch ohne Hunters Unterstützung wilde Pokémon zu besiegen und so kann ich währenddessen Hunters Ausdauer ausbauen. „Nochmal Schockwelle!“, rufe ich Jayjay von Hunters Rücken aus zu, der mit immer müder werdenden Flügelschlägen Kreise über der Wiese dreht.  „Nur noch zwei Minuten“, sporne ich ihn an und Hunter krächzt, bevor er seine Anstrengungen verstärkt. Während ich den Wind in meinem Gesicht genieße und Jayjay Attacken zurufe, denke ich über das Notizbuch in meinem Rucksack nach. Nach meinem ersten Gehaltscheck habe ich mir das kleine Heft aus Gründen gekauft, die mir im Nachhinein sehr vage erscheinen. Die Team Rocket-Problematik wird komplizierter, je weiter ich darin verwickelt bin und mit Zachs Spionage und der Einbindung der Biker fühlt es sich immer mehr so an, als würde ich den Faden verlieren, der sich als Verbindung durch alle Vorkommnisse spannt. Und dann sind da noch Chris, Jayden und die mir noch unbekannten Trainer Gerard und Ronya, da sich untereinander kaum kennen und trotzdem ähnliche Ziele verfolgen. Wenn es überhaupt Ziele sind. Ronya und Chris verfolgen beide legendäre Pokémon, Jayden hat ein andersfarbiges Glurak und ob Gerard ein besonderes Pokémon hat, weiß ich nicht, aber die vier haben eines gemeinsam: Sie sammeln keine Orden. Nicht nur das. Zumindest Chris und Jayden hegen eine regelrechte Abneigung gegen die offizielle Anerkennung von Trainern, sei es durch Orden oder Turniere. Dennoch ist Jayden mit einem Arenaleiter befreundet. Chris mag Red nicht, aber nur wegen der Auswirkungen seiner Legende, nicht wegen seinen eigentlichen Handlungen. Es geht also um das System. Sind sie Rebellen? Freigeister? Kritische Denker? Ich tätschele Hunters Hals und gebe ihm damit das Signal, aufzuhören. Er sackt fast augenblicklich mehrere Meter zu Boden, bevor er sich wieder fängt und mehr oder weniger sanft landet. Ich steige ab und geselle mich zu Jayjay, der stolz neben einem besiegten Mauzi steht und schnaubt. Ich tätschele seine Schnauze, kriege einen Schlag und muss mir sein schadenfrohes Wiehern anhören. „Mach ´ne Pause“, sage ich und er galoppiert augenblicklich an mir vorbei zu Hunter, der sich dankbar auf seinen Rücken hockt und durch die Gegend tragen lässt. Schmunzelnd setze ich mich zurück auf unsere Picknickdecke, auf der außer mir nur Toby ist. Er liegt auf dem Rücken und schnarcht leise. Ich lasse mich neben ihm nieder und ziehe das kleine Heftchen aus meinem Rucksack, klaue mir einen von Tobys zahlreichen Kugelschreibern und beginne, alle meine Informationen über Team Rocket, die Biker, den Untergrund, Zach und die ordenlosen Trainer zusammenzutragen. Als ich zufrieden mit den einzelnen Listen bin, male ich Diagramme, in denen ich Personen und Ereignisse miteinander verknüpfe. Ein kühler Wind kommt auf und ich fröstele, aber ich ziehe nur meine Jacke enger und überfliege die vollgeschriebenen Seiten. Team Rocket wird geführt von dem ehemaligen Vorstand, Atlas, der nach Giovannis Verschwinden (oder Tod?) die Führung übernommen hat. Sein Sohn, Dark, ist fünfzehn und ein Mitglied, aber Mel und Atlas vertrauen ihm nicht. Die ersten Anzeichen ihres Comebacks waren vor zwei Jahren, aber es gibt Anhaltspunkte, dass sie bereits vor fünf Jahren Kontakte mit dem Untergrund (und vielleicht den Bikern?) geknüpft haben. Möglicherweise waren sie an dem Tod von Eva Stray beteiligt, Carolines und Zachs älterer Schwester. Zach ist deshalb vor einem Jahr Team Rocket beigetreten, um sie von innen auszuspionieren und die Verantwortlichen zu finden. Es ist seine persönliche Rache. Vor einigen Wochen ist sein Doppelleben aber aufgeflogen und jetzt wird er von der Polizei gesucht. Bis hierhin sind mir die Verbindungen klar. Mik und Alina, die Anführer der Teak Biker, sind geflohen. Mel (Melanie), Teal, Lee, Cory und Craig sind Rockets, welchen Rang sie belegen, weiß ich nicht. Juan und Eliza wurden bereits festgenommen, genauso wie einige andere Rockets, die unvorsichtig waren. Aber was ist ihr Ziel? Ich lasse mich nach hinten kippen und starre in den Himmel. Dicke, weißgraue Wolken ziehen über das klare Blau und die Sonne strahlt durch einige dünnen Wolkenschwaden auf mich herab. Ich schließe meine Augen. Team Rocket ist bekannt für grausame Motive und für die wichtigen Gebäude, die sie im Prozess der Umsetzung unter ihre Kontrolle bringen. Die Silph Co. Der Radioturm. Was wollten sie bezwecken? Wütend schlage ich die Augen auf. Ich brauche mehr Informationen. Wie soll ich ihre jetzigen Handlungen verstehen, wenn ich nicht mal weiß, was sie in der Vergangenheit erreichen wollten? Sie stehlen Pokémon. Sie verkaufen illegal Pokémon. Geld? Macht? Höhlen sprengen passt überhaupt nicht in ihr Profil. Ich stehe auf und winke Hunter und Jayjay zu mir, die widerwillig in meine Richtung traben. „Genug gefaulenzt“, sage ich und kraule Hunters warmes Brustgefieder, bis er von Jayjay herabflattert und mich aufsitzen lässt. „Zurück an die Arbeit.“   Am späten Nachmittag verabschiede ich mich von den anderen, die noch die Taurosherde aufspüren wollen, um sich eins der Pokémon zu fangen und mache mich mit Sku und Gott neben mir auf den Weg zum Pokécenter. Seit dem Kampf auf dem Indigo Plateau hat die Rivalität der beiden sich etwas entschärft. Manchmal geraten sie noch in kleine Kämpfe, aber die sind nie ernst und im Allgemeinen bleibt Gott fast so entspannt wie wenn er mit mir alleine ist. Vielleicht hat Sku ihre Rangstellung gefestigt oder vielleicht hat Gott einfach begriffen, dass sie beide auf derselben Seite stehen. Sei es, wie es sei, ich bin froh, die beiden so friedlich nebeneinander herlaufen zu sehen. Ich lasse Gott nicht gerne so lange in seinem Pokéball, aber er ist aggressiv. Als ich ankomme, ist genauso viel Betrieb wie schon die ganze Woche. Ein oder zwei Trainer haben Jasmin besiegt, aber dafür sind mindestens vier nachgekommen. Es sieht nicht so aus, als würde der Leuchtturm sich bald leeren und die Stimmung unter den Trainern ist miserabel. Ich stehe fast eine halbe Stunde in der Schlange und bereits nach den ersten fünf Minuten würde ich am liebsten weglaufen, so sehr gehen mir die Gespräche vor und hinter mir auf die Nerven. Jasmin hat geschummelt, Jasmin ist scheiße, ihr Stahlos ist zu stark, man müsste sie anzeigen, es sollte verboten sein, und so weiter und so fort. Chris´ Stimme taucht ungebeten in meinem Kopf auf, als ich einem besonders nervigen Mädchen vor mir zuhöre. „Ich meine, sie ist Arenaleiterin, sie darf nicht mit ihrem echten Team kämpfen!“, zetert sie und es ist nicht mal, was sie sagt, das mich so aufregt. Es ist die Art und Weise, wie sie es sagt. „Wie soll man bitte gegen sie gewinnen, wenn sie schummelt?“ Ihre Freundin nickt und ich verdrehe die Augen. Langsam kann ich Chris´ Standpunkt nachvollziehen. Es ist der nächste Satz, der mich überrascht. „Wenn das so weiter geht, werde ich mich bei Ruth beschweren“, sagt das Mädchen und zurrt ihren Zopf fester. „Ihre Familie hat sehr viel Einfluss in der Stadt. Ich wette, sie könnten Jasmins Ruf zerstören, bis sie gefeuert wird.“ „Warum sollte Ruth dir helfen?“, frage ich laut und das Mädchen dreht sich zu mir um. Sie trägt nur die besten Markenklamotten, irgendeine Trainerkollektion, und schaut mich herablassend an. „Und aus welchem Erdloch bist du gekrochen?“, fragt sie stattdessen. „Komisch, den Satz höre ich dauernd“, sage ich. „Habt ihr reichen Kids keine anderen Sprüche parat?“ „Oh, du glaubst, Schlagfertigkeit, rettet dich?“, fragt sie und ich entscheide instinktiv, dass sie schlimmer ist als Ruth. Ich mag Ruth nicht unbedingt sympathisch finden, aber ich habe eine Seite von ihr gesehen, die ich hier eindeutig nicht finden werde. „Du bist ein Trainer“, sage ich. „Du hast kein Recht darauf, einen Orden zu erhalten, nur weil du antrittst. Die Championship ist kein Scherz, verdien dir deinen Weg an die Spitze oder halt die Klappe.“ Sie kneift die Augen zusammen. Ein perfekt getrimmter, brauner Pony fällt in ihre getuschten Wimpern. Ich spüre alle Augen auf uns. Es fühlt sich nicht schlecht an. „Die Zolwyks haben ein geschäftliches Interesse daran, meine Familie nicht zu verärgern“, sagt sie bedrohlich. „Und du hast ein Interesse daran, dich nicht mit mir anzulegen, sonst entzieht man dir deine Protrainer-Lizenz, ehe du dich versiehst.“ „Zu schade, dass ich kein Protrainer bin.“ Ich schaue ihr starr in die Augen. „Es ist nicht Jasmins Schuld, wenn du zu schwach bist, gegen sie zu gewinnen. Vielleicht solltest du nächstes Mal deine feinen Designerklamotten zu Hause lassen und deine Pokémon ernsthaft trainieren. Aber sei vorsichtig, dass du dir keinen Nagel abbrichst.“ Hinter mir ertönt leises Gelächter. „Lass sie, Becci“, sagt ihre Freundin und wirft mir einen warnenden Blick zu. „Sie ist nur neidisch.“ „Pff, worauf denn bitte?“, frage ich grinsend. „Auf ihren Charakter ganz sicher nicht.“ Becci schaut mich einen Moment länger an, dann hüstelt Schwester Joy. Wir drehen uns nach vorne. Zwei leere Meter trennen den Tresen von den Mädchen und Becci geht los, um ihre Pokébälle abzugeben. Ich bin nach ihr dran und frage danach, ob ich einen der Computer verwenden kann, der nicht für das Lagersystem gebraucht wird. Schwester Joy nickt und zeigt mir einen kleinen Raum neben der Küche, in dem drei Computer auf Tischen stehen. An der linken Wand steht eins der Videotelefone, welche in jedem Pokécenter vorhanden sind. Außer mir ist niemand hier und ich lasse mich an den mir nächsten Computer sinken. Ich gebe die Zugangsdaten ein, die Joy mir auf einem kleinen Zettel gegeben hat und durchsuche dann die Nachrichtenarchive der letzten zwölf Jahre. Nach etwa zwei Stunden Recherche ist meine Informationsmappe vier Seiten länger und ich noch unzufriedener als zuvor. Team Rockets Verhalten macht jetzt noch weniger Sinn. Wenn Team Rocket wirklich an der Erschaffung des mysteriösen Mewtu beteiligt war und die Silph Co übernommen hat, um an einen Meisterball zu kommen, dann war ihr Motiv eindeutig Macht. Macht und Geld. Drei Jahre später ging es um die zwanghafte Entwicklung von Karpador mit Hilfe von Radiowellen. Deshalb haben sie den Radioturm unter ihre Kontrolle gebracht, und natürlich um ihrem Boss Giovanni mitzuteilen, dass er bitte zurückkommen soll. Beide Male wurden sie von einem einzelnen Trainer aufgehalten. Red und Gold. Die beiden Legenden. Haben sie aus ihren Fehlern gelernt? Bisher ist es nicht gelungen, Team Rocket auszuschalten, obwohl die Zahl beteiligter Trainer größer ist, denn je. Sie scheinen vorsichtiger zu sein. Was also haben sie mit dem Sprengen der Höhlen vor? Zumal die Explosionskraft laut Holly nicht groß genug ist. Frustriert mache ich mich auf den Rückweg zum Leuchtturm, drehe nach wenigen Schritten um und gehe stattdessen zum Strand. Wenn ich jetzt nicht eine Runde schwimme, werde ich nie im Leben einschlafen.   Dienstag hält eine böse Überraschung für mich bereit. Ich komme gerade die Treppen in Ivys Bar herunter, Putzeimer und Staubwedel im Arm, als ich an einem der Tische weiter hinten zwei mir sehr unliebe Besucher entdecke. Gabe sitzt mit dem Rücken zu mir, aber ich erkenne ihn sofort an seinen grünen Haarsträhnen und Kevin ist nur schwer zu übersehen. Ich passe einen Moment ab, als er mit der Speisekarte beschäftigt ist und verschwinde dann in der Küche. Mein Glück hält natürlich nicht an. Ivy schickt mich keine fünf Minuten später los, um Bestellungen aufzunehmen und so hole ich einmal tief Luft, bevor ich mein Kellnerlächeln aufsetze und mit Block und Stift in der Hand in den Hauptraum gehe. Noch bevor ich den Tisch der beiden erreiche, werde ich entdeckt. Während ich Getränkebestellungen einer Gruppe Matrosen aufnehme, sehe ich Gabes feixenden Gesichtsausdruck. Mit eisernem Lächeln auf den Lippen gehe ich zu den beiden und schaue stur auf meinen Notizblock. „Kann ich euch was zu trinken bringen?“, frage ich und hoffe, die Erniedrigungsprozedur schnell hinter mich zu bringen. Vergeblich. „Sieh mal an, du arbeitest also hier“, sagt Gabe und wartet, bis ich seinen Blick erwidere, bevor er fortfährt. „Wenn wir das gewusst hätten, wären wir schon früher hergekommen.“ „Es freut mich, dass euch das Lokal gefällt“, sage ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen. „Habt ihr schon entschieden, was ihr möchtet?“ „Es ist ihr peinlich, Gabe“, sagt Kevin breit grinsend. „Aber das scheint bei armen Schluckern immer so zu sein.“ „Eure Bestellung?“, frage ich ein drittes Mal, jetzt ohne Freundlichkeit in der Stimme. „Zwei Bier“, sagt Gabe und als ich in die Küche zurückehre, höre ich ihr Lachen jeden Schritt meines Weges. „Freunde von dir?“, fragt Ivy, als ich griesgrämig zurückkomme und die Biere zapfe. Ich gebe ein humorloses Glucksen von mir. „Eher das genaue Gegenteil.“ „Soll ich sie rauswerfen?“, fragt Ivonne und ich schaue zu ihr auf. Allein das Angebot gibt mir neue Kraft. „Nein, noch haben sie nichts angestellt“, sage ich. „Außerdem“, füge ich grinsend hinzu, „kommen sie vielleicht öfter wieder, um mich zu ärgern. Das Geld können wir gebrauchen.“ Ivy klopft mir auf die Schulter. „Sag Bescheid, sollte es ernst werden.“ Ich lächle und bringe den Matrosen ihre Getränke, bevor ich zu Gabe und Kevin gehe. „Zwei Bier, bitteschön“, sage ich und stelle die kalten Gläser auf den Tisch. Kondenswasser rinnt die Außenseite des Glases herab, bevor Gabe es hebt und einen Schluck nimmt. „Danke, Puppe“, sagt er. Ich mache augenblicklich kehrt und gehe in die Küche zurück. Obwohl sie auch den restlichen Abend friedlich bleiben, muss ich jede Menge Sticheleien über mich ergehen lassen und so atme ich erleichtert aus, als sie kurz vor zehn Uhr angetrunken das Lokal verlassen. Leider scheinen sie Gefallen an dem Ganzen gefunden zu haben, denn als ich am nächsten Abend aus der Küche komme, sitzen sie bereits am Tisch und grinsen mich unverschämt an. Im Normalfall verhalten Gabe und Kevin sich unauffällig, aber wenn es die Besucherzahl gering und Ivy in der Küche beschäftigt ist, muss ich jede Menge subtile Beleidigungen über mich ergehen lassen. So verfliegt der Rest meiner Woche. Morgens und manchmal abends schwimme ich im Meer, trainiere mittags Hunter, Jayjay und Gott und gehe dann zu meiner Schicht in der Bar. Jeden Abend verlassen sie das Lokal betrunken und stecken sich Zigaretten an, kaum dass sie vor der Tür stehen. Das haben sie schon einmal in der Bar versucht, aber Ivy unterhält eine strikte Nicht-Raucher-Agenda in ihrem Lokal und hat die Beiden sofort zu Recht gestutzt. Seitdem beginnen sie noch vor der Eingangstür mit Rauchen und werfen uns durchs Fenster düstere Blicke zu. Meine nächtlichen Spaziergänge mit Sku werden kürzer, weil die Anstrengung des Tages mich auf die Dauer ziemlich auslaugt, aber manchmal sitzen wir bis Mitternacht auf dem Leuchtturmbalkon und beobachten in Decken gewickelt die Sterne. Danach rufe ich sie jedoch immer zurück. Im vierten Stock ist es eng genug, auch ohne, dass Sku zusätzlichen Platz einnimmt.   Am Sonntag, dem 9. November, ist wie immer All-You-Can-Eat und wie schon in der vergangenen Woche ist es voll wie sonst nie. Letztes Mal war ich durchgängig mit Geschirr spülen beschäftigt, doch dieses Mal arbeite ich effizienter und Ivy belohnt mich mit einigen Barschichten, während derer ich Getränke zapfe und Unterhaltung der hier sitzenden Matrosen betreiben darf, während Ivy für mich das Kellnern übernimmt. Nur, dass heute nicht nur Matrosen an der Bar sitzen. Stanz hat mich vorgewarnt, dass auch Jasmin sonntags in Ivys Bar zu finden ist, aber über den Stress der letzten Woche ist mir dieses kleine Detail völlig entgangen. Nun stehe ich mit offenem Mund vor ihr und starre sie. Ihr hellbraunes Haar fällt seidig glatt über ihre Schultern und sie trägt ein pastellfarbenes Kleid mit rosa Strickjacke gegen die Novemberkälte. „Ein Eistee“, sagt sie und ich schließe hastig meinen Mund. „Und das All-You-Can-Eat.“ Ich nicke und gieße ihren orangeroten Eistee in ein hohes Glas. Dann rufe ich Ivy die Bestellung zu, die wenige Minuten später mit einem großen Teller voller gegrilltem Gemüse, überbackener Käsebrötchen, Reis mit Ei und gewürzten Tofuspießen an die Theke kommt und ihn Jasmin serviert. Ich bediene den Rest der Matrosen und stelle mich dann unauffällig gegenüber von Jasmin auf, um Gläser zu trocknen. Obwohl sie so schlank ist, isst sie wie ein Scheunendrescher. Teller um Teller wird von Ivy gebracht, die Jasmins Essengewohnheiten kennt und weiß, wie schnell die Arenaleiterin isst. Nach vier gigantischen Portionen lehnt Jasmin sich auf ihrem Barhocker nach hinten und trinkt ihren zweiten Eistee in einem Zug. „Möchten sie noch einen?“, frage ich vorsichtig. Jasmin öffnet träge ein Auge, dann lächelt sie und setzt sich wieder aufrecht hin. „Ich bitte darum.“ Sie betrachtet mich genauer, während ich ihr das dritte Glas einschenke. „Arbeitest du schon lange hier?“ „Erst seit anderthalb Wochen“, erkläre ich. „Ich bin mit einigen Freunden hergereist.“ Jasmin trinkt einen tiefen Schluck und atmet entspannt durch, also wage ich eine weitere Bemerkung. „Da wir uns ohnehin auf einen längeren Aufenthalt vorbereiten müssen, habe ich mir einen Job gesucht.“ Jasmin lacht. „Deine Freunde müssen mich hassen“, sagt sie dann und stützt ihr Kinn auf eine delikate Hand. „Nicht hassen… aber die Stimmung der Trainer ist nicht besonders gut“, gestehe ich. „Viele fühlen sich ungerecht behandelt.“ „Ungerecht behandelt… hm.“ Jasmin nimmt einen Schluck Eistee. „So habe ich mich auch immer gefühlt. Als ich noch eine junge Arenaleiterin war, hatte ich kein Selbstvertrauen. Ich wollte niemandem im Weg stehen. Ich habe gestottert, gegen einen Großteil der antretenden Trainer verloren und ich dachte, so würde sich jeder Arenaleiter fühlen.“ Ich halte im Glasputzen inne. „Ich habe eine Freundin in Kanto, Erika. Sie ist ebenfalls Arenaleiterin.“ Jasmin schaut nachdenklich auf das Glas, das sie in ihrer Hand hält. „Sie ist zart besaitet, freundlich, leise und gerecht. Aber Trainer haben Respekt vor ihr. Sie ist eine starke Trainerin, auch wenn sie schwach wirkt.“ Ich nicke. Ich habe Erika nie kennen gelernt, aber ich weiß, dass sie Arenaleiterin in Prismania City ist. Agnes hat sich immer positiv über ihren Kampfstil geäußert. Ihre Pflanzenpokémon bereiten jedem Trainer Kopfschmerzen. „Ich wollte ebenfalls anerkannt werden“, fährt Jasmin fort. „Ich wollte nicht mehr der Spielball der Trainer und der Indigo Liga sein. Ich reizte meine Levelerlaubnis aus, ohne sie zu überschreiten. Ich stellte mich meinen Gegnern bewusst in den Weg. Von hier an erwarten Trainer große Hindernisse. Und spätestens gegen Sandra können nur die stärksten der Starken bestehen. Und nur jene mit einem reinen Herzen und einem guten Verhältnis zu ihren Pokémon und Mitmenschen.“ „Also haben sie nie mit ausgemusterten Pokémon gekämpft?“, frage ich. Bei Gerüchten muss man immer vorsichtig sein, aber irgendwie kommt mir Jasmin nicht wie eine Regelbrecherin vor. „Oh doch, das habe ich.“ Sie lächelt und nimmt einen weiteren Schluck. „Aber ich bin nicht die einzige. Wenn Trainer Ärger machen oder ich sie für nicht geeignet halte, dann mache ich ihnen das Leben schwerer als anderen. Die Liga vertraut meiner Einschätzung in diesen Belangen, so wie sie auch den anderen Arenaleitern vertraut. Außerdem habe ich herausgefunden, dass eine große Herausforderung und lange Wartezeiten den wahren Charakter eines Trainers zeigen.“ Sie lehnt sich vor. „Jammern sie nur? Beschweren sie sich bei Höherstehenden? Verbreiten sie Gerüchte? Werden sie vielleicht sogar gewalttätig? Oder tun sie das einzig Richtige und trainieren härter als je zuvor?“ „Zu viele Trainer nehmen ihre Orden für selbstverständlich“, stimme ich nach einer Weile zu. „Vielleicht wird es Zeit, dass die Championship wieder so respektiert wird, wie sie es verdient.“ „Wie heißt du?“ „Abby.“ „Halt die Augen auf, Abby“, sagt sie dann, trinkt ihren Eistee aus und legt Geld auf den Tresen. „Ich habe einige Trainer kennen gelernt, die mir nicht gefallen. Und deine Einstellung könnte sie provozieren. Einen schönen Tag noch.“ Sie winkt und verlässt Ivys Hafenbar. Keine Sorge, denke ich grimmig und sammle das Geld ein. Diese Becci kann mir nichts anhaben. Kapitel 59: Kampfgeist (Rachegelüste) ------------------------------------- Es ist Montag, ich habe meine zweite Bezahlung eingestrichen und die Sonne scheint. Zufrieden liege ich auf Hunters Rücken. Er segelt gemächlich durch die Luft und ziept ab und zu an Jayjays Mähne, der unter uns steht und geräuschvoll grast. „Was ist aus deinem Training geworden?“, ruft Julian zu mir hoch. Er steht neben seinem Camaub, das träge blinzelnd vor sich hin starrt. „Ich habe die letzten Wochen viel zu viel trainiert“, rufe ich zurück und verschränke meine Hände unter meinem Kopf. Der Grund, warum ich nie Protrainer werden wollte, ist der, dass ich zu faul für tägliches Training bin, aber bislang gab es immer eine Notwendigkeit, stärker zu werden. Jetzt, wo meine letzten ernsten Kämpfe Wochen zurückliegen, gebe ich mir etwas mehr Freiraum. Jayjay hat die Level 20-Grenze überschritten und von Team Rocket ist zumindest hier in Oliviana City keine Spur. „Faule Socke“, murmelt Julian und ich lache. „Wie lief dein erster Versuch?“, frage ich zu ihm herunter. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber sein Seufzen spricht Bände. „Ich dachte, mit Karl mache ich sie fertig, aber ich habe nicht daran gedacht, dass ihr Stahlos auch ein Bodentyp ist. Wir haben es ordentlich verbockt.“ „Fordere sie am besten erst heraus, wenn er sich entwickelt hat“, schlage ich träge vor und wedele mit einer Hand, die über Hunters Seite herab hängt. „Immerhin war es nur eine Niederlage…“, murmelt Julian, so leise, dass ich ihn über den Wind kaum verstehen kann. „Ich bin Gabe und Kevin entgegen gekommen. Die scheinen es wieder vermasselt zu haben.“ „Wie viele Niederlagen macht das jetzt nochmal?“ „Ihre neunte.“ Julian schnaubt. „Wenn die Typen nicht solche Ärsche wären, könnte ich glatt Mitleid haben.“ „Die haben kein Mitleid verdient“, sage ich und setze mich ruckartig auf. „Jasmin lässt sie mit Absicht nicht gewinnen. Es gehört mehr Charakter dazu, ein guter Trainer zu sein.“ „Du wirst trotzdem keine Freude mit den beiden haben“, sagt Julian und ich schaue mit düsterem Gesichtsausdruck zu ihm nach unten. Gabe und Kevin sind bei den Qs schon seit unserer Ankunft sehr unbeliebt, aber meine Berichte von der Bar haben ihnen jegliche Sympathie genommen. Überraschender Weise hat sich George als einer ihrer größten Feinde entpuppt. „Solange sie mich am Ende des Tages für ihr Bier bezahlen, ist mir der Rest egal“, sage ich, bevor ich Hunters Seite tätschele und er langsam zu Boden fliegt.   Bei meiner Dienstagsschicht bin ich auf Vieles vorbereitet, nur nicht auf die Realität. Als ich um drei Uhr meine Schicht antrete, sitzen Gabe und Kevin bereits in ihrer Stammecke und würdigen mich keines Blickes, als sie ihre Biere bestellen. Stattdessen diskutieren sie leise, aber angeregt und mehr als einmal fällt der Name Jasmin. Im Laufe des Abends werden ihre Stimmen lauter und ihre Wangen röter. Ich berate mich besorgt mit Ivy, aber die winkt nur ab. „Die werden eine weitere Niederlage wegtrinken wollen, ganz einfach“, sagt sie und tätschelt meine Schulter. „Wenn sie dich in Ruhe lassen, umso besser.“ Beruhigt bin ich trotzdem nicht. Es fühlt sich… falsch an. Wenn sie mich beleidigt und erniedrigt haben, wusste ich immerhin, dass es nicht weiter gehen würde. Aber diese Ruhe macht mir Angst. Gegen neun Uhr verlassen Gabe und Kevin die Bar, ohne irgendetwas anzustellen und ich entspanne mich allmählich. Zusammen mit zwei Matrosen, die noch da sind, plaudern Ivy und ich die letzte Stunde meiner Schicht dahin. "Der Hafen gehört den Zolwyks, oder?", frage ich den dickeren der Beiden, der mir mit einem Bier in der Hand gegenüber sitzt und einen stattlichen Schaumbart präsentiert. "Aye. Ihnen gehört auch die M.S. Love." "Sie ist edel, das muss man ihr lassen", fügt sein Freund hinzu. "Zweimal im Jahr legt sie ab, um den Reichen eine Möglichkeit zu geben, ihre Pokémon zur Schau zu stellen. Das Essen soll der Wahnsinn sein, selbst für die Crew." "Wann legt sie das nächste Mal ab?", frage ich neugierig. "In ein paar Tagen", erklärt er. "Das wird ein ganz schönes Spektakel, wenn die Passagiere ankommen." Dann wird Ruth ebenfalls mit von der Partie sein. Ich verabschiede mich wenige Minuten später und mache mich auf den Rückweg zum Leuchtturm. Sku läuft gemächlich neben mir her, während ich ihr von meiner Sorge um die beiden Jungs berichte. "Ich könnte schwören, dass sie irgendetwas vorhaben", murmele ich, als wir in kompletter Dunkelheit weiterlaufen. Die Häuser der Stadt liegen hinter uns und die kleinen Kiesel im Boden knirschen unter meinen Schuhsohlen, als ich mich blind die Treppenstufen zur Hügelspitze hochkämpfe. "Warum ist es so dunkel?", frage ich genervt und halte nach Skus roten Augen auf, die nur matt schimmern. "Es war doch sonst nie so…" Langsam hebe ich den Kopf. Die Spitze des Leuchtturms liegt in Dunkelheit. Kein Lichtstrahl. Kein Blinken. Nichts. "Oh nein…" Ich krabbele die restlichen Stufen empor und renne dann durch die Eingangshalle des Turms, die Treppen hinauf, über Schlafsäcke und ausgestreckte Beine und lasse wütende Schreie hinter mir zurück. Mit Sku dicht auf den Fersen erreiche ich schließlich den Balkon auf dem vierten Stock. Ich atme mehrere Male rasselnd ein und stütze mich auf meine Knie, während ich voller Unglauben die Tür betrachte, die auf die Turmspitze führt und aufgebrochen in den Angeln hängt. Von über mir höre ich ein leises Wimmern. Ich reiße die Tür das letzte Stück auf und sprinte die Treppen hinauf. Die Stufen enden in einer Art Falltür, die ich aufstoße. Dann klettere ich auf die Spitze. Ein Kreis aus lichtverstärkenden Linsen umschließt das Zentrum der Leuchtturmspitze und schließt mich auf wenigen Quadratmetern Fläche mit den Übeltätern ein. Kevin steht mit verschränkten Armen an die Linsenwand gelehnt und schaut mich wütend an. Gabe hockt neben dem bewusstlosen Ampharos und drückt seine glühende Zigarettenspitze unter dessen Auge aus. Das Pokémon fiept kläglich und strampelt mit den Beinen, die elektrisch knistern und zittern. Hinter ihm steht ein Roselia und schaut mit ausdruckslosem Blick auf das Pokémon herab. "Seid ihr wahnsinnig geworden?!", schreie ich und springe auf Gabe zu, der sich erschrocken zu mir umdreht. Wir landen in einem Knäuel aus Gliedmaßen auf dem Boden und ich ringe mit ihm, bis ich seine Arme in einen guten Griff bekomme und er die Zigarette fallen lässt. "Ihr Scheißkerle!" Gabes Knie trifft mich in die Magengrube und ein Schlag von Kevin schleudert meinen Kopf brutal zur Seite. Skus Fauchen ertönt und dann Kevins Schrei. Zufrieden rolle ich mich auf meinen Rücken und starre zu ihm hoch, während Sku sein Gesicht zerkratzt und in sein Ohr beißt, bis es blutet. Im nächsten Moment sitzt Gabe wieder auf mir und schlägt mich ins Gesicht, woraufhin ich mit meinem Knie aushole und ihn im Kreuz treffe. Er schreit und holt erneut aus, aber ich packe seinen Handgelenke und vereitele seine Attacke im letzten Moment. So müssen sich Sku und die anderen in ihren Kämpfen fühlen, denke ich noch, bevor ich einen mir bis dahin unbekannten Schrei ausstoße und Gabe mit der neu entfesselten Kraft von mir herunter reiße und mich auf ihn stürze. "Ich lasse mich… vielleicht von… Team Rockets verprügeln…", fauche ich atemlos, "aber nicht… von dir!" Meine Faust trifft genau auf seine Nase und Gabe heult auf. Meine Hand kommt blutig zurück. Im nächsten Moment wird Sku zur Seite geschleudert und schlägt hart gegen die Glaswände, bevor sie benommen zu Boden sinkt. Breite, haarige Arme schließen sich von hinten um meine Kehle, ziehen mich hoch und verstärken ihren Griff, als ich wie von Sinnen mit den Beinen strampele, mich gegen Kevin aufbäume und meine Fingernägel in seine Haut grabe. "HIL-", beginne ich, aber Kevins Schwitzkasten wird noch enger und ich spüre, wie die Atemnot meinen Sinnen zu schaffen macht. "Sk…", keuche ich, dann höre ich polternde Schritte und Schreie von unten. "Was ist da oben los?", ruft jemand. Toby? "Das war Abby, ich bin mir sicher!", zischt jemand anderes. "Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße!", flucht Kevin neben meinem Ohr und lockert unbewusst seinen Griff um meinen Hals. Ich mache Anstalten, erneut zu schreien, aber stattdessen atme ich nur panisch ein. Sku kommt langsam wieder zu Sinnen und als sie die Stimmen hört, gibt sie ein wehleidiges Maunzen von sich, so durchdringend, dass ich mir die Ohren zugehalten hätte, wären meine Hände frei gewesen. "Das war Sku!", schreit eine Stimme, die ich als Corinnas identifiziere und augenblicklich werden die Schritte lauter, als die anderen Trainer die Treppenstufen und Leiter hinauf klettern. Kevin weicht, mich immer noch im Klammergriff fixierend, an die hinterste Wand zurück. Er kann nicht fliehen. Einer nach dem anderen tauchen die Qs aus der Bodenluke auf und nehmen das Bild, das sich ihnen bietet, mit schockierten Gesichtern auf. Ampharos, das bewusstlos und mit mehreren Brandwunden neben einem verstört wirkenden Roselia liegt, Sku, der einige Fellbüschel fehlen. Gabe, der wimmernd auf die Seite gerollt ist und sich die gebrochenen Nase hält. Blut tropft zwischen seinen Fingern hervor. Und natürlich Kevin. Kevin, der mich in seinen riesigen Muskelarmen festhält und halb stranguliert. "Ist nicht euer Ernst", murmelt Vivi und schaut sich fassungslos in dem kleinen Raumabschnitt um. "Das ist nicht euer verdammter Ernst!" "Lass Abby los", sagt Toby bedrohlich. "Lass sie los, oder ich schwöre dir, wir hetzen jedes unserer Pokémon auf deinen fetten Arsch." "Sie… sie hat angefangen!", schreit Kevin. "Sie ist hier rein gestürmt und hat Gabe angegriffen!" "Und Jasmins Ampharos?", faucht Julian. "War das auch sie? Oder wart das ihr traurigen Säcke, weil ihr eure Niederlage nicht gebacken gekriegt, ihr kranken... ARGH!" Er tritt gegen die Wand. Corinna boxt sich an ihm vorbei und schlittert neben dem Ampharos auf die Knie. "Sie muss in ein Pokécenter!" "Kevin." Vivi macht einen Schritt nach vorne, Hand an ihrem Pokéball. "Lass Abby los, oder du kannst deinen Eiern Lebewohl sagen. Das meine ich ernst." Ein roter Lichtstrahl schießt aus dem Pokéball und ich erkenne in verschwommenen Formen das rotleuchtende Kingler, das verheißungsvoll mit seinen Scherenhände klappert. "Scheiße!" Kevin lässt mich abrupt los und ich falle mit voller Wucht auf meine Knie. Der Schmerzt schießt durch meine Beine durch meinen ganzen Körper und Tränen steigen in meine Augen, aber ich beiße meine Zähne zusammen und lasse mir von Julian und Vivi aufhelfen. Toby geht zu Corinna und hilft ihr, das Ampharos hoch zu heben. Paul und George stehen neben der Luke und schütteln fassungslos den Kopf. "Das wird ein Nachspiel haben", sagt Toby im Vorbeigehen zu Kevin, der wie benommen an der Wand steht und uns dabei zusieht, wie wir einer nach dem anderen aus der Turmspitze verschwinden. Ich sehe noch, wie er zu Boden sinkt und zu Gabe robbt, bevor ich mit Julians Hilfe eine Stufe nach der anderen hinter mich bringe. Kurze Zeit später erreichen wir den Balkon und ich atme erleichtert die salzige Meeresluft ein.   "Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, Abby?", faucht Toby mich an, während wir auf im Pokécenter auf Jasmin warten. Nachdem unsere kleine Prozession Ampharos und mich ins Pokécenter geschleppt hat, wurde Jasmins Pokémon untersucht und in einen Erholungsraum gebracht. Vivi hat Jasmins Arena wach geklingelt und nun kümmert Schwester Joy sich um meine Verletzungen, hauptsächlich blaue Flecken und Kratzer von meinem Kampf mit Gabe. Meine Knie fühlen sich schon wieder viel besser an, aber meine Finger sind steif und aufgeschrammt und mein Kopf dröhnt von dem Schlag, den ich von Kevin abbekommen habe. Ich schaue Toby verständnislos an. Ich bin noch nicht ganz auf der Höhe. "Was habe ich mir gedacht?", frage ich und Toby seufzt. "Genau das ist die Frage. Wieso hast du uns nicht wach gemacht, als du gemerkt hast, dass Gabe und Kevin in der Turmspitze sind? Wir hätten dir helfen können!" "Und warum hast du nicht mit deinen Pokémon gekämpft?", fügt Julian hinzu und setzt sich neben mich. "Dafür sind sie da." "Ich…" Ich bemühe mich, meine Gedanken in Ordnung zu bringen. Kaum ist es mir gelungen, wäscht eine Woge Schuldgefühle über mich. "Tut mir leid, Toby", sage ich schließlich kleinlaut. "Ich bin einfach losgerast, ohne nachzudenken. Ich hätte euch um Hilfe bitten sollen." "Ja verdammt", sagt Toby und steht auf, um draußen frische Luft zu schnappen. "Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt", sagt Julian und schaut Toby hinterher, der sich durch sein langes braunes Haar fährt und um eine Ecke verschwindet. "Du und Sku saht ziemlich mitgenommen aus, auch wenn das meiste keine schlimmen Verletzungen sind. Aber warum hast du nicht mit deinen Pokémon gekämpft?" "Ich habe nicht nachgedacht, Juli", sage ich und streiche über Skus Kopf, die neben mir liegt und schläft, eine Bandage um ihre linke Vorderpfote gebunden. "Ich war einfach nur so.. wütend. Ich bin auf ihn losgegangen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken." "Naja, vielleicht war es besser so", sagt Vivi, die sich auf Tobys Platz fallen lässt und eine Haarsträhne in die Höhe pustet, die aus ihrem Zopf los gekommen ist. "Sku ist stark, aber ich würde mal wetten, dass du mit dem Levelstand deiner anderen Pokémon nicht gegen zwei Protrainer bestanden hättest. Es wäre so oder so zu einer Rangelei gekommen. Und so konntest du Gabe überraschen und ihm die Nase brechen." Sie hält mir eine Hand hin. "High-Five dafür im Übrigen." Ich schlage gedankenverloren ein. Selbst wenn Vivi Recht damit hat, dass ich einen Pokémonkampf nie gewonnen hätte, ihre Begründung hatte keinen Einfluss auf meine Handlung. Tobys Einwand trifft aber völlig zu. Ich hätte Hilfe holen sollen. Es ist wie auf dem Plateau, denke ich wütend. Wenn ich nicht alleine zu Zach gerannt wäre, wären Richy und Raphael mir nicht gefolgt und Zach könnte weiterhin sein Doppelleben führen. Ich habe alles verbockt. Meine Augen beginnen zu brennen und ich stehe schnell auf, bevor Julian oder Vivi meine Tränen sehen können. "Ich entschuldige mich besser bei Toby", sage ich hastig und schlängele mich an einer protestierenden Schwester Joy vorbei, die gerade mit frischen Pflastern und Wundsalben zurückkommt. Ohne auf Julians Rufe zu hören, gehe ich zum Ausgang und bin dankbar, als ich Vivis Stimme höre. "Lass sie." Die Tür gleitet sirrend auf und die kalte Nachtluft bläst mir entgegen. Ich wende mich nach links und entdecke Toby am Ende der Straße an einer kleinen Steinmauer lehnen, hinter der Stufen zum Hafen führen. Der Mond ist nur ein schmaler Lichtstreifen, aber Straßenlaternen baden den Weg in gelbes Licht. Als Toby mich näher kommen sieht, seufzt er, rückt aber auf der Mauer zur Seite, sodass ich mich neben ihm anlehnen kann. "Es tut mir leid", sage ich nach einigen Sekunden unangenehmen Schweigens. "Ich stürze dauernd vorschnell in Gefahr und bereite Probleme für andere." "Du hast uns keine-", sagt Toby schnell, aber ich bringe ihn mit einem Blick zum Schweigen. "Ich werde versuchen, nächstes Mal nachzudenken und nicht blindlings los zu rennen. Versprochen." Toby nickt. Nach einem kurzen Schweigen öffnet er den Mund, um etwas zu sagen, doch in dem Moment entdecke ich eine Staubwolke, die unter Krachen und metallischem Knirschen in unsere Richtung rast. Wir springen auf. Am Ende der Straße entdecke ich, inmitten von aufstiebenden Steinbrocken und Sand, Jasmin, die auf dem Rücken eines Metagross sitzt, dessen Beine flink über den Boden schießen, wie die eines Spinnenpokémons. Als Jasmin uns entdeckt, gibt sie ein Kommando und ihr Pokémon kommt schlitternd zum Stillstand. "Ach du Kacke", sagt Toby und stützt sich gegen die Mauer. Das Metagross ist nur einen Meter von ihm entfernt und gibt ein grollendes Brüllen von sich. "Wo ist sie?", fragt Jasmin und springt vom Rücken ihres Pokémon. Sie trägt lediglich ein weißes Nachthemd mit Spitzensaum. Ihre nackten Füße landen auf dem Asphalt der Straße. "Wo ist Amphi?" "Sie ist im Pokécenter", sage ich hastig. Jasmin kneift die Augen zusammen. "Abby? Was machst du hier?" Ich setze zu einer Antwort an, aber sie winkt ab. "Später. Kommt mit." Sie ruft ihr Pokémon zurück und läuft los, die Straße hinunter zum Pokécenter. Toby nimmt meine Hand und zieht mich mit. Meine Knie sind noch ein wenig wacklig, aber die fünfzig Meter zum Center halten sie aus und so kommen wir nur wenige Sekunden nach Jasmin dort an. Die ist bereits dabei, Schwester Joy auszuquetschen, die ihr mit ruhiger Stimme die Sachlage erklärt und sie schließlich in Amphis Aufenthaltsraum bringt. Erschöpft lasse ich mich auf eine der Bänke sinken und massiere meine Knie. "Was für eine Nacht…", murmele ich und reibe meine Augen. Es fast Mitternacht. Sku hebt den Kopf und schnurrt mich fordernd an. Ich lege eine Hand auf ihren Bauch und beginne, sie an ihrer Lieblingsstelle zu kraulen. Innerhalb von Sekunden hat sie sich nach außen gerollt und bietet mir mehr Fläche. Corinna geht vor der Bank auf die Knie und streichelt ihren Kopf. Skus Brummen übertönt beinahe das Piepen der Gerätschaften. Nach einigen Minuten kommt Jasmin mit Joy aus dem kleinen Zimmer zurück und setzt sich zu uns an den Tisch. Dass sie kaum bekleidet ist, scheint sie nicht weiter zu stören. "Ich möchte, dass ihr mir genau erzählt, was passiert ist und wer verantwortlich ist", sagt Jasmin mit harter Stimme. Sofort beginnt jeder mit seiner eigenen Erzählung der Geschichte, Jasmin pfeift lautstark durch ihre Finger und gibt dann mir das Wort. Ich berichte von der Niederlage, der schlechten Stimmung, den Barbesuchen, ihrem Saufgelage und schließlich davon, wie ich Amphis Wimmern aus der Leuchtturmspitze gehört habe und ohne nachzudenken hinauf gelaufen bin. "Wir haben ihre Schreie gehört und sind ebenfalls hoch gerannt", fährt Toby fort, als ich mit meiner Erzählung bei dem Schwitzkasten angekommen bin. "Wir haben Kevin gedroht, damit er sie loslässt und sind sofort mit Ampharos hierher gekommen." Jasmin schweigt einen Moment. "Danke, dass ihr euch um Amphi gekümmert habt", sagt sie schließlich an die Gruppe gewandt. Dann wendet sie sich an mich. "Und danke dafür, dass du sie so verteidigt hast. Ich sollte das als Arenaleiterin wohl nicht sagen, aber Gabe hat sich die gebrochene Nase redlich verdient." Schwester Joy schüttelt besorgt den Kopf. "Er sollte herkommen, so etwas muss gerichtet werden, sonst gibt es Komplikationen." Jasmin nickt. "Ich werde jetzt zum Leuchtturm gehen und die beiden herbringen", sagt sie dann. "Was passiert jetzt mit ihnen?", frage ich. "Ich weiß es nicht." Jasmin runzelt die Stirn. "Ich kann meine Arena für sie sperren, aber nur vorübergehend. Weitergehende Maßnahmen muss ich vor die Indigo Liga bringen. Sie werden aber aus dem Leuchtturm geworfen, soviel steht fest." "Geschieht ihnen Recht", murmelt Julian. Corinna nickt abwesend und krault weiter Skus Kopf. "Dann sollten wir auch zurückgehen", sage ich und gähne. "Ich bin todmüde." "Du kannst dein Skuntank wieder mitnehmen", sagt Schwester Joy freundlich in meine Richtung. "Sie sollte sich bald wieder erholen." Wir bedanken uns für die späte Hilfe und verlassen dann das Center. Jasmin ruft ihr Metagross und klettert auf seinen Rücken. "Bis ihr ankommt, sind die Jungs weg, versprochen", sagt sie, bevor ihr Pokémon losrast und in einer Staubwolke verschwindet. "Gegen das Ding möchte ich nicht kämpfen", sagt Vivi und schaut Jasmin hinterher, bevor wir gemeinsam losgehen. "Das macht ja sogar meinem Gewicht Konkurrenz." Julian lacht laut und fängt sich sogleich einen leichten Ellbogenstoß von Corinna ein, die selbst ein Glucksen nicht unterdrücken kann. Toby packt Vivis Seiten und kitzelt sie, bis sie ihn kreischend und Tränen lachend von sich reißt und die Straße entlang jagt. Zumindest die ersten zwanzig Meter. Ich grinse und streiche über Skus Kopf. Sie hat sich komplett um meinen Hals und meine Schultern geschlungen und drückt mich ziemlich runter, aber mit Pauls Unterstützung komme ich gut vorwärts. Wie Jasmin versprochen hat, ist sie verschwunden, bevor wir den Leuchtturm erreichen und die inzwischen wachen Trainer berichten, wie sie Gabe und Kevin mit Hilfe eines Magnezone paralysiert, nach draußen geschleift und auf ihrem Metagross davongetragen hat. Zufrieden machen wir uns auf in den vierten Stock und fallen, nachdem wir George und den restlichen Anwesenden von den Vorfällen berichtet haben, erschöpft in unsere Schlafsäcke. Ich kuschele mit Sku, bis sie einschläft, dann rufe ich sie zurück und lege ihren Pokéball zu den anderen in meinem Trainergürtel. Ich bin eingeschlafen, bevor ich es bemerke. Kapitel 60: Die Bitte (Sku!) ---------------------------- Ich tauche prustend aus dem kalten Meerwasser auf und schüttele meinen Kopf, bis meine nassen Haare aus meinem Gesicht fliegen. Hunter krächzt freudig über mir und flattert davon. "Abby!" Mit den Beinen strampelnd drehe ich mich im Wasser um. Louis steht am Strand und krault Hunter, der vor ihm gelandet ist und sich die Streicheleinheit gurrend gefallen lässt. Gott brummt unwillig und rollt sich enger um meinen Rucksack und Jayjay tänzelt nervös vor und zurück, unschlüssig, was er von dem Jungen halten soll. "Louis!" Ich winke, tauche unter Wasser und schwimme in langen Zügen in seine Richtung. Dann steige ich aus dem Wasser und Louis dreht den Kopf weg, damit ich mich anziehen kann. "Seit wann seid ihr hier?", frage ich. Frisch bekleidet tippe ihm auf die Schulter. "Gerade angekommen", sagt er breit grinsend. "Wir haben Toby und die anderen auf der Route getroffen. Sie meinten, du würdest morgens immer hier schwimmen." Er schaut mich zweifelnd an. "Ist dir nicht kalt?" "Es geht." Ich wringe meine Haare aus und knote sie zu einem kleinen Dutt zusammen, damit sie meinen Pulli nicht nass machen. "Ich nehme an, ich kann dir zu deinem vierten Orden gratulieren?" "Kannst du." Louis holt das kleine Metallstück aus seiner Hosentasche und präsentiert es mir freudestrahlend. "Das Training mit den anderen hat sich wirklich gelohnt. Ich hätte Jens niemals halbherzig besiegen können." "Jasmin wird ein ziemlicher Brocken", sage ich. Louis nickt. "Julian hat von seinem Kampf berichtet. Sie scheint unheimlich stark zu sein." "Aber hey, du schaffst das schon", meine ich. "Keine Hektik." "Ja." Er steckt den Orden wieder weg. "Was ist mit deinen Knien?" "Meine Knie? Ah!" Wahrscheinlich hat er die großen Blutergüsse gesehen, die sich dort gestern gebildet haben und in ihrem intensiven Violett kaum zu übersehen sind. "Erzähle ich dir unterwegs." Gemeinsam gehen wir zurück in Richtung Stadt. Ich stelle Louis Jayjay vor und nachdem er seinen ersten Schlag verpasst bekommt, fasst Jayjay mehr Vertrauen und wiehert ihn freundlich an. Ich berichte Louis von dem Gewitter auf der Farm und dem Angriff auf Amphi und er schüttelt fassungslos den Kopf. "Man kann dich nirgends alleine lassen", sagt er und tätschelt meinen Kopf. "Ich sollte dich an die Leine nehmen und in Watte einwickeln." Ich strecke ihm die Zunge raus. "Das wäre langweilig." "Langweilig wird eines Tages noch dein Leben retten", entgegnet Louis und beginnt, einen kleinen Stein vor sich her zu treten. "Wo gehen wir hin?" "Die anderen werden im Leuchtturm sein", sage ich. "Zwei Plätze sind frei geworden, vielleicht können wir euch bei uns rein quetschen. Danach Training?" "Ehrlich gesagt, ich hatte genug Training die letzten Wochen." Louis schaut nachdenklich vor sich hin. "Ich mache heute Urlaub." "Urlaub klingt super", stimme ich zu. "Ich muss um drei Uhr arbeiten, bis dahin habe ich frei." "Arbeiten?" "Ich helfe in der Hafenbar da hinten aus", sage ich und deute auf Ivys Lokal neben dem Pokécenter. "Du kannst ja dort mal zum Essen vorbeikommen. Sonntags machen wir ein hervorragendes All-You-Can-Eat." "Können wir einen Zwischenstopp im Pokécenter machen?", fragt Louis und bleibt vor der Tür stehen. "Ich bin direkt zu dir, Winry und die anderen könnten eine Pause gebrauchen." Ich rufe meine Pokémon zurück und gemeinsam betreten wir das Center, das zu dieser Uhrzeit wie erwartet zum Brechen voll ist. "Oh Mann", stöhnt Louis und reibt seine Nase. "Julian hat nicht übertrieben." "Warte, bis du den Leuchtturm siehst", sage ich grinsend und stelle mich mit ihm in die Reihe. Während wir warten, an die Reihe zu kommen, bringen wir uns gegenseitig auf den neusten Stand der Dinge und ich berichte von meinen Finanzplänen. Louis pfeift anerkennend. "Du willst dir ein Ticket für die M.S. Aqua kaufen?", fragt er. "Kann Hunter nicht fliegen?" Ich lache laut auf. "Machst du Witze? Er hält gerade mal eine halbe Stunde am Stück aus. Bis nach Orania City sind wir Stunden unterwegs. Und in Etappen fliegen ist langweilig." "Langweilig, Abby, denk an meine Worte", sagt Louis grinsend. "Es wird dein Leben retten." "Jaja." "Wohnt Ruth nicht hier?", fragt er und wir machen einen Schritt in der Schlange nach vorne. "Ihr gehört doch der Hafen, meintest du. Frag sie, ob sie dir ein Ticket schenkt." "Vorher erhänge ich mich", murmele ich. "Auch wieder wahr." Wir lachen. Es tut gut, ihn wieder hier zu haben. Nachdem wir aus dem Pokécenter kommen, machen wir uns auf den Weg zum Leuchtturm. Zu meiner großen Überraschung entdecke ich Jasmin bereits aus der Ferne, die neben ihrem Metagross steht und mit vier Personen diskutiert. Bevor wir überhaupt in Sichtweite kommen, breitet sich ein mulmiges Gefühl in mir aus und als wir die Stufen hinaufgestiegen sind, sehe ich es bestätigt. Zwei der Personen sind George und Carla. Die anderen beiden sind Gabe und Kevin. Ich bleibe stehen und halte Louis am Ärmel fest. Er schaut sich verwundert zu mir um. "Das sind die beiden", erkläre ich leise. Er kneift die Augen zusammen. "Die, mit denen du dich geprügelt hast?", fragt er und ich nicke. "Und die Frau ist Jasmin, oder?" "Ja", stimme ich zu. "Und sie sieht nicht glücklich aus." Wir laufen die letzten Meter zu der Gruppe. Gabe wirft mir einen Hass erfüllten Blick zu, dann verschwinden er und Kevin mitsamt Rucksäcken im Leuchtturm. "Was wird das?", frage ich entgeistert und schaue den beiden nach, bevor ich mich an Jasmin wende, der ihr Zorn auf die Stirn geschrieben steht. "Die Indigo Liga hat meinen Antrag abgelehnt", sagt sie und tätschelt den metallischen Kopf ihres Pokémon. "Ich darf nur eine Arenasperre von maximal einem Monat auf die Beiden verlegen, aber ihnen wird ihre Lizenz nicht entzogen. Deshalb darf ich sie auch nicht aus dem Leuchtturm werfen." George schüttelt seinen schwarzen Pony aus seinem Gesicht. "Die beiden sind das Letzte. Komm Carla." Er dreht sich um und geht an uns vorbei den Hügel hinunter, Carla dicht hinter ihm. Sie dreht sich ein letztes Mal zum Leuchtturm um und sieht ziemlich griesgrämig aus. "Und jetzt?", frage ich Jasmin. Sie schlägt mit der Faust auf ihr Pokémon, das sich davon unberührt zeigt. Einen Körper aus Stahl zu haben, hat eben Vorteile. "Ich habe versucht, sie wegen Pokémonmisshandlung anzuklagen, aber die Beweislast ist angeblich zu gering. Außerdem haben sie Amphi vorher mit ihren Pokémon besiegt, deswegen ist nicht schlüssig, ob die Brandwunden während des Kampfes entstanden sind oder danach." "Aber ich habe sie gesehen!", protestiere ich. Jasmin nickt. "Dein Wort gegen ihres. Wir sind im Nachteil. Wegen der Prügelei wurde euch dreien die Arenasperre auferlegt." "Und bei mir tritt sie nicht in Kraft, weil ich ohnehin keine Orden sammle", fahre ich fort. "Verdammt! Ein Monat ist denen doch egal!" Jasmin schüttelt den Kopf und springt auf ihr Metagross. "Mir sind die Hände gebunden. Aber du kannst sicher sein, dass sie meinen Orden nicht erhalten, bevor sie mein echtes Team besiegen können." Sie reitet auf ihrem Pokémon davon und ich trete wütend über den Boden. "So ein Mist! Wenn sie wenigstens nicht im Leuchtturm schlafen dürften. Ab jetzt werden sie noch unausstehlicher sein." "Hast du nicht gesagt, sie würden immer in der Hafenbar sitzen?" Ich nicke. "Das wird ein Alptraum."   Als es Nachmittag wird, mache ich mich missmutig zu meiner Arbeit auf. Ivonne steht bereits hinter der Theke und wartet, bis ich meine Schürze angezogen habe, bevor sie mich zur Seite nimmt. "Diese Jungen, Gabe und Kevin, sind eben vorbei gekommen", sagt sie und ich schlucke. Sie nickt bei meiner Reaktion. "Dachte ich mir. Keine Sorge, Kleine. Ich habe ihnen Hausverbot erteilt." Erleichtert atme ich aus und umarme Ivy, bevor ich nach oben verschwinde, um die Zimmer auf Vordermann zu bringen. Ein Problem gelöst. Bleibt noch eins.   Gegen halb elf erreiche ich den Leuchtturm und wappne mich für den Aufstieg. Zu meiner großen Freude sitzt Louis neben der Eingangstür und wartet auf mich. "Louis!", rufe ich und laufe zu ihm. Sku springt an mir vorbei und in seine Arme, wo sie ihre feuchte Schnauze gegen seine Wange reibt. "Hat sie abgenommen?", fragt Louis und lässt Sku über seinen Nacken klettern, bevor sie von seiner Schulter herab springt. "Sku?", frage ich belustigt. "In welcher Welt lebst du?" Lachend gehen wir in den Leuchtturm. In der Eingangshalle wird leises Flüstern laut, als ich vorbei gehe. Obwohl der Vorfall kaum zwei Tage her ist, hat sich die Geschichte von der Leuchtturmspitze schon im ganzen Turm herumgesprochen. Jasmins Auftauchen hat die Gerüchte verstärkt und nun werde ich von jedem erkannt. Unbehelligt steigen wir die Stufen hinauf bis zum gefürchteten zweiten Stock, in dem Gabe und Kevin ihre Schlafsäcke haben. Wir schleichen zwischen den Schlafenden hindurch und ich halte nach den beiden Ausschau, aber sie liegen leise schnarchend in ihrer Ecke. So weit, so gut. Vielleicht hat die kurzfristige Verbannung aus dem Turm ihnen die Augen geöffnet. Unschlüssig bleibe ich stehen und Louis läuft halb in mich hinein. "Was ist?", flüstert er und schaut über meine Schulter zu den beiden Jungen herab. "Geh weiter." Ich setze mich wieder in Bewegung und ziehe Louis mit nach draußen auf den Balkon, kaum dass wir den vierten Stock erreicht haben. "Denkst du, die Entscheidung der Liga ist gerecht?", frage ich nach einer Weile, die wir in unsere Schlafsäcke gewickelt an der Turmmauer sitzen. "Nein." Er zögert keine Sekunde. "Sie haben ein Trainerpokémon angegriffen, das alleine war und es misshandelt, nachdem es besiegt war. Und das aus Rache an seiner Trainerin. Das ist krank." "Schon, aber…" Ich reibe meine kalten Hände zusammen. "Sie waren betrunken. Und frustriert." "Das ändert nichts daran", entgegnet Louis. "Warum verteidigst du sie? Die anderen Male waren sie nicht betrunken, oder? Sie haben dich bei deiner Arbeit belästigt, haben die Turmwärter vergrault, Trainer über´s Ohr gehauen… Das klingt für mich nicht nach Trainern, die einen Titel verdient haben." Ich bette mein Kinn auf meine Knie. "Du hast Recht." "Warum bist du so nachdenklich? Ich dachte, du hasst die beiden." "Ich finde sie verachtungswürdig", sage ich. "Aber hassen… Ich hasse niemanden. Vielleicht Mel. Oder Mik. Was die beiden gemacht haben, ist eine ganz andere Kategorie." Louis verschränkt die Hände hinter seinem Kopf. "Vielleicht. Aber das heißt nicht, dass Gabe und Kevin unschuldig sind." "Nein, du hast Recht." Nur noch ein Problem, das es zu lösen gilt. "Vielleicht werde ich morgen mal Ruth besuchen", sage ich und stehe auf. "Kommst du mit?" "Muss ich?", fragt Louis und ich schlage ihm freundschaftlich auf den Kopf. "Muss es. Du hast sie länger nicht gesehen als ich, also stell dich nicht so an." "Ich würde zwei Monate nicht als lang bezeichnen", murrt Louis vor sich hin. "Na komm", sage ich und ziehe ihn hoch. "Sie könnte dich überraschen." Als ich mich in meinen Schlafsack einrolle, bin ich tiefen entspannt. Louis ist hier. Gabe und Kevin verhalten sich ruhig und wenn alles gut geht, kann Ruth mir sogar mit etwas helfen. Ich lege Skus Pokéball zurück in den Trainergürtel, der neben meinem Rucksack bereit zum schnellen Anziehen liegt und fahre mit meinen Fingern über das rot-weiße Plastik. Sie ist wirklich eine wunderbare Freundin.   Am nächsten Morgen frühstücken Louis, ich und die restlichen Qs in einer kleinen Bäckerei in Hafennähe und diskutieren über Strategien, mit denen Jasmin besiegt werden kann. "Sie ist wirklich eine harte Nuss", sagt Julian zum wiederholten Mal. "Ich habe mich mit einigen anderen Herausforderern unterhalten. Niemand von uns hat gegen dieselbe Teamaufstellung gekämpft. Sie wechselt ihre Pokémon aus, wie es ihr gefällt und das macht sie unberechenbar." "Feuerpokémon sind praktisch, aber einige ihrer Pokémon können Bodenattacken, teilweise wegen TMs. Und einmal hat sie angeblich sogar mit einem Impoleon gekämpft." "Impoleon?", frage ich überrascht und beiße in mein Brötchen. "Der Starter?" "Die letzte Entwicklung, ja. Sie benutzen die Art drüben in Sinnoh", erklärt Julian kauend. "Wie kommt sie denn an so eins?" "Keine Ahnung. Aber es ist Zweittyp Stahl, deswegen ist es nicht regelwidrig." "Was ist mit Wasserpokémon?", fragt Louis und denkt ohne Zweifel an Ethan. "In Teak City haben wir die Kimono Girls herausgefordert und von einem netten Mann Surfer geschenkt bekommen." Julian, Corinna und ich prusten gleichzeitig los, bevor wir lauthals loslachen. "Die arme Frau", sage ich und wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel. "Ihr ehrenhaftes Tanztheater wurde in den Schmutz gezogen." "Dahergelaufene Trainer, allesamt!", äfft Julian und Corinna kichert. "Was denn?", fragt Louis, peinlich berührt. "Das gehört doch zur Reise eines Trainers, oder nicht?" "Auf dein Wasserpokémon solltest du dich nicht verlassen", rät Vivi und beißt in ihr drittes Schokocroissant. "Sie besitzt eine Auswahl verschiedener Magneton. Du willst kein Wasser in der Nähe dieses Starkstroms haben, das verspreche ich dir." Geknickt lässt Louis den Kopf hängen. "Was ist mit Bodentypen?", fragt Timothy. "Panzaeron", sagt Julian augenblicklich. "Nicht immer mit von der Partie, also ist Boden auf jeden Fall einen Versuch wert, aber nicht todsicher." "Sie wechselt ihre Pokémon genauso oft wie Jens", fügt Paul hinzu. "Den Stahlorden müssen wir uns wirklich erkämpfen." "Und ratet, was sie gegen eure Kampfpokémon im Ärmel hat", fügt Toby grinsend hinzu. "Abgesehen von Panzaeron und Lucario, versteht sich." Louis stöhnt. "Was denn noch?" Toby hebt triumphierend seinen Zeigefinger. "Ein Bronzong."   "Ich werde sie nie im Leben schlagen", stellt Louis fest, als wir uns auf dem Weg zu Ruths Villa machen. "Ethan und die anderen sind Level 27 und 28 und Jasmin scheint kein Pokémon unter Level 35 zu haben. Bis ich die drei auf dem Level habe, werden Wochen vergehen! Und ich habe kein Ass gegen sie im Ärmel." Ich nicke bedrückt und hake mich bei ihm unter. Seit Louis halb-quasi-irgendwie mit mir Schluss gemacht hat, sind wir uns körperlich aus dem Weg gegangen, aber ich vermisse seine Umarmungen und werde mich nicht von komischen Gefühlen unterkriegen lassen. Louis schielt zu mir herunter, lässt es aber geschehen und so stapfen wir gegen den immer kälter werdenden Novemberwind aus der Stadt und in Richtung Strand. "Ich meine… Winry kann ich vergessen", fährt Louis wütend fort. "Ihre Normalattacken können nichts gegen die Verteidigung von Stahlpokémon ausrichten, Harleys Pflanzenattacken machen nur normalen Schaden, ihre Giftangriffe sind nutzlos und Ethan wird bei erster Gelegenheit von ihren Magnetons gegrillt. Ich habe keine Chance!" "Vielleicht musst du dein Team aufstocken", schlage ich vor. "Ein Feuerpokémon ist bestimmt hilfreich, selbst wenn sie mit Erd- und Wasserattacken kontern kann. Und mit Boden machst du auch nichts verkehrt." "Aber woher denn?" Louis seufzt. "Ich habe in Teak City Ausschau nach Fukano und Vulpix und sogar Magmar gehalten, aber Ethan hat sie immer mit einem Schlag besiegt und Harley ist besiegt worden. Und Winry…" "Was ist?" "Keine Ahnung." Er schaut wütend gerade aus. "Sie war mein erstes Pokémon. Aber je weiter ich auf meiner Reise komme, desto schwächer fühlt sie sich an. Weißt du, was ich meine? Sie kommt einfach nicht hinterher. Ich dachte, gegen Jens würde sie eine echte Chance haben, aber sie wurde schnell besiegt und es waren wieder Ethan und Harley, die alles rausgerissen haben." "Wie Raphael gesagt hat…", murmele ich. "Was?" "Nichts. Raphael hat nur so etwas angedeutet." "Was angedeutet?" Louis bleibt stehen. Ich löse mich von ihm und drehe mich um. "Bei deinen Kämpfen im Knofensaturm meinte er, dass… Er sagte, Winry würde womöglich bald an ihre Grenzen stoßen und dass du ihre Schwächen mit dem Rest des Teams ausgleichen musst." "Oder sie abschieben", sagt Louis grimmig. "Das hat er nicht gesagt, Louis" entgegne ich sofort. "Ich merke es ja selber!" Wütend fährt er sich durch die Haare. "Ich will weiter kommen, Abby, aber Winry hält mich stetig zurück. Zumindest fühlt es sich so an. Die Zeit, die ich in ihr Training investiere, fehlt mir bei den anderen. Aber ich kann sie nich einfach aufgeben. Sie ist mein Starter! Könntest du Sku einfach aufgeben, wenn sie deinem Ziel im Weg stände?" Ich schüttele taub den Kopf und betaste unwillkürlich den Pokéball an meiner Hüfte, in dem Sku ruht. "Nein. Nie im Leben." Louis atmet tief durch, dann zieht er mich zu sich und geht mit mir weiter Richtung Villa, die in der Ferne bereits sichtbar ist. Aber die Stimmung bleibt gedrückt. Das Anwesen der Zolwyks ist von hohen Eisenzäunen und dichten, schmalen Sträuchern umgeben, die die Sicht auf die eigentliche Villa aus nächster Nähe verhindern. Nur von dem erhöhten Sichtpunkt nahe der Stadt ist das symmetrisch angelegte, weiße Gebäude zu erkennen. Louis und ich bleiben vor dem Eisentor stehen und schauen ratlos von der Sprechanlage zu dem weißen Kiesweg dahinter, der zu dem Haupteingang hinauf führt und von getrimmten Hecken in Pokémonform gesäumt wird. Blumenbeete werden von einigen Gärtnern umsorgt und wenn ich die Augen zusammenkneife, kann ich Bewegungen hinter den gewaltigen Fenstern erkennen. "Und jetzt?", fragt Louis und geht zu der Sprechanlage. Wir sind ein wenig abseits auf der Route 40, aber das Meer ist trotzdem zu hören. Das gleichmäßige Schwappen holt mich in die Gegenwart zurück und ich stelle mich vor das Gerät. Ich drücke die Klingel. "Du kannst nicht einfach klingeln!", zischt Louis entsetzt und schaut sich nach Bodyguards und Sicherheitskräften um, die seiner Meinung nach wohl jeden Moment aus den Hecken geschossen kommen müssen, grimmig und bis an die Zähne bewaffnet. "Entspann dich", sage ich. "Irgendwie müssen wir auf uns aufmerksam machen." In dem Moment erklingt das Freizeichen. "Privateigentum der Familie Zolwyk, mit wem spreche ich?" "Abbygail Hampton und Louis Kale", stelle ich uns so deutlich wie möglich vor. "Wir sind Freunde von Ruth und möchten sie gerne besuchen." "Mistress Ruth hat keinen Besuch angemeldet", sagt die Stimme mit eisiger Präzision. "Wir sind unangekündigt hier", sage ich. "Als… Überraschungsbesuch." "Einen Moment bitte." Es vergehen Minuten, bevor die Stimme sich wieder meldet. "Mistress Ruth bestreitet, mit Ihnen befreundet zu sein. Ich muss sie bitten, sich von dem Grundstück zu entfernen, oder es werden Maßnahmen gegen sie ergriffen." "Sagen sie ihr, dass es wichtig ist", werfe ich schnell ein. Louis macht ein panisches Gesicht und schüttelt energisch den Kopf. "Lass uns abhauen…", flüstert er und macht einen Schritt zurück. "Und sagen sie ihr, sie hat eine Schuld zu begleichen", sage ich trotzig und Louis verbirgt seine Augen mit einer Hand. "Mistress Ruth ist..." Die Stimme bricht abrupt ab. Einige Sekunden später geht der Sprecher wieder an und ich höre unverkennbar eine genervte Stimme im Hintergrund. "Sehr wohl, Mistress. Wie Sie wünschen." Ich schaue verwirrt zu Louis, der mit den Schultern zuckt. "Ein Butler wird sie ins Anwesen eskortieren", sagt die Stimme schließlich und die Sprechanlage verstummt wieder. Ich werfe Louis ein selbstzufriedenes Grinsen zu, das er mir mit einem Kneifen meiner Nase aus dem Gesicht wischt. "Der Butler könnte immer noch versuchen, uns umzubringen." "Ja, sicher." Wir warten, während die Eingangstür sich öffnet und ein Mann in schwarzem Smoking mit Fliege auf den Kies tritt und mit bestimmten aber nicht hektischen Schritten auf uns zu kommt. "Was schuldet dir Ruth im Übrigen?", fragt Louis leise, während wir vor dem Tor warten. "Ich habe ihr Bodyguards besorgt", sage ich grinsend. Auf Louis´ ungläubigen Blick zwinkere ich ihm nur zu und forme ein stummes Später mit meinen Lippen. Dann öffnet sich schon das Eisengitter und der Butler verneigt sich vor uns. "Miss Hampton, Mister Kale, bitte folgen sie mir." Der Butler führt uns über den Kiesweg zu der Villa, die in drei Stockwerken in die Höhe ragt. Alles ist in makellosem Weiß gehalten und als wir die Eingangstür erreichen, öffnet der Butler die Türflügel mit beiden Händen, tritt zur Seite und verneigt sich, bis wir hinein gegangen sind. Er folgt und schließt die Türflügel wieder hinter sich. Eine Marmortreppe führt aus der Eingangshalle nach oben und teilt sich auf halber Höhe nach links und rechts auf. Balkone zu beiden Seiten lassen den Blick hinunter zu und Türen führen aus dem Flur in Räume zu beiden Seiten. Der Butler nimmt unser Gepäck und unsere Jacken ab und bittet uns danach in eine Art Empfangsraum. Cremefarbene Ledersofas mit dunklen Holzfüßen stehen einander gegenüber, ein knisternder Kamin auf der einen Seite und ein Kaffeetisch dazwischen, bestückt mit einem kleinen Metallgestell voller Kekse, Gebäcke und Pralinen. "Nehmen Sie bitte Platz", sagt der Butler und wir lassen uns auf den Sofas nieder, unserer dreckigen Schuhe und Hosen unangenehm bewusst. "Bitte bedienen Sie sich", fährt der Butler fort. "Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, bis Mistress Ruth Zeit für sie findet?" Zeit für sie findet? Diese kleine… "Einen Tamottee, bitte", sage ich, entschlossen, das einmalige Angebot, verhätschelt zu werden, gebührend wahrzunehmen. "Ungesüßt, ohne Milch." Der Butler verzieht keine Miene. "Sehr wohl. Mister Kale?" "Ehm… einen… Pirsifsaft?", stottert Louis und der Butler verneigt sich erneut, bevor er das Zimmer verlässt. Keine fünf Sekunden vergehen, bevor ein Zimmermädchen eintritt und sich tief vor uns verbeugt. "Mistress Ruth bittet Sie, sich in Ihrer Abwesenheit an der Étagére zu bedienen. Kann ich Ihnen noch mit etwas behilflich sein?" "Nein, danke", sage ich, nun doch ein wenig überrumpelt. Nachdem Ruth uns zuerst gar nicht rein lassen wollte, hatte ich halb damit gerechnet, dass sie uns im Garten stehen lässt, um dort mit uns zu reden. Beklagen werde ich mich aber ganz sicher nicht. Das Zimmermädchen verbeugt sich erneut und verlässt den Raum. "Wow", flüstert Louis und schaut sich begeistert um. "Einfach wow." Er greift nach einem mit Nougatcreme gefülltem Eclair und beißt hinein. Sein Gesichtsausdruck verwandelt sich in Sekundenschnelle zu träumerisch und er schließt die Augen. "Abby… die musst du probieren." Ich greife ebenfalls nach einem Eclair und beiße hinein. Die süße Schokoladencreme zergeht mir auf der Zunge und der Teig ist saftig und himmlisch und… "Schön, dass es euch schmeckt", sagt eine Stimme und ich reiße die Augen auf. Ruth hat das Empfangszimmer betreten und steht an die Tür gelehnt da. Ein langärmliges Kleid aus dunkelblauem, sehr teuer aussehendem Stoff umhüllt ihre Figur und ihr feuerrotes Haar ist perfekt gestylt und mit diversen Perlenspangen verziert. Sie betrachtet uns mit einem milde amüsierten Ausdruck. "Dann ist meine Schuld ja beglichen. Haut ordentlich rein und verschwindet." Ich lasse die Hand mit dem Eclair sinken. "Wir sind nicht wegen dem Essen hier", sage ich schnell, bringe es aber trotzdem nicht über mich, das Eclair vollends aus der Hand zu legen. Louis lehnt sich zu mir. "Ganz ehrlich… Ich finde, das ist ein super Tausch." "Ah, der Trottelverehrer", sagt Ruth und setzt sich uns gegenüber auf die Couch. "Ich habe mich schon auf dem Indigo Plateau gewundert, wo du bist. Dass du es trotz Unfähigkeit bis hierher  geschafft hast, verdient wohl ein wenig Respekt." Louis sagt kein Wort sondern beißt stattdessen in sein Eclair. Schokoladencreme scheint seine Gefühle gut im Griff zu haben. Ich will etwas Schnippisches antworten, aber in dem Moment öffnet sich die Tür zum dritten Mal und der Butler tritt ein, ein silbernes Tablett auf dem freien Arm balancierend. Er verbeugt sich tief vor Ruth, die ihn keines Blickes würdigt und stellt ein geeistes Kristallglas und eine Porzellantasse vor uns, gefolgt von einem kleinen Porzellankännchen und einem ebenfalls geeisten Kristallkrug gefüllt mit orangerotem Saft. Er schenkt uns beiden ein, verneigt sich erneut und wendet sich dann an Ruth. "Ich brauche nichts, Steve. Lass uns allein. Meine Freunde und ich möchten nicht gestört werden." "Sehr wohl, Mistress. Wie Sie wünschen." "Ich muss gestehen, ich bin überrascht", sagt Ruth und faltet ihre Hände unter ihrem Kinn, während sie sich vorlehnt. "Ich hätte nicht gedacht, dass du dich hier blicken lässt." "Hätte ich auch nicht, wenn es nach mir ginge", sage ich genervt. "Aber ich habe eine Art Bitte." "Eine Art Bitte?" Ruth lacht. "Du bist die zweite, die hier herkommt, um mich um etwas zu bitten." "Wirklich?", frage ich überrascht. Dann fällt mir das Mädchen im Pokécenter wieder ein. "Becci?" "Oh, du kennst sie." Ruth lehnt sich auf der Couch zurück. "Rebecca Staarl. Sie ist die Tochter einer einflussreichen Familie in Dukatia City. Alle Marktketten werden von ihren Eltern kontrolliert. Du scheinst ein Talent darin zu haben, dich bei reichen Töchtern unbeliebt zu machen." "Vielleicht liegt es an eurer großkotzigen Art", schnaube ich. Ruth lächelt. "Möchtest du noch ein Eclair?" Ich schaue auf das halb gegessene Gebäck in meiner Hand. "Ich habe noch, danke." "Schade. Ich hätte gerne deinen Mund mit etwas anderem als Reden beschäftigt." Wütend esse ich das letzte Stück des Eclairs, trinke einen tiefen Schluck Tee und werfe Louis einen Blick zu. Er könnte sich auch mal beteiligen! Er schaut mich ausdruckslos an und beißt in sein Eclair. Von ihm kann ich dann wohl keine Unterstützung erwarten. "Was wollte Rebecca von dir?" Ruth verzieht den Mund zu einem leichten Grinsen. "Sie drohte mir mit katastrophalen Folgen für unsere Zusammenarbeit, sollte ich dir nicht deine Protrainerlizenz entziehen. Ich handelte einen besseren Deal aus und sagte zu. Ich hoffe, der Verlust deiner Orden schmerzt dich nicht zu sehr." Ich schaue Ruth einen Moment lang an. Dann grinse ich. "Ich werde es verkraften." "Du siehst also, meine Schuld ist längst beglichen", fährt Ruth fort. "Was möchtest du also von mir, außer erzwungener Gastfreundschaft?" "Zwei Trainer haben Jasmins Ampharos angegriffen und misshandelt, weil sie nicht gegen Jasmin gewinnen konnten", sage ich. Ruth kneift die Augen zusammen. "Weil ich die einzige Zeugin bin, will die Indigo Liga ihnen ihre Lizenz nicht entziehen. Sie sind weiterhin in dem Leuchtturm untergebracht und Jasmin kann ihnen maximal einen Monat Arenasperre geben." "Namen?", fragt Ruth kühl. "Gabe und Kevin. Ihre volle Namen kenne ich nicht." "Das lässt sich in Erfahrung bringen, keine Sorge." Ruth greift nach einem kleinen Plätzchen und beißt hinein. Nicht ein Krümel landet auf ihrem Kleid. "In Ordnung. Ich kümmere mich darum." "Was?!" Louis starrt sie an. "Du sagst einfach ja? Das ist Abby, du erinnerst dich? Ihr könnt euch nicht ausstehen! Warum gibst du so einfach nach?!" Ruth schaut ihn herablassend an. "Das hat nichts mit Abby zu tun. Wenn jemand ein Pokémon misshandelt, dann hat er nicht verdient, Protrainer zu sein." Ich lege den Kopf schief. "Hat Becci übrigens etwas zum Thema Jasmin gesagt?", frage ich dann. Ruth schnaubt. "Oh ja. Gleich nachdem ich wegen deiner Lizenz zugesagt habe. Ich habe ihr gesagt, dass es extrem aufwendig wäre und sie mir mit unserem Deal sehr entgegen kommen müsste. Dann hat sie es sich anders überlegt." "Warum?", fragt Louis. "Ich respektiere Jasmin." Sie öffnet den Mund, so als wollte sie etwas hinzufügen, schließt ihn dann aber wieder. So nah stehen wir ihr dann doch nicht.   "Du hattest Recht", sagt Louis, als wir mit vollen Bäuchen von Steve aus dem Anwesen geleitet werden und über den Kiesweg durch das Eisentor hinaus gehen. "Sie hat mich überrascht." Ich lächle selbstzufrieden, während wir den Weg zum Strand einschlagen. "Als Ruth meinte, sie hätte dir deine Protrainerlizenz entzogen, warum hast du da gegrinst?" Ich schmunzele. "Weil Ruth diese Rebecca an der Nase herum geführt hat. Ich habe ihr damals schon gesagt, dass ich kein Protrainer bin, aber das hat sie wohl nicht ernst genommen. Ruth hat einen Deal für ihre Familie ausgehandelt und so getan, als würde sie mir etwas Wichtiges nehmen." "Aber du wirst niemals Orden sammeln dürfen", sagt Louis. "Und wann war das je mein Plan?", kontere ich. "Sie hatte Recht. Ihre Schuld war beglichen. Sie weiß, dass ich keine Orden sammle. Sie hätte mir eins auswischen und Becci etwas anderes vorschlagen können, womit sie sich an mir rächen kann. Stattdessen hat sie mich gedeckt. Das war geradezu… nett." "Ich bin ziemlich verwirrt", gesteht Louis, als wir die Meeresbucht erreichen und unsere Schuhe ausziehen, um uns ins Wasser zu stellen. Kalte Wellen schwappen gegen unsere Knöcheln und weicher Sand drückt sich von unten zwischen meine Zehen. "Ich dachte, ihr könnt euch überhaupt nicht ab! Sie hat dich in einen Brunnen eingesperrt, verdammt nochmal." Ich öffne meinen Zopf und lasse den salzigen Wind durch meine Haare peitschen, bevor ich Hunter rufe, der krächzend davon schießt, um sich sein Frühstück zu besorgen. "Es ist viel passiert."   Bei meiner Schicht in Ivys Hafenbar läuft alles wie geschmiert. Stanz unterhält sich mit mir und Ivy und später kommen sogar Louis, Toby und einige andere vorbei, um Abend zu essen und wir unterhalten uns in meinen Pausen bis zum Ende der Schicht. Gegen zehn bezahlen die anderen und warten draußen auf mich. Ivonne winkt ihnen hinterher und nimmt mich dann zur Seite. "Abby, du warst mir eine sehr große Hilfe", beginnt sie und ich ahne Schlimmes. "Aber ich habe endlich einen Bewerber für das feste Stellenangebot bekommen. Wenn das Vorstellungsgespräch gut läuft, werde ich dich mit ihm ersetzen müssen. Ich hoffe, das kommt nicht zu plötzlich für dich." "Nein, nein", sage ich schnell. "Wie lange kann ich noch hier arbeiten?" "Wenn ich ihn einstelle, morgen und Sonntag. Du bekommst dein Wochengehalt und dann musst du dir leider etwas anderes suchen." Ich schlucke. Es war zwar anstrengend hier, aber ich habe gerne bei Ivy gearbeitet und die Bezahlung war nicht zu verachten. Ich lächle tapfer. "Ich muss mich für die Arbeit bedanken", entgegne ich. "Nicht viele Betriebe stellen Trainer für so kurze Zeitperioden ein. Ich wäre ja ohnehin in den nächsten Wochen abgereist." "In Ordnung, Abby, dann sehe ich dich morgen." Sie umarmt mich. "Gute Nacht." Ich verlasse ein wenig geknickt das Lokal. "Was ist passiert?", fragt Louis. "Ivy hat eine Festanstellung gefunden", erkläre ich, als wir uns auf den Rückweg zum Turm machen. "Wahrscheinlich bin ich ab nächster Woche entlassen." "Oh Mann", sagt Toby. "Das ist mies." "Ach was." Ich atme tief durch und grinse dann breit. "43.200 PD ist mehr Geld, als ich jemals hatte. Wenn ich mit Essen und Unterkunft ein wenig spare, kann ich eine richtig gute Anzahlung für den Sattel machen und mir das Ticket nach Hause kaufen." "Willst du mit dem Sattel nicht noch warten?", fragt Julian. "Jayjay ist noch nicht Mal entwickelt." "Weit entfernt ist er auch nicht mehr", sage ich. "Ein paar Wochen noch und ich habe ihn soweit. Außerdem weiß ich das Geld lieber in sicheren Händen, bevor ich es irgendwo verliere oder es mir geklaut wird. Bei meinem Glück passiert das nämlich hundertprozentig." "Dann gehen wir morgen das Ticket und den Sattel kaufen", sagt Louis gut gelaunt. "Lieber am Montag", sage ich. "Meine letzte Bezahlung bekomme ich schließlich erst am Sonntag." Er zuckt die Schultern. "Wie du meinst." Es ist schon dunkel. Wir steigen die Stufen des Turms hinauf. Mehr aus Gewohnheit suche ich den zweiten Stock nach Gabe und Kevin ab, aber die liegen in ihren Schlafsäcken, Köpfe so tief unter dem Stoff vergraben, dass ich sie nicht mal ordentlich sehen kann. Leise schleichen wir zwischen den leise redenden und schnarchenden Trainerknäueln hinauf in unser eigenes Stockwerk. Jemand hat die Balkontür gegen den Luftzug geschlossen, worüber ich sehr dankbar bin. Auch wenn in Johto und Kanto im Normalfall trotz des Winters mäßige Temperaturen herrschen, sind Winternächte nicht unbedingt warm. Ich unterhalte mich noch eine Weile in gesenkten Stimmen mit Louis und den anderen, bis irgendjemand Leise zischt. Wir verstummen. Ich fahre mit den Fingern über den Trainergürtel mit den drei Pokébällen und Gotts grün-schwarzem Finsterball. Dann schlafe ich langsam ein.   Leise Stimmen. Ein kalter Wind. Ich stöhne und drehe mich in meinem Schlafsack um. Es kann noch nicht morgen sein. Worum ging es in meinem Traum nochmal? Schritte. Direkt neben mir. "Welchen?", flüstert eine Stimme. Ich blinzle. Welchen? Was ist los? "Es war der Erste", haucht eine zweite Stimme. Männlich. Ich öffne verschlafen ein Auge. Es ist stockfinster. Nur schwaches Mondlicht gibt der Welt blass silberne Konturen. Eine Hand, direkt vor meinem Gesichtsfeld. Sie greift einen Pokéball. Ich reiße den Kopf in die Höhe. Zwei Gestalten rasen an mir vorbei, zwischen den Schlafsäcken hindurch und die Treppen hinunter. "HALT!", schreie ich, kämpfe mich aus meinem Schlafsack, packe meinen Trainergürtel und stolpere zum Ausgang. Ein dumpfes Stöhnen, als ich jemandem auf den Fuß trete, dann bin ich schon die Treppen hinunter, halb rennend, halb fallend. Weiter, immer weiter. Über mir, hinter mir, Stimmen. Panik. Ich bleibe nicht stehen, werfe nur einen flüchtigen Blick auf meinen Trainergürtel, während ich in nichts als einer schlabbrigen Jogginghose und einem Top hinaus in die kalte Nachtluft sprinte. Ich drehe mich um. Gabe und Kevin stehen an der Ostseite des Hügels, direkt vor der Klippe. Ich kann die tosende Brandung hören. Wellen, die mit zerstörerischer Gewalt an den Felsen zerschmettern. Gabe hält einen Pokéball in der Hand und wirft ihn achtlos auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Skus Ball. Sie haben Skus Pokéball. Tränen steigen mir in die Augen. "Was wollt ihr?", frage ich und gehe langsam auf sie zu. "Lass den Gürtel fallen", befiehlt Kevin. Meine Finger klammern sich fester um das schwarze Leder, bevor ich meinen Griff lockere. Der Gürtel gleitet durch meine Finger und fällt zu Boden. "Komm näher." Taub mache ich einen Schritt nach vorne. Noch einen. Meine restlichen Pokébälle sind außer Reichweite. Ich schlucke meine Tränen hinunter. Jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Sku… Ich schniefe und hebe ergeben meine Hände. "Was wollt ihr mit dem Pokéball?" Gabe schaut an mir vorbei zum Leuchtturmeingang. Ich kann von drinnen verwirrte Stimmen hören. Polternde Schritte auf den Treppen. "Wir sind dir gefolgt", sagt er dann. "Wir wissen, dass du bei den Zolwyks warst." "Es…" "Halt die Klappe!" Ich verstumme. Meine Augen sind stur auf sein Gesicht fixiert, aber dann hebt er den Ball und macht einige Schritte rückwärts. "Wegen dir verlieren wir alles", sagt er. "Du hast es nicht anders gewollt." Er wendet sich zur Klippe. Nein. "Bitte!", schreie ich . "Ich tue alles, was ihr wollt, aber bitte, gebt mir Skus Pokéball zurück!" "Zu spät." Gabe wirft mir ein letztes, grimmiges Lächeln zu, dann schnellt sein Arm in die Höhe und Skus Pokéball fliegt in hohem Boden durch die Luft, bevor er fällt und von den schwarzen Fluten verschlungen wird. Kapitel 61: Klippensprünge (Donnerritt und Abschied) ---------------------------------------------------- "SKU!" Ohne nachzudenken sprinte ich auf die Klippe zu, an Gabe und Kevin vorbei und werfe mich mit einem gewaltigen Satz ins Meer. Einen Moment lang ist das Gefühl des Fallens allgegenwärtig. Mein Magen macht einen Salto, dann lande ich mit den Füßen voran im eiskalten Meerwasser. Ich tauche sofort tiefer, meine Augen trotz des brennenden Salzwassers weit aufgerissen. Wenn ich sie nicht mehr finde, wenn sie für immer weg ist… Ich kämpfe gegen die Wellen und den Strom an, der mich hin und her schleudert und tauche tiefer in das undurchdringliche Schwarz. Ich kann nur wenige Meter weit sehen. Verzweifelt reiße ich meinen Kopf herum. Da! Ein weißes Blitzen. Ich atme ein wenig durch meine Nase aus und schwimme durch die Luftblasen hindurch, tiefer, tiefer, bis ich den Ball sehe. Meine Lungen protestieren bereits und ich habe ein drückendes Gefühl auf meinen Ohren, aber ich lasse mich nicht abschrecken und greife nach dem Ball. Er ist glitschig in meiner Hand, aber ich umklammere ihn mit all meiner Kraft, stoße mich von einem kleinen Felsen ab und schieße in die Höhe. Als ich der Oberfläche ganz Nahe bin, werde ich von einer weiteren Welle erfasst und gegen die Klippe gepresst. Das letzte bisschen Luft entweicht meinen Lungen und ich strampele verzweifelt mit meinen Füßen. Vergeblich. Von den Wellen hin und hergerissen komme ich nicht von der Stelle. Und ohne Luft in meinen Lungen sinke ich stetig hinunter. Ich starre mit schmerzenden Augen an die Oberfläche, die so nah und doch so fern ist. Ich strecke eine Hand in die Höhe, während ich tiefer und tiefer sinke. Es wäre so leicht. Einfach aufhören. Nicht weiterkämpfen. Nein. Wenn ich ertrinke, wird Sku nie wieder an die Oberfläche kommen. Ich muss wenigstens sie in Sicherheit bringen. Mit letzter Kraft stoße ich mich von der Felswand ab und schieße in die Höhe. Nur lange genug um einzuatmen, nur für eine kurzen Moment… Die Wellen reißen mich mit, aber dieses Mal lasse ich mich treiben, immer weiter mit den Füßen strampelnd, bis jede Faser meines Körpers brennt und mein Sichtfeld langsam schwarz wird. Ich breche durch die Oberfläche und atme verzweifelt Wasser und Luft gleichzeitig ein. Prustend und hustend schlage ich mit den Armen, um über Wasser zu bleiben. Über mir höre ich Schreie und das Geräusch eines Pokémonkampfes. Ich will gerade um Hilfe rufen, da drückt eine weitere Welle mich erneut unter Wasser, aber meine Lungen sind frisch gefüllt und ich bin bereit für das nächste Gefecht. Mit langen Zügen, wie beim Training am Strand, kämpfe ich mich in die Höhe, bis mein Kopf wieder kalte Nachtluft spürt. "HUNTER!", schreie ich, so laut ich kann und hoffe, dass er mich hört. Er ist der einzige meines Teams, der seinen Pokéball ohne meine direkte Hilfe verlassen kann, eine Fähigkeit, die mir schon oft das Leben gerettet hat. Einmal mehr wäre nicht zu verachten. Ich weiß nicht, ob es geklappt hat, ich atme noch einmal hektisch ein, dann rollt schon die nächste Welle auf mich zu und schlägt Gischt spritzend über mir zusammen. Mein Kopf schlägt gegen einen Felsen und ich spüre, wie mir mein Bewusstsein entrinnt, aber ich konzentriere mich voll und ganz auf Skus Pokéball, den ich weiterhin umklammere. Unter Wasser verliere ich jegliches Zeitgefühl, jegliche Orientierung. Dann plötzlich, kalte Luft. Ich atme panisch ein und höre im nächsten Moment Hunters Krächzen über mir, bevor er herab schießt. Das Wasser zieht mich wieder herab und ich atme einige Schlucke Wasser ein, dann packen Hunters Klauen meinen linken Oberarm und er zieht mit mich kräftigen Flügelschlägen aus dem Wasser. Ich huste und zittere im Wind, während Hunter mich höher zieht und auf dem Klippenvorsprung fallen lässt. Skus Pokéball immer noch mit steif gefrorenen Fingern umklammernd, rolle ich mich zur Seite und würge Salzwasser. Jemand ist neben mir und schlägt mir mehrmals kräftig auf den Rücken. Mehr Salzwasser steigt in meinen Mund auf, das ich ausspucke, bevor ich mich zur Seite sacken lasse. Ich bleibe elend und um Luft ringend liegen. Meine Augen brennen fürchterlich. "Abby, oh verdammt, Abby!" Ich spucke eine weitere Ladung Salzwasser auf, bevor ich den Blick hebe. Neben mir sitzt George und schlägt in regelmäßigen Abständen auf meinen Rücken. Hinter ihm stehen Louis und Toby. Als sie sehen, dass ich bei Bewusstsein bin, fallen sie neben mir auf die Knie und betasten meine Handgelenke, meinen Oberarm, der höllisch brennt, und mein Gesicht. Toby versucht, mir den Pokéball aus der Hand zu nehmen, aber ich lasse nicht los. "Abby, was ist in dich gefahren?" Toby setzt zu einer weiteren Zurechtweisung an, aber Louis wirft ihm einen bösen Blick zu. Ich huste ein letztes Mal, dann lasse ich müde den Kopf zur Seite sacken. George bringt mich mit ein paar Handgriffen in eine seitliche Lage und prüft, ob ich genug Luft bekomme. Meine Kehle und meine Augen brennen und mir ist übel, aber der schwarze Schleier ist verschwunden und ich lasse mich von Louis und Toby leise beruhigen, während ich die Situation vor dem Leuchtturm in Augenschein nehme. Mein Geschrei hat fast die gesamte Trainerschaft aufgeschreckt, die nun fassungslos am Turmeingang und weiter auf dem Hügel steht und sich hektisch unterhält. Gabe und Kevin sitzen von diversen Ranken gefesselt Rücken an Rücken auf dem Boden, umkreist von einem guten Dutzend Pflanzenpokémon. Gabes Blick ist stur auf den Boden gerichtet. Schließlich jedoch hebt er den Kopf und unsere Augen treffen sich für einen Moment. Ein schamvoller Ausdruck schleicht sich in sein Gesicht und er schaut zur Seite. "Du kannst den Ball jetzt loslassen", sagt Louis leise und streicht über meine Finger. Ich schaue zu meiner Hand. Meine Finger sind blutig, rot und zittern, aber mein Griff um Skus Pokéball ist ungebrochen. Ich drücke den kleinen Knopf in der Mitte und Sku materialisiert sich neben mir. Als sie mich sieht, gibt sie ein wehklagendes Brummen von sich und wirft sich in meine Arme. Tränen strömen über meine Wangen, als ich sie fest drücke und mit nassen Händen durch ihr Fell streiche. "Ich hab dich", flüstere ich und sie antwortet mit tiefem Schnurren. "Ich hab dich."   Der restliche Morgen geht wie ein Traum an mir vorbei. Louis, Julian und Corinna begleiten mich ins Pokécenter, wo Schwester Joy zur Erleichterung aller feststellt, dass es mir den Umständen entsprechend gut geht. Meine Atemwege sind trocken und schmerzen und meine Augen sind feuerrot, aber ich war glücklicher Weise nicht lange genug im Wasser, um eine ernsthafte Unterkühlung davon zu tragen und Sauerstoffmangel scheint auch nicht eingetreten zu sein. Im Pokécenter erzählt Louis mir, dass Toby und George sofort Jasmin kontaktiert haben, die, wie mir später mit allen Details von den Anwesenden berichtet wird, vor Wut Anstalten gemacht hat, Gabe und Kevin ins Meer zu werfen. Sehr zum Leidwesen aller Beteiligten blieb es aber bei der Androhung. Mit so vielen Zeugen kann Jasmin den Fall ein zweites Mal vor die Indigo Liga bringen und zusammen mit Ruths Einfluss, den sie vor ihrer Abreise mit der M.S. Love am Sonntag geltend gemacht hat, wird den beiden am Montag ihre Protrainerlizenz fristlos aberkannt. Louis und Toby zwingen mich, meine Samstagsschicht in Ivys Bar zu entschuldigen und Louis springt für mich ein, aber meine letzte Schicht am Sonntag bringe ich selbst hinter mich und gehe mit 13.500 PD für diese Woche hinaus.   "Damit beläuft sich mein derzeitiges Vermögen auf… etwa 37.000 PD", sage ich und stecke die Geldscheine wieder in meine Geldbörse. "Wenn ich das Ticket abziehe, bleiben noch 22.000 PD, die ich für den Sattel anzahlen kann." "Du musst etwas von dem Geld behalten", rät Louis mir. "Für Essen, Unterkunft, und so weiter. Und wolltest du dir nicht noch einen Bikini oder Badeanzug kaufen? Du hast dich gestern erst darüber aufgeregt." Ich verziehe das Gesicht. Er hat Recht. "In Ordnung. Also 15.000 PD." Fast augenblicklich lasse ich den Kopf hängen. "Als ich gearbeitet habe, kam mir das wie viel mehr Geld vor", jammere ich und Louis klopft mir auf den Rücken. "Du wirst schon was Neues finden." "Nicht hier", murre ich und setze mich auf eine Bank. Louis und ich sind wie geplant auf dem Weg zu Erhard, bei dem ich meine Anzahlung machen möchte, aber wir trödeln und sind noch immer nicht angekommen, obwohl wir vor über einer Stunde losgegangen sind. "Auf der anderen Seite ist die Behausung hier umsonst. Das spart mir die Unterkunftkosten." "Warum bleibst du nicht einfach hier?", fragt Louis und setzt sich neben mich. "Die anderen bleiben auch und haben sich auf mindestens zwei Monate Training eingestellt, bevor sie Jasmin schlagen können." "Ich bin schon fast drei Wochen hier", sage ich und schaue über die Stadt hinaus aufs Meer. "Es wird Zeit, dass ich weiterziehe." "Hätte ich mir denken können", stöhnt Louis und gähnt dann herzhaft. "Und wohin? Die M.S. Aqua hat noch nicht wieder angelegt, die wirst du so schnell nicht nehmen können." "Anemonia City, denke ich." "Anemonia City…" Er schaut nachdenklich in die Luft. Dann schleicht sich das breite Zahnlückengrinsen auf sein Gesicht. "Weißt du was? Ich komme mit." "Was?" Ich schaue ihn überrascht an. "Ich dachte, du bleibst zum Trainieren hier." "Das war mein Plan", gesteht er. "Aber wenn ich so darüber nachdenke… In Anemonia City gibt es auch eine Arena, oder?" Ich nicke. "Sie wird von Hartwig geleitet. Sein Sohn soll sie später übernehmen." "Siehst du." Louis grinst. "Viel stärker als Jasmin kann er nicht sein. Außerdem gibt es dort jede Menge Wiesen und Höhlen, in denen ich mir neue Pokémon für mein Team fangen kann. Ganz zu schweigen von der Safari-Zone. Wenn du ´eh nicht mehr lange in Johto bist, kann ich die restliche Zeit wenigstens mit dir verbringen." "Ein Fangtrip also", sage ich und stehe auf. "Das klingt sehr vernünftig." Nachdem wir unsere Reise nach Anemonia City geplant haben, geht es endlich zu Erhard, der mich freundlich begrüßt. "Ist dein Pokémon schon entwickelt?", fragt er und stützt sich auf die Theke. "Noch nicht, aber in ein paar Wochen reise ich ab", sage ich. "Bis dahin wird er entwickelt sein und ich habe gerade etwas Geld für die Anzahlung." Erhard nickt. "Der Preis für den Sattel wird sich auf 45.000 PD belaufen. Dann fehlen zwar einige Schnörkeleien, aber ich dachte mir, dass du die wahrscheinlich nicht brauchst." "Super, vielen Dank!" Ich gebe Erhard 15.000 PD als Anzahlung und verspreche, den Sattel abzuholen, sobald Jayjay entwickelt ist, dann handeln wir die Raten für die Nachzahlungen aus und gemeinsam mit Louis verabschiede ich mich aus dem Lederwarengeschäft. "Auf zum Hafen", sage ich. Der Rückweg geht schneller. Jetzt, wo das erste Problem aus dem Weg geräumt ist, schlendern wir mit federnden Schritten die sich windenden Straßen Oliviana Citys hinab, bis das Meer zwischen den Häusern in Sicht kommt. Das Bootshaus ist zu dieser Tageszeit voller als bei meinem ersten Besuch. Wir stellen uns am Schalter hinter einer alten Dame und zwei jungen Männern an und warten leise redend, bis wir an die Reihe kommen. Als die Ticketverkäuferin mein Gesicht erkennt, runzelt sie misstrauisch die Stirn. "Möchtest du ein Ticket kaufen?", fragt sie gehässig, offenbar in der Annahme, ich wolle wieder um einen Job betteln. "Ganz genau", verkünde ich und lege die restlichen 15.000 PD vor mich auf die Theke. Ihre Augen weiten sich überrascht. "Ich würde gerne ein Ticket für die M.S. Aqua nach Orania City kaufen. Die nächste Fahrt, wenn möglich." Sie rückt ihre Brille zu Recht und schaut auf einen Kalender, der an der Wand hängt. "Der nächste Termin wäre der 29. Dezember", sagt sie dann. "Sie legt am 26. Dezember hier an. Sobald alles nachgeladen ist, können die neuen Passagiere sich auf dem Schiff einfinden. Du solltest spätestens zum 28. hier sein." "In Ordnung." Sie nimmt das Geld, stellt mir ein Ticket aus und reicht es mir über den Tresen. "Viel Spaß auf der Reise", sagt sie noch, bevor ich mich umdrehe und mit Louis aus dem Haus verschwinde. Unsere Mägen knurren und so sitzen wir eine halbe Stunde später im billigsten Lokal der Stadt und füllen unsere Bäuche mit Teigtaschen und dampfgegarten Gemüse. "Was machen wir jetzt?", fragt Louis und reibt sich den Bauch. Ich grinse breit. "Trainieren."   Jayjay entwickelt sich am Donnerstag, den 27. November. Zehn Tage intensives Training haben ihn ordentlich gepusht und als ich auf Hunters Rücken meine Runden drehe, beginnt er plötzlich zu leuchten. "Runter, schnell", befehle ich Hunter, der in die Tiefe schießt. Inzwischen bin ich seine waghalsigen Sturzflüge gewohnt und springe ab, kaum dass er Boden unter den Füßen hat. Louis erschrickt fast zu Tode, als wir nur einen Meter von ihm entfernt eine halbe Bruchlandung hinlegen. "Ist es soweit?", fragt er und dreht sich hektisch nach Jayjay um. Ich packe seine Hand und ziehe ihn zum Ort des Geschehens. Jayjay wiehert nervös und scharrt mit den Hufen. Das silbrig weiße Licht, das von seinem Körper ausgeht, hüllt ihn nach und nach ein, bis er so gleißend hell ist, dass ich nur mit halb geschlossenen Augen hinschauen kann. Nach etwa einer Minute verblasst das Licht und ich blinzele, um die Farbpunkte aus meinem Sichtfeld zu vertreiben. Zebritz´ weiße Streifen sind gezackter und dichter auf seinem schwarzen Fell angesiedelt und eine weiße, elektrisch knisternde Mähne bahnt sich ihren Weg über seinen Hals, die Mitte seines Rückens und verschmilzt schließlich mit dem Schweif, der aufgeregt von links nach rechts peitscht. Auf seiner Stirn verdichtet sich seine Mähne zu zwei weißen, blitzartigen Hörnern, die anscheinend durch ihren eigenen Magnetismus aufrecht gehalten werden. Ich mache einen Schritt nach vorne und strecke vorsichtig eine Hand nach Jayjays Schnauze auf. Er ist eindeutig groß genug, um geritten zu werden. Hunter flattert freudig krächzend auf ihn zu und Jayjay hebt den Kopf. Als er seinen besten Freund entdeckt, bäumt er sich auf, wirbelt auf den Hinterläufen herum und galoppiert dann davon, mit Hunter dicht auf den Fersen. Ich lächle glücklich und Louis reibt sich die Nase. "Da haben sich wirklich zwei gefunden." Nachdem Jayjay und Hunter ihr Wettrennen beendet haben, mache ich mich mit Louis auf zu Erhard. Die Woche ist um und er hat mir angeboten, den Sattel selbst anzupassen, damit ich ihn nicht mit mir herum schleppen muss. Solange er aus Jayjays Rücken liegt, verschwindet er zusammen mit ihm im Pokéball. Während Erhard letzte Änderung an der Gurtung und Polsterung vornimmt, schaut Jayjay wieder und wieder kritisch über seine Schulter. Der Sattel ist ihm noch nicht ganz geheuer, obwohl ich beruhigend auf ihn einrede. Als Erhard zufrieden ist, umrunde ich Zebritz und betrachte das Werk von allen Seiten. Der Sattel ist aus Leder und mit isolierendem Material gepolstert, das mich vor elektrischen Schlägen schützt. Er ist relativ dünn und ziemlich leicht, damit Jayjay auch darin kämpfen kann. Zwei Gurte befestigen ihn, einer um den Bauch, der andere führt vor Jayjay Brust entlang. Ein runder Griff an der Spitze des Sattel und zwei Schlaufen dienen als Ersatz für Zaumzeug und nicht-metallische Steigbügel geben meinen Füßen Halt. "Die solltest du ebenfalls tragen", rät Erhard mir und gibt mir ein paar Lederhandschuhe mit isolierter Innenseite. "Sein Fell ist ein bisschen statisch, aber wenn du die weiße Mähne auf seinem Rücken berührst, ist Schluss mit lustig. Die kann dir einen sehr gefährlichen Schlag verpassen." Ich schlucke. "Wenn du sie nicht hast, reite ohne deine Hände zu benutzen. Das Lenken solltest du ohnehin mit deinen Beinen machen." "Ich werd´s versuchen", sage ich. Dann ziehe ich die Handschuhe an, die meine Hände bis zur Mitte meines Unterarms bedecken und hieve mich mit Hilfe der Steigbügel in Jayjays Sattel. Er wiehert glücklich und dreht den Kopf in meine Richtung. Hunter fliegt kreischend über unseren Köpfen. Wir stehen vor dem Lederwarengeschäft und als ich die Sattelgriffe packe, schnaubt Jayjay fröhlich. Louis gibt mir zwei Daumen hoch. "Du siehst super aus", ruft er noch, bevor Jayjay mir einen schelmischen Blick über seine Schulter zuwirft und losgaloppiert. Die ersten Kurven nimmt er scharf, aber seine Geschwindigkeit ist nichts gegen die ebene Strecke hinter der Stadt, bevor die Steilhänge beginnen. Seine Hufe schlagen Funken und als er seine Höchstgeschwindigkeit erreicht, meine ich sogar, Donnergrollen zu hören. Das rucklige Auf und Ab seines Rückens schüttelt mich ziemlich durch und ich presse meine Beine eng um seinen Bauch, was wohl nicht die richtige Art ist, ein Pokémon zu reiten, aber Jayjay ist das egal. Er macht ohnehin, was er will. Kurz, bevor Jayjay seitlich einlenken muss, um der steil verlaufenden Route 39 zu entgehen, holt Hunter auf und fliegt direkt neben uns weiter. Jayjay wiehert freudig und Hunter erwidert die Zuneigung mit einem enthusiastischen Krächzen. Dann rennen wir schon durch die Wiese, auf der die Taurosherden manchmal grasen.  Zu diesem Zeitpunkt tränen meine Augen von dem Gegenwind, meine Beine zittern von der verkrampften Haltung und ich klammere mich mit Todesangst an Jayjay fest. Schließlich aber ist auch die Wiese zu Ende und obwohl Jayjay es versucht, schafft er die scharfe Kurve vor der aufragenden Felswand nicht und muss schlitternd zum Stillstand kommen. Erdbrocken und Grasbüchel spritzen in die Höhe, als er zu seiner Vollbremsung ansetzt und das Donnergrollen, das den gesamten Ritt über in meinen Ohren widergehallt ist, verstummt und hinterlässt nur ein taubes Echo. Hunter landet begeistert auf einem vorstehenden Felsen und flattert mehrmals mit den Flügeln. Ich entspanne meine Beine etwas und lasse sie locker an Jayjays Bauch herab hängen. Meine Finger brauchen etwas mehr Überzeugung, bevor sie ihren verkrampften Griff lösen, aber schließlich sitze ich halbwegs normal auf Jayjays Rücken. Ich lehne mich nach vorne und tätschele seinen gestreiften Hals. Jayjay dreht den Kopf zu mir, einen zutiefst zufriedenen Ausdruck im Gesicht. "Das war ziemlich cool", gestehe ich. "Aber lass uns das mit dem Ich bin der Trainer und ich sage, wo es lang geht nochmal üben, ja?" Jayjay schnaubt belustigt und Hunter stimmt krächzend ein. Ich seufze. Dann wohl nicht.   Einen Tag später stehen Louis und ich mit fertig gepackten Rucksäcken, Schlafsäcken und genug Proviant für die Reise über das Meer am Strand und verabschieden uns von den Qs, die uns dorthin begleitet haben. "Fang dir ein paar coole Pokémon", sagt Julian grinsend und schüttelt Louis´ Hand. Toby umarmt mich zum Abschied. "Wehe, du ertrinkst", sagt er und ich schüttele matt den Kopf. Das Erlebnis brauche ich nun wirklich nicht zwei Mal. Nachdem jeder seine Abschiedsratschläge losgeworden ist, rufen Louis und ich die Reisepokémon unserer Wahl. Louis klettert über Ethans Rückenauswüchsen an seinem Körper in die Höhe und macht es sich zusammen mit dem gesamten Gepäck auf seinem Nacken gemütlich. Ich steige in der Zwischenzeit auf Hunters Rücken. Die gerade aufgehende Sonne im Rücken winke ich den Qs und Oliviana City Lebewohl, dann schwingt Hunter sich in die Lüfte und lässt alles unter uns zurück. Kapitel 62: Liebeslieder in der Nacht (Anruf) --------------------------------------------- Bequem auf Hunters Rücken sitzend lausche ich dem Rauschen der Wellen unter mir und Ethans gelegentlichem Brüllen, das sich sehr nach Freude anhört. Es muss seine erste Gelegenheit sein, eine lange Strecke im Meer zu schwimmen und im Vergleich zu Hunter, stört ihn das Gewicht seines Trainers kein bisschen. Ich sehe der Sonne dabei zu, wie sie langsam zu meiner Linken aufsteigt und drehe mich immer wieder um, bis Oliviana City kaum noch am Horizont zu erkennen ist. Nur der Leuchtturm zeichnet sich gegen den Himmel ab, prominent wie immer. Ich stöpsele die Kopfhörer meines PokéComs in die Ohren und lehne mich zurück. Der Wind ist kalt, aber Hunter fliegt bei weitem nicht so schnell, wie er könnte. Dank unseres Ausdauertrainings kann er zwar zwei Stunden in der Luft bleiben, aber nicht bei Höchstgeschwindigkeit. Außerdem wollen wir Ethan nicht überholen, der sich unter uns durchs Wasser schlängelt. Louis liegt auf seinem Rücken und schläft allem Anschein nach. Vielleicht schließe ich mich ihm später an. Wir sind ziemlich früh aufgestanden. Nach den Wettervorhersagen, die allesamt auf einen mäßig kalten Dezember hinweisen - zumindest vorerst, folgen die Nachrichten. Nicht viel hat sich verändert. Team Rocket ist weiterhin an Diebstählen in Pokécentern beteiligt, Zach bleibt unauffindbar und Richard und Raphael verweigern jeglichen Kommentar. Musik klimpert fröhlich dahin, ein Gewinnspiel wird abgehalten und schließlich beginnt die Morgenshow des PCN. Gespannt drehe ich die Lautstärke auf, um auch nichts zu verpassen.   "Das war unser Startzeichen, liebe Jessy! Willkommen, liebe Zuhörer und natürlich liebe Zuhörerinnen, bei unserem Live Podcast am Freitagmorgen, hier, bei PCN, ihrem Lieblingssender. Jessy, du siehst wie immer hinreißend aus. Ist das ein neuer Lippenstift?" "Oh ja, empfohlen von unserer geliebten Genevieve Keller. Sie sitzt heute mit uns hier im Studio in Lavandia City und hat uns ein paar saftige Einblicke in das Leben eines Favoriten versprochen, so wie Kommentare zu unseren beiden Topthemen, die sie, liebe Zuschauer, auf unserer Homepage durch Abstimmung gewählt haben!" "Dieses Mal war es eine ganz schön knappe Sache, das kann ich ihnen sagen! 42% bei zwei Themen, aber wir wären nicht hier, lägen ihre Wünsche uns nicht am Herzen! Deshalb steht der heutige Tag ganz im Zeichen von den beiden Topthemen: Der junge Rocket und Zachs Verrat. Aber zuerst zu dir, Vivi. Was machen deine Vorbereitungen?" "Die sind abgeschlossen. Wenn ich Claire herausfordere, wird sie den Kürzeren ziehen. Also keine Sorge, liebe Fans." "Wundervoll, wirklich wundervoll. Richard hat seine Herausforderung für den 1. Dezember angekündigt, wann können wir mit dir und Raphael rechnen?" "Ladies first. Ich fordere sie am 3. heraus, Raphael einen Tag danach." "So gehört sich das. Aber sag mal, Genevieve, du kanntest Zach schon eine ganze Weile. Wie hart war der Schlag für dich?" "Ich kann es immer noch nicht fassen. Zach war schon immer ein Einzelgänger, aber dass er sich Team Rocket anschließen würde, ist unglaublich. Ich wünschte, er würde zurückkehren." "Was kannst du uns zu Richards und Raphaels Gefühlen sagen? Die beiden weigern sich weiterhin, einen Kommentar abzugeben." "Nicht mehr, als die meisten sich denken können. Sie sind genauso geschockt wie ich, vor allem Richard hat den Verrat noch nicht verarbeitet. Er stellt sich stark, aber die beiden waren Rivalen und beste Freunde. Ihn so zu verlieren, war furchtbar für ihn."   Gut gemacht, denke ich und starre in den Himmel. Gen gibt Richy die Ausrede, die er braucht, um weiterhin nicht über das Thema zu reden und lässt gleichzeitig Zachs Tarnung nicht auffliegen. Das letzte, was sie tun darf, ist öffentlich Vermutungen über ein höheres Motiv hinter seinen Handlungen zu vermuten. Team Rockets Ohren sind überall. Das hat Mel in den Alph-Ruinen bewiesen.   "-zu dem mysteriösen Jugendlichen?" "Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er ein Familienmitglied, wer weiß. Ich kann nur hoffen, dass er sich für das Richtige entscheidet und Team Rocket so schnell wie möglich verlässt." "Damit könntest du gar nicht so falsch liegen, Vivi. Der Gute ist lange Zeit gehäuft gesichtet worden und nun ist er völlig von der Bildfläche verschwunden. Officer Rockey hat zudem angegeben, dass die Verbrechen der Organisation seit einigen Tagen massiv zurückgegangen sind. Wir können nur hoffen, dass es so bleibt. Und nun zu-"   Ich will weiterlauschen, aber Hunter sackt mit einem Mal einige Meter nach unten und ich lasse fast meinen PokéCom fallen. Genervt ziehe ich einen Stecker aus meinem Ohr und beuge mich zu ihm nach vorne. "Schaffst du noch ein paar Minuten?" Hunter krächzt mitleidserregend und sackt ein weiteres Stück in die Tiefe. "Okay, okay", seufze ich und schalte den Com aus, um mich auf die Landung zu konzentrieren. Normalerweise kriegt Hunter die alleine hin, aber auf Ethans schmalen und sich hin und her bewegenden Rücken zu landen, ist ein ganz anderes Kaliber. Schließlich gelingt es ihm, nahe genug an Ethan heran zu fliegen, damit ich abspringen und ihn zurückrufen kann. Ich schalte den PokéCom noch einmal ein, aber inzwischen ist Werbung und ich glaube ohnehin, die wichtigsten Infos mitgenommen zu haben. Ich stecke das Gerät samt Kopfhörern in meinen Rucksack, der zusammen mit meinen Inlinern an einer hohen Rückenflosse festgebunden ist, damit er nicht nass wird. Sobald ich in Orania City bin, werde ich die Inliner zu Hause lassen. Ich kann die Tage, an denen ich sie benutzt habe, an zwei Händen abzählen und sie sind ziemlich sperrig, wenn man auf Reisen ist. Außerdem habe ich jetzt Hunter und Jayjay, wenn ich faul werden sollte. Der Rest des Morgens vergeht ohne große Zwischenfälle. Die Sonne steigt höher und ich reite auf Hunter, wann immer möglich, um ihn an lange Strecken zu gewöhnen. Wenn ich in Zukunft auf Zug- und Schifffahrten verzichten kann, wird das viel Geld sparen, nicht zu vergessen die Flexibilität, die ich dadurch gewinne. Der Magnetzug fährt täglich, aber wenn ich die Fahrpläne der M.S. Aqua richtig gedeutet habe, fährt sie die Strecke zwischen Oliviana und Orania City nur einmal pro Monat hin und zurück. Gegen Nachmittag begegnen wir den ersten Trainern, die sich an ihren Wasserpokémon festhalten, um nicht unterzugehen. Nur wenige der Schwimmer sind ohne Hilfe unterwegs. Louis duelliert sich mit einigen von ihnen und auch ich bekomme Herausforderungen, aber sobald sie Jayjay sehen, winken sie schnell ab. Ich strecke Louis die Zunge heraus, als der mich mit hochgezogenen Brauen mustert. "Sind wir schon da?", ruft er gegen Abend zu mir nach oben. Ich schaue an Hunters Kopf vorbei aufs Meer. "Ich sehe Land. Ist das schon Anemonia City?" Weiter Richtung Südwest entdecke ich vier karge Inseln, die nichts als Steine und Felsen beherbergen. Das Wasser um sie herum ist von Felsriffen und Strudeln umgeben und nur wenige Trainer schwimmen hier. Wahrscheinlich will keiner von ihnen in der Dunkelheit in einen Strudel geraten. "Das sind die Strudelinseln", rufe ich zu ihm hinunter, bevor ich Hunter das Signal gebe, auf Ethan zu landen. Er sinkt dankbar herab. Seine Kraft reicht nicht Mal mehr für einen Sturzflug. Ich springe von seinem Rücken und hangele mich zwischen den Rückenflossen hinauf zu Ethans Nacken, wo Louis sitzt und über Garados´ Kopf aufs Meer schaut. "Sieht gefährlich aus", meint er, als wir uns den ersten Strudeln nähern und Ethan nervös den Kopf hin und her wiegt. "Schaffen wir es da ohne Whirpool durch?" "Hoffentlich", sage ich und kneife meine Augen zusammen. "Aber heute nicht mehr. Es wird schon dunkel und die Höhlen blocken das letzte Sonnenlicht." "Ach Mann." Louis steigt griesgrämig von Ethans aufgebäumten Nacken und kommt zu mir. Bis auf die obersten Zentimeter ist Ethans Körper im Wasser versunken und kleine Wellen schwappen hin und wieder über unsere Füße. Wir haben uns schon vor Stunden unserer Schuhe und Socken entledigt und unsere Hosen hochgekrempelt. "Ich wollte mir die Nacht auf dem Wasser ersparen." "Nichts zu machen", sage ich. "Kann Ethan die Nacht über draußen bleiben oder wird ihm das zu anstrengend?" "Ach was, das stört ihn nicht", sagt Louis und tätschelt die Seite seines riesigen Pokémon. Seit er mit Ethans Hilfe gegen Kai gewonnen hat, ist ihr Verhältnis viel besser geworden. Vertrauen ist eben die Basis der Beziehung zwischen Trainer und Pokémon, das zeigt sich immer wieder. Ich schmunzele und klettere dann zu unseren Rucksäcken, in denen wir Reisbällchen gefüllt mit Gurkenstreifen und scharfer Amrenapaste verstaut haben. Wir machen es uns weiter oben auf Ethans Nacken bequem und essen zu Abend, die Sonne langsam sinkend. Garados treibt unbekümmert im Wasser und schnappt nach einigen Mantax, die vor ihm durch die Luft schießen, ansonsten ist es ruhig. Die Nacht verbringen wir in mäßig unterdrückter Paranoia. An Ethans Bauch geschnürt, sodass wir nicht versehentlich ins Wasser rollen, liegen wir um seine Rückenflossen gewickelt und versuchen, normal zu schlafen. Es ist nicht die bequemste Position, aber nach dreimaligen entschnüren, aufstehen, mit Jacken polstern, hinlegen und wieder einschnüren wiegt uns das seichte Schaukeln der Wellen schließlich in den Schlaf. Am nächsten Morgen geht es weiter. Mein Rücken tut weh und Louis verzieht bei jeder kleinen Bewegung das Gesicht, aber je länger wir wach sind, desto mehr entspannen sich unsere Muskeln und schließlich geht es wie gewohnt voran. Ethans langer Körper hat einige Probleme, nicht von den Strudeln erwischt zu werden, die sich überall zwischen den Inseln bilden und mehr als einmal muss ich auf Hunter Ausguck fliegen, damit wir zwischen den Felsriffen nicht die Orientierung verlieren. Hunter hat sich mit seinem Schicksal abgefunden und murrt nur noch ein bisschen, wenn seine Flugpausen vorbei sind. Selbst mit mir auf dem Rücken schafft er jetzt knapp zweieinhalb Stunden am Stück. Bald, denke ich grinsend und schaukele mit den Beinen, während ich an Hunters Hals herab auf das hin und her schwappende Wasser schaue. Inzwischen sind wir um eine der Strudelinseln herum geschwommen und mit der aufsteigenden Sonne tauchen mehr und mehr Schwimmer am Horizont auf, die hier zwischen den Strudeln entlang schwimmen. Es dauert eine Weile, bis ich merke, was mich an dem Bild von oben stört: Sie schwimmen alle dieselbe Strecke. Das wäre nicht weiter verwunderlich, wenn es nur einen Weg zwischen den Inseln gäbe, aber die Riffanordnung bietet jede Menge Möglichkeiten, zum Zentrum der vier Inseln und wieder zurück zu kommen. Nur eine einzige Strecke wird von den Schwimmern in Anspruch genommen. Ich runzele die Stirn und gebe Hunter das Zeichen, einen Zahn zuzulegen: leichter Schenkeldruck auf beiden Seiten. Jetzt verstehe ich, warum Jayden sein Glurak sprechend lenken musste. Wenn ich weiter hinten säße, käme ich genauso schlecht an die richtigen Bauchregionen heran. Tränen steigen mir in die Augen und Wind füllt meine Ohren mit lautem Dröhnen, als wir Ethan überholen und weiter auf Route 41 vordringen. Die meisten Schwimmer sind zu konzentriert, um Louis zu bemerken, wenn er auf Ethan an ihnen vorbei schwimmt. Nur ein paar schauen kurz zu ihm auf, bevor sie mit langen Zügen weiter schwimmen. Hunter trudelt in Kreisen über ihnen in der Luft und krächzt auf eine, wie mir scheint, motivierend gemeinte Art. Ich tätschele seinen Hals und lenke ihn mit meinen Beinen tiefer, bis wir nur noch wenige Meter über der Wasseroberfläche fliegen. Ich entdecke einen orangeroten Fleck im Meereswasser und bevor ich ihn daran hindern kann, schießt Hunter schon senkrecht in die Tiefe, packt das kleine Karpador mit seinem Schnabel und reißt es aus dem Wasser. Es gibt klägliche Laute von sich und platscht hilflos mit den Flossen, während Hunter auf einem der etwas größeren Steine landet und es dann in gierigen Schlucken hinunter würgt. Ich setze ein entschuldigendes Gesicht auf, als ein Junge an uns vorbei schwimmt, langsamer wird und Hunter angewidert mustert. Er stoppt in seiner Routine, paddelt mit kräftigen Beinbewegungen auf der Stelle und zurrt sein dünnes Stirnband zu Recht, das braunes Haus aus seinem Gesicht hält. Es klebt in platten Strähnen an Kopf und Nacken. „Muss das sein?“, fragt er und deutet mit dem Kinn in Richtung Hunter, der zufrieden rülpst. „Hier haben die meisten Wasserpokémon. Ein bisschen Rücksicht wäre angebracht.“ „Tut mir leid“, sage ich schnell. „Ich habe nicht schnell genug reagiert.“ „Pass das nächste Mal besser auf.“ Er taucht unter und kommt einige Sekunden später fast zwanzig Meter von uns entfernt wieder aus dem Wasser. Ich pfeife anerkennend. „Wer war das?“, ruft Louis mir von Ethans Nacken aus zu, als er zu uns aufholt und dem stetig kleiner werdenden Schwimmer hinterher schaut. „Niemand“, sage ich und presse meine Oberschenkel kurz gegen Hunters Seiten, damit er wieder losfliegt. Ein wenig unwillig flattert er mit den Flügeln und hebt sich in die Lüfte, schwerfälliger als sonst, was wohl an dem armen Karpador liegt. Trotzdem dauert es nur wenige Sekunden, bevor der kühle Meereswind wieder an meinem Zopf zerrt und mir Tränen in die Augen treibt. „Vorwärts!“, rufe ich und Hunter schießt davon.   Wir erreichen Anemonia Citys Strand noch am selben Abend. Die tief stehende Sonne reflektiert orangerot auf dem Meer und das Kreischen der Wingulls und das seichte Brechen der Wellen unterlegt die abendliche Betriebsamkeit mit einer ruhigen Note. Trotz des Namens würde ich Anemonia City kaum als Stadt bezeichnen, höchstens vierzig salzverkrustete und ausgebleichte Holzhäuser bedecken den Strandstreifen nahe der schroffen Felskette im Westen der Insel. Einzig das Pokécenter und die Arena stechen aus den typischen Graubraun- und Blautönen hervor und sind aus Stein gebaut. Kleine Fahnenwimpel mit grünen Papierstreifen flattern peitschend im Wind. „Azalea City war kleiner, aber wenigstens hatten die einen Markt für Trainer“, stellt Louis etwas säuerlich fest, als er die letzten Meter zum Strand durch das Meer stapft. Ethan ist zu groß, um näher zu kommen und scheint Probleme damit zu haben, aus dem Wasser auf festes Land zu kommen. Louis ruft ihn zurück und kämpft sich dann weiter durch die vor und zurück schwappenden Wellen, während ich auf Hunters Rücken trocken an Land komme. Hunter purzelt fast vornüber in den Sand, kaum dass er gelandet ist und lässt sich augenblicklich zu Boden fallen. Die letzten Meter musste er mit dem gesamten Gepäck hinter sich bringen und die zwei Tage in der Luft haben ihn sehr erschöpft. Ich streichele seinen Kopf und sein Brustgefieder, dann rufe ich ihn zurück und schultere meinen Rucksack und meine Inliner. Louis kommt schließlich aus dem Meer getrottet, durchnässt bis zur Brust und mit einem griesgrämigen Ausdruck im Gesicht. „Ich hoffe wirklich, dass meine Pokébälle ausreichen“, murmelt er und nimmt seinen eigenen Rucksack. „Außer dem Supermarkt da hinten sehe ich hier nichts.“ „Vielleicht haben sie Traineritems“, sage ich und gehe los in Richtung Stadt. Louis folgt. Die Häuser stehen relativ weit auseinander, befestigte Straßen gibt es nicht, nur festgetretene Sandpfade und mit Brettern ausgelegte Wege. Menschen und Pokémon sind gleichermaßen anzutreffen, vor allem Wasser- und Kampfpokémon scheinen beliebt zu sein, was wohl nicht zuletzt an der Arena und der Insellage liegt. Hartwig ist vor allem für seine Kampfpokémon bekannt, aber auch Wasser spielt in seinem Team eine wichtige Rolle. „Pokécenter?“, frage ich und Louis stöhnt zustimmend. Ich schmunzele und gemeinsam folgen wir den Bretterwegen in Richtung Südseite der Insel, wo ein rotes Leuchtschild das Center ankündigt. „Können wir bitte ein Zimmer mieten?“, fragt Louis und wringt im Gehen seinen Pulli aus. „Ich habe eine Dusche nie dringender gebraucht.“ „Eine Nacht können wir uns gönnen“, sage ich und nicke einigen Einwohnern zu, die uns neugierig beobachten und anlächeln. „Die sind hier ziemlich nett“, flüstere ich. Louis nickt. „Der Typ von heute Mittag sah aber nicht besonders freundlich aus.“ Ich denke an das Karpador zurück und schlucke meine Schuldgefühle hinunter. Louis muss ja nicht wissen, warum er so genervt war. „Er hatte bestimmt seine Gründe“, sage ich vage. „Es waren aber wirklich viele Schwimmer unterwegs“, meint Louis, als wir das Pokécenter fast erreicht haben. „Und die meisten wollten nicht Mal kämpfen. Ich habe mehr Probleme auf der Reise erwartet.“ „Stimmt.“ Die Türen öffnen sich sirrend und wir treten ein. Für so eine kleine Insel ist das Pokécenter erstaunlich geräumig, auch wenn es so aussieht, als wären mit der Zeit mehr und mehr Räume dazu gebaut worden. Ein junger Trainer sitzt mit seinem Quapsel an einem der Tische und schlürft geräuschvoll eine Nudelsuppe, während ein alter Mann einige Touristenflyer studiert. Links neben dem Treppenaufgang ist eine große Pinnwand angebracht, bedeckt mit blauen, gelben und roten Plakaten unterschiedlichster Größe. Während Louis schnurstracks auf Schwester Joy zuhält, um uns ein Zimmer zu reservieren, lese ich die Überschriften, die mir in grotesken Formen entgegen leuchten.   Du glaubst, du kannst dich mit mir messen? WAHAHAHA, besuche mich in der Arena und lass deine Fäuste sprechen! – Hartwig   Safari-Zone in Johto – Erleben sie ein einzigartiges Fangerlebnis auf Route 48, begegnen sie seltenen Pokémon und lassen sie sich von einem unserer Ranger durch bis zu 6 verschiedene Areale pro Tag führen. Eintritt: 500 PD Öffnungszeiten: Täglich 05:30-01:30   Strudelinselrennen – Samstag, 20. Dezember. Anmeldefrist bis zum 11. Dezember hier im Pokécenter, täglich von 17:00-19:00 Uhr. Gewinne einen von drei unglaublichen Geld- und Itempreisen und sei dabei beim winterlichen Schwimmkontest auf Anemonia City!   „Abby, kommst du?“, ruft Louis von der Theke aus in meine Richtung. „Ich hab uns zwei Zimmer gemietet.“ „Komme!“ Mit einem letzten Blick auf die Pinnwand drehe ich mich um und folge Louis die Treppen hinauf zu unseren Unterkünften. In gewohnter und inzwischen geliebter Pokécentermanier sind die Zimmer klein, simpel und sehr viel gemütlicher als der schaukelnde Rücken eines Garados auf offenem Ozean. Ich werfe meinen Rucksack in die Zimmerecke und lasse mich, alle Viere von mir gestreckt, auf das Bett fallen. Mit einer Hand taste ich nach Skus Pokéball und sie materialisiert sich, wo auch sonst, auf meinem Bauch. Ächzend kraule ich ihre Ohren, bevor ich sie von mir hinunter schiebe und mich unter die Dusche stelle. Das heiße Wasser löst langsam aber sicher die Verspannungen in meiner Muskulatur und ich bleibe solange unter dem Strahl stehen, bis die Temperatur rapide abnimmt. Ich wasche mir hastig die Haare und steige dann auf mein Handtuch. Immer noch nackt betrachte ich mich im leicht beschlagenen Spiegel. Vier Monate Reisen haben mir einiges von meinem früheren Speck genommen. Ich bin immer noch nicht dünn, aber meine Bein- und Rückenmuskeln haben sich durch das Wandern und Schwimmen aufgebaut und auch meine Arme fühlen sich etwas kompakter an. Ich hebe eine meiner Haarsträhnen in die Höhe. Die sind auch ziemlich gewachsen. Als ich in ein Handtuch gewickelt zurück ins Zimmer komme, liegt Sku auf dem Rücken und schlägt träge mit ihren Pfoten durch die Luft. Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich hebe sie vom Bett, wickle sie mir mit ein paar Problemen um die Schultern und setzte mich dann an den kleinen Tisch, der vor dem einzigen Fenster steht. Von dem Meer kann ich nur einen schmalen Streifen erkennen, sonst füllen Sand, Bretter und einige Häuser meine Sicht. Ich lehne meinen Kopf gegen den Fensterrahmen und lausche Skus wohligem Schnurren. „Hier findet bald ein Schwimmwettbewerb statt“, sage ich nach einer Weile zu ihr. Sie zuckt aufmerksam mit ihrem Schweif. „Ich überlege, ob ich mich anmelden soll.“ Einige Inselbewohner laufen vor meinem Fenster vorbei und verschwinden nacheinander in den Eingangstüren ihrer Häuser. Hohe Fackeln erleuchten die notdürftigen Wege und lassen die Dunkelheit schwarze Flächen auf dem Boden bilden. „Es gibt Preisgelder“, fahre ich fort. „Und die Anmeldefrist ist noch nicht abgelaufen. Wahrscheinlich waren deshalb all diese Schwimmer bei den Strudelinseln unterwegs.“ Sku schnurrt zustimmend und rollt sich etwas enger um meinen Hals. Ich folge einer Gestalt mit meinen Augen, die zwischen den Häusern entlang huscht und sich immer wieder verstohlen umsieht. Sofort läuten meine Alarmglocken. Ich greife automatisch nach meinem Handy, Daumen schon über Hollys Schnellwahltaste schwebend, die ich mir nach den letzten Katastrophen eingerichtet habe. Dann wiederum befinden wir uns in Anemonia City, das nicht Mal einen Trainermarkt besitzt. Ich bezweifle, dass die Polizei schnell hier sein könnte, selbst, wenn es nötig wäre. Trotzdem bleibe ich wachsam. Skus ruhiger Atem entspannt mich jedoch etwas. Wenn der Junge etwas Böses vorhätte, würde sie Alarm schlagen. Denke ich. „Was macht er da?“, murmele ich amüsiert, als er eine der Hausfassaden hinauf klettert und oben angekommen einen Kasten von seinem Rücken nimmt. Dann öffnet er den Koffer und zieht etwas heraus. Eine… Gitarre? Ich recke mich empor, um das Fenster öffnen zu können. Was immer da draußen gleich vor sich gehen wird, ich werde es nicht verpassen. Ich knie mich auf den Tisch und strecke vorsichtig den Kopf aus dem Fenster. Als ich zur Seite schaue, entdecke ich Louis´ breites Grinsen. Er hat sich genau wie ich am Fenster positioniert und zwinkert mir verschwörerisch zu. Rechts von mir, aber ein paar Zimmer weiter, öffnet sich ein weiteres Fenster. Hinaus schaut, entgeistert, ein Mädchen, vielleicht fünfzehn oder sechszehn, mit pechschwarzem, langem Haar und sonnengebrannter Haut. Sie schüttelt fassungslos den Kopf, als sie den Jungen sieht, der auf dem Dach gegenüber auf seinem Koffer Platz nimmt und seine Gitarre stimmt. Dann schaut sie in meine Richtung. Als sie Louis und mich sieht, schaut sie panisch weg. „Ashley!“, ruft der Junge nun, laut genug, um die ganze Insel aufzuschrecken. Einige wenige Bewohner, die noch unterwegs sind, bleiben stehen und schauen sich verwirrt um. „Seit ich dich das erste Mal sah, war mir klar, dass du die Eine bist! Das ist für dich!“ Er schlägt einige Akkorde an, dann beginnt er eine langsame, zuckersüße Melodie, die vor Romantik nur so trieft. Trotz allem ist er wirklich gut und selbst die ziemlich verschämt dreinschauende Ashley scheint, sich ein wenig zu entspannen. Die Musik füllt die nächtlichen Straßen und ich streiche Skus Kopf, die leise und wohlig brummt. Dann beginnt er, zu singen. „Oh Ashleeeeyy, meine Lieeebe, du bist wie eine Perleee, so schööööön! Oh, Ashley, willst du mit mir geheeeeen, oh Liebsteeeee! Ashleeeeeyy, meine Liebeeee ist so- ARGH!“ Die schöne Ashley wirft auch ihren zweiten Schuh nach ihm und für die Entfernung trifft sie ziemlich gut. „Du bist krank, Percy! Verpiss dich!“ „Aber Ashley! Ich dachte, das zwischen dir und mir wäre besonders!“ „Besonders ist nur, dass du ein normales Hallo als Liebeserklärung interpretierst! Lass mich in Ruhe!“ „Es tut mir leid, wie kann ich es wieder gut machen?“, ruft Percy verzweifelt zurück, die Gitarre um den Nacken baumelnd. „Magst du Kuchen? Wir können zusammen in ein Café gehen! Ich lade dich ein!“ „DU FREAK!“ Das Fenster neben mir knallt zu. Ich werfe Louis einen vielsagenden Blick zu. „Ich warte morgen um 12 Uhr vor dem Café auf dich! Ich liebe dich!“ Ich beobachte Percy noch dabei, wie er mühsam von dem Dach herabklettert und mit hängendem Kopf aus meinem Sichtfeld verschwindet. „Was war das denn?“, fragt Louis, der sich weiter aus dem Fenster gelehnt hat, um ihn besser sehen zu können. „Keine Ahnung“, erwidere ich. „Aber unterhaltsam war es allemal.“ Plötzlich höre ich das Klingeln meines Handys. „Moment“, rufe ich Louis zu, dann setze ich Sku auf dem Tisch ab und laufe zu meinem Rucksack, aus dem ich mein Handy fische. Eingehender Anruf von Raphael. „Raphael? Was gibt´s?“ „Abby!“ Er klingt aufgeregt. Fast schon panisch. „Wir wissen, wo Zach ist!“ Kapitel 63: ASV (Prioritäten) ----------------------------- „Was?!“ Ich lasse mich auf das Bett fallen, den Hörer eng an mein Ohr gepresst. „Wie habt ihr ihn erreicht?“ „Richard hat seit Wochen überall Kontaktmöglichkeiten über Mittelmänner eingerichtet“, erklärt Raphael. „Wir sind davon ausgegangen, dass Zach irgendwann an Rocket-Aktivitäten beteiligt sein wird, also hat er in allen wichtigen Pokécentern und Städten geheime Nachrichten hinterlegt.“ „Und das hat geklappt?“, frage ich skeptisch. Das kommt mir ziemlich riskant vor. Wie konnten sie garantieren, dass die Polizei Richard nicht auf die Schliche kommt? Rockey sucht bestimmt jeden Winkel ab. Dann wiederum ist Richard seit zwei Jahren in Kanto unterwegs. Es würde mich nicht wundern, wenn ihm eine ganze Menge Leute einen Gefallen schulden. „Einer der Mittelsmänner hat gestern Nacht Richard kontaktiert. Zach hat ihm eine Nachricht hinterlassen.“ „Was hat er gesagt?“ „Anscheinend ist er weiter in ihren Vertrauenskreis gekommen“, sagt Raphael. „Er hat die Verantwortlichen für den Tod seiner Schwester noch nicht gefunden, aber er weiß, was Team Rocket plant.“ „Wir müssen Officer Rockey Bescheid sagen!“ Ich springe vom Bett auf und gehe eindringlich in meinem Zimmer auf und ab. Sku hebt neugierig den Kopf. „Wenn wir eine Möglichkeit haben, Team Rocket im Keim zu ersticken, dann müssen wir sie ergreifen, Raphael! Wer Evas Tod zu verantworten hat, können wir danach immer noch herausfinden.“ „Nein.“ „Was, nein?!“ Wütend bleibe ich stehen. „Wir können nicht einfach tatenlos dabei zusehen, wie Team Rocket-“ „Wir können nichts unternehmen, Abby. Zach hat uns nicht verraten, was er herausgefunden hat. Nur, dass er Bescheid weiß. Er wird uns die Informationen nicht geben, bevor er sein eigenes Ziel erreicht hat.“ „Dieser Egoist!“, fluche ich. „Wenn er Team Rocket hilft, um nicht aufzufliegen und uns dann nicht Mal Hinweise auf ihr weiteres Vorgehen geben kann, dann kann er ihnen genauso gut richtig beitreten. Auf dem Plateau hat er Mel verraten, dass ich es war, die den Überfall auf das Pokécenter vereitelt hat. Er denkt, dass er ihnen einen Schritt voraus ist, aber er spielt ihnen trotzdem in die Hände!“ „Denkst du, dass weiß ich nicht?“, fährt Raphael mich an, schärfer als ich es von ihm gewohnt bin. „Aber Zach ist Zach und wir haben keinen Einfluss darauf, was er uns sagt und was nicht. Allein die Tatsache, dass er den Kontakt zu Richard aufrecht hält, ist eine Sensation. Außerdem, wie würdest du Rockey bitte erklären, dass wir plötzlich so gut über Team Rockets Pläne Bescheid wissen? Im besten Fall nehmen sie Zach mit den anderen Rockets gefangen, im Schlimmsten werden wir alle als Komplizen verhaftet.“ „Aber wir wissen, wo er ist?“, frage ich. „Nicht direkt, aber ungefähr“, erklärt Raphael. „Anscheinend ist die Nachricht über einen der Mittelsmänner auf den Eilanden gekommen.“ „Das Rocketlager“, folgere ich automatisch. Schon seit den ersten Gerüchten über Team Rockets Wiederkehr vor zwei Jahren wurde dort ihr Hauptquartier vermutet. „Warum hat die Polizei es nicht schon längst gestürmt?“ „Soweit ich das von Noah mitbekommen habe, ist das Lager selbst leer. Wahrscheinlich gibt es einen geheimen Zugang, der in die Keller führt, aber den hat man bisher noch nicht finden können. Außerdem ist Team Rocket viel gefährlicher als noch vor neun Jahren.“ „Warum?“, frage ich. „Weil sie jetzt bewaffnet sind“, erklärt Raphael. „Der neue Anführer hat die Organisation von Grund auf neu aufgebaut. Das Ränkesystem garantiert in den meisten Missionen Erfolge und dank ihrer Waffen sind sie nicht mehr nur auf starke Pokémon angewiesen. Und wer weiß, was für Fallen sie da unten eingebaut haben.“ Ich denke an die Pokémon, die sie gestohlen haben. Könnte es sein, dass sie Explosionsfallen in ihrem eigenen Hauptquartier gebaut haben? Es kommt mir riskant vor, aber immerhin sprechen wir von Team Rocket. Was kann riskanter sein, als sich mit den besten Trainern der Region und der Polizei anzulegen? Mal ganz abgesehen davon, dass dies ihr dritter Versuch ist, an die Macht zu kommen. Der Frustrationslevel muss hoch sein, gerade bei Atlas, der Giovannis Niederlage zweimal mitansehen musste. „Hat Zach etwas zu Dark gesagt?“, frage ich. „Dark? Wer ist das?“ „Der Jugendliche, den sie im Radio immer erwähnen. Er ist vor kurzem von der Bildfläche verschwunden, niemand weiß, wo er hin ist.“ „Zach hat uns kaum drei zusammenhängende Sätze geschickt, Abby“, lacht Raphael. „Ich habe keine Ahnung, was mit diesem Dark ist.“ Das große Thema aus dem Weg geräumt, lasse ich mich aufs Bett plumpsen und tätschele die Decke neben mir, bis Sku von dem Tisch springt und sich an meiner Seite zusammen rollt. „Was machen deine Vorbereitungen?“, frage ich. „Gen meint, du forderst Claire am 4. Dezember heraus.“ „Dieser verdammte Richy“, murrt Raphael. „Wir haben noch bis zum 31. Juli Zeit, bevor die Anmeldefrist abläuft, ein paar mehr Wochen Training hätte er uns ruhig lassen können.“ „Warum nimmst du sie dir nicht einfach?“ „Du kannst so eine offene Herausforderung nicht ignorieren, Abby“, sagt Raphael. „Wir sind immer noch Rivalen. Selbst ohne Zach wird mindestens einer von uns das Ticket für die Liga nicht kriegen. Ab hier zählt jeder noch so kleine Vorteil. Und wenn Richy uns auf dem falschen Fuß erwischt und aus dem Rhythmus bringt, dann kann ihm das nur Recht sein.“ „Wirst du sie besiegen?“, frage ich besorgt. „Sie soll höllisch stark sein.“ „Höllisch ist untertrieben.“ Raphael seufzt. „Du hast ja keine Ahnung, was die Arenaleiter drauf haben. Die ersten zwei sind relativ leicht zu schlagen, wenn du dich ein bisschen reinhängst, bei dem dritten und vierten musst du dich schon etwas mehr anstrengen, aber wenn du gut organisiert bist, kommst du mit zwei Wochen Training gut durch. Dann geht es erst richtig los.“ „In Oliviana City sind alle Gebäude überfüllt, weil die Trainer nicht weiterkommen“, sage ich schmunzelnd und kraule Skus Kehle. Sie brummt wohlig. „Und das ist nur der fünfte Arenaleiter“, fährt Raphael fort. „Gen sagt immer: Die gesamte Trainerzeit verdoppelt sich für jeden Orden. Das heißt, wenn du eine Woche gebraucht hast, um deinen ersten Orden zu erringen, wirst du vom Anfang deiner Reise bis zum Ende 128 Wochen benötigen. Also knapp 30 Monate. Und wenn du zwei Wochen brauchst, dann dementsprechend mehr.“ „Das klingt ziemlich an den Haaren herbeigezogen“, murmele ich, geschockt. „Vielleicht. Aber bisher hat sie mit ihrer Theorie immer ziemlich richtig gelegen“, sagt Raphael. „Was ich damit sagen will, ist: Je weiter du in den Orden aufsteigst, desto länger wird deine Vorbereitungszeit. Für unseren Kampf gegen Claire trainieren wir alle schon seit etlichen Monaten. Wenn deine Pokémon einen gewissen Level erreicht haben, werden sie nur sehr langsam stärker. Es ist fast unmöglich, ebenbürtige Gegner in der Wildnis zu finden und gegen anderen Trainer zu kämpfen ist riskant, weil sie dann deine Strategien lernen können.“ „Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, stelle ich fest. „Aber du hast Recht, Sku ist seit August nur einen Level gestiegen. Ich habe sie nicht trainiert, aber sie hat oft gekämpft.“ „Bist du eigentlich noch mit Louis unterwegs?“, fragt Raphael plötzlich. Ich werde sofort knallrot. „Jetzt wieder“, gestehe ich schließlich. „In Teak City ist er später eingetroffen und nach Oliviana City ist er nachgekommen.“ „Seid ihr immer noch zusammen?“ „Wir waren nie… Wir sind nicht zusammen. Wir sind nur Freunde. Sonst nichts.“ „Ach so.“ Ich kann sein Schmunzeln praktisch hören. „Ich muss Schluss machen, wir haben nur wenig heute Nacht geschlafen.“ „Alles klar. Gute Nacht.“ „Nacht.“ Ich werfe mein Handy auf die Matratze, stehe auf, um das noch offen stehende Fenster zu schließen und krame dann meine Zahnbürste aus den Tiefen meines Reiserucksacks. Als ich vor dem geschlossenen Fenster stehe und Zähne putzend die flackernden Lichter in der Dunkelheit beobachte, denke ich über Raphaels Worte nach. Wenn das Leveln länger dauert, je stärker die Pokémon sind, wie stark ist dann Gold? Und was ist mit Red? Gold sagte, er habe damals gegen ihn verloren. Bedeutet das, dass Red weiterhin der stärkste Trainer in allen Regionen ist? Oder hat Gold ihn überholt, weil Red alleine an einem abgeschiedenen Ort trainiert? Fragen über Fragen.   Sonntagmorgen frühstücken Louis und ich im Pokécenter und machen uns dann auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Es dauert eine Weile, bis wir uns zwischen den fast identisch aussehenden Häusern zu Recht finden, aber mit der Hilfe einiger Einheimischer, die uns schmunzelnd den Weg zeigen, kommen wir bald an allen Zielen an. Louis Befürchtungen bestätigen sich. Der Supermarkt führt keine Traineritems außer Pokéfutter, das wir nicht kaufen, weil es für Trainer wie uns zu teuer ist. Sku isst seit Jahren Menschenessen, Jayjay ernährt sich von Gras und Gemüse und Hunter hat begonnen, Gott in die kulinarische Küche der Karpador einzuweisen. Zunächst hat er sich gesträubt, aber schließlich ist er Fleischfresser und so lasse ich den beiden etwas Freilauf, während wir in dem Geschäft unterwegs sind, um Louis den Anblick zu ersparen. Ich kann nur hoffen, dass sie dem gruseligen Jungen von gestern nicht über den Weg laufen. Als nächstes nehmen wir uns den Badebekleidungsladen vor, der trotz der Jahreszeit geöffnet hat. „Wir haben hier immer offen“, sagt die Verkäuferin, eine alte, gebückte Frau mit tiefen Augenfalten und einer langsamen Stimme. „Die jungen Leute scheuen sich ja nicht, noch im Dezember ins Meer zu steigen. Und dank der Wettbewerbe haben wir hier immer genügend Kundschaft.“ Der Laden ist klein, aber ziemlich gut ausgestattet. Von kurzen Badehosen für Männer über lange Schwimmhosen zu Bikinis und Ganzkörperneoprenanzügen hat die Sandmuschel wirklich alles im Angebot. Ich laufe unentschlossen zwischen den Bikinis auf und ab. Ich will unbedingt in etwas anderem als meiner Unterwäsche an dem Wettbewerb teilnehmen, aber mir ein neues Paar zu kaufen ist unsinnig, wenn ich bald zu Hause sein werde, wo mein eigener liegt. Louis bleibt mit etwas Abstand hinter mir und versucht, möglichst unauffällig drein zu schauen. Die alte Dame bedenkt ihn mit einem wissenden Lächeln, dann kommt sie zu mir. „Brauchst du Hilfe bei der Auswahl?“, fragt sie schließlich. Ich nicke. „Ich brauche etwas für die nächsten drei oder vier Wochen“, gestehe ich schließlich. „Nimmst du an dem Wettbewerb teil?“, fragt sie. „Ich bin noch nicht angemeldet, aber ich würde gerne mitmachen“, sage ich. Sie nickt. „Bis zu dem Wettbewerb wird das Meerwasser zu kalt für normale Badeanzüge sein“, sagt sie. „Die meisten hier haben für den Winter lange Badekleidung.“ Sie führt mich in eine andere Ecke des Ladens, in der lange Bikinihosen und Shirts in unterschiedlichen Farben und Ausführungen hängen. „Sie haben einen hohen UV-Schutz und sind kälteisolierend. Wir verkaufen sie an Touristen, die sich hier im Winter die Strudelinseln anschauen wollen oder an Wettbewerbsteilnehmer, so wie dich. Sie sind nicht so gut ausgestattet wie die Modelle der Einheimischen, aber sie erfüllen ihren Zweck.“ „Und wie viel kostet das Ganze?“, frage ich skeptisch. „Das günstigste Paar kann ich dir für 4000 PD anbieten. Das wären die hier.“ Sie zieht eine lange, schwarze Bikinihose aus dem Regal und ein dazu passendes, ebenfalls schwarzes Langarmshirt. Als ich die Teile in die Hand nehme, fühlen sie sich genauso an wie ein Badeanzug, nur etwas dicker. „Das ist eine Menge“, sage ich schließlich und betrachte die Hose. „Ich weiß nicht, ob ich mir das derzeit leisten kann.“ Die Augen der Verkäuferin blitzen. „Oh, aber du nimmst doch an dem Wettbewerb teil, oder nicht? Die Geldpreise sind nicht zu verachten.“ „Wie viel gewinnt man denn?“ „Der Erstplatzierte erhält eine Summe von 50.000 PD, der zweite 30.000 PD und der dritte 15.000 PD. Wenn du denkst, dass du gewinnen kannst, wird sich der Kauf in jedem Fall rentieren.“ Sie lehnt sich zu mir rüber. „Bist du gut?“ „Ich bin nicht schlecht“, gestehe ich. Ich bin immerhin am Meer aufgewachsen und in Oliviana City bin ich ebenfalls sehr viel geschwommen. Wenn ich mein morgendliches Schwimmtraining wieder aufnehme, habe ich vielleicht sogar eine Chance. „Der Wettbewerb wird seit etwa fünf Jahren viermal pro Jahr veranstaltet. Organisiert wird die Veranstaltung von dem ASV, dem Anemonia-Schwimm-Verbund. Früher war die Teilnahmeliste sehr lang, aber inzwischen sind gerade die Winterwettbewerbe nur spärlich besucht. Wenn du gut bist, hast du eine echte Chance, einen der Preise zu gewinnen.“ Ich zögere. Die alte Frau lächelt mich an.   „Ich kann nicht glauben, dass du es geschafft hast, 37.000 PD in nur einer Woche auf den Kopf zu hauen“, sagt Louis, als ich mit einer Tüte aus dem Laden trete. Die salzige Meeresbrise weht mir entgegen. Ich weigere mich, ein schlechtes Gefühl wegen des Kaufs zu haben. „Wenn sie Recht hat, war das hier eine gute Investition“, entgegne ich. „Außerdem habe ich immer noch über 2000 PD übrig.“ „Ich sehe mich schon wieder in Höhlen übernachten“, murrt Louis, lässt das Thema aber auf sich beruhen. Da der Mittag näher rückt, machen wir uns auf die Suche nach einem Café, von denen es in Anemonia City auf Grund der beschaulichen Anzahl Häuser nur ein einziges gibt. Die Terrasse ist geschlossen und drinnen sind die Tische nur spärlich besetzt, aber die Snackpreise sind niedrig und so fällt uns die Entscheidung nicht schwer. Wir wollen wenigstens einen Tag lang in mäßigem Luxus verbringen, bevor wir uns von Supermarktitems ernähren müssen. Als wir uns an einen der Tische an der Wand gesetzt und Sandwiches bestellt haben, nehme ich die beiden anderen Kunden unter die Lupe. Am anderen Ende des kleinen Cafés sitzt, Blick aus dem Fenster, ein Mädchen mit hellbraunen Rasterlocken und fast gleichfarbiger Haut. Sie schlürft an einer großen Tasse Kaffee und schreibt mit der anderen in einem dicken Collegeblock. Neben ihr steht eine große Umhängetasche. Uns näher sitzt ein Junge, der gedankenverloren in einer Tasse Tee rührt und hin und wieder seufzt. Zu seinen Füßen steht ein großer Kasten und… Moment mal. Ich beuge mich zu Louis hinüber und deute mit dem Kinn in die Richtung des Jungen. „Ist das der von gestern?“, flüstere ich. „Dieser, wie hieß er noch gleich… Percy?“ Louis schaut unauffällig über seine Schulter und dreht sich dann wieder um. „Wartet wahrscheinlich auf die schöne Ashley“, meint er breit grinsend. „Die wird aber nie im Leben hier auftauchen.“ Ich betrachte Percy noch einen Moment länger. Wenn er aus dem Fenster schaut, kann ich einen Großteil seines Gesichts sehen. Er sieht ziemlich niedergeschlagen aus. „Er tut mir irgendwie leid“, murmele ich. „Machst du Witze?“, fragt Louis und beugt sich weiter vor. „Der ist ein totaler Freak. Halte dich bloß fern von ihm.“ In dem Moment kommt unser Essen und für´s erste lassen wir die Sache auf sich beruhen. Das Mädchen mit dem Collegeblock schreibt fleißig weiter, ohne mehr als ein paar Sekunden am Stück aufzusehen. Ihren zweiten Kaffee bestellt sie mit einem Handzeichen, was vermutlich bedeutet, dass sie öfter herkommt. 12 Uhr vergeht und schließlich ist es fast halb eins, aber von Ashley ist immer noch keine Spur zu sehen. „Puh, das war lecker“, seufzt Louis und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. „Willst du noch was essen oder können wir weiter?“ „Ich bin satt.“ Wir bezahlen, stehen auf und verlassen das Café. Als wir durch die Tür gehen, drehe ich mich ein letztes Mal zu Percy um, der geradeaus starrt. Ich lächle ihm aufmunternd zu und sehe noch, wie sein sich Gesicht aufhellt, dann wende ich mich ab und laufe Louis hinterher, der bereits draußen steht. „Also, was steht auf dem Plan?“, fragt er, als wir über die Bretterwege schlendern. „Die Anmeldung für den Wettbewerb ist erst abends“, stelle ich fest. „Ich würde die Schwimmsachen gerne ausprobieren. Wir können uns trennen und um 18:00 Uhr im Pokécenter treffen.“ Er zuckt die Achseln. „Dann nehme ich mal die Arena unter die Lupe“, sagt er. Wir verabschieden uns und gehen getrennte Wege, Louis Richtung Westen, wo das rotbraune Kuppeldach der Arena in die Höhe ragt und ich nach Osten zum Strand. Ich finde eine kleine von Felsen abgeschirmte Bucht und ziehe mich schnell um. Die schwarzen Schwimmsachen sind enganliegend, aber bequemer als erwartet. Ich mache ein paar Dehnübungen, dann stopfe ich meine Klamotten in den Rucksack zurück und rufe Jayjay, der glücklich wiehert und mir mit seiner Schnauze prompt einen Schlag verpasst. Ich ziehe die isolierenden Handschuhe an, befestige den Rucksack an seinem Sattel und schaue ihn streng an. „Halt dich vom Wasser fern“, mahne ich. „Du setzt uns sonst alle unter Strom.“ Jayjay schnaubt vergnügt. Das klingt für ihn wahrscheinlich nach einer sehr amüsanten Angelegenheit. „Pass auf meine Sachen auf“, sage ich kopfschüttelnd und gebe ihm einen Schlag auf das Hinterteil, dann befestige ich die Handschuhe an dem Rucksack und steige ins Meer. Die Wochen in Unterwäsche waren kalt, aber ich hatte mich an die Temperatur gewöhnt. Jetzt, da ich isolierende Kleidung trage, wird mir erst bewusst, wie kalt das Wasser wirklich war. Ich schwimme zunächst ein wenig in Strandnähe, um mich an den langen Bikini zu gewöhnen, dann schwimme ich weiter hinaus aufs Meer, bis ich die ersten Schwimmer entdecke. Wenn ich mich nicht irre, nehmen sie alle die Turnierstrecke. Ich tauche unter und paddele los.   Als ich am Abend erschöpft aber zufrieden zum Pokécenter zurückkomme, wartet Louis bereits am Eingang auf mich. Die Türen öffnen sich sirrend und ich werfe einen flüchtigen Blick zu der Plakattafel, vor der ein kleiner Tisch mit Papierstapeln aufgebaut wurde. „Warum guckst du so?“, frage ich, als Louis sich ebenfalls umdreht und den unbesetzten Tisch mit Missfallen begutachtet. „Wirst du gleich sehen“, meint er. Kaum haben die Worte seinen Mund verlassen, taucht zusammen mit Schwester Joy ein Junge aus den hinteren Räumen auf, bedankt sich und steuert dann auf den Anmeldetisch zu, wo er sich hinsetzt und mich kurz unschlüssig mustert, bevor seine Miene sich verfinstert. Ich brauche etwas länger, bevor ich den Schwimmer von gestern in ihm erkenne. Sein braunes Haar hat er sich zu einem losen Zopf nach hinten gebunden und sein Pony wird wie gestern durch ein Stirnband aus seiner Stirn gehalten. Er trägt ein dunkelblaues Langarmshirt mit schwarzen Nähten. ASV ist in großen roten Lettern auf die Brusttasche gestickt, gefolgt von einem kleineren aber trotzdem gut sichtbaren Senior. Ich schlucke. „Bist du sicher, dass du immer noch mitmachen möchtest?“, fragt Louis leise und liefert sich ein kurzes Blickduell mit dem Jungen, der wieder zu uns sieht. Ihr Kampf wird durch ein Mädchen unterbrochen, das an den Tisch tritt und etwas sagt. Der Junge lacht. Erst jetzt fällt mir auf, dass das halbe Dutzend anwesender Trainer fast allesamt mit den blauen Formularen an den umstehenden Tischen beschäftigt sind. „Ich habe das Schwimmset schon gekauft“, sage ich und trete an den Tisch heran. Der Junge mustert mich von oben bis unten, bevor er die Hände vor dem Kinn faltet und mir in die Augen schaut. „Womit kann ich helfen?“ „Ich möchte mich für das Strudelinselrennen anmelden. Bitte.“ Ein leichtes Schmunzeln huscht über sein Gesicht. „Sicher, dass du das schaffst?“, fragt er dann, ein wenig lauter als nötig. „Wasserpokémon sind bei dem Rennen nicht gestattet.“ Hinter mir ertönt leises Kichern, gefolgt von dem ein oder anderen Lass sie, Val. „Ich besitze kein Wasserpokémon.“ „Das hat dich nicht daran gehindert, auf einem Garados herzukommen und gleichzeitig Karpador an dein Ibitak zu verfüttern.“ Entrüstetes Gemurmel. Gott, sind hier alle so extremistisch drauf? Ibitak sind eben Fleischfresser, was soll ich daran ändern? „Dein Ibitak frisst Karpador?“, fragt Louis entsetzt. Okay. Bei ihm ist das was anderes. „Kann ich bitte einfach die Anmeldung haben?“, frage ich und strecke eine Hand aus. Der Junge zuckt die Achseln, dann reicht er mir eins der blauen Formulare. „Füll das aus und bring es zurück.“ Genervt setze ich mich an den letzten freien Tisch und nehme mir einen der Kugelschreiber, die in kleinen Bechern auf den Tischen verteilt sind. Während ich meine Trainer-ID in die betreffende Zeile kopiere, Namen, Geburtstag und andere persönliche Angaben mache, redet Louis leise über seinen Nachmittag. „Ich war in der Arena“, meint er gerade. „Da ist eine Wasserpumpe, die man ausmachen muss, bevor man Zugang zu dem Hauptdojo erhält, aber dazu muss man gegen vier Trainer gewinnen. Und wenn-“ Er unterbricht sich, als das allgemeine Gemurmel mit einem Schlag verstummt und die Blicke sich Richtung Eingang richten. Ich hebe den Kopf und lehne mich zur Seite, um an Louis vorbei gucken zu können. Sirrend öffnet sich die gläserne Doppeltür. Hinein tritt ein Hüne. Außer einer weißgrauen Trainingshose, die mit einem schwarzen Gürtel um seine Hüfte befestigt ist und Bandagen um Hand- und Fußgelenke ist der Mann unbekleidet. Gewaltige Muskelstränge zeichnen sich durch seine Haut ab und ein ergrauender Vollbart umrahmt seinen Mund. „Das ist er“, murmelt Louis tonlos. „Hartwig.“ „Was macht er hier?“, flüstere ich zurück, während Hartwig Schwester Joy kurz angebunden zunickt und dann auf den erbauten Tisch zugeht, an dem der Junge stocksteif sitzt und keine Miene verzieht. „Wo bleibst du, Valentin?“, fragt Hartwig mit grollender Stimme. „Das Training hat vor einer Stunde angefangen! Maschock wartet auf dich.“ „Ich bin heute mit Anmeldungen verteilen dran“, sagt Valentin und schaut dem Arenaleiter unerschrocken ins Gesicht. „Ich komme um sieben Uhr nach.“ „Das ist keine Art, die Kampfkunst zu behandeln, Sohn!“ Hartwig stemmt eine gewaltige Hand auf den Tisch, der unter der Muskelmasse gefährlich nachgibt. „Ich erlaube dein Hobby nur, weil es deinen Körper stärkt und deinem Training im Dojo nicht in die Quere kommt. Aber wenn es dich von deinen Verantwortungen abhält, dann werde ich dir das Schwimmen verbieten!“ Valentin steht langsam auf. Erst jetzt wird mir bewusst, wie groß er ist. „Ich bin Senior Mitglied im ASV, Vater. Ich werde das Schwimmen nicht aufgeben, nur damit du die Arena auf mich abwälzen kannst.“ „So wirst du nicht mit mir sprechen!“, donnert Hartwig und das gesamte Pokécenter zuckt zusammen. Alle, außer Valentin. „Wir sollten das an einem anderen Ort klären“, sagt er. „Du wirfst ein schlechtes Licht auf die Arena.“ Hartwig dreht sich zu uns um. Die ängstlichen Gesichter scheinen ihn zu überzeugen, denn er atmet tief durch und verlässt das Pokécenter. Valentin reibt sich die Nasenwurzel. „Kat, übernimmst du für mich?“ Das Mädchen von zuvor nickt. Wie er trägt sie das Shirt des ASV, laut dem auch sie ein Senior ist. Sie klopft Valentin auf die Schulter und murmelt etwas, das ihn wohl aufheitern soll, denn er schmunzelt und folgt dann seinem Vater vor das Center. „Das war gruselig“, meint Louis leise, aber er hätte sich nicht so anstrengen müssen. Kaum haben Valentin und Hartwig das Pokécenter verlassen, zerbricht die Stille in angeregte Unterhaltung. Kat macht es sich hinter dem Klapptisch bequem und überfliegt einige Listen. Nach und nach treten die Trainer zu ihr und überreichen die blauen Anmeldeformulare. Als ich an der Reihe bin, mustert sie meine ausgefüllten Antworten skeptisch. „Du warst noch nie Mitglied in einem Schwimmclub?“, fragt sie. Ich schüttele den Kopf. Einige der Trainerblicke richten sich wieder auf mich. Normalerweise macht mir Aufmerksamkeit nichts aus, aber hier fühle ich mich mit einem Mal verdammt unwohl. „Ich will dich nicht bevormunden…“ Sie überprüft meinen Namen auf der Anmeldung. „…Abbygail. Aber das Strudelinselrennen ist nicht ungefährlich. Bist du sicher, dass du teilnehmen möchtest?“ „Ich habe noch drei Wochen, um mich vorzubereiten“, sage ich, ein wenig genervt. Kat hebt entschuldigend die Hände. „Wie du meinst. Ich will dich nur vorwarnen, dass du vermutlich nicht besonders gut abschneiden wirst.“ Nun schaltet sich auch Louis ein. „Ich dachte, die Teilnehmerzahl wäre zurückgegangen.“ Kat schnaubt. „Wer hat dir denn den Blödsinn erzählt? Wir haben eine konstante Teilnehmerzahl von etwa vierzig. Wenn überhaupt sind es in den letzten Jahren mehr geworden.“ Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Kann es sein… Kat schaut mich fragend an, dann ziehen sich ihre Augenbrauen zusammen. „Hast du vor kurzem die Sandmuschel besucht?“ „Ich habe dort heute einen Bikini gekauft“, gebe ich zu. Kat kratzt sich an der Wange. „Das tut mir leid. Annabelle lügt dir die Sterne vom Himmel, wenn sie dadurch ein bisschen Gewinn herausschlagen kann. Wie viel hast du ausgegeben?“ „4000 PD.“ „Immerhin hat sich dich nicht mit dem Preis über den Tisch gezogen“, sagt Kat und legt mein Anmeldeformular auf einen blauen Stapel neben sich. „Wir verleihen Schwimmbrillen in unserem Vereinshaus. Wenn du morgen vorbei kommst, kann ich dir ein Paar geben.“   „Ich bin froh, dass nicht alle ASV-Mitglieder so eingebildet sind“, meine ich etwas später, als Louis und ich auf meinem Bett sitzen und uns über unseren ersten Tag in Anemonia City austauschen. „Aber dass die alte Frau mich so reingelegt hat…“ „Noch hast du nicht verloren“, entgegnet Louis. „Du trainierst jetzt einfach bis zu dem Wettbewerb und dann läuft schon alles glatt.“ Hoffentlich. Kapitel 64: Aggressionen (Ein gelber Sack) ------------------------------------------ Am nächsten Morgen lasse ich Louis ausschlafen, während ich mich früh aus dem Bett quäle, um vor unserem geplanten Safari-Trip noch zwei Stunden Schwimmen einzubauen. Mit dem ersten Dezember wird es stetig kühler und so ziehe ich mir den langen Bikini unter meine normale Kleidung, damit ich mich nicht am Strand umziehen muss. Da es noch so früh ist, ist das Pokécenter wie leergefegt. Nicht mal Schwester Joy ist zu sehen. Statt ihr steht ein junges Mädchen an der Theke und beobachtet mit glasigen Augen, wie ich meinen Rucksack schultere, ein letztes Mal das Plakat der Safari-Zone unter die Lupe nehme und schließlich in den düsteren Morgen verschwinde. Außer vereinzelten, sehr müde dreinschauenden Trainern, wirkt der Rest der Insel genauso verlassen wie das Pokécenter. Auf meinem Weg zu der Bucht von gestern komme ich an einer kleinen Apotheke vorbei, aus deren Innern mich jemand beobachtet und dann vom Fenster verschwindet. Hier ist wohl jeder ein Morgenmuffel. Ich unterdrücke ein Gähnen. Verübeln kann ich es ihnen nicht. Trotz der Uhrzeit herrscht zumindest am Strand reges Treiben. Schon aus der Ferne entdecke ich Kat und Valentin, die eine kleine Gruppe Clubmitglieder in einem gemeinsamen Aufwärmprogramm leiten. Über ihren langen, dunkelblauen Schwimmhosen tragen sie Shirts ihres Vereins und als mich eins der Mitgliedern entdeckt, drehen sich alle Köpfe zu mir. Zu meiner großen Überraschung rufen Kat und Valentin die Jüngeren aber sofort zur Ordnung, Kat gibt mir sogar ein gut gemeintes Daumenhoch-Zeichen. Ich umrunde die Gruppe so gut es geht und ziehe mir etwas abseits meine Hose und den Pullover aus, die ich in meiner Tasche verstaue. Als Wächter suche ich dieses Mal Gott aus, der sich flüchtig an mein Bein schmiegt, bevor er sich auf dem Rucksack zusammenrollt und beim Anblick der anderen Schwimmer aggressiv die Zähne bleckt. „Halte dich zurück“, warne ich ihn. „Kein Beißen, es sei denn, du siehst Mel. Verstanden?“ Gott gibt ein Fauchen von sich, das Ruß und Rauch in die Luft bläst, legt aber gehorsam den Kopf auf seine Pfoten und schaut mich erwartungsvoll an. Mal sehen, wie lange er das durchhält. Wie schon gestern hänge ich mich unauffällig an die ASV-Schwimmer dran, um mir die Strecke durch die Inselgruppen einzuprägen, was aus Wasserperspektive nicht unbedingt leicht ist, aber nach drei Runden im kalten Wasser kommen mir die Felsformationen langsam bekannt vor. Nur einer der Streckenabschnitte scheint mir ein ziemlicher Umweg zu sein, ich werde mir in den kommenden Tagen mal eine alternative Route anschauen. Die anderen Schwimmer beginnen bereits ihren vierten Durchlauf, aber es ist spät geworden und ich muss mich mit Louis im Pokécenter treffen, also schwimme ich zurück ans Ufer, frierend und erschöpft, aber wach und zufrieden. Zumindest so lange, bis ich Gott entdecke, der mit blutigem Maul auf meinem Rucksack sitzt und misstrauisch umher schaut. „Was ist passiert?“, frage ich entsetzt und untersuche sofort sein Gebiss, aber das Blut stammt nicht von ihm. „Hast du wieder jemanden gebissen?“, frage ich, wütend. Er zischt. „Hat jemand versucht, meine Sachen zu klauen?“ Gott faucht wütend und spuckt eine kleine Flamme in den Sand, die dort aufflammt, bevor sie verglüht. „Was mache ich nur mit dir…“, murmele ich und rufe ihn zurück. Als ich mich umschaue, kann ich niemanden entdecken. Wen auch immer Gott gebissen hat, die Person ist schon geflohen. Wäre ich an ihrer Stelle auch. Als ich mich auf den Rückweg mache, muss ich an Gott denken, der mit jedem Level, den er steigt, aggressiver zu werden scheint. Als Feurigel hat er Fremde angefaucht, inzwischen beißt er sie, und nicht mehr nur, wenn ich in Gefahr bin. Ich will nicht wissen, was er als Tornupto anstellen wird.   „Bist du soweit?“, fragt Louis, der mich vor dem Eingang abfängt. „Ich habe mich gestern ein bisschen über die Safari-Zone informiert. Das wird ein ziemlicher Aufstieg. Hast du deine Sachen schon dabei?“ Ich hebe zur Antwort meinen Rucksack in die Höhe. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg durch die Stadt zum Felsklippentor, einem gewaltigen Durchgang, der nördlich der Arena in die Gebirgskette der Insel gegraben wurde und der einzige Zugang zu Route 47 ist. Das künstlich erschaffene Höhlengewölbe reicht weit in die Höhe, ein kleiner See liegt zu unserer Linken und steile Steinstufen führen die Felsklüfte hinauf zu dem Höhlenausgang. Noch am Fuß der Höhle werden uns die neuste Version des Kartenmoduls für Route 47 und 48 angedreht, sowie Informationsflyer, Regelwerke und zwei Lollis. Mit unseren neu erworbenen Geschenken in den Armen fällt der Aufstieg nicht leicht, aber schließlich kommen wir nach einigem Fluchen heil auf dem ersten Vorsprung an. Von hier aus geht es nur noch mäßig steil in die Höhe und als wir draußen ankommen und wieder frische Seeluft riechen können, ist die Aussicht atemberaubend. Ich mache einen Schritt auf dem Klippenvorsprung nach vorne, bevor ein kleiner Zaun mich aufhält. Als ich den Blick senke, geht es fast hundert Meter steil in die Tiefe. Die Brandung schlägt krachend an den Fuß des Berges und Lanturn schießen in Schwärmen aus dem Wasser, bevor ihre Köpfe mit den Leuchtantennen wieder vom Meer verschluckt werden. Jurob faulenzen auf Felsen, die schräg aus dem Wasser ragen und die roten Giftsäcke eines Tentoxas leuchten mir aus den schwarzblauen Tiefen entgegen. „Wow“, sagt Louis, der neben mir zum Stehen kommt. „Ganz schön eng hier oben.“ Ich nicke, sprachlos. Aber erst, als ich mich von dem Anblick der wilden Ibitak losreiße, die in Kreisen durch die Lüfte schießen und sich gegenseitig kleine Karpador zuwerfen, sehe ich wirklich, was er meint. Der Weg schlängelt sich in maximal einem Meter Breite an dem Rand der senkrecht aufsteigenden Felsklippe entlang und außer dem dünnen Drahtzaun trennt uns nichts von einem tödlichen Sturz in die Tiefe. Wir folgen dem Pfad und halten uns vorsichtshalber nahe der Felswand auf. Einige Schilder warnen vor Steinschlag, wilden Pokémon in der Paarungszeit und einer Menge anderer nicht sonderlich beruhigender Dinge. Die Strecke zum nächsten Höhlendurchgang, der auf der Karte so nah erscheint, ist verdammt lang und schon bald beginnt Louis, im Gehen den Informationsflyer zu durchforsten und mir einige Punkte vorzulesen. „Besucher der Safari-Zone werden in zwei Level aufgeteilt“, erklärt er, nachdem er sich die betreffenden Texte dazu durchgelesen hat. „Level A-Besucher dürfen die Safari Zone nur mit einem Ranger erkunden, dabei darf ein Ranger maximal drei Trainer gleichzeitig betreuen. Wenn man möchte, kann man einen Safari-Test ablegen, der dich bei Bestehen auf Level B befördert. Dann kannst du die Safari-Zone auch ohne Ranger besuchen.“ „War das früher nicht immer so?“, frage ich und kneife die Augen zusammen, um das andere Ende des Klippenstreifens zu erkennen. Keine Chance. „Das haben sie wohl geändert.“ Louis zuckt die Achseln. „Wahrscheinlich ist irgendjemandem was passiert und dann mussten sie die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen.“ „Wie viele Ranger es hier wohl gibt…“ „Hier steht, dass sie 24 Ranger haben, sowie 11 weitere in Ausbildung.“ „Huh.“ „Oh, und wenn ich das richtig verstanden habe, ist die gesamte Safari-Zone in zwölf Areale eingeteilt. In jedem Areal sind unterschiedliche Pokémon angesiedelt und für den Eintrittspreis kannst du maximal sechs pro Tag besuchen.“ Während Louis weitere Fakten runter rattert, konzentriere ich mich auf den verschlungenen Aufstieg. Der Vorsprung, auf dem wir uns bewegen, ist nicht nur verdammt schmal, sondern steigt auch langsam an. Es vergeht fast eine Stunde, bevor wir um die erste Biegung der Klippe gegangen sind und mir sackt das Herz in die Hose, als ich den weiteren Aufstieg in vollem Ausmaß zu Gesicht bekomme. Innerhalb der nächsten Stunde folgen wir dem Pfad weiter zum Eingang der Felsschlundhöhle, dem Aufgang auf die höhere Vorsprungebene. Wir begegnen einem Wanderer, der hier unterwegs ist und ich lasse Louis den Vortritt, der seinen Steinpokémon mit Harley den Gar ausmacht. Ohne Wasserpokémon hätte ich ziemlich schlechte Chancen, denn obwohl er nicht so aussieht, ist der Wanderer ziemlich stark. Da es eine lange Anreise zu werden scheint, rufe ich Hunter und Jayjay, damit die beiden ein wenig frische Luft schnappen können. Hunter zupft liebevoll an Jayjays Ohr, bevor er sich in die Lüfte schwingt und zu seinen Artgenossen gesellt, die in Scharen um die Klippen fliegen. Jayjay tänzelt nervös am Rand des Vorsprungs auf und ab, bis ich meine Handschuhe anziehe und aufsitze. Das zusätzliche Gewicht scheint ihn zu beruhigen, aber er wirft immer wieder neugierige Blicke hinter sich. „Das ist ziemlich unfair von dir“, meint Louis nach einer Weile, in der ich neben ihm her geritten bin. „Du kannst ja auf Winry reiten“, meine ich grinsend. „Ich will auch so ein Reitpokémon haben“, sagt er und reibt sich mit dem Daumen über die Nase. „Vielleicht kann ich eins in der Safari-Zone fangen, was denkst du?“ „Ich denke, du solltest die nächsten beiden Arenaleiter berücksichtigen“, sage ich und tätschele aus meiner erhöhten Position seinen Kopf. „Denk dran. Boden, Kampf, Feuer, Flug und Psycho, das sind deine Prioritäten.“ „Ja, das grenzt mich natürlich ziemlich ein“, erwidert Louis und deutet in die Höhe. „Hier wimmelt es ja nicht von Gesteinpokémon oder so.“ Ich hebe den Blick. Was ich zunächst für grobe Felswände gehalten habe, entpuppt sich jetzt als dutzende, vielleicht hunderte von Kleinstein, die an den Stein geklammert an der Wand hängen und sich nur minimal vorwärts bewegen. Die meisten scheinen zu schlafen. „Fang dir doch so eins.“ „Ich will kein Kleinstein“, sagt Louis automatisch. „Ich will coole Pokémon, nicht sowas… Normales.“ Jayjay trottet still weiter, doch dann dreht er mit einem Mal ruckartig den Kopf nach hinten und schnaubt triumphierend. Ich drehe mich im Sattel um und erhasche gerade noch den Blick auf Schuhspitzen, die hinter einer Abbiegung verschwinden. „Was zum…“ „Abby, wir haben´s geschafft!“ Ich drehe mich wieder zu Louis um, der begeistert auf ein ausgeschildertes Loch in der Felswand am Ende des Weges deutet. „Das muss die Felsschlundhöhle sein!“ Ohne auf mein Kommando zu warten, galoppiert Jayjay los und lässt Louis hustend hinter uns zurück. Kurz vor dem Durchgang legt er eine Vollbremsung ein und kommt schlitternd zum Stehen. Meine Finger um den Sattelgriff gekrallt, atme ich erleichtert aus. Der Höhleneingang wäre groß genug für Jayjay, aber dahinter hängt eine Strickleiter, die nach oben auf die nächste Ebene führt. Die kommt er ganz sicher nicht hoch. Ich rufe Jayjay zurück, der protestierend schnaubt und schaue mich dann zu Louis um, den wir hinter uns zurück gelassen haben. "Lasst mich ruhig alleine", mault er und joggt in meine Richtung. "Ich wollte ´eh ohne dich auf Safari gehen." Ich strecke ihm die Zunge heraus und werfe einen letzten Blick hinter uns. Der Pfad ist leer. Ich zucke die Achseln und folge Louis, der bereits ins Innere der kleinen Höhle gegangen ist. "GAH!" Ich reiße den Kopf herum und entdecke Louis, der augenscheinlich über einen gelben Sack gestolpert ist und jetzt Arme rudernd auf einem Bein steht, bevor die Schwerkraft siegt und er unsanft auf den Boden fällt. "Wer stellt denn bitte seine Sachen hier ab?", fragt er wütend und setzt sich auf. Gerechtigkeitshalber verpasst er dem Sack einen Tritt. Der Sack gibt ein Quieken von sich und springt auf. "Das ist kein Sack", sage ich langsam und starre das runde Pokémon an. "Das ist ein… Makuhita?" "Was macht es hier?", fragt Louis perplex. "Ich wusste nicht, dass es hier solche gibt." "Vielleicht sind sie selten oder nur zu bestimmten Zeiten hier", rate ich und betrachte den kleinen speckigen Kerl. Er lässt die kurzen Ärmchen kreisen und grinst uns breit an. "Welcher Typ sind Makuhita nochmal?", fragt Louis und steht langsam auf. "Kampf, wieso?" Das Makuhita legt den Kopf schief und begutachtet Louis einen Moment, dann schlägt es sich mit den kleinen Fäusten auf den wabbligen Bauch und gibt einen kurzen Schrei von sich. Louis Hand schießt an seinen Gürtel und im nächsten Moment materialisiert sich Harley vor ihm. "Rankenhieb, dann Schlafpuder!" Ohne Zögern schießen Harleys Ranken auf das Makuhita zu, das schreit und sich die Fäuste über den Kopf hält, während Hieb um Hieb auf ihn nieder geht. Kaum klingen Ultrigarias Attacken ab, rennt es auf Harley zu, packt sie mit seinen kleinen Ärmchen und schleudert sie über seine Schulter und seinen Rücken zu Boden. Harley gibt ein ersticktes Geräusch von sich, scheint aber sonst keinen allzu großen Schaden von dem Überwurf davon zu tragen. Sie nutzt die Gelegenheit und pumpt eine gewaltige Ladung grüner Pollen aus ihrem Maul, die Makuhita direkt ins Gesicht treffen. Makuhita grinst breit und hält sich die Hände vor den Mund. Die Pollen bleiben an seinem Körper kleben, gelangen aber nicht in seine Atemwege. "Harley, gib nicht auf. Schwäch ihn weiter mit deinem Rankenhieb." Harley holt Schwung und schlittert in einer gewaltigen Drehung in aufrechte Position. Ranken schießen aus der Spitze ihres Kopfes hervor und dreschen erneut auf das kleine Makuhita ein, das sich hin und her wiegt, um die Kraft der Schläge zu mindern. "Pass den richtigen Moment für deinen Schlafpuder ab, Harley!", ruft Louis, genau in dem Moment, da Makuhita zu einem erneuten Überwurf ansetzt und mit nach vorne ausgestreckten Armen auf Harley zu rennt. Harley stößt sich vom Boden ab und bläst ihrem Gegner eine weitere Ladung Pollen entgegen, die dieses Mal problemlos an Makuhitas Armen vorbei und direkt in sein Gesicht fliegen. Der Puder kitzelt seine Nase und Makuhita niest, zwei, dreimal, bevor es zu wanken beginnt und Gesicht nach vorne auf den Höhlenboden fällt. Lautes Schnarchen erfüllt das kleine Gewölbe. Fast schon lässig zieht Louis einen Pokéball aus seinem Rucksack und lässt ihn auf Makuhitas schlafende Gestalt fallen. Rotes Licht umhüllt das Pokémon, bevor es in die kleine Kugel gesogen wird. Der Ball vibriert zwei Mal, dann platzt er auf und das Makuhita erscheint wieder schlafend vor uns. Der zweite Versuch glückt allerdings und nach dem letzten Vibrieren und anschließendem kurzen Aufleuchten des Pokéballs, hebt Louis den Ball zufrieden auf. Nachdenklich schaut er auf ihn herab. "Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn nennen soll", sagt er schließlich und ich schmunzele. "Klaus." "Vergiss es." "Darüber kannst du dir auch auf dem Weg noch Gedanken machen", sage ich und setze einen Fuß auf die unterste Schlinge der Strickleiter. "Wir haben noch ein ganzes Stück vor uns." Hinauf zu klettern erweist sich als schwieriger als gedacht. Die Leiter schwingt vor und zurück und das Loch, durch das sie gelassen wurde, ist nicht besonders groß. Auf der höheren Ebene angekommen, verlassen wir die Felsschlundhöhle und machen uns auf zur zweiten Hälfte des Weges. Louis wirft einen Blick auf das Kartenmodul. "Jetzt müssen wir nur noch über die Brücke, das Plateau da entlang, über noch eine Brücke und noch eine und… noch zwei? Was ist das hier, eine Brücken-Safari?" "Fang dir eine", schlage ich vor. "Die wäre bestimmt nützlich." "Sehr witzig." Etwa gegen Mittag erreichen wir die zweite Brücke, die von dem oberen Plateau über einen tosenden Wasserfall führt und uns dem Ende unseres Anstiegs näher bringt. Ein Doppelkampf mit zwei Protrainern von der KPA hat uns aufgehalten, aber dank Skus hohem Level konnten wir gerade so gewinnen. Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel und ich halte nach Hunter Ausschau, der seit Beginn unseres Aufstiegs mit seinen Artgenossen durch die Lüfte geflogen ist. "Hunter!", rufe ich so laut ich kann, aber keins der Vogelpokémon nimmt Notiz von mir. "Wo steckt er denn?", murmele ich, ein wenig gekränkt. Bisher ist Hunter immer zurück gekommen, wenn ich gerufen habe. "Vielleicht hat er eine hübsche Ibitakdame gefunden", meint Louis breit grinsend. Seine Zahnlücke strahlt mir entgegen. "Ich kann ihn nicht Mal sehen", sage ich und kneife die Augen zusammen. "Hier wimmelt es ja nur so von Flugpokémon." Und es sind nicht nur Ibitak. Ich kann einige Habitak erkennen, die wie Geschosse durch die Luft rasen, Porenta, die quakend mit den Flügeln schlagen und sogar ein sehr großes, weißes… "Louis", sage ich und deute auf die Klippe, die hinter der Brücke liegt und so steil abfällt, dass ein Hinaufklettern ohne Werkzeug unmöglich wäre. Pokémon kreisen kreischend um die Felsen und attackieren sich gegenseitig in der Luft. Was aber meinen Blick wirklich gefangen nimmt, ist das Lugia. "Ist das… oh verdammt. Ist er das wirklich?" Louis lehnt sich an dem Geländer vor und kneift die Augen zusammen. "Kannst du ihn erkennen?" Ich schüttele den Kopf. "Zu weit weg. Aber wenn Lugia hier ist, dann muss er auch hier sein." Er. Gold. Ich habe ihn das letzte Mal auf dem Indigo Plateau getroffen, wo er als X die Leitung der Sicherheit gegen Team Rocket übernommen hat. Was tut er hier? Sicher gehört dieser abgelegene Ort nicht zu seiner Routinestrecke, oder? Das Lugia schlägt mit gewaltigen Schwingen und steigt höher und höher, bis es im grauen Dezemberhimmel aus unserer Sicht verschwindet. "Louis", sage ich. "Wir müssen einen kleinen Umweg machen." Er schaut mich schräg von der Seite an. "Du siehst Gold von dort wegfliegen und denkst, es ist eine gute Idee, dorthin zu gehen? Langweilig, Abby, denk dran. Es wird dein Leben retten." "Wenn es gefährlich wäre, hätte Gold bestimmt die Polizei informiert." "Vielleicht tut er das gerade. Vielleicht ist es so gefährlich, dass er es sich nicht alleine zutraut." "Als wenn. Gold kann alles." Louis reibt sich die Schläfen. "Du musst wirklich aufhören, bekannte Trainer auf dieses gigantische Legendenpodest zu stellen." "Sie sind nicht umsonst so berühmt", entgegne ich sofort. "Außerdem habe ich Gold in Action gesehen. Er ist wirklich, wirklich stark." "Das war Zacharias auch, oder?" Ich drehe ruckartig den Kopf weg. Ganz ruhig, Abby, denke ich. Louis denkt, Zach ist ein Verräter. Er darf nichts erfahren. "Zach war keine Legende", sage ich leise. Louis macht Anstalten, etwas zu sagen, verstummt aber, als er meinen abwesenden Blick sieht. "Komm, wir müssen weiter. Vielleicht können wir auf der anderen Seite mehr sehen."  Natürlich können wir das nicht. Kaum auf der anderen Seite angekommen, versperrt uns eine Felswand die Sicht. Ich lehne mich soweit wie möglich über das Geländer, um auf den kleinen Vorsprung schauen zu können, von dem Lugia gestartet ist, aber die scharfkantigen Felsen sind im Weg und außer den Pokémon, die auf und ab schießen und aggressives Kreischen von sich geben, kann ich nichts erkennen. Ich will mich gerade abwenden, da höre ich ein klägliches Krächzen. "Hunter?" Ich lehne mich weiter über das Geländer nach unten. Da, auf einer kleinen Sandinsel nahe der Klippe, hockt er und krächzt verzweifelt. Sein linker Flügel hängt bewegungslos neben seinem Körper, der andere flattert vergeblich auf und ab. "Was ist?" Louis lehnt sich neben mir nach unten. "Er ist verletzt." Ich ziehe meinen Pokéball, um ihn zurück zu rufen, aber Hunter ist zu weit entfernt. "Verdammt!" "Ich kann versuchen, da runter zu klettern", beginnt er, aber ich unterbreche ihn sofort mit einem wütenden Blick. "Wenn du da runter fällst, brichst du dir den Hals", sage ich. "Ruf Harley. Sie kann mich ein Stück runter lassen, damit ich ihn in den Pokéball zurück rufen kann." "Und das ist weniger gefährlich?", fragt Louis, zieht aber seinen Pokéball. Im nächsten Moment materialisiert sich sein Ultrigaria neben uns auf dem Vorsprung und vollführt eine kleine Pirouette. Keine Minute später bin ich von Harleys Ranken umwickelt, die Louis doppelt und dreifach überprüft, bevor er mir über das Geländer hilft. "Wenn du das Gefühl hast, die Ranken lockern sich, schrei", sagt er und hält mich fest, während ich auf der kleinen Steinkante balanciere, die mich von dem Abgrund trennt. "Wenn du Hunter hast, zieh einmal kurz oder ruf uns zu. Und wenn-" "Ich werde nur ein paar Meter runter gelassen, Louis", sage ich und drehe den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er ist nur wenige Zentimeter entfernt. Wir räuspern uns und wenden den Blick ab. "Hals- und Beinbruch", sagt er. "Besser nicht." Ich lasse seine Hände los, hole ein Mal tief Luft und setze dann einen Fuß in die Luft. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Dass ich durch die Luft gehen kann, vielleicht. Jedenfalls setzt mein Herz einen Schlag aus, als mein Fuß tiefer und tiefer sinkt und ich schließlich ruckartig nach unten kippe. "Langsam!", zischt Louis, der allen Anschein nach Harley festhält, damit sie nicht mit runtergezogen wird. "Du hättest mich klettern lassen sollen…" "Ich bin leichter und kleiner als du, und du kannst Harley besser festhalten", rufe ich zu ihm hoch, während ich fast hundert Meter über dem Meeresspiegel in den Ranken hänge und vom Wind hin und her gerissen werde. "Tiefer!" Es gibt einen kurzen Ruck, dann sinke ich langsam aber sicher dem Meer und Hunter entgegen, der mir erleichtert zu krächzt. "Ich bin gleich da!", rufe ich und halte mit der einen Hand seinen Pokéball fest umklammert, während die andere zur Sicherheit die Ranken festhält. Eine gefühlte Ewigkeit später habe ich die Hälfte der Klippe erreicht und versuche erneut, Hunter zurückzurufen. Dieses Mal schießt er in einem roten Lichtstrahl in den Pokéball zurück und ich atme erleichtert aus. Ich ziehe einmal heftig an der Ranke und rufe Louis zu, dass Hunter in Sicherheit ist. Wenige Sekunden später beginnt eine rucklige Tour nach oben. Die Ibitak und Habitak, die schon die ganze Zeit durch die Luft fliegen, beobachten mich misstrauisch, als ich ohne Flügel langsam in die Höhe steige. Ich habe gerade genug Zeit, dankbar zu sein, dass ihre Aggressivität sich auf andere Pokémon ihrer Spezies beschränkt, da gibt eines der Habitak einen markerschütternden Schrei von sich und schießt auf mich zu, gefolgt von dem ganzen Schwarm. Ach Scheiße. Kapitel 65: Stalker (Tochter der Finsternis) -------------------------------------------- "Schneller!", schreie ich, bevor meine Hand zu Gotts Pokéball schnellt und den Knopf betätigt. Im nächsten Moment materialisiert er sich fauchend und Funken spuckend auf meiner Schulter. Das zusätzliche Gewicht verlangsamt unser Tempo, aber das muss ich in Kauf nehmen. "Flammenrad, dann Rauchwolke!" Gott holt tief Luft, dann schießen sich drehende Flammen aus seinem Maul und treffen das Habitak, das uns als erstes angegriffen hat, mitten ins Gesicht. Das Feuer hinterlässt einen brennenden Streifen auf meiner Wange, aber immerhin hält das Habitak lange genug inne, um Gott die Gelegenheit für eine Rauchwolke zu geben. Schaden hat die Attacke allerdings kaum angerichtet. Innerhalb eines Sekundenbruchteils sind Gott und ich von undurchdringlichem, schwarzem Rauch umhüllt und ich unterdrücke mein Husten, während die Ranken uns weiter in die Höhe ziehen. Dann prasseln die ersten Attacken auf uns nieder. Wenn ich Zweifel bezüglich des Levels der Vogelpokémon hatte, sind diese mit der ersten Bohrschnabelattacke beseitigt. Habitak mag die Flugattacke in den Enddreißiger-Leveln erlernen, aber das Ibitak, das im nächsten Moment neben mir in der Felswand einschlägt und mit seinem langen Schnabel ganze Steinbrocken aus der Klippe bohrt, muss mindestens Level 47 oder höher sein. So starke wilde Pokémon sollte es nirgends geben. Nur an den abgelegensten Orten, der Siegesstraße zum Beispiel. Hier heißt es wohl Fressen oder gefressen werden. Ich schwinge zur Seite, um einem weiteren blinden Angriff der Habitaks auszuweichen, während Gott faucht und knurrt und seine Krallen tief in meine Schulter gräbt, um den Halt nicht zu verlieren. Eins der Ibitak kommt uns gefährlich nahe, aber Gott stürzt sich mit gebleckten Zähnen auf das viel stärkere Pokémon und vergräbt seine Fänge tief im Hals des Ibitaks, gerade lange genug, dass seine Bohrschnabelattacke daneben geht. Gott löst seinen Biss, klettert auf den Rücken des Ibitaks und springt von seinem Körper zurück in meine Richtung, aber er hat die Entfernung falsch eingeschätzt und droht, vor mir in die Tiefe zu stürzen. Ich lasse mit einer Hand die Ranken los und packe ihn im Genick, das wegen seines Rückenfeuers fast unerträglich heiß ist. Mit einem verzweifelten Schmerzensschrei reiße ich ihn nach oben und lasse los, damit er sich an mir festhalten kann. Seine Pfoten krallen sich schmerzhaft in meine Haut, aber das sind die geringsten Probleme, die ich gerade habe. Meine rechte Handinnenseite schlägt Blasen. "ABBY!" Ich hebe den Kopf, aber der Rauch verdeckt meine Sicht. Gott hat sich wirklich alle Mühe gegeben, uns einen Vorteil zu verschaffen. "Du hast es fast geschafft! Noch ein paar Meter!" Gott speit eine weitere Welle rotierender Flammen in die Dunkelheit und dieses Mal spüre ich das leichte Brennen an meiner Wange kaum. Es fühlt sich an, als wären all meine Sinneswahrnehmungen auf meine Hand fokussiert. Ich beiße mir verzweifelt auf die Lippen. Plötzlich taucht ein Habitak aus den Rauchschwaden auf und trifft Gott frontal gegen die Brust. Er wird von meinem Rücken gerissen und ich reiße den Kopf herum, in der festen Überzeugung, ihn gegen die Felsen prallen und zu Boden stürzen zu sehen, aber hinter mir entdecke ich Louis und Harley, die mit roten Köpfen an den Ranken ziehen. Louis packt mich, zieht mich gewaltsam über die Reling und bleibt auf mir liegen, bis die Attacken der Habitak und Ibitak langsam verebben, jetzt, wo ich nicht mehr in ihrem Revier bin. Louis stützt sich auf und dreht den Kopf. Als er keine Angreifer mehr sieht, atmet er erleichtert aus und lässt sich von mir runter rollen. "Du hast mir eine Angst eingejagt…", stöhnt er und fährt sich durch die Haare. „Ich kann nicht fassen, wie viel Glück wir hatten. Wenn eine der Attacken die Ranken getroffen hätte…" Ich setze mich langsam auf und starre taub gerade aus, meine verbrannte Hand schonend auf meinen Oberschenkel gebettet. Etwas Warmes fließt meine Schulter und meinen Nacken hinunter und meine Wange brennt, wo Gott mich leicht versengt hat. "Das sieht nicht gut aus", sagt Louis und krabbelt an meine Seite. "Oh verdammt, deine Hand…" Polternde Schritte lenken meine Aufmerksamkeit auf die Brücke. Percy läuft über die schwankenden Holzplanken und steuert auf uns zu, seinen großen Rucksack schon halb ausgezogen. Er kommt schlitternd neben mir zum Stehen, sinkt auf die Knie und zieht einen Erste-Hilfe-Kasten aus dem Rucksack, gefolgt von einem Pokéball. "Hallo, Abbygail", sagt er und ruft sein Pokémon, ein kleines, sehr fürsorglich aussehendes Corasonn. Er greift nach meiner Hand. "Darf ich?" Ohne auf eine Antwort zu warten, winkt er sein Pokémon zu sich. "Heilung, Charly, dann Blubber, 20°C." Das Korallenpokémon krabbelt zu mir, fixiert mit seinen kalkigen Vorderbeinen meine Hand an den unversehrten Stellen und senkt seinen Kopf. Ein weißes Licht strahlt aus seinem Horn auf die Blasen werfende Haut und ich muss mich stark zusammenreißen, um meine Hand nicht wegzuziehen. Das Jucken, das sich unter meiner Haut ausbreitet, ist fast unerträglich. Als das Licht schließlich verblasst, gibt Charly ein zufriedenes Quietschen von sich und öffnet den kleinen Mund. Blubberblasen fallen auf meine gerötete Haut und zerplatzen dort, wodurch kleine, nicht zu kalte Wasserrinnsale über meine Finger und Handinnenfläche tropfen. Als sie fertig ist, sind die Blasen fast vollständig zurückgegangen, lediglich eine rote, brennende Stelle ist übrig. "Danke", sage ich, perplex. Percy errötet, dann nimmt er ein Verbandtuch aus dem Erste-Hilfe-Kasten und umwickelt damit zärtlich meine Hand. "Nicht, dass ich nicht dankbar wäre", meint Louis an Percy gewandt, "aber was zur Hölle tust du hier? Bist du uns gefolgt?" "Ich konnte meine Prinzessin nicht alleine lassen", sagt Percy und verneigt sich vor mir. "Du, die mich aus tiefster Depression gezogen und vor einem auf ewig gebrochenem Herz bewahrt hat. Dir gebührt mein Dank und meine ewige Liebe." Louis räuspert sich. "Also bist du ein Stalker." Percy ignoriert ihn. "Meine Liebe, geht es deiner Hand besser? Charlys Heilung kann die Verbrennung nur lindern, aber die Nachsorge solltest du nicht vernachlässigen. Wenn du möchtest, kann ich-" "Wir kommen gut alleine klar", sagt Louis kühl und hilft mir hoch. "Danke für die Heilung und leb wohl. Er will mich wegziehen, aber Corasonn zupft an meiner Hose und ich beuge mich zu ihr herunter. Sie quietscht und sprenkelt ein wenig Wasser auf meine verbrannte Wange. "Danke Charly." Ich richte mich auf und nicke Percy dankbar zu, der sich mit einer verbundenen Hand ans Herz fasst und die Worte Ich liebe dich mit den Lippen formt. Louis Griff um meine Hand wird stärker und schon bald sind wir im Eilschritt in Richtung Norden zur Route 48 unterwegs. "Was ist denn los mit dir?", frage ich wütend, nachdem wir außer Sichtweite von Percy sind und befreie meine Hand. Steinerner Boden weicht Gras und Bäumen und ich bleibe unter einem großen Schild mit der Aufschrift SAFARI-ZONE stehen. "Dieser Typ hat sie doch nicht mehr alle!", protestiert Louis. "Hast du gemerkt, dass er uns gefolgt ist? Ich nicht." "Jayjay hat ihn bemerkt, glaube ich", sage ich nach kurzem Nachdenken. "Wahrscheinlich waren das seine Schuhe, die ich gesehen habe." "Er muss uns beobachtet haben, sonst wäre er nicht so schnell mit der ersten Hilfe gewesen." Wütend reibt Louis sich die Nase. "Ich meine, ich bin froh, dass er da war, aber das ist verdammt gruselig, wenn du mich fragst. Und die Art, wie er über dich redet… Ugh." Ich tätschele Louis´ Kopf, woraufhin er mir einen bösen Blick zuwirft. Gemeinsam gehen wir weiter, dieses Mal in normalem Tempo. "Ich frage mich eher, was er mit seiner Hand gemacht hat", sage ich. "Oder warum er einen Erste-Hilfe-Kasten dabei hatte. Sowas schleppt man eher selten mit sich rum." "Frag mich nicht. Aber sein Corasonn kann Heilattacken. Vielleicht ist er ein Arzt oder sowas." "Ist er dafür nicht ein bisschen jung?" Louis zuckt die Achseln und schaut sich um. Als sein Blick hinter uns fällt, zischt er wütend. "Was wird das bitte? Er folgt uns schon wieder!" "Wir haben dasselbe Ziel, Louis", sage ich. "Wo soll er sonst lang?" "Er soll einfach nicht so hinter uns rumschleichen!" Ich drehe mich um. Charly läuft neben Percy her und er scheint sich mit ihr zu unterhalten. Als er meinen Blick spürt, zwinkert er mir zu. "ARGH!" Louis bleibt stehen. "Das reicht jetzt. Ich fordere diesen Lackaffen heraus und dann kann er schön zurück nach Anemonia City kriechen, um seine Pokémon zu heilen!" "Das Pokécenter an der Safari-Zone ist näher", widerspreche ich. "So wirst du ihn nicht los." Louis beißt sich auf die Lippen, dreht sich dann wortlos um und beschleunigt seine Schritte. Ich jogge neben ihm her. "Bist du eifersüchtig?", frage ich. Louis läuft rot an. "Bin ich nicht!" "Du bist sowas von eifersüchtig", erwidere ich grinsend. "Fein, okay ", sagt Louis wütend.  "Ich bin eifersüchtig. Zufrieden?" Bin ich zufrieden? Ich bin nicht sicher. "Schau mal, da ist die nächste Brücke!", sage ich stattdessen. "Und dahinter ist die Wiese, die im Flyer erwähnt wird." Die Artenvielfalt auf Route 48 rivalisiert laut Infoblättern sogar die der Safari-Zone. Pokémon im frühen Zwanzigerlevel sind hier zu finden und auch, wenn man manchmal eine Weile auf der Lauer liegen muss, lohnt sich das Warten. Verschiedenste Typen sind hier vertreten, unter anderem Pflanze, Gift, Psycho, Feuer, Flug, Normal, Boden, Käfer und Elektro. Wenn Louis ein neues Pokémon fangen wird, dann hier. So idyllisch die Wiese in dem Prospekt beschrieben wird, so enttäuschend ist sie in Realität. Außer einem einsamen Duflor, das wankend durch das Gras läuft und sich erschrocken davon macht, kaum dass wir uns nähern, ist die Wiese so gut wie ausgestorben. "Also entweder sind alle Pokémon schon gefangen worden, oder die haben uns verarscht", stellt Louis auf der Brücke fest. "Da habe ich ja in meinem Garten mehr Auswahl." "Vielleicht musst man hier geduldig sein", schlage ich vor. "Wir sollten zurückkommen, wenn wir Zeit haben." Louis nickt und stolpert fast über einen Digdahügel, aber das ist auch das einzige, was auf die ehemalige Anwesenheit von Pokémon hindeutet. Wir brauchen noch knapp zwanzig Minuten, bis das hohe Gras weicht und den Durchgang zu der letzten ausgeschilderten Brücke freigibt, die über den Fluss führt. Dahinter, von Nadelwald umrahmt, liegt der Eingangsbereich der Safari-Zone, betretbar durch einen gigantischen Holzbogen. Kaum dass wir das Gelände betreten, tönt uns Musik aus an Masten angebrachten Lautsprechern entgegen. Kleine Läden bevölkern den Rasen und ein ausgetretener Pfad führt zu einem Pokécenter und schließlich zum Durchgang zu den Arealen. Es ist nicht sonderlich viel los, außer den Verkäufern sind nur zwei weitere Trainer da. Louis und ich steuern sofort das Pokécenter an. Wir haben einige Verletzungen, die versorgt werden müssen. Hunters Flügel sah nicht gut aus. Als wir eintreten, schaut die zuständige Schwester Joy von ihren Unterlagen auf. Sofort bildet sich ein breites Lächeln auf ihren Gesichtszügen. "Dies ist das Pokécenter der Safari-Zone", verkündet sie fröhlich. "Wie kann ich euch helfen." Ich lege meine vier Pokébälle auf den Tresen. "Mein Ibitak hat sich glaube ich den Flügel gebrochen“, füge ich noch hinzu, bevor die Bälle in die Maschine gelegt werden. Eine der Anzeigen blinkt rot auf. "Das wird dann wohl dieser sein", sagt Joy und nimmt den Pokéball aus dem Gerat. "Wenn die Verletzungen nicht von der Maschine geheilt werden können, erhalten wir diese Warnmeldung", erklärt sie. "Ich werde mir den Flügel gleich anschauen." Sie gibt mir die anderen Pokébälle zurück, heilt Louis´ Pokémon und runzelt dann die Stirn, als sie meine Wange sieht. "Das schaue ich mir auch mal an", sagt sie und wirft einen Blick auf meine verbundene Hand. "Hattet ihr eine harte Anreise?" Ich schnaube. "Könnte man so sagen." Sie nickt langsam. "Ich schaue mir dein Pokémon an, dann sehen wir weiter." Mit diesen Worten verschwindet sie in einem Hinterraum. Louis und ich machen es uns an einem der Tische bequem und packen unsere mitgebrachten Sandwiches aus. Während wir vor uns hin mampfen, öffnet sich die Pokécentertür und Percy tritt ein, gefolgt von Corasonn. Er macht Anstalten, sich zu uns zu setzen, wird aber von Louis´ Blicken abgeschreckt und nimmt am Tisch nebenan Platz, sodass er mich im Blick hat und Louis immer wieder misstrauisch den Kopf drehen muss. "Hörst du langsam mal auf?", frage ich genervt, nachdem er zum fünften Mal über seine Schulter schaut. "Ich traue dem Kerl nicht", sagt Louis leise. "Und ich mag nicht, wie er dich anguckt." "Du machst dir zu viele-" Die Tür öffnet sich und ich drehe mich um. Schwester Joy winkt mich zu sich an den Tresen. "Der Flügel deines Ibitaks war gebrochen, wie du sagtest", erklärt sie. "Es hatte zudem diverse Verletzungen an Rumpf und Hals und großen Federverlust. Du musst dich besser um dein Pokémon kümmern. So wie er aussieht, sollte kein Pokémon nach einem geregelten Kampf aussehen." "Er ist frei geflogen", gebe ich zu. "Er hat sich wahrscheinlich mit den Ibitak und Habitak an dem letzten Plateau auf Route 47 angelegt." Schwester Joy schüttelt den Kopf. "Du kannst dein Pokémon beim Felsenherzturm nicht frei fliegen lassen! Die Pokémon dort attackieren alles, was sich in ihrem Luftraum bewegt. Sie sind die Aggressivsten ihrer Art, deswegen liegt ihr Level weit über dem, was ein normaler Trainer abwenden kann. Und sie sind immer in Gruppen unterwegs. Dort zu fliegen ist unverantwortlich." "Das wusste ich nicht", sage ich kleinlaut. "So wie du aussiehst, bist du auch nicht unbeschadet davon gekommen", sagt sie, ein wenig versöhnt. "Ich kann mir die Verbrennung in deinem Gesicht ansehen, wenn du möchtest. Und was hast du an deiner Hand gemacht?" Ich werde in das Hinterzimmer geführt, das wie ein kleines Krankenhauszimmer aussieht, nur mit größerem Bett, speziellen Gurtvorrichtungen und vielen anderen Pokémonzusätzen. Auf einem Stuhl sitzend und bis auf meine Unterwäsche ausgezogen, unterzieht Joy mich einer fachmännischen Inspektion, die mit zahlreichen Desinfektionen der Krallenspuren an meiner Schulter endet, sowie Brandsalben und Spezialverbänden an meiner Hand. "Du solltest den Verband für die nächsten 2-3 Tage tragen, danach kannst du ihn abnehmen. Die Verbrennungen sollten dann keine Probleme mehr bereiten", sagt sie schließlich. "Die Wunden an deiner Schulter sind versorgt, sollten sich aber Rötungen oder Eiter bilden, geh sofort zu einem Arzt oder in ein Pokécenter. Und dein Ibitak solltest du für mindestens eine Woche nicht in Kämpfen verwenden, sonst heilt der Knochen nicht richtig. Pokémon regenerieren sich schneller als Menschen, aber du darfst ihn nicht überanstrengen. Fliegen sollte er vorerst auch nicht, höchstens kurze Strecken. Verstanden?" "Verstanden." "Gut. Wollt ihr ein Zimmer?" Ich überschlage schnell das Geld, dass wir für den Eintritt bezahlen müssen, das Essen… "Ich denke, wir kommen erst Mal mit unseren Schlafsäcken klar", sage ich schließlich. "Wie ihr meint." Ich kehre mit Schwester Joy in den Empfangsraum zurück und gebe Louis eine kurze Zusammenfassung. "Also heißt es wieder draußen schlafen?", fragt er geknickt. "Ich habe noch etwa 2000 PD", sage ich. "Das reicht für die Safari-Zone und vielleicht ein paar Vorräte, aber Unterkunft…" "Schon okay." Louis grinst. "Hier sind genug Überdachungen und nach Schnee sieht es für´s erste auch nicht aus." Ich schaue auf mein Handy. 15:48 Uhr. "Heute wird es wohl nichts mehr mit Pokémon fangen, oder?", frage ich. Louis schüttelt den Kopf. "Wir müssen uns sowieso erstmal anmelden, der frühste Termin ist dann morgen. Und ich habe noch keine Ahnung, welche Areale ich besuchen will." "Wir sollten uns ein bisschen informieren", sage ich und stehe auf. Percy folgt meinem Beispiel, was Louis ein wütendes Grummeln entlockt. "Mit dir hat niemand geredet…", murmelt er, packt meine Hand und zieht mich an Percy vorbei hinaus. Wir betreten den Eingangsbereich der Safari-Zone keine fünf Minuten später. Dunkle Holzvertäfelungen geben den Räumlichkeiten ein sehr altes Flair, aber die Tresen am Ende des Raums und zu unserer Linken sind mit Metalloberflächen gearbeitet und wirken neu. Weiter hinten kann ich verschiedene Durchgänge erkennen, nummeriert von eins bis drei und weiter rechts führt eine Treppe in die oberen Stockwerke. Ein Schild weist daraufhin, dass der Zugang für Unbefugte verboten ist. Rechts von uns steht eine Sitzecke auf einem kleinen Podest und lädt zum Stöbern in diversen Arealkatalogen ein. Wir wenden uns nach links zu dem Klerk. Er trägt einen roten Anzug mit gleichfarbiger Mütze und ein Schild an der Brust, das ihn als Thomas Hartmann, Informant, ausschildert. "Kann ich Ihnen behilflich sein?", fragt er freundlich lächelnd. "Wir würden gerne eine Safari-Tour für morgen buchen", erklärt Louis. "Mit Ranger." "Wie Sie wünschen." Thomas tippt mit flinken Fingern etwas in seinem Computer ein. "Ihre Namen?" "Abbygail Hampton und Louis Kale." "Und der junge Mann hinter Ihnen?" Wir drehen uns gleichzeitig um. Percy steht etwa einen Meter hinter Louis und wirft mir ein entwaffnend wirkendes Lächeln zu. So langsam wird er mir auch unheimlich. "Der gehört nicht zu uns", presst Louis hervor. "Wir sind nur zu zweit." "Welche Areale möchten Sie besuchen?", fragt Thomas und schaut von dem Bildschirm auf. "Eh…" "Wir wollen uns noch die Kataloge ansehen", sage ich schnell. Der Informant nickt. "Sehr gut. Kommen Sie zu mir, wenn sie sich entschieden haben." Wir gehen an Percy vorbei, der nun seinerseits kehrt macht und sich zu uns in die Leseecke setzt. Louis greift nach einem der Kataloge und hält ihn sich demonstrativ vor das Gesicht. Ich schmunzele und greife nach meinem eigenen. Alle zwölf Areale sind aufgelistet, sowie die darin vorkommenden Pokémon, geordnet nach Tag- und Nachtaktivität und sogar der Häufigkeit ihrer Sichtungen. Typen, vermutete Level und Hinweise für zukünftige Trainer sind ebenfalls angegeben. Jedes von ihnen scheint auf eine spezielle Art und Weise angelockt werden zu können. Es vergeht gut eine Stunde, in der wir in den Katalogen blättern und über möglichen Arealkombinationen brüten. Schließlich jedoch stehen wir wieder vor Thomas, der die sechs Areale in den Computer eintippt. "Wann möchten Sie ihre morgige Expedition starten?", fragt er. "Nicht vor 9:00 Uhr", sagt Louis entschieden. Thomas scrollt ein wenig hinunter. "Holger Stratford ist ab 9:30 Uhr frei. Er hat seine Prüfung erst vor kurzem abgelegt, aber seien Sie versichert, dass Sie bei ihm gut aufgehoben sind. Bitte treffen Sie ihn vor Eingang 1." Wir nicken, verabschieden uns und verlassen das Safari-Haus. Als ich mich nochmal umdrehe, fällt mir etwas aus. "Es sieht aus wie eine Villa", stelle ich fest. Louis bleibt stehen und dreht sich zu dem Gebäude um. "Jetzt, wo du´s sagst…" "Sie haben es umgebaut." Percy, der uns wie ein Schatten gefolgt ist, stellt sich unauffällig neben mich und lehnt sich etwas in meine Richtung, sodass sein Mund nahe bei meinem Ohr ist. Ich lehne den Kopf ein wenig in die andere Richtung. Irgendwo hört es dann doch auf. "Die Safari-Zone wurde vor etwa neun Jahren hier erbaut", erklärt er. "Baoba, ein erfahrener Wärter der Safari-Zone aus Johto, führte diese in Fuchsania City weiter, nachdem der ehemalige Besitzer verstarb. Die Einrichtung lief so gut, dass er die Villa, die hier seit Jahren stand, umbaute und das Gelände dahinter in eine zweite Safari verwandelte." "Aha", stellt Louis fest. "Danke für diese nutzlose Info. Kannst du jetzt bitte gehen?" Percy lässt sich davon nicht beirren und ergreift meine gesunde Hand. "Bei Nacht ist das Anwesen noch romantischer. Begleitest du mich heute Abend zu einem Spaziergang?" Louis wirft mir einen bösen Blick zu, den ich verzweifelt erwidere. Dann erstarre ich. "Der Arenakampf!", schreie ich und renne an Percy und Louis vorbei zum Pokécenter zurück. Es ist der 1. Dezember, wie konnte ich das vergessen?! Louis holt erst zu mir auf, als ich schon bei Schwester Joy an der Theke stehe und mich nach einem Fernseher erkundige. „Wir haben einen in den Mediaräumen…", gibt sie zögernd zu. „Aber…" "Danke!" Ich stürme an ihr vorbei in einen der hinteren Räume, der klein mit Mediazentrum ausgeschildert ist. Der Fernseher entpuppt sich als uraltes Modell, das höchstens so groß ist wie eine Mikrowelle und so verstaubt, dass das schwarze Plastik grau erscheint. "Ich wollte dich warnen", sagt Schwester Joy, die mit einem hechelnden Louis im Schlepptau in der Tür steht. "Er war seit einiger Zeit nicht mehr in Gebrauch." "Solange er funktioniert, ist mir der Rest egal", sage ich und lasse mich im Schneidersitz davor nieder. Eine Fernbedienung ist nicht in Sicht, also schalte ich das Gerät manuell an und der Bildschirm erwacht flackernd zum Leben. Während Louis und, zu seinem großen Ärger, Percy neben mir Platz nehmen, zappe ich zu dem PCN-Kanal. Hoffentlich habe ich noch nicht zu viel verpasst. Zuerst glaube ich, der Fernseher ist kaputt, denn die Bilder haben einen starken Grünstich. Dann wird mir klar, dass Erik mit einer Nachtsichtkamera filmt.   "-eine herausragende Parade, die Arkani hier zeigt. Und da ist er, ihr gefürchteter Flammenblitz! Das sieht nicht gut aus für Sniebel, kann es sich nochmal aufrappeln? Nein, es bleibt liegen! Damit geht der Sieg an Richard Lark! Richard hat somit jeden der neun Vortrainer besiegt und einen Rekord für die wenigsten Pokécenterbesuche innerhalb der Vorkämpfe aufgestellt. Aber natürlich wird der Herausforderer seinen Pokémon eine Pause gönnen, bevor es heißt, Claire, die Tochter der Finsternis, herauszufordern! Wie sie sehen, sehen sie nichts, liebe Zuschauer, die Dunkelheit in dieser Arena ist vollkommen und während Richard seine Pokémon heilt, gebe ich ihnen noch einmal einen Überblick über das, was jeden zukünftigen Protrainer in Kanto erwartet! Claire ist die erste Unlichtarenaleiterin der Regionen und seit ihrem Postenantritt im August ist kein Trainer im ersten Versuch an ihr vorbei gekommen! Schon jetzt gilt sie als die härteste Arenaleiterin in ganz Kanto und ist bei Insidern so gefürchtet wie Jasmin und Sandra aus Johto. Die Anzahl von neun Vortrainern ist nirgends übertroffen und ihre sechs Pokémon sind ausnahmslos auf Level 45, dem derzeit von der Liga eingetragenen Limit für den achten Arenaleiter!"   "Level 45…" Louis schluckt schwer. "Das kann ja noch Jahre dauern." "Sei froh, dass du nur gegen Sandra kämpfen musst", sage ich spottend. "Oh, Percy." Er dreht sich freudig zu mir um. "Was ist, Geliebte?" "Ehm…ja. Du kommst von hier, oder? Kannst du Louis ein paar Tipps zu Hartwigs Kampftechnik geben?" "Ich will keine Tipps von diesem Stalker", murmelt Louis leise. "Keine Widerworte." Percy denkt nach. "Wie du ihn besiegen kannst, muss du selbst herausfinden, aber…" "Aber?" "Eigentlich ist es ein inselinternes Geheimnis." "Bitte, Percy?" Ich klimpere unbeholfen mit den Wimpern. "Ich sage es euch", sagt Percy nach kurzem Zögern. Dann nimmt er meine Hand. "Unter einer Bedingung." "Nein", sagt Louis automatisch. "Und welche?", frage ich. Er lächelt mich unschuldig an. "Ein Date mit dir, liebste Abbygail." Kapitel 66: Auf Safari (Gewissensbisse) --------------------------------------- "Bist du sauer?", frage ich leise, als wir später am Abend in unseren Schlafsäcken unter einigen Tannen liegen und in die Nadeln über uns starren. Louis ignoriert mich, wie schon seit gut einer Stunde. Dafür hat er während Richards Arenakampf lauthals geschimpft. Ich habe kaum etwas von dem Duell mitbekommen, abgesehen davon, dass Richard haarscharf gegen Claire gewonnen und seine Favoritenrolle damit bestätigt hat. "Louis, wenn du sauer bist, rede wenigstens mit mir." "Natürlich bin ich sauer!", fährt er mich an, ohne den Kopf in meine Richtung zu drehen. Es wäre ohnehin zu dunkel. Gott liegt zwar eingerollt neben uns, aber im Schlaf hat er keine Kontrolle über sein Feuer und die seichte Glut reicht gerade, um Louis Umrisse in der Nacht erkennen zu lassen. Sku, die als Nachtwache und gegen die Kälte in meinem Schlafsack liegt, brummt leise. Lass ihn. Als wenn. "Es ist nur ein Date, Louis", sage ich, genervt. "Und das nur, weil er dir dann ein Inselgeheimnis verrät." "Das ist ja das Problem!", zischt Louis und ich höre ein Rascheln, als er sich jetzt doch zu mir umdreht. "Ich will nicht der Grund dafür sein, dass du mit diesem schmierigen, kranken Freak ausgehst. Und was dieses Geheimnis angeht: Woher wissen wir, dass er uns nicht verarscht? Er könnte genauso gut lügen." "Und wenn schon", sage ich. "Das schlimmste, was passieren kann ist, dass ich einen Tag lang mit ihm verschwende. Das werde ich wohl noch verkraften." "Ich mag ihn trotzdem nicht." "Jetzt reg dich aber Mal ab", fauche ich und setze mich schwungvoll auf. Noch immer fest in meinen Schlafsack eingewickelt, ist der Effekt nicht ganz wie beabsichtigt, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. "Du hast in Teak City gesagt, wir sollen uns auf unsere Freundschaft konzentrieren, also hör auf, jeden Jungen anzufeinden, der mir zu nahe kommt! Es geht dich nichts an, ob ich mit Percy ein Date habe oder nicht. Außerdem weißt du, dass es nichts Ernstes ist, also-" "RUHE DA HINTEN!" Wir zucken zusammen und rutschen tiefer in unsere Schlafsäcke. "Sorry", sagt Louis schließlich leise. "Aber du musst zugeben, dass er ziemlich komisch ist." Ich seufze und schließe die Augen. "Das habe ich nie bestritten."   Am nächsten Morgen um 9:30 Uhr stehen Louis und ich mehr oder weniger ausgeruht vor dem Durchgang Eingang 1 und warten auf Holger, der seine braunen Boots zuschnürt. Er trägt eine genauso braune Hose und ein braunes Langarmhemd. Platinblondes Haar fällt ihm bis knapp über die Ohren und einige Pockennarben geben seinem Gesicht einen unebenen Ausdruck. Als er uns erreicht, kratzt er sich verlegen am Hinterkopf. "Tut mir leid, ich komme mit diesen ganzen Schnürsenkeln noch nicht klar." Er lacht. "Ich bin Holger, euer Ranger für heute.  Und ihr zwei seid dann Louis und Abby. Ich darf dich doch Abby nennen, oder?" "Ich bitte darum", sage ich grinsend. "Gut, gut." Er reibt sich die Hände und hängt ein teuflisches Lachen an. „Zusammen mit Team Rocket werde ich die Weltherrschaft an mich reißen, also nehmt euch in Acht!“ Louis gluckst und ich pruste los. Ich glaube, wir werden eine Menge Spaß mit diesem Ranger haben. Als unsere IDs eingescannt und die Safari-Packs, kleine Beutel gefüllt mit 30 Safaribällen und einer Anzahl Köder, ausgeteilt sind, verlassen wir das Gebäude durch die Hintertür und finden uns auf einem breiten Pfad wieder, der zu beiden Seiten von zwanzig Meter hohen Maschendrahtzäunen abgegrenzt ist. Die Maschen bäumen sich ein Stück nach innen über die Areale, die sich entlang des gesamten Weges weiter Richtung Norden erstrecken. Das Plätschern von fließendem Wasser, das Zirpen, Zwitschern und Grunzen zahlreicher wilder Pokémon und viele weitere Geräusche dingen an meine Ohren. „Ist das euer erster Besuch in einer Safari?“, fragt Holger, während er sich an einen braunen Jeep lehnt, mit dem wir wohl zu den jeweiligen Arealen fahren werden. Wir nicken. „In Ordnung. Es gibt ein paar Regeln, die ihr beachten müsst, also passt bitte gut auf, denn wenn ihr mehr als zwei Verstöße unter dem Gürtel habt, muss ich euren Ausflug vorzeitig beenden. Erstens: Gegen die Pokémon zu kämpfen ist untersagt. Wenn ihr euch unsicher fühlt, dürft ihr eins eurer Pokémon rauslassen, aber ein Angriff auf ein Safari-Pokémon ist verboten. Wenn ihr sie fangen wollt, verwendet die Köder oder werft ein wenig Erde oder Matsch, um sie abzulenken. Zweitens: Ihr dürft euch nicht zu weit von mir entfernen. Bleibt in Sichtweite und wechselt auf gar keinen Fall ohne mein Wissen ein Areal. Die Pokémon hier können gefährlich sein, wenn man nicht weiß, wie man mit ihnen umzugehen hat. Wenn ihr eins der Areale nochmal besuchen wollt, sagt mir einfach Bescheid, wir haben schließlich den ganzen Tag Zeit.“ Er lächelt uns an. „Noch Fragen?“ Louis grinst. „Legen wir los!“ Das erste Areal, das Louis und ich gestern ausgesucht haben, nennt sich Wüste, und wie der Name schon sagt, ist der Geländeabschnitt sehr sandig. Kakteen und Felsbrocken brechen hier und da die Monotonie, aber selbst so erstreckt sich das eintönige Areal über mindestens vier Quadratkilometer. Es dauert nicht lange, bevor wir, dank Holgers Hinweisen, auf die ersten Pokémon treffen. Louis fackelt nicht lange und fängt ein Sandan und ein kleines Pandir, das ihm vor die Füße purzelt. Das Tragosso, das hinter einem Felsen hervorlugt, scheint geneigt, ebenfalls auf einen Köder hereinzufallen, den er ausgeworfen hat, aber ein Knogga taucht wie aus dem Nichts aus und gemeinsam nehmen die beiden Reißaus. „Verdammt, ein Knogga wäre echt cool gewesen“, meint Louis geknickt. „Ein Sandan ist auch nicht schlecht“, gebe ich zu Bedenken. Holger gibt dazu keinen Kommentar, er ist schon dabei, den nächsten Spuren zu folgen, die geradewegs auf zwei Tuska zuführen. Als nächstes steht die Savanne auf dem Programm, deren Eingang gleich neben dem der Wüste steht. Wobei gleich daneben irreführend klingt. Die Türen sind trotzdem fast zwei Kilometer voneinander entfernt, aber die legen wir im Jeep in Rekordtempo zurück. Während Louis die Safaribälle mit den neu erworbenen Pokémon bewundert, unterhalte ich mich mit Holger, der sich als immer sympathischer herausstellt. „Wie lange dauert so eine Rangerausbildung eigentlich?“, frage ich gerade, als wir über den holprigen Weg fahren und in unseren Sitzen auf und ab geschleudert werden. „Die Grundausbildung ist die gleiche, die Trainer für Level B absolvieren müssen“, erklärt Holger und lenkt das Fahrzeug gekonnt an einigen Schlaglöchern vorbei. „Vier Wochen Blockveranstaltungen Theorie und nochmal vier Wochen Blockveranstaltung Praxis. Danach ist man befugt, alleine in die Safari zu gehen. Um selbst Betreuer mehrerer A-Level Trainer zu werden, muss man Level C bestehen. Das sind zwei Jahre Ausbildung, verbunden mit Pädagogik-Seminaren, Erste-Hilfe-Scheinen und so weiter.“ „Klingt nach Arbeit“, sage ich. „Ach was“, sagt Holger lachend. „Wir haben schließlich eine hohe Verantwortung. Und die Safari ist nicht immer so kuschlig wie gerade.“ „Kuschlig?“, fragt Louis skeptisch und wedelt mit seiner Hand, in der bis vor kurzem einige Tuskastacheln gesteckt haben. „So kuschlig kam mir die Nadelrakete nicht vor.“ Holger schmunzelt nur. „Warte es ab.“ Er soll Recht behalten. Die Savanne beherbergt weit mehr Gräser und knorrige Bäume als die Wüste, aber das bedeutet auch, dass wir für die wilden Pokémon leichter sichtbar sind. „Vorsicht“, flüstert Holger und deutet auf einen großen Felsen, etwa zwanzig Meter von uns entfernt. „Noch schläft es, aber wenn es uns sieht, kann es gefährlich werden. Egal was ihr tut, rennt auf keinen Fall weg.“ Louis schaut ihn lange an. „Das ist ein Stein.“ „Naja, auch, aber nicht vorrangig“, sagt Holger. „Es ist ein Stein“, widerholt Louis. „Warum sollte ich vor einem Stein weglaufen?“ „Weil es ein-“ „Louis“, unterbreche ich. „Es bewegt sich.“ „Oh je.“ Holger schüttelt den Kopf. „Du hast es aufgeweckt.“ „Was habe ich aufgeweckt?“, fragt Louis, jetzt halb panisch. Gebannt starren wir auf den Steinhaufen, der sich langsam aufrappelt, schnaubt, mit den kurzen Beinen aufstampft und sich dann prustend in unsere Richtung wendet. „Ein Rihorn“, murmele ich bewundernd. „Sind die sehr selten?“ „Was heißt selten“, sagt Holger und macht einen vorsichtigen Schritt nach vorne, eine Hand vor sich erhoben. „Sie sind sehr schwer zu zähmen, das ist alles.“ „Ich will so eins“, sagt Louis und greift in seine Tasche nach einem Safariball. Holger greift sein Handgelenk. „Ich will dich nicht bevormunden, aber das ist eine Nummer zu groß für dich.“ Louis schaut ihn fragend an. Er seufzt. „Ich kenne nur wenige Trainer, die ein Rihorn besitzen und es kontrollieren können“, sagt er. „Und das sind große Trainer wie Giovanni, Rocko und Blue und eine D-Rangerin in Fuchsania City.“ „D-Ranger?“, frage ich. „Was muss man denn dafür können?“ „Das sollten wir vielleicht an einem anderen Ort besprechen“, sagt Holger und zieht Louis sanft aber bestimmt zurück. „Alles was ich sagen will, ist: Fang dir kein Rihorn.“ Besagtes Rihorn schnaubt unruhig, aber Holgers ruhige Stimme scheint bisher kein Anlass zu sein, anzugreifen. Louis hingegen ist noch nicht mit Diskutieren fertig. „Dasselbe sagt man auch über Garados“, verteidigt er sich. „Und ich habe eins.“ „Das ist schön und gut, aber ich wette, du hast es von Karpadorform an aufgezogen“, sagt Holger. „Kein Anfänger bändigt so leicht ein wild entwickeltes Garados, das kann ich dir versprechen.“ Louis lässt sich endlich zurück drängen, wirft dem Rihorn aber einen sehnsüchtigen Blick zu. Das scheint es jedoch als Aufforderung zu sehen, denn plötzlich stampft es auf den Boden auf und galoppiert in unsere Richtung. Holger hat in Sekundenschnelle einen Safariball gezückt, aus dem ein gefährlich aussehendes Nidoking schießt und sich beschützend vor uns aufbaut. Sein lautes Gebrüll lässt das Rihorn langsamer werden, bis die beiden Pokémon nur weniger Meter voneinander entfernt stehen. Ich halte den Atem an. Rihorn gibt ein markerschütterndes Grollen von sich, das wie eine Steinlawine klingt und den Boden beben lässt, woraufhin das Nidoking mit einem gewaltigen Brüllen antwortet. Keins der beiden macht Anstalten, sich zu ergeben und so verharren sie stur in angespannter Haltung. Vorsichtig hebt Holger einen Steinbrocken vom Boden auf, der groß genug ist, um seine gesamte Handfläche auszufüllen, dann nimmt er Augenkontakt zu dem Rihorn auf, gibt ein merkwürdiges, tiefes Brummen von sich und schleudert den Stein gezielt gegen den Steinpanzer des Pokémon. Es reißt den Kopf herum und stampft schnaubend auf den Boden. Ich verliere fast das Gleichgewicht, so heftig sind die Ausläufer der Attacke. Holger macht einen Schritt nach vorne, den Kopf vorgestreckt, die Arme ausgebreitet und wiederholt das tiefe Grollen. Rihorn macht einen Schritt zurück. Nidoking fällt mit einem lauten Brüllen in Holgers Geräusche ein und das Rihorn macht auf der Stelle kehrt und trabt schwerfällig davon. Erleichtert wischt Holger sich über die Stirn. „Puh, das hätte schief gehen können. Das war das erste Mal, dass ich die Strategie anwenden musste.“ Als er unsere entgeisterten Gesichter sieht, kratzt er sich verlegen am Kopf. „Ich bin erst seit vier Wochen C-Ranger, da kommt man nicht dazu, all das gesammelte Wissen anzuwenden. Aber ich hatte die Situation natürlich voll und ganz unter Kontrolle.“ Louis und ich schauen ihn einen Moment lang an, dann grinsen wir breit und sagen, wie aus einem Mund: „Natürlich.“ Da die Möglichkeit eines Rihorns ausgeschlossen wurde, fällt Louis die Suche nach einem geeigneten Pokémon zusehends schwerer. Mit dem Sandan, das er bisher gefangen hat, ist er nicht vollends zufrieden und viele Bodenpokémon gibt es nicht. Zumindest keine leicht fangbaren. „Um Nidorina oder Nidorino zu entwickeln, bräuchte ich einen Mondstein“, sagt er geknickt und betrachtet eine kleine Rihornherde von weitem. Holger hat auf einen großen Abstand Wert gelegt. Schließlich fängt er sich ein Zigzachs, das ihm zwischen den Beiden herläuft, aber glücklich wirkt er damit nicht. Also machen wir uns auf zum dritten Areal des Tages. Das Felsenufer stellt sich als karge Steinklippen heraus, die von mehreren Flüssen durchströmt werden. An den steinigen Ufern tummeln sich zahllose Krabby und Flegmon und Quapsel plantschen im Wasser oder lassen sich trudelnd von der Strömung treiben. Sogar ein Dodri entdecken wir aus der Ferne, das über das Gelände sprintet und eine gigantische Staubwolke hinter sich herzieht. Die Stollunior, auf die Louis wegen ihrer starken dritten Entwicklungsstufe gehofft hat, lassen sich aber nicht blicken und schließlich müssen wir unverrichteter Dinge gehen. Zumindest ein Knospi lässt Louis mitgehen und obwohl es nicht besonders stark aussieht, schließt Louis den kleinen Kerl vom ersten Moment an ins Herz. „Vielleicht schenke ich ihn meiner Mama“, sagt er, als wir uns auf den Weg Richtung Grasland machen, wo Holger uns einen schönen Platz zum Picknicken verspricht. „Sie mag solche Pokémon.“ Wie der Name schon sagt, besteht unser viertes Ziel zum Großteil aus Wildwiesen und hoch gewachsenem Gras, in dem sich eine Vielzahl von Pokémon tummelt. Damhirplex, Girafarig und Ponita galoppieren über die gelbgrünen Felder, Abra teleportieren sich von einem Ort zum nächsten oder schnarchen leise an Steine gelehnt und Rattfratz jagen Zigzachs und Voltenso hinterher. Ziemlich zentral im Areal gelegen entdecken wir, inmitten von vereinzelten, gewundenen Weiden, einen flachen Stein, auf den Holger zusteuert. Aber er ist bereits besetzt. „Rose!“, ruft Holger und winkt dem Mädchen zu, das im Schneidersitz auf dem Stein sitzt, Rücken an Rücken mit einem Farbeagle, und in einem Collegeblock schreibt. Als sie seine Stimme hört, schaut sie auf. Ich werde nicht mehr. Das Mädchen aus dem Café. Man sieht sich eben immer zweimal im Leben. „Wie weit bist du mit deiner Geschichte?“, fragt Holger und bleibt vor dem Stein stehen. „Ich bin gestern mit dem zwölften Kapitel fertig geworden“, verkündet das Mädchen namens Rose mit einem Hauch Stolz. „Dürfen wir uns zu dir setzen?“ Sie rückt ein wenig zur Seite, was ihrem Pokémon ein unglückliches Murmeln entlockt. „Rose ist die Tochter der Safaribesitzer, müsst ihr wissen“, erklärt Holger, nachdem wir alle auf dem Stein sitzen und unsere Lunchpakete ausgepackt haben. „Aber sie schreibt lieber Geschichten von Menschen, die in Pokémon verwandelt werden.“ „So ähnlich“, sagt Rose und gibt uns nacheinander die Hand. „Ich bin Rose Clark und meinen Eltern gehört die Safari-Zone nicht, auch wenn Holger das sagt. Sie leiten sie nur als Stellvertreter. Die Vollmacht gehört immer noch Baoba aus Fuchsania.“ „Was auf dasselbe hinaus läuft“, sagt Holger fröhlich und reicht Rose eins seiner Sandwiches. Sie nimmt es lächelnd an. „Rose hat mir während meiner Ausbildung Nachhilfe gegeben“, erklärt Holger und zwinkert ihr grinsend zu. „Sie kennt die Prüfungsfragen inzwischen in und auswendig.“ „Ja, leider.“ „Warum daff?“, fragt Louis gekonnt und ich muss ein Lachen unterdrücken. „Ich bin inzwischen drei Mal durchgefallen“, sagt Rose ohne die geringste Scham. „Absichtlich“, fügt Holger hinzu. „Warum willst du absichtlich durchfallen?“, frage ich überrascht. „Meine Eltern wollen, dass ich die Leitung der Safari übernehme, wenn sie in Rente gehen, aber mir liegt der Job nicht. Ich möchte lieber schreiben. Also weigere ich mich, die C-Prüfung zu bestehen. Wenn ich kein offizieller Ranger werde, kann ich auch nicht ihre Nachfolge antreten, und ich erspare mir das ganze Lernen.“ „Kinder sollten ihren eigenen Weg gehen können“, stimmt Holger zu. „Es gibt so viele verschiedene Arten, die Welt wahrzunehmen und erleben zu wollen. Wir müssen auf unsere eigenen Instinkte vertrauen.“ Rose nickt ihm dankbar zu. „Ich bin froh, dass er mich unterstützt“, sagt sie. „Die meisten anderen Ranger schlagen sich auf die Seite meiner Eltern.“ „Was ist aus deiner Reiseerlaubnis geworden?“, fragt Holger und beißt in einen Apfel. „Oh, sie haben zugesagt“, sagt Rose. „Ich war wirklich lange nicht mehr bei Liz, das können sie nicht bestreiten. Vielleicht hoffen sie, dass ihr Elan mich umstimmen wird.“ „Wer ist Liz?“, frage ich. Rose wendet sich zu mir. Ihre braunen Raster reichen gerade bis unter ihr Kinn. „Elizabeth ist meine beste Freundin“, erklärt sie. „Sie ist Baobas Enkelin und Ranger in Fuchsania City. Früher haben wir alles zusammen gemacht, aber dann mussten meine Eltern die Safari-Zone hier übernehmen. Ich habe sie fast drei Jahre nicht gesehen. Und nur Telefonieren reicht auf Dauer auch nicht.“ „Liz ist die D-Rangerin, von der ich euch eben erzählt habe“, fügt Holger hinzu. „Ich kenne sie nicht persönlich, aber sie soll sehr gut sein.“ Rose lacht. „Sehr gut ist untertrieben. Sie wurde für den Job geboren. Sie könnte wahrscheinlich die Siegesstraße durchqueren, ohne auch nur einen Kampf führen zu müssen.“ Ich beiße nachdenklich in mein Sandwich. „Was muss man denn für den D-Level machen?“ „Ach, das ist eine Kombination aus mehreren Parametern“, sagt Rose und zählt die Punkte an ihren Fingern ab. „Man muss eine gewisse Stundenanzahl ohne Unterbrechung in jedem Areal der Safari verbracht haben, mindestens drei Jahre ein C-Ranger gewesen sein und eine zusätzliche Prüfung ablegen, die Fortpflanzung, Zucht, Geburtshilfe und Krankheiten beinhaltet. Jeder Leiter einer Safari sollte D-Level sein, aber Liz ist so weit ich weiß die erste, die das vor ihrem zwanzigsten Geburtstag geschafft hat.“ Louis pfeift anerkennend. „Wann willst du sie denn besuchen?“, frage ich neugierig. „Gleich im Januar.“ Ich stutze. „Nimmst du die M.S. Aqua? Jetzt im Dezember?“ „Ja, genau!“ Sie lacht. „Du auch?“ „Ich habe mir vor kurzem das Ticket gekauft.“ „Dann werden wir wohl gemeinsam reisen“, sagt sie und wirft mir ein strahlendes Lächeln zu. „Ich warne dich vor, ich werde die meiste Zeit mit Schreiben verbringen.“   Nachdem wir mit unserem Picknick fertig sind, tauschen Rose und ich unsere Handynummern aus und trennen uns dann. Rose bleibt auf dem Stein sitzen, um mit ihrem Farbeagle die Wintersonne zu genießen und zu schreiben und ich mache mich mit Louis und Holger auf den Weg durch das Areal. Louis beobachtet nachdenklich die Pokémon, die sich im Gras tummeln und wendet sich schließlich an Holger. „Welches von denen kann ich reiten?“ „Ponita sind sehr klein, aber gute Reittiere, sobald sie sich entwickelt haben“, sagt Holger und denkt kurz nach. „Damhirplex sind stabiler gebaut, aber sie haben einen sehr ruckligen Gang. Den kann ich nicht unbedingt auf lange Sicht empfehlen, vor allem nicht bei Jungs.“ Er grinst. „Und was Girafarig angeht… Ich habe es noch nie gesehen, um ehrlich zu sein, aber theoretisch ist es möglich.“ „Dann will ich so eins“, verkündet Louis. „Ponita sind zu mädchenhaft und ich kann einen Psychotyp gut gebrauchen, wenn ich gegen Hartwig bestehen will.“ Ich verkneife mir den Kommentar, dass Zach, der Frauenschwarm schlechthin, auf einem Gallopa reitet, aber er hat ja Recht. Ein Psychotyp wird sicherlich hilfreich sein. „Dann ein paar Worte der Warnung“, sagt Holger und deutet auf eine kleine Girafarigherde, die nahe eines Sees grast. „Siehst du ihren schwarzen Schweif? Der hat nicht nur ein Gebiss, sondern auch ein Gehirn. Ob es unabhängig von dem Haupthirn ist oder verbunden, ist noch nicht geklärt worden, aber sich anzuschleichen ist unmöglich.“ „Dann wollen wir mal“, sagt Louis und zückt einen Safariball. „Nimm dir das Größte“, rufe ich ihm hinterher, aber er ist schon auf halbem Wege zu der Pokémon Gruppe und winkt nur zustimmend mit der Hand. Holger und ich folgen mit etwas Abstand, um die Girafarig nicht zu verschrecken. Insgesamt sind es fünf, ein Fohlen, drei normal große Weibchen und ein stämmiger Bulle, den Holger sogar wieder erkennt. „Das ist der Anführer der gesamten Girafarigpopulation hier, und wahrscheinlich der Vater von allen Fohlen, die dieses Jahr dazugekommen sind. Ein richtiger Macho.“ „Sieht so aus, als hätte Louis es auf ihn abgesehen“, sage ich und deute in die Richtung. Der Bulle grast am weitesten vom Wasser entfernt, zwei der Weibchen stehen nur einige Meter von ihm entfernt und heben hin und wieder die Köpfe, um die Umgebung auszukundschaften. „Sie bewachen das Junge und seine Mutter“, erklärt Holger. „Solange Louis sich nicht an ihr vergreift, sollte es keine Probleme mit der Herde geben.“ „Der Bulle sieht aber nicht besonders freundlich aus“, gebe ich zu Bedenken. Holger schmunzelt. „Ist er auch nicht. Aber vielleicht braucht dien Freund mal ein kleines Schockerlebnis, damit er lernt, sich nicht immer an den Größten und Stärksten zu vergreifen.“ Ich schaue besorgt zu Louis. Holger mag Recht haben, aber er hätte Louis wenigstens warnen können. Seit er ein besserer Trainer geworden ist, schwankt er zwischen geringem Selbstvertrauen und maßloser Selbstüberschätzung. Und die berechnende Art, mit der Holger argumentiert, geht mir ein wenig gegen den Strich. „Ich gehe etwas näher ran“, sage ich und laufe Louis hinterher. Der hat sich bereits im hohen Gras angeschlichen und wirft mir ein breites Grinsen zu, als ich mich neben ihn hocke. „Pass auf den Bullen auf“, warne ich ihn. „Der scheint ein ziemliches Temperament zu haben.“ „Perfekt“, sagt Louis und ich schlage mir innerlich gegen den Kopf. Seine Unsicherheit war mir in solchen Momenten lieber. „Was ist der Plan?“, frage ich leise. „Ich werde einen Köder auswerfen und versuchen, ihn von der Herde zu trennen, dann fange ich ihn. Ganz leicht.“ „Mal sehen.“ Louis wartet, bis die beiden Weibchen ihre Köpfe wieder gesenkt haben, dann wirft er einen kleinen Köder etwas abseits von der Herde. Der Schwanz des Bullen zuckt, als der kleine schwarze Kopf den Köder sieht und im nächsten Moment dreht der vordere Kopf sich in unsere Richtung. Das Girafarig gibt ein lang gezogenes Schnauben von sich und macht dann ein paar Schritte rückwärts. „Was wird das denn?“, fragt Louis. Der schwarze Kopf senkt sich ins Gras und im nächsten Moment springt er wieder in die Höhe, Köder zwischen den Zähnen. „Das hat nicht so gut funktioniert“, sage ich. „Er nicht so weit weg gegangen, wie ich gehofft hatte, aber funktioniert hat es.“ Louis wirft einen weiteren Köder aus und gemeinsam warten wir darauf, dass das Girafarig sich weiter von der Herde entfernt. In dem Moment schießt ein Rattikarl aus dem hohen Gras, gefolgt von einem Sheinux, und prescht in Richtung der Herde. Panik breitet sich in Sekundenbruchteilen unter den Pokémon aus und der Bulle springt zurück zu seinen Artgenossen, die geschlossen davon galoppieren. „Nein!“, schreit Louis, springt auf und wirft den Safariball, den er die ganze Zeit in seiner anderen Hand gehalten hat, auf den Bullen. Eins der Weibchen, das zuvor die Rolle des Wächters übernommen hat, wirft sich blökend dazwischen, um den Ball mit ihrem Schwanz abzuwehren, aber der rote Lichtstrahl zieht sie hinein. Die Herde rast davon, während der Ball ins Gras fällt und vibriert, als das Pokémon versucht, sich zu befreien. „Verdammt“, zischt Louis. „Ich wollte das Große.“ Im nächsten Moment explodiert der Ball und das Girafarig materialisiert sich wieder vor uns. Der Bulle, der sich immer wieder umgeschaut hat, macht auf der Stelle kehrt und sprintet in unsere Richtung, wovon Louis sich nicht beeindrucken lässt. Er hält bereits den nächsten Ball bereit und wartet auf das große Pokémon. „Louis“, sage ich und packe sein Handgelenk. „Lass uns abhauen.“ Das Weibchen baut sich bedrohlich vor uns auf, sein Schweif wippt von einer Seite zur anderen. Sein Anführer ist noch ein gutes Stück entfernt. „Nein.“ Ich schaue panisch zwischen ihm und dem Bullen hin und her. „Sofort, Louis!“ „Nicht, bevor ich ein Girafarig habe.“ „Dann fang das andere, verdammt nochmal!“, schreie ich. Auch Holgers Stimme erklingt jetzt, als er uns zuruft, wegzulaufen. Louis wirft einen letzten, schmerzlichen Blick zu dem großen Girafarig, dann wirft er den Safariball auf das Weibchen, das nicht rechtzeitig ausweichen kann und rennt fast augenblicklich in seine Richtung, um den Ball aufzusammeln. Den wackelnden und vibrierenden Ball in den Händen, sprintet er zu mir zurück und gemeinsam laufen wir davon und zu Holger, der uns in Sicherheit winkt. Sein Nidoking steht zum Schutz bereit und baut sich bedrohlich vor uns auf. Der Bulle wird langsamer, dann gibt er ein wehmütiges Wiehern von sich, bleibt stehen und wendet sich schließlich ab. Ich beobachte mit klopfendem Herzen, wie er zu seiner Herde zurück trabt, die sich von dem Schreck erholt hat und langsam wieder beginnt, zu grasen. Louis atmet erleichtert aus und schaut auf den Safariball in seinen Händen, in dem das Girafarig nun gefangen wurde. Er bewegt sich nicht mehr. „Glückwunsch“, sagt Holger fröhlich und ruft sein Nidoking zurück. „Wollen wir weiter?“   Unser nächster und damit vorletzter Stopp ist das Areal Felsplateau, eine raue Gebirgslandschaft mit schroffen Felsen und tiefen Klüften. Einzelne, verdorrte Bäume mit knorrigen Wurzeln klammern sich an die steinigen Kanten der Schluchten und ragen mit ihren Ästen weit darüber. Während wir über den Geröllboden balancieren, fällt mir auf, dass die Steine unter unseren Füßen sich manchmal bewegen. Als ich Holger darauf aufmerksam mache, lacht er nur. „Das sind Kleinstein. Georok wirst du hier auch finden, aber nicht so viele. Ein Stollrak sehe ich nicht Louis, tut mir leid für dich.“ „Schon in Ordnung.“ Louis stolpert hinter uns her und sieht nachdenklich aus. Ich lasse Holger einen Weg für uns bahnen und falle ein wenig zurück. „Was ist los?“, frage ich. Louis schaut auf den Boden, die Hände in seine Hosentaschen gestopft. „Ich habe das Gefühl, ich hätte das Girafarig nicht fangen sollen.“ Ich verziehe mitfühlend das Gesicht. „Es hat sich so gewehrt…“ Er hebt den Kopf und schaut ausdruckslos nach vorne. „Und fast hätte ich ihren Anführer gefangen. Es muss mich für seinen Feind halten.“ „Pokémon freunden sich meistens schnell mit ihren Trainern an“, sage ich. „Warum gibst du ihm nicht ein paar Tage, sich an dich zu gewöhnen und wenn es dann immer noch unglücklich ist, kannst du es freilassen. So hat Raphael es mit Murphy gemacht.“ Das scheint Louis aufzumuntern. Er nickt und schon bald folgen wir Holger über den steinigen Untergrund weiter in die Tiefen des Areals. Das erste Pokémon, dem wir begegnen, ist ein Muntier, das kopfüber an einem der Äste über der Schlucht hängt und vor und zurück schwingt, während zwei Magnetilo um seinen Kopf schwirren und sirrende Geräusche von sich geben. Ich deute in ihre Richtung, aber Louis schüttelt den Kopf und wir gehen weiter. „Soll es hier nicht auch Lahmus und Seemops geben?“, frage ich nach einer Weile neugierig. Holger lacht. „Die gibt es, wenn du die Schlucht runterkletterst. Aber dafür hätten wir die richtige Ausrüstung mitnehmen müssen und ihr wärt mit einem S-Ranger sicher besser bedient.“ „Was ist denn nun ein S-Ranger?“, fragt Louis, der zu uns aufgeschlossen hat und tritt prompt auf ein Kleinstein, das zu seinen Füßen liegt. Es gibt ein grummelndes Murren von sich und reckt ihm empört eine kleine, steinerne Faust entgegen. „S-Ranger sind C oder D Level, aber auf ein Gebiet spezialisiert“, erklärt Holger. „Sie gehen mit dir auf Kletterpartien oder Tauchgänge.“ „Hm.“ Louis stupst das Kleinstein mit seinem Fuß an. Es schlägt nach seinen Zehen und Louis gibt einen kurzen Schmerzlaut von sich. „Du solltest den kleinen Kerl nicht provozieren“, sagt Holger vergnügt und betrachtet das steinerne Pokémon. „Die Kleinstein, die hier aufwachsen, sind von Natur aus stärker als ihre Verwandten. Das liegt an den hochwertigen Mineralen, die sie hier fressen können. Wenn du jemals vorhast, dir ein Kleinstein zu fangen, tu es hier.“ „Hab ich nicht“, versichert Louis und schiebt das Kleinstein aus seinem Weg. Gemeinsam gehen wir weiter. „Wenn du es nicht fangen willst, solltest du aufhören, mit ihm zu interagieren“, sagt Holger, als wir bereits ein Stück weiter gegangen sind und bemerken, dass das Kleinstein uns mit etwas Abstand folgt. „Sein Interesse an dir ist schon geweckt.“ „Meins nicht“, verkündet Louis. Umdrehen tut er sich trotzdem.   Mit dem voranschreitenden Nachmittag werden unsere Schatten länger und meine Füße brennen, aber Louis findet kein Pokémon, das ihm zusagt. Er fängt ein Paras und schließlich doch ein Magnetilo, aber mehr aus Langeweile. Das Stolloss, auf das er spekuliert hat, wird er sich wohl abschminken müssen. Und ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass Louis mit seinem Garados genug potenziell gefährliche Pokémon mit sich rumträgt. Zuletzt erreichen wir nach einer zehn minütigen Jeepfahrt das Tor zum Waldesufer, dem letzten Areal für heute. Ich bin erleichtert, als Holgers Handy klingelt und er uns das Zeichen gibt, zu warten, bevor wir gemeinsam das Gelände betreten. Er stellt sich etwas abseits hin und ich setze mich gemeinsam mit Louis auf die Autohaube, um unsere Füße zu entspannen. „Meinst du, ich kann Gott für einen Moment rufen?“, frage ich. „Hier sind ja keine wilden Pokémon.“ Louis zuckt mit den Achseln. Gott ist kaum aus dem Ball, da legt er die Ohren an, bringt sein Rückenfeuer zum Auflodern und knurrt in Holgers Richtung. „Aus, Gott“, zische ich. Er legt sich flach auf den Bauch, wirft unserem Ranger aber weiterhin misstrauische Blicke zu. Ich gehe neben ihm auf die Knie und streichele seinen Kopf, bis er sich ein wenig beruhigt. „Danke nochmal für gestern“, sage ich und entlocke Gott damit sogar ein zufriedenes Brummen, bevor er die Krallen in die Erde bohrt. Der Wind hat sich gedreht und weht Fetzen von Holgers Unterhaltung in unsere Richtung. „Ja. Der zwölfte, wie verabredet.“ „…“ „In der Savanne. Mitternacht.“ „…“ „Die Lieferung ist fertig, keine Sorge…“ Sein Blick gleitet in unsere Richtung. „Ich rufe später an. Genau. Bis dann.“ Er kommt zurück und kratzt sich am Kopf. „Haha, tut mir leid, dass ihr warten musstet.“ „Worum ging´s?“, frage ich. „Eine Nachtlieferung“, erklärt er. „Nichts Interessantes, aber einer muss sich darum kümmern.“ Er lacht, dann fällt sein Blick auf Gott. Seine Zähne sind gefletscht und er hat sich, ohne dass ich es bemerkt habe, vor mich gestellt. Er sieht aus, als würde er Holger jede Sekunde an die Kehle springen. „Da mag mich wohl jemand nicht“, sagt Holger ein wenig gekränkt, aber es schwingt noch etwas anderes in seiner Stimme mit, das ich nicht ausmachen kann. Ich rufe Gott zurück, bevor er Holger angreifen kann und stehe auf. „Tut mir leid, er ist immer so aggressiv gegenüber Fremden“, sage ich. Holgers Lächeln kehrt sofort zurück. „Ich dachte schon, ich hätte etwas falsch gemacht“, sagt er und kratzt sich wieder im Kopf. „Auf welchem Level ist dein Igelavar?“ „Auf 27, als ich ihn zuletzt geprüft habe.“ Holger schnalzt mit der Zunge. „Wenn du nicht vorhast, Protrainer zu werden, würde ich mir seine Endentwicklung nochmal überlegen“, sagt er dann und ich stutze. „Warum das?“ „Wenn Pokémon sich entwickeln, verstärken sich nicht nur ihre Fähigkeiten, sondern auch ihre Charakterzüge. Und wenn dein Igelavar jetzt schon so aggressiv ist, könnte er als Tornupto eine echte Gefahr darstellen. Ich will dir nicht unterstellen, dass du ihn nicht kontrollieren kannst, aber denk darüber nach. Eine außer Kontrolle geratene Feuerattacke kann schnell katastrophale Folgen haben.“ Ich starre auf den Pokéball in meiner Hand. Würde Gott jemanden bewusst… verletzen wollen? Nicht nur zur Verteidigung? Und was, wenn er zur Verteidigung eine Feuerbrunst entfacht? Kann ich darauf vertrauen, dass er niemanden töten oder schwer verletzen wird? Kann ich auf seine Einschätzung der Situation vertrauen? Ich will. Aber sicher bin ich nicht. Kapitel 67: Steinerner Beistand (Blick in die Vergangenheit) ------------------------------------------------------------ Das Waldesufer entpuppt sich als seicht abfallender Hain, der von Lichtungen und zahlreichen kleinen Bächen durchzogen ist. Ein leiser Wind weht und ich fröstele, als wir in den Schatten der Bäume treten. Das Moos federt unter unseren Schuhen und der Gesang eines einzelnen Pummeluffs schwebt zu uns herüber und macht uns schläfrig. „Auf welche Pokémon hast du es hier abgesehen?“, frage ich Louis, um die betörende Melodie auszublenden. „Es soll hier Dratini geben“, sagt er, aber das klingt nicht so, als rechne er wirklich damit, eines zu Gesicht zu bekommen. „Ein Zwirrlicht wäre auch cool.“ „Dafür müssten wir nachts herkommen“, sagt Holger. „Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Zwirrlicht tagsüber gesichtet wurde.“ „Schade.“ Auch wenn Louis keine große Auswahl an Pokémon findet, genießen wir den Spaziergang. Der weiche Waldboden ist sehr viel fußfreundlicher als die Steine und Felsbrocken der anderen Areale und ich merke, wie meine Energie langsam zurückkehrt. Manchmal glaube ich, ein Geräusch hinter uns zu hören, aber außer den Steinen, die verstreut zwischen den Wurzeln liegen, kann ich nichts ausmachen. Während wir durch den Wald laufen, begegnen wir einem Pachirisu, das über das Geäst über unseren Köpfen klettert und finden ein Kramurx, das Louis vorsichtshalber fängt. Auch wenn er kein Stollunior oder Rihorn gefangen hat, über zu wenige Neuzugänge kann er sich nicht beklagen. Plötzlich ertönt vor uns im Gebüsch ein Rascheln. Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts erkennen. Der Strauch bewegt sich erneut – und dieses Mal fallen einige welke Blätter zu Boden. Zwischen den nun kahlen Zweigen erkenne ich eine Farbe. Gelb. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als das Hypno sich langsam aus dem Gebüsch bewegt und mit trägen Schritten in unsere Richtung kommt. „Was hältst du davon, Louis?“, fragt Holger. „Ein Psychotyp wäre doch… Louis?“ Ich drehe den Kopf in seine Richtung. Louis Gesicht ist aschfahl, seine Hände zittern und er macht einen Schritt nach hinten, bevor er stolpert und auf den Hintern fällt. „Mach es weg…“, flüstert er, so leise, dass ich ihn fast nicht verstehe. „Bitte, mach es weg…“ „Was hat er?“, fragt Holger und schaut panisch zu Louis. „Trauma“, sage ich, ohne darüber nachzudenken. Es ist das einzige Wort, das mir so schnell einfällt, und im Grunde ziemlich passend. Holgers Hand schießt automatisch zu seinem Safariball, in dem sich sein Nidoking befindet, doch noch bevor es rufen kann, rollt ein Stein an uns vorbei, nimmt Fahrt auf und trifft das Hypno mit voller Wucht. Es stolpert zurück, mehr verwirrt als ernsthaft verletzt und betrachtet den weiter rollenden Stein argwöhnisch. Ich gehe neben Louis auf die Knie und halte beruhigend seine Schultern fest. Wo meine Hände seine nackte Haut streifen, ist er schweißgebadet und eiskalt. Der Stein wird schneller und kullert erneut auf das Hypno zu, dieses Mal macht die Attacke mehr Schaden und das Psychopokémon kontert mit einem einzelnen Schlag seiner flachen Hand, der das Steinpokémon jedoch nicht mal aus der Bahn wirft. Holgers Hand ist gesunken und genau wie wir beobachtet er gebannt den Kampf der beiden wilden Pokémon. Als die Steinkugel jetzt auf das Hypno zuschießt, spritzen Grasbüschel und kleine Steinchen zu beiden Seiten weg und das gelbe Pokémon hebt abwehrend sein Pendel zu einer Konfusion. Sein kugeliger Gegner wird langsamer, scheint gegen eine unsichtbare Barriere anzukämpfen und mit jeder Sekunde weiter geschwächt zu werden, bricht aber plötzlich durch die Psychoattacke hindurch, wird durch den Schwung in die Höhe katapultiert und trifft Hypno mit seiner Walzerattacke mitten ins rüsselige Gesicht. Wie von einem Schlaghammer getroffen, reißt die Attacke das Hypno fast zwei Meter nach hinten, bis es mit dem Rücken gegen einen Baum prallt und ein Stöhnen von sich gibt. Es klappt regungslos in sich zusammen. Das Steinpokémon nimmt unterdessen immer mehr Fahrt auf und bohrt sich nahezu in den Waldboden, bevor es sich mit Schwung rückwärts katapultiert, sich im Fall dreht und seine Arme ausbreitet. Das Kleinstein landet vor unseren Füßen und hebt eine seiner Fäuste triumphierend in die Höhe, dann krabbelt es zu Louis und macht es sich auf seinem Schoß gemütlich. Louis starrt das besiegt Hypno an und senkt dann seinen Blick auf das Kleinstein auf seinen Beinen. Als er spricht, ist seine Stimme noch ein wenig zittrig, aber er wirkt entspannter als zuvor. „Bist du das Kleinstein von vorhin?“, fragt er. Das Kleinstein hebt eine drohende Faust, dann gibt es ein Keckern von sich und klopft Louis mit der steinernen Hand auf die Schulter. „Danke“, sagt Louis, sichtlich überrumpelt. „Du warst ziemlich gut.“ „Er war genial“, sage ich und tätschele den Kopf (oder Körper?) des Kleinsteins. Es badet sich in meinem Lob. „Gegen ein entwickeltes Psychopokémon zu gewinnen ist nicht leicht. Hast du Einigler benutzt?“ Das Kleinstein zuckt die Achseln, aber anders kann ich mir den Sieg des Gesteinpokémon nicht erklären. Es muss uns als Stein getarnt den gesamten Weg gefolgt sein. „So etwas habe ich auch noch nicht erlebt“, verkündet Holger und kommt zu uns herüber. „Geht es dir gut, Louis? Soll ich den Notdienst kontaktieren?“ „Nein, alles in Ordnung.“ Er kratzt sich verlegen an der Nase. „Ich hab ein paar schlechte Erfahrungen mit einem Hypno gemacht, das ist alles.“ Er wirft mir einen Blick zu und ich nicke wissend. Ich musste gegen Hypno kämpfen, aber es war Louis, der verschleppt und mit Alpträumen geplagt wurde. „Kriegen wir jetzt Ärger?“, frage ich und deute in Richtung Hypno. Er schüttelt den Kopf. „Das war ein Kampf zwischen wilden Pokémon. Ihr hattet keinen Einfluss darauf. Allerdings muss ich das Kleinstein in sein Areal zurückbringen. Wir dürfen keine Vermischung der Lebensräume erlauben.“ Das Kleinstein zuckt zusammen und hangelt sich an Louis entlang, bis es über seinen Schultern hervorlugt. „Ich schulde dir wohl was“, sagt Louis und schielt zu dem Pokémon. „Irgendwelche Wünsche?“ Das Kleinstein gibt ein zustimmendes Grummeln von sich, dann greift es nach einem von Louis noch nicht benutzten Safaribällen und lässt ihn in seinen Schoß fallen. Sehr subtil. Louis zögert. Seit wir uns auf den Weg gemacht haben, hat er mehrmals beteuert, auf keinen Fall ein Kleinstein haben zu wollen. Ich schmunzele und muss an Hunter denken. Manchmal wird einem die Entscheidung eben auch abgenommen. „Ich finde, du solltest ihm eine Chance geben“, sage ich. „Er hat dich immerhin verteidigt und ist uns die ganze Zeit gefolgt.“ „Immer diese Stalker…“, murrt Louis, ringt sich aber zu einem breiten Grinsen durch und hebt den Safariball in die Höhe. Das Kleinstein ballt eine steinerne Faust und drückt sie dagegen, dann umschließt ihn rotes Licht und er verschwindet in dem Ball. „Das war Nummer sechs“, sage ich und helfe Louis auf. „Glückwunsch zum vollständigen Team.“ „Tatsächlich?“, fragt Holger begeistert. „Dann auch von mir Glückwünsche. Du musst dich toll fühlen!“ „Ja.“ Louis schaut auf das besiegte Hypno und erschaudert. „Ganz toll.“   Am Ausgang überreicht Holger mir eine Plastiktüte, die zugeschweißt ist. Ich schaue ihn verwundert an. „Ein Maulkorb für dein Igelavar“, sagt er. „Ich weiß, dass dir das befremdlich vorkommen muss, aber dein Pokémon wird es dir sicher danken. Wenn du Angst hast, ihn zu rufen, wird ihn das nicht glücklicher machen.“ Nachdenklich betrachte ich die Tüte, dann nehme ich sie entgegen. „Kostenlos?“, frage ich vorsichtshalber nach. Er nickt. „Wir haben hunderte davon im Lager.“ Wir verabschieden uns und machen uns im dämmrigen Abendlicht auf den Rückweg zum Pokécenter. Während Louis am Computer arbeitet und sich von Schwester Joy erklären lässt, wie er Zugriff auf gelagerte Pokémon bekommt, setze ich mich an einen der Tische und schreibe Raphael eine SMS. Bin mit Louis in der Safari-Zone in Johto. Der Ranger hat mir einen Maulkorb für Gott gegeben. Sinnvoll??? Keine fünf Minuten später erreicht mich seine Antwort. Ist er so bissig? Vielleicht keine schlechte Idee, sprich aber mit Gott darüber, damit er nicht glaubt, du vertraust ihm nicht. Ich werde auch bald die Safari-Zone in Fuchsania City besuchen. Zumindest, wenn ich gegen Claire gewinne. Ich drehe nachdenklich den versiegelten Beutel in meinen Händen. Vielleicht hat Raphael Recht und ich sollte mit Gott darüber reden. Wenn er die Alternative kennt, hält er sich ja vielleicht doch zurück. Aber wenn ich so darüber nachdenke, hat er nie jemanden gebissen, der mich nicht vorher angegriffen hat. Halte nach einer Elizabeth Ausschau, schreibe ich schnell zurück. Die soll eine verdammt gute Rangerin sein. Drücke dir alle Daumen für Donnerstag. Du schaffst das! Ich packe mein Handy wieder ein und warte geduldig, bis Louis schließlich mit einem Teller Sandwiches zu unserem Tisch zurückkommt. „Die gehen auf mich“, sagt er und schiebt den Teller in die Mitte. „Dieses Lagerungszeug ist ja mal total kompliziert. Aber ich habe Mama das Knospi zugesendet, das ist schon Mal was.“ „Da wird sie sich  freuen“, sage ich und bediene mich an dem gesponserten Abendessen. „Wen hast du jetzt in deinem Team?“ „Winry, Ethan und Harley, dann Girafarig, Kleinstein und das Makuhita.“ Ich grinse breit. „Klaus?“ „Er heißt nicht Klaus, Abby!“, sagt Louis genervt und wirft einen Brotkrümel nach mir. Er prallt von meiner Stirn ab und rutscht unter meinen Pulli. Louis grinst mich unverschämt an. „So willst du also spielen, ja?“, frage ich bedrohlich. „Dann mach dich auf was gefasst.“   „Das war lustig“, sagt Louis, als wir gemeinsam Richtung Route 48 schlendern und uns gegenseitig Brotstücke und Salatfetzen aus den Haaren pflücken. „Sinnlos, kindisch und verschwenderisch, aber lustig.“ „Ich muss eine Krisensitzung mit Gott abhalten“, sage ich. „Kommst du mit deinen Neueinsteigern für ein paar Minuten alleine klar?“ „Was glaubst du denn?“ Wir erreichen die Wiese etwa zehn Minuten später. Inzwischen ist es dunkel, aber der Himmel ist wolkenlos und so hoch auf der Insel sind die Sterne und der Mond gut sichtbar und spenden kühles Licht. Ich lasse mich auf der kleinen Brücke nieder und beobachte Louis, der ein Stück weiter geht und dort sein erstes neues Pokémon zur Begrüßung ruft, gefolgt von seinen Startern. Ich lege den verpackten Maulkorb neben mich und wiege Gotts Finsterball nachdenklich in den Händen, dann gebe ich mir einen Ruck und rufe ihn. Gott materialisiert sich in einem gleißend roten Lichtschauer und schaut sich misstrauisch um. Als er außer mir und Louis niemanden in der Nähe wahrnimmt, entspannt er sich sichtlich und setzt sich auf die Hinterläufe. „Wir müssen reden“, sage ich. Er legt den Kopf schief. Ich hole tief Luft und zeige ihm den Maulkorb. Augenblicklich legt er seine Ohren an und knurrt. „Ich will ihn dir auch nicht anziehen“, sage ich. „Aber wenn du weiterhin so aggressiv bist, habe ich keine Wahl. Du hast schon mehrmals Menschen gebissen.“ Gott schaut mich vorwurfsvoll an und für einen Moment habe ich das gleiche Gefühl wie mit Sku. Als könnte ich seine Gedanken erahnen. Ich habe dich beschützt, scheint er zu sagen. „Ich weiß“, stimme ich zu. „Aber du bist nicht unbedingt umgänglich, nicht Mal mit meinen Freunden. Und ich habe Angst, wie du dich nach deiner Entwicklung verhalten wirst.“ Gott legt sich flach auf den Bauch und schielt zu Louis hinüber, der sich allem Anschein nach zu einem Armdrückwettbewerb mit Kleinstein hat breitschlagen lassen. Seine Rückenflamme erlischt zu einem sachten Glühen und er reibt seinen Kopf an mein Bein. „Mach es mir nicht so schwer…“, stöhne ich und kraule ihn hinter den Ohren. „Ich weiß, dass du mich immer beschützt hast, aber vielleicht können wir den Maulkorb benutzen, wenn wir mit vielen Menschen unterwegs sind. Wäre das in Ordnung?“ Gott winselt und schaut zu mir auf. „Schau mich nicht so an“, sage ich. „Heute hast du es schon wieder gemacht. Holger ist der netteste Mensch, der mir seit langem untergekommen ist und du hast ihn behandelt wie einen Schwerverbrecher!“ Gott legt den Kopf schief, dann fletscht er die Zähne und schaut zurück in Richtung Safari-Zone. „Da, schon wieder. Nur der Gedanke an ihn macht dich rasend.“ Gott nickt und scheint sich dabei nicht im Geringsten irgendeiner Schuld bewusst zu sein. „Was mache ich nur mit dir…“, murmele ich und schaue Gott lange an. Dann kommt mir ein Gedanke. „Du beißt nur, um mich oder meinen Besitz zu schützen, richtig?“, frage ich nach. Gott nickt. „Hättest du Holger gebissen, wenn ich dich nicht zurück gerufen hätte?“ Gott knurrt leise. Wahrscheinlich war er kurz davor. „Aber warum?“, überlege ich laut. „Warum wolltest du ihn beißen? Er wollte mir schließlich nicht schaden, im Gegenteil.“ Gott schüttelt den Kopf. „Nicht? Er wollte mir schaden?“ Sein Rücken lodert auf. „Ich verstehe dich nicht. Mann, warum gibt es keine Pokémon-Dolmetscher!“ Wütend schaue ich zu Louis hinüber, der immer noch mit Kleinstein beschäftigt ist und sich vor Lachen beinahe kugelt. Ich schmunzele. Da haben sich wohl wirklich zwei gefunden. Gott kratzt an meinem Bein und ich wende meine Aufmerksamkeit wieder ihm zu. „Wenn ich wüsste, nach welchen Kriterien du vorgehst, wäre mir schon sehr geholfen. Also gut, spielen wir ein Spiel.“ Ich setze mich im Schneidersitz hin und stelle Gott vor mich. „Ich bin Abby. Wie reagierst du?“ Gott legt sich auf seinen Bauch und gibt ein wohliges Grummeln von sich. Er ist völlig entspannt. Als ich meine Hand ausstrecke, lehnt er sich dagegen und lässt sich streicheln. Zufrieden nicke ich. „Ich bin ein guter Freund von Abby. Wie reagierst du?“ Gott setzt sich auf und schaut mich misstrauisch an, knurrt leise, gibt aber sonst kein Zeichen der Feindseligkeit von sich. Als ich meine Hand ausstrecke, weicht er zwar zurück, greift aber nicht an und lässt den Hautkontakt sogar zu. „Okay. Jetzt bin ich ein Fremder.“ Gott faucht leise und sein Rückenfeuer lodert auf. Als ich meine Hand ausstrecke, schnappt er danach, lässt aber ab, sobald ich mich zurückziehe. „Okay, wir kommen der Sache näher“, sage ich, glücklich über den Erfolg des Experiments. Wenn ich lerne, wie Gott auf Menschen reagiert, wird mir das nicht nur helfen, ihn besser zu verstehen, er könnte auch wie eine Art Frühwarnsystem fungieren. „Ich bin ein Feind, oder ein Mitglied von Team Rocket und tue Abby vorerst nichts.“ Gotts Rückenflamme lodert zu voller Kraft auf, er bleckt seine Zähne, zieht seine Lefzen hoch und geht in Angriffsstellung. Sein Knurren ist beängstigend. Dieses Mal wage ich nicht mal, meine Hand nach ihm auszustrecken. „Ich will Abby weh tun oder habe ihr bereits weh getan“, sage ich tonlos. Ich habe den Satz kaum zu Ende gebracht, da springt Gott mir an die Kehle. Für eine Sekunde glaube ich wirklich, er wird mich umbringen, aber ich spüre keinen Schmerz, nur ein leichtes Ziepen. Seine Krallen sind in meinen Pulli gebohrt, sein Maul geöffnet und seine Zähne streifen meinen Hals, aber er beißt nicht zu. Schließlich lässt er ab und rollt sich entschuldigend in meinem Schoß ein. Nachdenklich streiche ich über Gotts Kopf, den Maulkorb für´s erste vergessen. Ich weiß nicht, was mich mehr beunruhigt. Dass Gott bereit ist, zu töten, um mich zu verteidigen oder dass er auf Holger nicht wie auf einen Fremden reagiert hat, sondern wie auf einen Feind.   Nach dem Gespräch geselle ich mich zu Louis, um dessen Hals Kleinstein hängt und leise schnarcht. „Glen ist cool“, sagt Louis auf meinen fragenden Blick hin. „Ich bin diese ganze Sache ziemlich falsch angegangen, glaube ich. Es kommt nicht auf die Pokémonart an, sondern auf das einzelne Pokémon.“ Er seufzt und kratzt sich an der Nase. „Ich hab mich wie ein ziemlicher Idiot benommen, oder? Tut mir leid.“ „Ja, hast du“, gebe ich grinsend zu. „Willkommen zurück.“ Dann deute ich auf die beiden verbliebenen Bälle in seinen Händen. „Wer ist als nächstes dran?“ Louis schweigt und schaut Winry und Harley hinterher, die etwas abseits Pirouetten drehen und zu tanzen scheinen. Ethan liegt in einem losen Halbkreis um uns herum, die großen Augen geschlossen. „Ich denke, Makuhita ist die sicherere Wahl.“ Er ruft das pummelige gelbe Pokémon, das einen Kampfschrei von sich gibt und sich auf den Bauch trommelt. „Hallo, Klaus“, sage ich fröhlich und gehe vor ihm in die Knie. „Pass gut auf Louis auf, ja?“ „Abby, hör auf mit dem Klaus-Zeug!“, ruft Louis panisch. „Was, wenn er denkt, so heißt er?“ „Aber so heißt er. Klaus Klaus Klaus Klaus Kla-“ Louis presst eine Hand auf meinen Mund, aber es ist zu spät. Das Makuhita nickt einmal energisch und gibt ein Geräusch von sich, das wie ein Osu klingt und verbeugt sich. Louis lässt seine Hand sinken. „Komm her, Klaus“, sage ich und das Pokémon läuft freudig in meine Richtung. Ich grinse Louis schadenfroh an. „Ich gewinne.“   Nachdem sich alle von Louis´ Pokémon untereinander vertraut gemacht haben, machen wir uns auf den Rückweg. Nur das Girafarig, das Louis schon im Ball Gina getauft hat, wagt er nicht, zu rufen. „Ich sollte ein paar von den Pokémon wieder freilassen, jetzt wo ich weiß, wer in meinem Team bleibt“, sagt er, als wir das Pokécenter betreten. „Aber das Kramurx behalte ich. Für den Fall, dass es mir Gina nichts wird.“ „Wie du meinst“, sage ich, insgeheim glücklich, dass er sich wieder gefangen hat. Der Louis in der Safari-Zone war mir ein bisschen unangenehm. „Ah, Abby, da bist du ja“, ruft Schwester Joy mir zu. „Der Junge, Percy, hat dir eine Nachricht hinterlegt, bevor er abgereist ist.“ Ich nehme den Brief entgegen und öffne ihn, solange Louis noch mit dem Computer beschäftigt ist und die Pokémon zur Auswilderung freigibt.   Liebste Abby, leider ruft meine Pflicht, daher kann ich nicht länger bleiben. Ich hoffe, du hast mich und dein Versprechen noch nicht vergessen. Ich lade dich zu unserem Date am 5. Dezember ein, um 12:00 Uhr vor dem Café. Wenn du Sehnsucht nach mir hast, meiner Familie gehört die Apotheke in Anemonia City. Es ist die einzige weit und breit, du wirst keine Probleme haben, mich zu finden. In ewiger Zuneigung, dein Percy   „In ewiger Zuneigung?“, fragt Louis, der in dem Moment neben mir auftaucht. „Wenn du auf sowas stehst…“ Ich strecke ihm die Zunge raus und stehe auf. „Wir sollten schlafen“, sage ich. „Morgen geht es zurück und ich will wenigstens den Kampf von Genevieve gegen Claire mitkriegen.“   Als wir frierend unser Lager unter den Nadelbäumen aufschlagen, legt Louis seinen Schlafsack direkt neben meinen. „Was wir das, wenn´s fertig ist?“, frage ich belustigt. „Körperwärme, Abby“, sagt er grinsend. „Es wird kalt heute Nacht.“ „Sicher…“ Ich rufe Sku und Gott und kuschele mich in meinen Schlafsack. Neben mir tut Louis das gleiche mit Winry, wodurch er den Reisverschluss kaum zu bekommt. Schließlich liegen wir dicht nebeneinander auf dem weichen Waldboden und atmen leise und regelmäßig. Bis Louis die Stille bricht, natürlich. „Schläfst du schon?“ Ich gebe ein undefinierbares Murmeln von mir, öffne aber ein Auge und drehe den Kopf in seine Richtung. „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, fragt er leise und dreht ebenfalls den Kopf. In Gotts flackerndem Feuerschein ist seine Haut fast orange, nur seine Augen sind blau wie immer. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller. „Was?“, frage ich heiser. „Wenn ich eifersüchtig bin, werde ich unausstehlich.“ „Nur wenn du eifersüchtig bist?“, frage ich neckend und er lacht leise. Dann robbt er noch ein Stück näher, bis unsere Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt sind. „Ich werde dich jetzt küssen“, sagt er, wie damals, auf Ethans Rücken, und wie damals setzt mein Herz einen Schlag aus. Hitze breitet sich in meinen Wangen und meiner Brust aus. Ich werde mich nie an dieses Gefühl gewöhnen. „Du hast gesagt, dass es nicht funktionieren wird“, flüstere ich. „Du hast gesagt, du willst dich nicht weiter in mich verlieben.“ Er lächelt traurig. „Ich weiß.“ Dann küsst er mich. Kapitel 68: Plötzlich Strudel (Ideologie und Rebellion) ------------------------------------------------------- Wir sind schon auf halbem Weg zurück nach Anemonia City, als plötzlich mein Handy klingelt. „Abbygail hier“, melde ich mich, ein wenig steif, als ich die Nummer erkenne. „Hier spricht Holly.“ „Was gibt´s?“ „Hast du ein paar Minuten Zeit? Ich habe ein paar Fragen.“ Ich werfe Louis einen beunruhigten Blick zu und winke ihm, vorzugehen, dann lehne ich mich etwas weiter vom Dröhnen des Wasserfalls entfernt an das Geländer. „Was für Fragen?“ „Es geht um Zacharias Stray. Der Name sagt dir noch etwas, nehme ich an.“ Ich antworte nicht. Sie weiß genauso gut wie ich, dass ich ihn kenne. „Laut den Protokollen, die ich von Rocky erhalten habe, bist du mit Raphael Berni befreundet und hast auch die anderen Favoriten kennen gelernt. Hast du irgendeine Idee, wo Zacharias sein könnte?“ „Nein.“ „Bist du sicher?“ Ich will es ihr sagen. Alles. Aber Raphaels Bitte hält mich davon ab. Und bringen wird es auch niemandem etwas. Wenn die Polizei wirklich weiß, wo das Hauptquartier ist und sich nur nicht hinein traut, werden meine Informationen uns allen nur Probleme bereiten. Wenn Zach doch nur gesagt hätte, was Team Rockets nächster Zug ist! „Ich weiß nicht, wo er ist. Ich habe ihn nur mit den anderen Rockets gesehen, das ist alles. Danach haben wir gekämpft, sie sind geflohen und ich bin vergiftet worden. Mehr weiß ich nicht.“ „Die anderen Rockets. Kannst du dich an sie erinnern?“ Ein Schauer läuft mir über den Rücken. „Mel und Teal waren dabei. Und ein jüngeres Mitglied namens Cory.“ „Wie sah er aus?“ Ich versuche, mich an Corys Gesichtszüge und Haare zu erinnern und gebe Holly die genauste Beschreibung, zu der ich im Stande bin. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das sonderlich helfen wird. Leute wie Cory gibt es wie Zubats in Höhlen. Nachdem ich geendet habe, höre ich noch einige Sekunden das Kratzen von Hollys Füller in ihrem Notizblock, dann erklingt wieder ihre Stimme. „Hör zu, Abby. Ich weiß, dass du und Raphael schon über zwei Jahre befreundet seid und dass die Favoriten bislang ein befreundetes, eingeschweißtes Team waren. Aber wenn ich herausfinde, dass ihr Zacharias deckt, dann sorge ich dafür, dass ihr mit den Konsequenzen rechnen müsst. Hast du mich verstanden?“ „Ja“, sage ich mit trockener Stimme. „Gut. Dann frage ich ein letztes Mal. Weißt du, wo Zacharias sich aufhält?“ „Nein.“ Ich zögere. „Aber wenn ich er wäre, würde ich mich zuerst ruhig verhalten und irgendwo untertauchen.“ Ein Seufzen. „In Ordnung. Wenn dir doch noch etwas einfällt, melde dich bitte. Wir brauchen jeden Hinweis.“ Sie will schon auflegen, da unterbreche ich sie. „Warte, Holly. Weißt du, ob Golds Patrouillenroute am Felsenherzturm vorbei führt?“ „In Anemonia City? Einen Moment.“ Ich warte geduldig und lausche den leisen Gesprächsfetzen und dem Rascheln von Papier, dann erklingt wieder Hollys Stimme. „Nein. Er erwähnt den Ort in keinem seiner Protokolle und es ist auch kein taktischer Pflichtpunkt, den er abfliegen muss. Vielleicht ist er in eigener Sache unterwegs. Warum fragst du?“ „Nur so. Ich bin gerade in der Nähe, deshalb.“ Holly lässt meine Frage unkommentiert und wir verabschieden uns. Ein bisschen der Kälte zwischen uns ist verschwunden, aber ich merke trotzdem, dass sie mir nicht ganz traut. Und zu Recht. Ich fühle mich elend, weil ich die Polizei nicht unterstützen kann, aber Raphael hat Recht. Als ich wieder zu Louis aufschließe, wirft er mir einen fragenden Blick zu. „Holly“, sage ich und er nickt wissend. Als wir gegen 13:00 Uhr eine Mittagspause einlegen, haben wir gerade den halben Weg zwischen Felsschlundhöhle und Felsklippentor hinter uns gebracht und essen unsere Brote an die Felswand gelehnt. Hunter sitzt griesgrämig neben mir und flattert mit dem unverletzten Flügel. Wehmütig schaut er in den Himmel. Gott liegt eingerollt auf meiner anderen Seite, knabbert an einem Apfel und knurrt hin und wieder Jayjay an, der Gotts Apfel viel interessanter als seinen eigenen Futterhaufen findet. Auf Louis Seite sieht es ähnlich voll aus. Kleinstein Glen stopft sich einen Felsbrocken nach dem anderen in den Mund und gibt krachende Kaugeräusche von sich, Klaus frisst für zwei und Winry und Harley üben weiter ihre Tanzschritte. Ethan muss aus Platzmangel in seinem Ball bleiben. Während ich noch darauf warte, dass Louis mit Essen fertig wird, erweitere ich meine Rocket-Mappe. Ich füge die Informationen hinzu, die Raphael mir gegeben habe und notiere Gotts Verhalten gegenüber Holger. Ich bin immer noch unschlüssig, was ich davon halten soll, aber ich bin gewillt, ihm zu vertrauen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, gab es einige Situationen, in denen meine Pokémon die besseren Instinkte hatten.   Wir kommen gerade rechtzeitig im Pokécenter an, um Genevieves Arenakampf nicht zu verpassen und zum ersten Mal bekomme ich einen guten Überblick über ihr gesamtes Team. Voltula hat mit seinen Käferangriffen und leuchtenden, elektrischen Ladungen einen großen Vorteil in der pechschwarzen Unlichtarena, muss sich aber geschlagen geben, als Claire nach dem Verlust ihres Kleopardas und Kramshefs auf ein brutales Hundemon zurückgreift und das bereits geschwächte Stromspinnenpokémon ohne große Probleme besiegt. Dafür erhellt es mit seinen Feuerattacken aber immerhin die Arena. Gänzlich vom Licht abgeschottet sind sonst alle Pokémon auf ihre eigenen Fähigkeiten und die Stimme ihres Trainers angewiesen, der mit einem Nachtsichtgerät ausgestattet ist. Gens Impoleon reißt das Ruder wieder herum, muss sich aber gegen ein Rabigator geschlagen geben, das auch ihr Hypno besiegt. Mit Hilfe von Kronjuwild und seinem Holzgeweih kann Genevieve das Unlichtpokémon jedoch besiegen und muss sich anschließend einem kleinen aber flinken Snibunna entgegenstellen, dessen Eisstürme bald die gesamte Arena in ein Kühlhaus verwandeln, das selbst Alfreds geübte Stimme mit Schlotteranfällen auf die Probe stellt. Gegen das Eispokémon ruft Genevieve ihr Qurtel in den Kampf, das langsam ist, aber mit seinen Feuerattacken kurzen Prozess mit seinem Gegner macht und schließlich auch im Alleingang Claires letztes Pokémon, ein Noktuska, aus dem Weg fegt. Mit zwei noch kampffähigen Pokémon geht der Sieg an Genevieve, die den Schattenorden unter Jubel und dem ein oder anderen gemurmelten Fluch entgegen nimmt und anschließend Alfred um den Hals fällt. Der tupft sich die Augen mit seinem grünen Taschentuch trocken und übergibt an das Nachrichtenteam, bevor später das Interview mit Genevieve folgt, deren Performance Richards ausgestochen hat. Louis und ich bleiben bis tief in die Nacht am flackernden Bildschirm kleben und als ich schließlich nach Mitternacht todmüde in meinem Schlafsack liege, bin ich zufriedener als in einer sehr langen Zeit.   Am nächsten Morgen werde ich pünktlich um 7:00 Uhr von Sku geweckt, die ich vorrausschauender Weise habe neben mir schlafen lassen und stehe unter vielen Flüchen auf. Keine fünfzehn Minuten später bin ich auf dem Weg zum Vereinshaus des ASV. Ich habe Glück, die Schwimmgruppe steht zwar schon in den Startlöchern, hat sich aber noch nicht zum Meer aufgemacht und so gelingt es mir, Kat abzufangen. „Ah, Abby, richtig?“ Sie schüttelt meine Hand. „Ich hatte dich schon vor Tagen erwartet. Val meinte, du kommst nicht mehr. Soll ich dir schnell eine Schwimmbrille holen?“ „Ja, bitte“, sage ich, ein wenig außer Atem. Ich bin die letzten hundert Meter her gesprintet und spüre jetzt die Blicke der ASV-Mitglieder im Rücken. Ich zurre meinen Zopf zu Recht und werfe Valentin einen herausfordernden Blick zu, erstarre aber, kaum dass ich sein Gesicht sehe. Sein rechtes Auge ist von violett-gelber Haut umgeben. Ich will gerade den Mund aufmachen, da kommt Kat aus der kleinen Strandhütte und drückt mir ein Klemmbrett und eine Schwimmbrille in die Hände. „Einmal hier und hier unterschreiben“, sagt sie. Während ich ihren Anweisungen nachkomme, wandert mein Blick immer wieder zu Valentins Gesicht, was diesem nicht entgeht, denn sein Ausdruck verdüstert sich zusehends. „Was ist?“, fragt er schließlich gereizt. „Hast du noch nie ein blaues Auge gesehen?“ Ich senke automatisch den Blick und starre auf meine frisch ausgeliehene Schwimmbrille. Kat klopft mir auf die Schulter. „Hey, wenn du möchtest, kannst du mit uns trainieren“, sagt sie dann. „Eigentlich musst du dich bei uns anmelden, aber da der erste Monat ohnehin kostenlos ist, kannst du dir das sparen. Ich nehme nicht an, dass du nach dem Wettbewerb hier bleibst?“ „Nein, ich reise Ende Dezember ab“, sage ich, froh, immerhin eine Person hier auf meiner Seite zu haben. „Das Angebot steht.“ Sie wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu und gesellt sich dann zu Valentin, um dessen Schultern sie freundschaftlich einen Arm schlingt. Sie sagt etwas und in Sekundenschnelle hat sich sein wütender Ausdruck in ein schallendes Lachen verwandelt. Unsicher, was ich sonst tun soll, folge ich der Gruppe Richtung Meer. Nach dem gemeinsamen Aufwärmprogramm, bei dem ich mich sehr unwohl fühle, geht es endlich ins Wasser. Kat schwimmt vor und Valentin übernimmt das Schlusslicht, damit niemand auf der Strecke verloren geht. Das Tempo ist straff und nach der ersten Runde fallen bereits die ersten zurück. Ich bin froh, mir die Strecke bereits eingeprägt zu haben, denn in dem dauernden auf und ab und den Wellen im Gesicht ist es schwer, den Überblick über die Felsformationen und Strudelinseln zu behalten. Kat verschwindet in der Ferne und Valentin wird langsamer, als ein kleines Schwimmgrüppchen von mir überholt wird und weiter zurück bleibt. Auch wenn Kat sagte, ich würde bei dem Wettbewerb wahrscheinlich nicht gut abschneiden, die letzte werde ich sicher nicht werden. Ab der dritten Runde hole ich immer weiter zu den Schwimmern vor mir auf, die zwar auf die kurzen Strecken wegen ihrer Technik schneller schwimmen, aber nicht die Ausdauer haben, das Tempo durchzuhalten. Ich war vielleicht nie in einem Schwimmclub, aber wenn man im starken Wellengang von Orania City schwimmen lernt, ist Ausdauer eine der ersten Fähigkeiten, die man verinnerlicht. Außerdem bin ich kein blutiger Anfänger. Als wir die dritte Runde beenden, steigen wir nach und nach aus dem Wasser und machen eine Trinkpause. Zum Schluss bin ich neunte von fast vierzig Clubmitgliedern und Kat nickt mir anerkennend zu. Bis zum Wettbewerb sind es noch etwas über zwei Wochen. Ich kann es schaffen. Mit etwa fünf Minuten Verzögerung trudelt auch die Gruppe der Nachzügler ein, dicht gefolgt von einem nicht ausgelastet wirkenden Valentin, der den Vieren rät, es für heute gut sein zu lassen. Meine Euphorie lässt schnell nach, als ich sehe, dass sie kaum älter als elf oder zwölf Jahre sein können. Während wir Pause machen, setzt Kat sich kurzerhand zu mir und reicht mir eine Wasserflasche. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, oder?“, fragt sie. „Ich bin Katja Sterlingrad, aber alle nennen mich Kat. Ich bin zusammen mit Valentin Seniorin, aber das hast du wahrscheinlich schon mitgekriegt.“ „Die Schilder waren schwer zu übersehen“, sage ich grinsend, ermutigt durch ihre offene Art. „Ich wollte mich entschuldigen, dass wir dir so viele Probleme bereitet haben“, sagt sie und nimmt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, bevor sie fortfährt. „Es kommt nicht oft vor, dass Touristen an unseren Wettbewerben teilnehmen. Oder Reisende“, fügt sie bei meinem Blick hinzu. „Wir sind stolz auf unseren Club und wenn jemand Neues dazu stößt, wird der erst auf Herz und Nieren geprüft, aber du bist kein Anfänger, das haben die anderen jetzt auch gesehen. Du solltest von hier an weniger Probleme haben.“ „Das ist beruhigend“, sage ich wahrheitsgemäß. Kat lächelt entschuldigend. „Du kommst auch vom Meer, oder? Du schwimmst so, als hättest du Erfahrung mit Wellengang.“ „Ich bin in Orania City aufgewachsen.“ „Ah, das erklärt die Sache.“ Kat steht auf und klopft mir auf die Schulter. „Valentin ist genauso nett wie ich, wenn er erstmal auftaut. Gib ihm einfach etwas Zeit. Wenn du ihn auf deiner Seite hast, ist der restliche Club kein Problem mehr.“ Sie wirft mir eine Kusshand zu und geht zu einem anderen Grüppchen. So von Kat ermutigt, lasse ich meinen Blick etwas offener über die Schwimmergruppen gleiten und tatsächlich erwidern die meisten meine Aufmerksamkeit mit einem scheuen Winken oder breitem Lächeln. Nur ein Mädchen, mit langem, schwarzgelocktem Haar, wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Ich erinnere mich an sie. Sie ist als zweite aus dem Wasser gekommen, direkt hinter Kat. Und wieder jemand, der mich nicht mag. Wäre ja auch zu schön gewesen. Eine halbe Stunde später ist die Pause zu Ende und es geht wieder ab ins Meer. Das Wasser ist kalt, aber die lange Schwimmkleidung, die jeder trägt, ist stark kälteisolierend und so ist es wärmer als in mancher Jacke. Dieses Mal straffe ich mein Tempo ein wenig. Wenn ich gewinnen will, darf ich mich nicht nur auf meine Ausdauer verlassen. Nach einiger Zeit erreichen wir eine Abzweigung im Wasser. Die Route, der Kat und die anderen folgen, führt in einem größeren Bogen um die Strudelinsel als die, die ich jetzt entdecke. Sie wirkt harmlos genug und ich werfe einen Blick hinter mich. Valentin ist weiter hinter mir, wahrscheinlich hat ein Schwimmer schlapp gemacht. Ich wette, wenn ich die Strecke abkürze, komme ich vor den anderen ins Ziel. Ich gebe mir einen Ruck und schwimme in die andere Richtung. Hinter mir ruft jemand, aber es ist weit entfernt und wahrscheinlich ohnehin nur Valentin, der die langsamen Schwimmer antreibt. Zunächst geht meine Rechnung auf. Die Meerenge ist von Felsgruppen umschlossen und ich kann bei jedem Auftauchen erkennen, dass ich die anderen Schwimmer langsam aber sicher von innen überhole. Die Strömung ist zwar ein wenig stärker, aber damit komme ich klar. Schon bald werden die Steinformationen aber dichter und die Wellenbewegungen weniger vorhersehbar. Ich kämpfe gegen das Wasser, statt mich mit ihm treiben zu lassen und die Erfahrung kostet mich mehr Kraft, als ich auf lange Sicht entbehren kann. Ich bin kurz davor, aufzugeben und umzukehren, da spüre ich plötzlich einen Sog, der stärker und stärker wird und mich mitzieht. In einem Moment bin ich noch an der Oberfläche, im nächsten Moment reißt der plötzlich aufgetauchte Strudel mich in Kreisen in die Tiefe und unter Wasser. Ich strampele verzweifelt mit Armen und Beinen, aber das macht die Situation nur schlimmer. Der Sog zieht mich tiefer unter Wasser und ich spüre, wie sich der Druck auf meine Ohren und meine Brust legt, als meine Luft mir mit jedem Schlag gegen die Felsen entweicht. Plötzlich packt etwas mein Handgelenk. Ich reiße meine Augen auf und sehe Valentin, dessen einer Arm um ein kleines Jurob geschlungen ist, während er mich mit dem anderen festhält. Er rüttelt an meinem Arm und deutet mit dem Kopf in Richtung seiner Beine. Sie sind entspannt und bewegen sich nicht. Ich höre auf, wie wahnsinnig gegen den Strom anzutreten, erhalte zur Bestätigung ein Nicken und werde im nächsten Moment in Kreisen in die Höhe gezogen, als Jurob davon schwimmt und uns aus dem Strudel holt. Es dauert nur wenige Sekunden, bis wir durch die Wasseroberfläche brechen und von Jurob an den kleinen Sandstreifen der Strudelinsel gezogen werden, aber nachdem ich schon so lange unter Wasser war, kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich bäume mich vor, huste und würge abwechselnd und schnappe zwischendurch nach Luft. Valentin reibt über meinen Rücken, bis ich wieder halbwegs normal atmen kann, dann lehnt er sich in Sitzposition zurück und schaut mich fassungslos an.  „Möchtest du gerne ertrinken?“, fragt er. „Genau das wäre nämlich passiert, wenn ich dich nicht rechtzeitig erreicht hätte. Glaubst du, wir schwimmen den großen Bogen aus Spaß?“ Ich wische mir mit dem Handrücken über den Mund und sage nichts. „Und dann auch noch ohne Wasserpokémon“, fährt er fort, sichtlich wütend. „Wir hätten dich nicht zu dem Wettbewerb zulassen sollen. Touristen mache immer nur Ärger.“ „Tut mir leid“, sage ich kleinlaut. „Ich habe den Strudel nicht gesehen.“ „Ja, die Inseln heißen ja auch nicht Strudelinseln…“ „Es tut mir leid“, wiederhole ich, dieses Mal lauter. „Danke, dass du mich rausgezogen hast.“ „Das war Jurob, nicht ich.“ „Ich dachte, du hättest nur ein Maschock“, sage ich, als ich mich an den Streit zwischen ihm und Hartwig erinnere. Valentin verzieht das Gesicht. „Auch.“ Mehr kriege ich wohl zu dem Thema nicht aus ihm raus. Mein Blick fällt wieder auf sein verfärbtes Auge. Valentin runzelt die Stirn. „Starrst du Fremde gerne an?“ „Nur wenn sie ein Veilchen haben“, erwidere ich schnippisch. „Ich betreibe Kampfsport“, sagt er. „Was erwartest du, dass ich mit Blümchen beworfen werde?“ „Dann würde ich dich zumindest nicht anstarren.“ Wir werfen einander giftige Blicke zu und drehen dann gleichzeitig den Kopf weg. Jurob winselt und Valentin legt beruhigend eine Hand auf seinen Rücken. „War das Whirlpool?“, frage ich nach einer Weile des drückenden Schweigens, die Valentin damit verbringt, sein Jurob zu streicheln. „Jeder hier hat ein Wasserpokémon mit der Attacke“, erklärt er. „Niemand lässt seine Kinder aufs offene Wasser, wenn die Gefahr besteht, dass sie von einem Strudel runtergezogen werden.“ „Anfängerfehler, was…“, murmele ich schuldbewusst und lasse mich rückwärts in den Sand fallen. „Sollen wir zurück schwimmen?“ „Gib Jurob noch ein paar Minuten“, sagt Valentin und legt sich ebenfalls hin. „Er ist nicht so stark, dass er so eine Aktion zweimal direkt hintereinander schafft.“ „Solltest du nicht Kampftypen trainieren?“, frage ich und schaue aus dem Augenwinkel in seine Richtung. Valentin schnaubt. „Wenn es nach meinem Vater ginge, ja.“ Er stockt, spricht aber schließlich weiter. Vielleicht tut es ihm ganz gut, mit einem Unparteiischen darüber zu reden. „Quapsel und Machollo habe ich von ihm bekommen. Aber ich trainiere lieber Wasserpokémon, deswegen habe ich Seeper und Jurob gefangen. Quaputzis Entwicklung ist auch überfällig, wenn er das Sagen hätte.“ Eine Weile hängen wir unseren eigenen Gedanken nach. Jurob gibt ab und an ein Glucksen von sich, wenn Valentin eine gute Stelle an seinem Bauch erwischt, ansonsten hören wir nur das Schwappen der Wellen. Schließlich setzt Valentin sich schwungvoll auf. „Jurob wäre soweit. Willst du weiter trainieren oder lieber zurück ins Pokécenter?“ Er sagt es neutral, aber aus seinem Mund klingt es wie eine Herausforderung. Ich stehe auf und lockere meine Arm- und Beinmuskeln. „Wofür hältst du mich?“ Es ist nur für einen kurzen Moment, aber ich könnte schwören, ein kleines Schmunzeln um Valentins Mundwickel spielen zu sehen, bevor er den Kopf dreht. Na bitte. Geht doch.   Gegen 12:30 Uhr treffe ich mich mit Louis in dem Café, das sich in unserem kurzen Aufenthalt in Anemonia City zu unserem Stammlokal entwickelt hat. Als ich erschöpft und mit salzigen Haaren hineintrete, sitzt er bereits an einem der hinteren Tische und, zu meiner Überraschung, nicht alleine. Rose sitzt in der Ecke, halb an die Wand gelehnt und ein Bein angezogen. Ihr Collegeblock liegt lose in ihrer Hand, während sie mit Louis redet. Als er mich sieht, winkt er. „Abby, ich dachte schon, du bist ertrunken“, sagt er breit grinsend. „Ich hab dir schon die Sandwiches bestellt, ist das in Ordnung?“ „Fast ertrunken“, korrigiere ich und lasse mich den beiden gegenüber an den Tisch sinken. „Du musst mich nicht durchfüttern, Louis. Ein bisschen Geld habe ich schon noch.“ Rose runzelt die Stirn, als sie meine nassen Haare sieht. „Warst du schwimmen?“ Ich nicke und mache mir einen neuen Zopf. Der alte hat sich fast komplett aufgelöst. „Ich will an dem Strudelrennen teilnehmen.“ „Ah.“ Sie nickt. „Hast du schon Valentin kennen gelernt?“ „Kennen ist ein großes Wort“, sage ich und sie schmunzelt. „Ich habe mich gerade mit Rose über ihre Eltern unterhalten“, erklärt Louis, als das Essen kommt und ich mich schamlos darauf stürze. Schwimmen macht hungrig. „Mhhm“, sage ich. „Ich stimme dir zu“, sagt Louis breit grinsend. „Bitte fahr fort.“ Ich schlucke. „Du scheinst ein ähnliches Problem wie er zu haben“, sage ich an Rose gewandt und beiße in das nächste Sandwich. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich kenne ihn auch nicht besonders gut, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass er kein Freund von Kampfpokémon ist. Er scheint mit ihrer Art inkompatibel zu sein.“ „Muss schwer sein, bei dem Vater“, sagt Louis. „Natürlich.“ Rose seufzt. „Es vergeht keine Woche, in der Hartwig keine öffentliche Szene macht. Was bei ihnen zu Hause los ist, möchte ich gar nicht wissen. Ein wenig Abstand würde beiden sicher gut tun.“ Ich denke an sein Veilchen. „Er wird doch nicht geschlagen, oder?“, frage ich vorsichtshalber. „Was?“ Rose schaut mich entsetzt an. „Nein, Hartwig ist enttäuscht, aber er würde seinen Sohn nie schlagen. Zumindest nicht außerhalb des Dojos. Da geht es allerdings sehr heftig zu. Trainer kämpfen gegen ihre Pokémon, da kann es schon Mal zu Verletzungen kommen.“ „Verkehrte Welt…“, murmelt Louis. „Was soll das bringen? Kein Mensch kann ein Kampfpokémon besiegen.“ „Das scheint der Reiz dabei zu sein“, sagt Rose. „Aber ich kann dem Ganzen auch nichts abgewinnen. Ich habe schon Skrupel, Pokémon zu fangen, geschweige denn mit ihnen zu kämpfen. Aber da bin ich wohl die einzige.“ Ich werfe Louis einen Blick zu. „Macht euch keinen Kopf“, wendet sie schnell ein. „Ich verurteile niemanden, der so mit Pokémon umgeht. Die meisten Trainer kümmern sich wirklich liebevoll um ihre Pokémon und viele von ihnen wollen sogar kämpfen. Aber es ist nichts für mich.“ „Ausnahmen gibt es leider immer“, sage ich. Sie nickt und Louis schaut betreten zu Boden. Da fällt mir etwas ein. „Schreibst du deshalb eine Geschichte aus Pokémonperspektive?“, frage ich. Ihre Augen leuchten auf. „Sozusagen. Ich möchte den Blickwinkel der Menschen verändern. Wie würdest du dich fühlen, wenn du in ein Pokémon verwandelt wirst, in der Wildnis Freunde findest und dann ganz plötzlich gefangen wirst, ohne dich verabschieden zu können?“ „Ich weiß nicht“, sage ich. „Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Aber es klingt… beängstigend.“ „Genau“, sagt Rose. „Ich finde, wenn wir Pokémon fangen und aufziehen, sollten wir uns wenigstens in sie hinein versetzen und sie nur so fangen, wie wir in ihrer Situation gefangen werden möchten. Versteht ihr, was ich meine?“ Ich nicke und werfe Louis wieder einen Blick zu. Er schaut zur Seite, einen schmerzlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Dann steht er abrupt auf und legt Geld auf den Tisch. „Ich muss etwas mit Gina klären“, sagt er und gibt mir einen raschen Kuss auf die Wange. Mein Gesicht beginnt zu glühen, aber da ist er schon auf und davon. „Ehh…“, sage ich und schaue überall hin, nur nicht zu Rose. Sie kichert. „Ich habe nichts gesehen.“ „Dein… Farbeagle. Was ist damit? Hast du es nicht gefangen?“ „Nein, habe ich nicht.“ Sie legt ihren Collegeblock bei Seite. „Als ich klein war, haben meine Eltern mich sehr oft in die Safari mitgenommen, damit ich mich an die Pokémon gewöhne. Ich war B-Level, bevor ich alt genug war, ein Pokémon zu besitzen. Mit Mr. Bickle habe ich mich nach und nach angefreundet, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, ihn zu fangen. Er hat dort Freunde und Familie und ich wollte ihm das nicht nehmen. Schließlich wollten meine Eltern, dass ich auch die C-Prüfung ablege, aber da hatte ich schon eine ganze Menge Trainer gesehen, die Pokémon ohne jede Rücksicht einfingen und das war mir zuwider. Deswegen weigere ich mich, zu bestehen und die Safari-Zone zu übernehmen.“ „Aber dann siehst du Mr. Bickle nur selten, oder?“ „Es geht.“ Sie lehnt sich zurück und streicht eine Rasterlocke aus ihrer Stirn. „Ich bin inzwischen lieber hier unten, weil ich mir dann nicht die Vorwürfe meiner Eltern anhören muss, aber ich gehe jede Woche für ein paar Tage zurück, um ihn zu besuchen und ihm meine Geschichte vorzulesen.“ „Hmm…“ Ihre Ideologie interessiert mich. An Chris´ Idealen ist schließlich auch etwas dran, selbst wenn ich anderer Meinung bin. „Was ist mit Pokémon, die sich einem Trainer aufdrängen?“ „Wenn das ihr Wunsch ist, wer bin ich, ihnen das zu verbieten?“, fragt Rose und steht auf. „Wenn du möchtest, gehe ich deinem Freund gerne bei seinem Pokémonproblem zur Hand. Er wird Hilfe gebrauchen können.“ „Woher weißt du von seinem Problem mit Gina?“, frage ich. Sie lächelt. „Mr. Bickle hat es mir erzählt.“ Kapitel 69: Konfrontation (Funkstille) -------------------------------------- „Erzählt? Wie, erzählt?“, frage ich, als ich ihr nach draußen folge. „Kann er reden?“ „Ich verstehe ihn gut, auch ohne Worte“, sagt Rose. „Kennst du das nicht?“ Ich zögere. „Doch.“ „Ich war zuerst sehr wütend, um ehrlich zu sein“, fährt sie fort, während wir Richtung Norden gehen, wo wir Louis und Gina vermuten. „Er wirkte bei unserem Picknick sehr nett, deswegen war ich schockiert, als ich von den Girafarig erfahren habe und dass er so viele andere Pokémon ohne Sinn und Verstand gefangen hat.“ Ich nicke betreten. „Aber als ich gestern die Fangdaten überprüft habe, hatte er fast alle Pokémon wieder freigelassen und Holger sagte, eins der Kleinstein habe sich ihm sogar freiwillig angeschlossen. Also wollte ich ihm noch eine Chance geben und bin heute Morgen angereist, um zwischen ihm und Gina zu vermitteln. Ich hoffe, ich habe euer Date nicht gestört.“ „Was? Nein, nein, alles in Ordnung“, stammele ich. Rose wirft mir ein unterdrücktes Grinsen zu. „Du wirst rot“, sagt sie und ich bedecke meine Wangen. „Tut mir leid.“ Sie kichert. Plötzlich stutze ich. „Moment Mal, wie früh bist du denn losgegangen, wenn du erst heute Morgen zurückgekommen bist?“ Louis und ich waren fast einen ganzen Tag unterwegs, um die Safari-Zone zu erreichen. „Holger hat mich auf seinem Golbat hergeflogen.“ Ich bleibe stehen. „Er hatte noch eine Stunde bis zu seiner Schicht und… alles okay bei dir?“ Sie dreht sich zu mir um. Ich schüttele den Kopf und zwinge mich zu einem Lächeln. „Ja. Ja, alles gut.“ Rose wirft mir einen kritischen Blick zu, geht dann aber weiter. Ich folge mit schnellen Schritten. Ein Golbat. Ein Nidoking. „Sag mal… kann ich dich was fragen?“ Rose lacht. „Ist es so schlimm, dass du dafür erst eine Einwilligung brauchst?“, fragt sie belustigt. „Vielleicht“, sage ich. „Es kommt drauf an.“ Sie bleibt stehen. „Worum geht es?“ „Ist dir an Holger jemals etwas verdächtig vorgekommen? Komische Telefonate oder Geheimnistuerei?“ Sie runzelt die Stirn. „Nie. Warum fragst du?“ „Es ist nur…“ Verdammt, ich will sie nicht fragen. Sie scheint Holger sehr zu mögen. Was, wenn ich falsch liege? Aber Gott war aggressiver als sonst. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke… Damals, auf dem Indigo Plateau hat er Schwester Joy angeknurrt. Schwester Joy, die sich als Eliza von Team Rocket in Verkleidung herausgestellt hat. Sku, die mich vor den Bikern warnen wollte, habe ich auch ignoriert und bin daraufhin geradewegs in ihre Falle getappt. Vielleicht wird es Zeit, dass ich meinen Pokémon mehr vertraue. Sie kennen Team Rocket. Sie wissen, wonach sie suchen. Ich hole tief Luft. „Ich habe ein Telefonat von ihm überhört. Es klang ziemlich verdächtig. Und mein Igelavar hat sehr negativ auf ihn reagiert.“ „Dein Igelavar?“, fragt Rose. „Holger sagte mir, dass es ihn angeknurrt hat. Meintest du nicht, es wäre immer so angriffslustig?“ „Ja, ist es, aber… bei Holger war es noch aggressiver als sonst.“ „Tut mir leid, Abby, aber das klingt sehr an den Haaren herbeigezogen“, sagt Rose. „Ich kenne Holger seit zwei Jahren und er ist niemandem jemals negativ aufgefallen.“ „Team Rocket ist auch vor zwei Jahren zurückgekehrt“, kontere ich. „Und er hat ein Golbat und ein Nidoking, beides typische Pokémon.“ „Das willst du ihm unterstellen?“ Rose schaut mich entsetzt an. „Dass er ein Mitglied von diesen Verbrechern ist? Wie kannst du so etwas sagen?!“ „Ich habe Erfahrung mit ihnen“, sage ich. „Genauso wie meine Pokémon. Wenn sie sagen, mit ihm stimmt etwas nicht, dann glaube ich ihnen.“ „Mr. Bickle vertraut ihm“, sagt Rose eisern. „Mr. Bickle hat auch noch nie die Safari-Zone verlassen!“, sage ich wütend. „Woher soll er wissen, was Team Rocket ist und was sie machen? Er ist ihnen doch noch nie begegnet!“ „Ich kann nicht fassen, dass ich darüber diskutieren muss!“, sagt Rose wütend und dreht sich um. „Und dass du ihn wegen seiner Pokémon verdächtigst, ist absolut ekelhaft.“ „Ich verdächtige ihn nicht deswegen!“, verteidige ich mich und laufe Rose hinterher. „Aber es ist verdächtig, siehst du das nicht?“ „Ich sehe gar nichts!“ Sie dreht sich abrupt um. „Ich will davon nichts mehr hören! Holger war immer gut zu mir! Er ist der einzige Freund, den ich in diesem Gefängnis dort oben habe, also hör auf, ihm so etwas zu unterstellen!“ „Hör mir doch wenigstens zu, verdammt!“, schreie ich. „Er will eine Nachtlieferung aus der Savanne heraus durchführen. Am zwölften Dezember, um Mitternacht. Und es scheint nicht das erste Mal zu sein. Ich weiß nicht, was er da macht, aber ich muss wenigstens versuchen, ihn aufzuhalten!“ „Du willst ihm nachspionieren?“, fragt Rose kühl. „Tut mir leid, aber das geht zu weit. Ich fand dich wirklich sehr sympathisch, aber wenn du mir gegenüber noch ein Wort bezüglich dieses Themas erwähnst, dann sorge ich dafür, dass du nie wieder einen Fuß in die Safari-Zone setzt.“ Ich öffne den Mund, schließe ihn dann aber wieder und presse meine Lippen zusammen. Es bringt nichts, jetzt noch weiter zu diskutieren. Rose wird ihre Meinung nicht ändern. Sie schaut mich noch einen Moment prüfend an, dann atmet sie aus, dreht sich um und geht mit raschen Schritten weiter. Ich folge langsam. Bis zu der Übergabe sind es noch acht Tage. Genug Zeit, um mir einen Plan zu überlegen. Als wir Louis schließlich auf einem der Strandabschnitte mit wilden Krabby entdecken, ist die Stimmung eisig. Rose hat kein Wort mehr mit mir gewechselt und ich weigere mich, eine Entschuldigung zu fälschen. Rose hat selbst gesagt, dass sie die Insel lange nicht mehr verlassen hat und dass Holger ihr einziger Freund unter den anderen Rangern ist. Ich dagegen bin seit Monaten unterwegs und habe mehr von Team Rocket und seinen Plänen mitbekommen, als gut für mich ist. Meine Pokémon haben ein Gespür dafür entwickelt, Gefahr zu wittern. Und ich auch. Louis steht mit etwas Abstand zu Gina, die Arme erhoben, während das Psychopokémon ihm den Hintern zuwendet und der schwarze Schwanz nach ihm schnappt, wenn er ihr zu nahe kommt. „Das sieht nicht gut aus“, sagt Rose und Louis dreht sich zu uns um. Als er Rose entdeckt, zeichnet sich tiefe Erleichterung auf seinem Gesicht ab. Als er mich sieht, verdunkelt sich sein Blick sofort wieder. Ich schüttele den Kopf und ringe mir ein ermutigendes Lächeln ab, was ihn nicht überzeugt, aber er zuckt die Schultern und wendet sich wieder Rose zu. „Kannst du mir helfen?“, fragt er. „Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.“ Rose lächelt und kommt zu ihm. „Geh ein paar Schritte zurück.“ Louis tut, wie ihm geheißen und gesellt sich zu mir, während Rose langsam eine Hand auf Girafarigs Flanke legt, dann damit den Hals hinauf wandert und schließlich den Kopf des Pokémon berührt, bevor sie leise auf Gina einredet. „Was ist passiert?“, flüstert Louis. „Habt ihr euch gestritten?“ „Könnte man so sagen“, erwidere ich und schaue Rose dabei zu, wie sie mit Gina diskutiert. „Ich habe Holger verdächtigt, ein Mitglied von Team Rocket zu sein.“ „Du hast was?“, zischt Louis, zu laut und zuckt zusammen, als Rose ihren Kopf hebt und in unsere Richtung schaut. „Warum das?“, flüstert er. „Erinnerst du dich an vorgestern Nacht, als ich mit Gott auf der Brücke saß?“ Er nickt und ich berichte ihm von Gotts Verhalten und meinem persönlichen Verdacht. Als ich durchblitzen lasse, dass Holger ein Golbat besitzt, schluckt Louis schwer. „Das ist sehr vage, Abby, da muss ich Rose Recht geben.“ „Ich weiß“, stimme ich zu. „Aber Gott hat schon einmal richtig gelegen. Wenn ich damals früher auf sein Verhalten geachtet hätte, wäre ein Pokécenter verschont geblieben und viele Trainer hätten jetzt ihre noch ihre Pokémon.“ Louis schaut zu Boden. „Ich mag Holger“, sagt er leise. Dann schaut er zu mir. „Aber wenn du glaubst, er führt etwas im Schilde, dann glaube ich dir. Also, was ist der Plan?“ „Ich weiß es noch nicht“, gestehe ich und schaue zurück zu Rose. „Aber es wird höchstwahrscheinlich illegal.“   Schließlich winkt Rose Louis zu sich. Ich folge, halte aber angemessenen Abstand. „Ich habe sie ein wenig beruhigt“, erklärt sie und legt Louis´ Hand vorsichtig auf Ginas Hals. „Sie wird dir eine Chance geben, also kümmere dich gut um sie.“ Louis schluckt und streicht sanft über ihren Hals. „Was ist mit dem?“, fragt er dann und deutet auf Ginas schwarzen Schwanz, der sich bedrohlich aufgerichtet hat und jetzt nach ihm schnappt. Louis reißt seine Hand weg. „Er hat sein eigenes Gehirn und ist nur instinktgesteuert“, sagt Rose. „Bis er dich in Ruhe lässt, wird es eine Weile dauern.“ „Das habe ich wohl verdient“, murmelt Louis. Gina schnaubt zustimmend und scharrt mit den Hufen.“ „Ich verabschiede mich“, sagt Rose und wirft mir einen letzten, misstrauischen Blick zu, dann dreht sie sich um und verschwindet in Richtung Stadt. „Oh Mann.“ Louis kratzt sich an der Nase und ruft Gina zurück. „Es ist ja nicht so, dass ich schon genug mit dem normalen Training zu tun hätte.“ „Es wird eine ganze Weile dauern, bis du die Orden erkämpfen kannst“, stimme ich zu. „Drei deiner Pokémon müssen mindestens 15 Level steigen und der Rest 7.“ „Wem sagst du das...“ Er seufzt. „Ich kann mindestens vier Monate Training einplanen.“ „Du schaffst das schon, Champ“, sage ich und hake mich bei ihm unter, Arm um seine Taille geschlungen. Er legt seinen Arm um meine Schultern und so schlendern wir zurück zum Pokécenter. Als wir die Stadt fast erreicht haben, rufe ich Gott, der bei Louis Anblick zum ersten Mal nicht knurrt und stattdessen an meiner anderen Seite entlang läuft. Ich lächele und als wir an einem Mülleimer vorbeikommen, krame ich den Maulkorb mit meiner freien Hand aus meinem Rucksack und werfe ihn kurzerhand hinein.   Wünsch mir Glück. Ich halte mein Handy mit der offenen SMS fest umklammert, während der Fernseher mit den ungewöhnlichen Lichtverhältnissen und Kameraeinstellungen der Unlichtarena zu kämpfen hat. Raphael kämpft seit über einer Stunde und hat gerade seinen dritten Vortrainer besiegt. Es ist das erste Mal, dass ich auch diese Kämpfe sehe und ich kann nicht umhin, ihn zu bewundern. Vorkämpfe sind immer leichter als der Kampf gegen den Arenaleiter und dienen dazu, den Kontrahenten zu testen. Wer einen Vortrainer nicht besiegen kann, hat beim Arenaleiter nichts zu suchen. Gleichzeitig kann ein schnelles Siegen über die Vortrainer nicht als Garantie für einen Arenasieg gewertet werden. Das hat Louis´ Niederlage gegen Jens bewiesen. Bei der achten Arena scheint leichter aber ein sehr relativer Begriff zu sein. Jeder der Trainer kämpft mit drei oder vier Pokémon und scheint vom Niveau her gleichauf mit so manchem Arenaleiter zu sein. Trotzdem besiegt Raphael sie, einen nach dem anderen, konzentriert und ohne seine Pokémon zu überanstrengen. Nach dem fünften Vorkampf ist sein Team aber so geschwächt, dass er das Pokécenter besuchen muss, eine Unterbrechung, die Alfred nutzt, um die spannendsten Momente der Kämpfe Revue passieren zu lassen und sie zusammen mit Jessy, die im Studio sitzt, zu analysieren. Louis kann schon seit fast zehn Minuten nicht mehr hinsehen. „Ich schaffe das nie“, jammert er. „Keine Chance. Niemals.“ „Jetzt mach mal halblang“, lache ich. „Raphael hat auch klein angefangen. Außerdem erwartet niemand von dir, ein Favorit zu werden.“ „Ich weiß überhaupt nicht, was ich von mir selbst erwarte“, sagt Louis und lässt den Kopf nach hinten sacken. „Will ich alle Orden gewinnen oder an der PCS teilnehmen oder Champion werden? Ich habe keine Ahnung mehr.“ „Einen Schritt nach dem anderen“, sage ich und lehne mich etwas mehr an ihn. „Erst musst du deinen fünften Orden ergattern, danach wird es schon irgendwie weitergehen.“ „Du hast gut reden…“ Er dreht seinen Kopf in meine Richtung. „Du hast ja auch nicht den Arenastress.“ „Nein, ich habe Storystress“, sage ich. „Eigentlich sollte ich mich auf die Suche nach einer guten Einstiegsstory machen, mit der ich in Lavandia punkten kann, stattdessen muss ich mich mit Team Rocket, Bikern, Geistern und misstrauischen Polizisten rumschlagen.“ „Naja, aber du gibst dir auch nicht unbedingt Mühe, den Problemen aus dem Weg zu gehen“, meint Louis grinsend. „Das kommt eben davon, wenn man sich in solche Sachen einmischt.“ „Wie soll ich sonst an eine gute Story kommen?“, frage ich lachend. Louis schüttelt fassungslos den Kopf. Die Kampfanalyse neigt sich dem Ende zu und als Raphael mit einem erfrischten Team die nachtschwarze Arena betritt, um den sechsten Trainer herauszufordern, lege ich meinen Kopf auf Louis´ Schulter und das Programm geht weiter.   Um es kurz zu machen: Er gewinnt. Wie schon gegen Genevieve startet Claire den Kampf mit ihrem Kleoparda, das zwar schnell ist, aber nichts gegen Pennys sehr effektiven Himmelhieb ausrichten kann. Danach kommt alles Schlag auf Schlag. Hundemon besiegt Penny, Murphy gewinnt gegen Hundemon und wird schließlich von Tengulist ausgekontert, das wiederum nichts gegen Raphaels Vulnona ausrichten kann. Raphaels Züge bleiben stets kontrolliert, seine Präsenz cool und zuversichtlich und Alfred scheint vor Begeisterung in sein Mikro beißen zu wollen. Als Claire schließlich besiegt in die Hände klatscht und Schwarzlichtlampen an der Decke aufflackern, ruft Raphael Mandy zurück, die dank ihres hohen Levels die meisten Attacken gut überstanden hat und nimmt von der Arenaleiterin den Schattenorden entgegen. Alfreds Image mag nach Zachs Verrat gelitten haben, aber dass alle drei Favoriten, die er entdeckt hat, als erste die stärkste Arenaleiterin Kantos im ersten Versuch besiegen, lässt ihn vor Freude weinen. Diesen Triumph kann ihnen niemand nehmen. Ich bleibe mit Louis auch nach dem Kampf im Mediaraum sitzen, um das anschließende Interview mit Raphael zu gucken, doch merkwürdigerweise bleibt es aus. Nicht mal einen Kommentar nach Verlassen der Arena gibt es. Raphael ist kamerascheu, aber so schnell würde er nicht abhauen, nicht nach diesem Sieg, auf den er zweieinhalb harte Jahre hingearbeitet hat. Du hast es geschafft! :D Glückwunsch!!! Ich drücke auf Senden und mache mich mit Louis auf den Weg nach draußen zu der windgeschützten Strandhütte, die wir bei unserer Rückkehr von der Safari-Zone gefunden und beansprucht haben. Ich liege lange wach, denke über meine Diskussion mit Rose und das morgen anstehende Date nach und warte auf Raphaels Antwort. Sie kommt nicht.   Als ich nach meinem morgendlichen Schwimmtraining pünktlich um 12:00 Uhr vor dem Café auftauche, wartet Percy bereits auf mich. Ich fühle mich augenblicklich schlecht, in meiner grasbefleckten und silbern abgesteppten Wanderhose und Hoodie aufzutauchen, denn er hat sich wirklich herausgeputzt. Er trägt ein langärmliges Hemd und eine schwarze Hose und als ich auf ihn zugehe, verbeugt er sich und reicht mir eine einzelne blutrote Rose, um deren Stiel er ein goldenes Band gewickelt hat. „Das wäre nicht nötig gewesen“, murmele ich, ein wenig überrumpelt. Percy schüttelt den Kopf und nimmt meinen Arm. „Möchtest du etwas essen?“ Wie auf Kommando gibt mein Magen ein gewaltiges Knurren von sich und keine zehn Minuten später sitzen wir mit zwei großen Stück Beerentorte und Getränken an einem der Tische und unterhalten uns. „Wie geht es deiner Hand?“, fragt er nach einer kurzen Gesprächspause. Ich schaue auf die gerötete, leicht vernarbte Haut. „Gut, dank dir“, sage ich. „Ich wollte mich nochmal für deine schnelle Hilfe bedanken. Du bist uns zwar gefolgt, aber ohne dich sähe meine Hand jetzt eine ganze Ecke schlimmer aus. Also danke.“ Er schaut verlegen zur Seite. „Ich komme aus einer Apothekerfamilie, da wächst man mit so etwas auf“, sagt er schließlich und es ist das erste Mal, dass er mir… echt vorkommt. „Bis zum Festland und zum nächsten Krankenhaus ist es eine ganz schöne Strecke, deswegen übernehmen wir manchmal auch die Rolle von Ärzten.“ „Besitzt dein Corasonn deshalb Heilattacken?“, frage ich. Er nickt. „Jedes Familienmitglied besitzt eins. Die Corasonn sind seit drei Generationen Teil unserer Familie. Sie können nicht jede Verletzung heilen, aber wie bei dir beschleunigen sie oft den Heilprozess oder vermindern den Gewebeschaden.“ Je länger wir uns unterhalten, desto leichter fällt es mir, das Gespräch aufrecht zu halten und schon bald berichte ich ihm von einigen meiner Erlebnisse der letzten Monate. Nachdem wir fertig gegessen haben, bezahlt Percy unsere Rechnung und wir machen einen Spaziergang über den Strand. Eigentlich ist er gar nicht so übel, denke ich gerade noch, als er plötzlich meine Hand nimmt und mich zu einem Stein zieht, der aus dem Wasser hervorragt. Sein Corasonn sitzt darauf, direkt neben seinem Gitarrenkasten. „Ich habe etwas vorbereitet, liebste Abby“, sagt er und ich rolle die Augen, als er mich ans Wasser zieht, mir dann zuzwinkert und auf den Stein hinauf klettert. Er stimmt seine Gitarre und beginnt, zu spielen. Die Melodie ist triefend süß und hört sich an wie eine mit Rosenblättern bestreute Lichtung im Mondschein, aber wie schon bei seiner nächtlichen Musikeinlage für Ashley passt der Songtext nicht ganz so gut. Irgendwo bei Rettung aus der tiefsten Depression und Lächeln wie ein Diamant entscheide ich mich, einzugreifen. Charly, sein Corasonn, sitzt neben ihm und schaut peinlich berührt in die andere Richtung. Weiter südlich erkenne ich ein einzelnes Mädchen, das langsam den Strand entlang schlendert, ein Zubat auf ihrem Kopf, das fiepende Geräusche von sich gibt. Zeit für meinen Abgang.  „Au!“, rufe ich und packe mir an den Fuß. Wie erwartet schießt Percy zu meiner Rettung herab und hält mich fest, als ich mich langsam zu Boden sinken lassen und meinen Fuß halte. „Was ist, Geliebte? Hast du dich verletzt?“ „Ich muss auf einen spitzen Stein getreten sein, aber es ist halb so wild“, lüge ich und halte ihn mit einer Hand fest, damit er mir nicht den Schuh auszieht, um meine tödliche Wunde zu überprüfen. Das Mädchen ist inzwischen in Hörweite. „Percy, ich danke dir sehr für dieses Date, aber ich bin eigentlich bereits mit jemandem zusammen. So halb, zumindest.“ Er schaut mich fragend an. „Aber“, füge ich hinzu, „das Mädchen dort hinten hat eben zu dir geschaut.“ Ich deute unauffällig in ihre Richtung. Sie merkt es trotzdem und wird langsamer. „Ich glaube, ich habe sie schon früher gesehen. Sie muss eine heimliche Verehrerin sein.“ Percy lugt an mir vorbei, seine Wangen in Vorfreude gerötet. „Meint du wirklich?“ „Frauen haben für so etwas ein Gespür“, sage ich. „Ich sollte sie aus den Qualen der Unsicherheit erlösen…“ Er schaut zu meiner Hand, die sein Handgelenk umklammert hält. „Geht es deinem Fuß wirklich gut?“ „Halb so wild“, sage ich grinsend. „Sag mal, erinnerst du dich noch an unsere Vereinbarung?“   „Lass mich das nochmal klarstellen“, sagt Louis, als wir am Abend vor unserer Hütte sitzen, in Jacken und Decken eingewickelt und mit Sandwiches in den Händen. „Hartwigs Frau verteilt die VM Fliegen an Trainer, die ihr Mann mag und um von Hartwig gemocht zu werden, muss ich seinem Dojo beitreten und dort mit meinem Kampfpokémon trainieren?“ „Scheint so“, sage ich. „Aber du musst dich anstrengen und gut anstellen, sonst schmeißt er dich raus.“ „Ich weiß nicht, ob mir die VM das wert ist“, murmelt Louis. „Ich habe nur das Kramurx, und das ist nicht Mal Teil meines Kernteams.“ „Aber stell dir vor, wie praktisch es wäre“, erwidere ich sofort. „Du könntest deine Eltern besuchen, wann immer du willst, ohne tagelang unterwegs zu sein. Und Kramurx kannst du zusätzlich trainieren. Noah besitzt zwölf Teampokémon, aber selbst sieben könnten dir einen echten Vorteil gegen manche Trainer verleihen.“ „Wenn du meinst…“ Er starrt nachdenklich aufs Meer hinaus. Dann lacht er und schüttelt den Kopf. „Ich sehe schon, ich werde hier Wurzeln schlagen.“ Ich grinse und schaue ebenfalls Richtung Meer. Die Wellen rollen seicht auf den Strand zu und die untergehende Sonne verleiht ihnen einen letzten Hauch orangerot. „Es gibt schlimmere Orte.“ Kapitel 70: Eine Frage der Ethik (Dark) --------------------------------------- Die nächsten Tage verstreichen schnell. Louis nimmt meinen Rat an und stellt sich in Hartwigs Dojo vor, jetzt froh, Klaus gefangen zu haben. Die beiden trainieren dort vor- und nachmittags, während ich mein Schwimmtraining mit dem ASV fortsetze. Valentin redet weiterhin nur mit mir, wenn es sein muss, aber er wirkt nicht mehr ganz so unnahbar wie zuvor und auch mit Kat verstehe ich mich immer besser. Nur das schwarzhaarige Mädchen, das sich auf mein Nachfragen hin als Christine entpuppt, bereitet mir Kopfzerbrechen. Sie ist die drittschnellste im Club und Anwärterin auf einen Seniorenposten. Sie ist außerdem meine erbittertste Rivalin im Wasser. Ich brauche nur einige Tage, um an den restlichen Mitgliedern vorbeizuziehen, aber ich schaffe es partout nicht, Christine zu überholen. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, sobald ich zu ihr aufhole, legt sie mit einem Mal ungeahnte Kräfte an den Tag und so erreiche ich stetig als dritte den Strand. Dritte im Training bedeutet vierte bei dem Wettbewerb, denn eines wissen wir alle: Valentin ist mit Abstand der beste Schwimmer auf der Insel. Je länger ich ihn beobachte, desto öfter sehe ich ihn zusammen mit seinen Wasserpokémon. Rose hat Recht, er scheint auf ihr Temperament eingestimmt zu sein und wenn er nicht regelmäßig mit neuen blauen Flecken auftauchen würde, könnte ich fast vergessen, was ihn zu Hause und im Dojo erwartet. Bei unseren Mittagspausen im Café berichtet Louis mir allerdings in epischer Breite von dem Zwist zwischen Vater und Sohn. „Er kommt immer erst abends zum Training, wenn ich schon gehen will“, erklärt er mir mit vollem Mund. „Hartwig und er kriegen sich fast sofort in die Haare. Und wenn er Valentin anschreit, sieht es so aus, als wollten sie sich gegenseitig an die Kehle springen.“ Ich schlürfe an meinem Tamottee und denke an die anstrengenden Trainingseinheiten mit dem ASV. Wie Valentin es schafft, danach noch Kampfsport zu betreiben, ist mir schleierhaft. Einmal begehe ich den Fehler, Valentin direkt darauf anzusprechen. Er wirft mir einen wütenden Blick zu. „Was ist dein Problem?“, fragt er gereizt. „Misch dich nicht in Sachen ein, die du nicht verstehst. Und hör auf, deinen Schleimerfreund für dich rumschnüffeln zu lassen.“ „Schleimerfreund?“, frage ich hitzig. „Er heißt Louis, und er ist ganz sicher nicht da, um dir nachzuschnüffeln!“ „Nein, er ist da, um sich bei meinem Vater beliebt zu machen, damit er die VM von meiner Mutter bekommt.“ Ich erröte und Valentin lacht humorlos. „Dachtest du, das merke ich nicht? Und es macht die Situation nicht einfacher für mich, wenn es dich interessiert“, fährt er fort. „Jeden Abend muss ich mir anhören, dass selbst irgendein dahergelaufener Trainer mehr Motivation zeigt, als ich. Hast du irgendeine Ahnung, wie müde ich abends bin? Wie scheiße ich mich fühle, wenn ich sowas höre?“ Es ist das erste Mal, dass seine Stimme ihre gewohnte Ruhe verliert und ich bin so überrumpelt, dass ich kein Wort zu meiner Verteidigung hervorbringe. Und dann sind da noch zwei Dinge, die mir schwer im Magen liegen. Ich habe bereits fünfmal versucht, Raphael anzurufen und ihm genauso viele SMS und Mails geschrieben, aber er antwortet nicht. Er hat sich schon öfters lange nicht gemeldet, aber nicht so abrupt, nicht, ohne mir Bescheid zu sagen, dass er lange Zeit nicht erreichbar sein wird. Nicht, wenn ich so verzweifelt versuche, ihn zu erreichen. Das alles wäre aber nur halb so schlimm, hätte Alfred nicht im Radio verkündet, dass Raphael und Richard beide beschlossen haben, nach ihrem achten Arenasieg eine Rundreise durch Sinnoh zu machen, um sich zu entspannen. Warum ist Genevieve nicht mit von der Partie? Raphael würde mit Sicherheit lieber mit ihr verreisen, als mit Richard. Außerdem hat er mir gesagt, er wolle die Safari-Zone in Fuchsania City besuchen. Kein Wort von einem Trip nach Sinnoh. Und warum klang Alfred bei der Verkündung so… emotionslos? Was immer los ist, solange Raphael sich nicht mit mir in Kontakt setzt, kann ich nichts tun. Und meine Gedanken sind ohnehin noch mit einer anderen Problematik beschäftigt. Holger. Mehr als einmal habe ich mein Handy in der Hand gehalten, Hollys Nummer angewählt, Daumen über der Anruftaste schwebend. Jedes Mal lege ich es zurück in meine Tasche. Ich kann Holly nicht anrufen. Ich weiß, dass ich ihr Bescheid sagen müsste, dass ich nicht weiß, wer kommen wird, wie stark sie sein werden. Wir werden Unterstützung brauchen, aber die Art, wie Holly bei unserem letzten Telefonat mit mir geredet hat, sitzt mir noch in den Knochen. Was, wenn sie mir nicht glaubt? Oder wenn sie mir glaubt, aber die falschen Schlüsse zieht und meine Informationen mit Zach in Verbindung bringt? Was, wenn Zach bei der Lieferung dabei ist? Ich kann es nicht riskieren. Richard würde mich umbringen, wenn ich Zach verrate, nur weil ich meinen Mund gegenüber der Polizei nicht halten kann. Es ist meine Schuld, dass er überhaupt seinen Traum aufgeben musste und entdeckt wurde. Ich bin den beiden etwas schuldig. Erst muss ich herausfinden, wer an der Lieferung beteiligt ist und was geliefert wird. Wenn Zach nicht dabei ist, kann ich immer noch die Polizei rufen. Auch wenn Holly mir dann vermutlich den Hals umdrehen wird. Wütend lasse ich mich nach hinten gegen die ausgebleichte Außenwand der Strandhütte sinken und starre in den Himmel. Es ist noch nicht ganz dunkel, aber Louis ist noch nicht zurück. Sonntag hatte das Dojo geschlossen und er hat die Zeit genutzt, seine frisch gefangenen Pokémon ein wenig im Kampf zu erproben. Glen hat sich wie erwartet als wackerer Kämpfer entpuppt, dem es an Kreativität nicht mangelt und Klaus scheint das Kämpfen gegen andere Pokémon auch zu genießen, zumindest, wenn er einen vollen Magen hat. Mit Gina gibt Louis sich die meiste Mühe, sie zahlt es ihm dafür aber am wenigsten zurück. Die meisten seiner Befehle ignoriert sie und wenn er ihr zu nahe kommt, schnappt ihr Schwanz nach ihm. Nur ein Trainingstag und Louis´ Hand ist schon voller Bisswunden und blauer Flecke. Immerhin läuft sie nicht weg, aber wer weiß. Vielleicht wartet sie nur auf den richtigen Augenblick. „Abend!“ Ich schrecke hoch. Louis taucht hinter der Hütte auf und lässt sich ächzend neben mir in den Sand plumpsen. „Boah, bin ich erledigt.“ Er grinst mir zu und ich wuschele ihm durchs Haar. „Also, was ist der Plan?“, fragt er nach einigen Minuten, die wir schweigend aufs Meer geschaut und die Stille genossen haben. „Morgen ist Freitag“, sage ich. „In der Nacht findet die Übergabe statt. Wir sollten morgen früh zur Safari-Zone gehen, danach müssen wir einen Weg finden, einzubrechen.“ „Einzubrechen?“, fragt Louis überrascht. „Ich dachte, du wolltest Holly anrufen.“ Ich schüttele den Kopf. Louis weiß nicht, dass Zach kein Verräter ist und ich will es ihm nicht sagen. Nicht, wenn die Möglichkeit besteht, dass Holly ihn als nächstes aufs Korn nimmt. Und wenn Zach wirklich auftauchen sollte, muss ich nicht mal so tun, als hätte ich ihn laufen lassen. Wenn wir es mit Trainern seines Kalibers zu tun haben, können wir ohnehin nicht viel ausrichten. Louis schaut mich einige Sekunden erwartungsvoll an, merkt dann, dass ich nicht vorhabe, ihm zu antworten und seufzt resigniert. Als Dankeschön, dass er nicht nachfragt, lasse ich mich ein wenig zur Seite sinken, bis unsere Schultern aneinander liegen. „Tut mir leid, dass ich dich da wieder mit reinziehe“, murmele ich leise. „Aber es ist alles ein bisschen kompliziert. Wenn es nur um mich ginge, würde ich es dir erklären, aber…“ Er legt einen Arm um meine Schulter. „Schon in Ordnung. Sag mal…“ „Hm?“ „Du reist bald ab, oder?“ Ich schlucke. „Du warst dabei, als ich das Ticket gekauft habe.“ „Ja, ich weiß.“ Er seufzt und lässt seinen Kopf zur Seite sacken, bis er auf meinem aufliegt. „Ich werde dich ziemlich vermissen.“ „Sieh es positiv“, sage ich und schiele zu ihm hoch. „Wenn ich weg bin, kannst du wieder in einem ordentlichen Bett schlafen und musst mein Essen nicht mehr bezahlen.“ Er lacht und drückt mich etwas fester. „Bleibt das… also…“ Er stockt. „Was?“ „Sind wir jetzt zusammen?“, fragt er mit zittriger Stimme. „Ich weiß, ich habe damals gesagt, dass es nicht auf Distanz funktionieren wird und all das, aber…“ Er ringt nach Worten und schaut mich schließlich hilflos an. „Sofern ich das nächste Jahr überlebe“, beginne ich grinsend und Louis unterdrückt ein Lachen, „…bin ich offen für einen Versuch.“ „Naja, du weißt ja, wo du mich das nächste halbe Jahr findest“, sagt Louis und grinst mich breit an. „Ich komme hier wohl nicht so schnell weg.“ „Ist notiert…“, murmele ich leise und lehne mich etwas mehr an ihn. Sein Arm um meine Schulter drückt mich fest und ich spüre, wie seine Lippen meine Schläfe streifen. Ich ignoriere die Träne, die wenige Sekunden später folgt.   ooo   „Fast geschafft“, sagt Louis, der sich vor mir durch das hohe Gras auf Route 48 schlägt, Winry dicht neben ihm und Glen an seinem Rucksack hängend. „Heute zumindest keine Zwischenfälle.“ Ich nicke und denke an die Ibitak und Habitak zurück, dank denen ich fast die Klippe hinunter gestürzt wäre. Bei der Erinnerung kribbelt die Narbe an meiner Handinnenfläche und ich balle sie zu einer Faust. Ich weiß immer noch nicht, warum Gold dort war. Hat er trainiert? Nein, dafür hat er keine Zeit. Außerdem war er die letzten neun Jahre verschwunden, um zu trainieren. Er muss für´s erste genug davon haben. Jayjay trabt mit etwas Abstand über die Wiese, Hunter auf seinem Rücken. Sein Flügel ist gut verheilt, aber er hat mit längeren Flugstrecken noch Probleme und wird schnell müde. Und zu Fuß sind Ibitak nicht unbedingt elegant unterwegs. Gott trottet an meiner Seite durchs Gras, seine Rückenflamme zu einer knisternden Glut reduziert. Dass ich den Maulkorb weggeworfen habe, scheint ihn beruhigt zu haben und es fühlt sich gut an, sein Vertrauen zu spüren und zu wissen, dass ich mich auch auf ihn verlassen kann. Bisher war ich wegen seines Verhaltens immer skeptisch, aber jetzt, da ich mir endlich die Mühe gemacht habe, seine Aggressionen nachzuvollziehen, kommt er mir gleich viel weniger bedrohlich vor. „Dein Plan“, sagt Louis und wird langsamer, bis ich zu ihm aufschließe. „Bleibt es bei dem, was du mir erklärt hast?“ Ich nicke. „Wenn nichts dazwischen kommt.“ „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Abby.“ Er reibt sich die Nase. „Was da mit dir und Holly ist… kann das nicht ruhen? Hier geht es um Team Rocket.“ „Ganz genau“, sage ich und starre an ihm vorbei zu der umgebauten Villa, die hinter dem Torbogen auftaucht und in die Höhe ragt. „Das ist das Problem.“ Als wir das Pokécenter erreichen, ist es bereits später Abend. Noch etwa drei Stunden bis zur Lieferung. „Ah, schon wieder hier?“, fragt Schwester Joy und schaut von ihrem Computer auf. „Möchtest du noch Mal auf Pokémonsuche gehen?“, fragt sie Louis spitz. Er schüttelt den Kopf. „Ich will, dass Girafarig sich von seiner Herde verabschieden kann“, sagt er und schaut flüchtig in meine Richtung. „Ich habe sie ziemlich abrupt gefangen, vielleicht hilft ihr das, Vertrauen zu mir zu fassen.“ Schwester Joys Gesicht nimmt sofort weichere Züge an. „Das ist sehr einfühlsam von dir. Wollt ihr ein Zimmer oder bleibt ihr wieder draußen?“ „Draußen“, sage ich. „Aber wir würden unsere Pokémon gerne heilen.“ Während die Pokébälle nacheinander von Schwester Joy in die Maschine gelegt werden, redet Louis leise mit mir. „Ich kann nicht gut lügen, Abby…“, murmelt er. „Ach was, das hast du super hinbekommen“, ermutige ich ihn. „Und es ist nicht weit hergeholt. Du solltest Gina vielleicht wirklich die Möglichkeit geben, wenn das hier erledigt ist.“ „Ich fühle mich sehr unwohl bei der ganzen Sache.“ „Denk dran, worauf es hier ankommt“,  ermahne ich ihn leise. „Die größte Hürde wird Rose sein. Sie muss dir glauben.“ „Jaja", murmelt er. "Ich gebe mein Bestes." Ich küsse ihn flüchtig auf den Mundwinkel und folge dann Schwester Joys Winken, die mit unseren Pokémon fertig ist. Als wir wieder vor dem Pokécenter stehen, atme ich tief durch. "Okay, du gehst dir jetzt einen Termin machen und ich kundschafte die Luft aus. Um zehn Uhr geht es los." "Geht klar." Louis winkt mir, dann läuft er zum Safari-Eingang. Der Plan ist im Grunde sehr simpel. Während Louis den Haupteingang nimmt und so in die Savanne kommt, werde ich von außen in die Areale eindringen. Und das heißt von oben. Ich schlendere zurück Richtung Route 48 und suche mir dort einen Weg durch die umliegenden Wälder, bis ich eine kleine Lichtung finde, von der aus ich einen großen Fleck grauen Himmel ausmachen kann. Dann rufe ich Hunter. Er krächzt liebevoll, als er mich sieht und flattert mit den Flügeln. Ich bezweifle, dass er mit mir auf dem Rücken lange in der Luft bleiben kann. Wir müssen uns beeilen. Ich streiche ihm einige Minuten über das weiche Brustgefieder und erkläre ihm die Situation. Dann sitze ich auf. Der Start ist ein wenig holprig. Hunter ist lange nicht mehr mit zusätzlichem Gewicht geflogen und er braucht einige Sekunden, bevor er sich der Schwerkraft entgegen setzen kann und langsam in die Höhe hievt, Zentimeter um Zentimeter, bis wir die Baumkronen hinter uns lassen und er die Winde nutzen kann. Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter und lauter, bis ich nichts anderes mehr hören kann und ich lenke Hunter in einem Bogen um den Platz vor der Safari, wo das Pokécenter steht und langsam in Richtung der Areale. Wie erwartet sind große Teile der Safari von oben umzäunt, nur einige Stellen liegen frei. Hunter gleitet durch die Lüfte, schlägt nur ab und an mit den Flügeln und ich liege flach auf seinem Rücken, um unter uns nach dem richtigen Areal Ausschau zu halten. Wir sind gerade einmal zehn Minuten in der Luft, als Hunter langsamer wird. "Alles okay bei dir?", frage ich besorgt und schaue an seinem Hals vorbei zu ihm. Hunter krächzt halbherzig und legt sich nochmal für einige Meter richtig ins Zeug, bevor er den Kopf schüttelt und sich absinken lässt. Verzweifelt halte ich nach einer guten Landemöglichkeit Ausschau. Wir sind einmal eine Runde um die Areale geflogen, aber da ich nicht weiß, wo genau in dem Gebiet die Übergabe stattfinden soll, will ich Holger erst im letzten Moment folgen. Also zurück zu den Eingängen und versteckt halten. "Mach jetzt bloß nicht schlapp", rufe ich gegen den tosenden Wind, als Hunter immer schneller absinkt und kraftlos mit den Flügeln schlägt, um uns in der Luft zu halten. Die umgebaute Villa ist schon in Sichtweite. Wir müssen es schaffen. Hunter kreischt verzweifelt und kracht dann in den Maschendraht, der über dem nächstgelegensten Areal aufgespannt ist, überschlägt sich und begräbt mich unter sich. Ich fluche leise und rufe ihn zurück, bevor er mich zerquetscht. Dann eben zu Fuß. Vorsichtig rappele ich mich auf und balanciere über die Drahtkuppel, ein Unterfangen, das sich leichter anhört, als es tatsächlich ist. Meine Füße bleiben regelmäßig zwischen den groben Maschen hängen, der Draht gibt unter jedem meiner Schritte nach und wölbt sich nach innen, sodass es sich anfühlt, als würde ich über einen großen Gymnastikball laufen. Nur nicht so stabil. Fast zehn Minuten später erreiche ich entgegen allen Erwartungen das Ende meiner Strapazen. Ich krabbele über das Holzgeländer und finde mich auf einem Balkon wieder. Die große Glastür ist geschlossen und von innen mit einem schweren Vorhang verdeckt, aber ich will mein Glück nicht weiter auf die Probe stellen. Die Dachschräge senkt sich zu beiden Seiten des Balkons ab und ich klettere kurzerhand zurück auf das Geländer und von dort aus auf das Dach. Es ist steiler, als ich zuerst angenommen habe und ich krabbele auf allen Vieren höher und höher, bis ich die Dachspitze erreiche, auf der ich mich halbwegs bequem hinsetzen kann. Ich atme erleichtert aus und starre nach unten in die Tiefe. Mein Herz rast. Bis Stimmen von dem Verbindungspfad zu mir hochdriften, dauert es über eine Stunde. Mein Po tut weh und meine Beine sind steif, außerdem ist mir so weit oben verdammt kalt, aber ich reiße mich zusammen, unterdrücke ein Niesen und rutsche auf dem First etwas nach vorne, um die Verantwortlichen für die Geräusche ausfindig machen zu können. Der eine ist, wie erwartet, Louis. Die andere… "Mist", murmele ich und drücke mich enger an die Ziegel. Rose. Wenn sie mich sieht, ist es aus. Sie wird sofort Alarm schlagen. Ich hoffe, sie ist hier, weil sie Louis mit seinem Gina-Problem helfen will und nicht, weil sie Verdacht schöpft. Sie reden weiter, aber ich kann kein Wort verstehen. Vorsichtig, ganz vorsichtig, rutsche ich die Dachseite nach unten, gerade so weit, bis ich in Hörweite bin. "-Abby?" "Sie, eh, hat sich erkältet. Beim Schwimmen. Ihr geht es nicht so gut und sie wollte nicht herkommen, weil ihr euch… gestritten habt." Ich kann Roses Gesicht nicht erkennen, aber sie scheint mit der Antwort zufrieden zu sein. "Wollen wir dann?" "Ja, ehm, können wir auch in die Savanne gehen?" Nicht so auffällig! Rose dreht sich zu ihm um. "Warum die Savanne?" "Nur wegen… den Rihorn. Ich wollte versuchen, eins von ihnen zu fangen." Rose schweigt. Wieso ist sie überhaupt als Ranger bei ihm? Sie hat keine C-Lizenz. Hat sie ihn also doch durchschaut und gar nicht vor, weiter mit ihm in die Safari zu gehen? Louis plappert irgendetwas vor sich hin, aber der Schaden ist angerichtet. Selbst ohne ihr Gesicht zu sehen, kann ich mir das Misstrauen darin nur allzu deutlich vorstellen. Zeit, einzugreifen, bevor Rose die restlichen Ranger alarmiert. Holger darf keinen Verdacht schöpfen. Ich ziehe mein Handy aus meiner Tasche und rufe Louis an. Er schrickt hoch, als sein Klingelton die nächtliche Stille zerreißt und schaut sich hektisch um. Sein Blick gleitet kurz über mich und ich erstarre, aber er schaut sofort wieder auf sein Handy. "Louis hier", sagt Louis und ich kann seine Stimme sowohl aus meinem Hörer als auch von unten hören. Ich  antworte leise, damit Rose mich nicht auf dem Dach bemerkt. "Sie glaubt dir nicht. Du musst sie loswerden, zumindest so lange, bis wir Holger folgen können." "Ja, ich bin gerade auf dem Weg", sagt Louis. "Geht es dir gut?" "Ich komme runter, sobald du Rose unschädlich gemacht hast", flüstere ich. "Nimm Harley." Ich kann förmlich hören, wie er schluckt. "Ja, ich sehe dich dann gleich." Er legt auf. "War das Abby?", fragt Rose und Louis nickt. "Sollen wir los?“, fragt er und schaut sich ein wenig paranoid um. „Ich will nicht zu lange bleiben, es geht ihr wirklich schlecht." "Na gut. Zum Grasland, richtig?" Louis nickt und folgt Rose, als sie sich umdreht und dem Weg folgt. Sie benutzt nicht mal den Jeep. Vielleicht hat sie wirklich nicht vor, ihn in die Areale zu lassen. "Jetzt mach schon…", flüstere ich und krabbele die Dachschräge entlang, um die beiden keinen zu großen Abstand gewinnen zu lassen. Louis Hand schwebt über seinen Pokébällen, aber er zögert. "Bitte, Louis", murmele ich. Das ist vielleicht seine einzige Chance. Ein roter Lichtstrahl schießt von seinem Gürtel weg und Harley materialisiert sich drehend und tanzend zwischen ihm und Rose. "Schlafpuder!", ruft Louis, genau in dem Moment, da Rose sich erschrocken zu ihm umdreht. Die grüne Pollenwolke erreicht sie, hüllt sie ein und als sie um Hilfe schreien will, atmet sie eine beträchtliche Dosis ein und wankt. Ich zucke zusammen, als sie auf dem festgetretenen Lehm aufschlägt, aber dann rufe ich Hunter, springe auf seinen Rücken und lasse mich von ihm herab segeln, wo ich direkt neben Louis auf dem Boden lande. Er ist kreidebleich. "Du hast sie nur betäubt, nicht umgebracht", flüstere ich und drücke seine Hand. "Sie hat keine Pokémon. Wenn sie mit Team Rocket in Kontakt käme, könnte sie sich nicht schützen. So ist es am sichersten für sie." Louis nickt, ist aber immer noch wie weggetreten. "Komm, wir müssen sie verstecken." Einen Moment lang bleibt er noch reglungslos stehen, dann schüttelt er den Kopf und geht neben Rose in die Hocke, um sie unter den Achseln zu packen. Ich gehe zu ihren Füßen und gemeinsam tragen wir sie zum Eingang, wo die Jeeps geparkt sind. Als wir sicher sind, dass niemand sie so schnell findet, fliegt Hunter erst mich und dann Louis auf das Dach. Gemeinsam auf dem Dach sitzend schauen wir über die Safari hinweg, die sich als gigantischer Drahtkäfig bis zum Horizont erstreckt. Inzwischen ist es halb zwölf. Der Mond steht hoch am Himmel, es ist kalt und dunkel und ich werde immer unsicherer, ob Holger nicht vielleicht schon längst in der Savanne ist oder der Termin vielleicht verschoben wurde, weil wir das Telefonat mitgehört haben. Ich will Louis gerade darauf ansprechen, da hören wir das metallische Schrammen einer Tür und ein Lichtstreifen ergießt sich über den Erdpfad. Stimmen dringen zu uns nach oben und im nächsten Moment taucht Holger in unserem Sichtfeld auf. Er winkt jemandem zu und wendet sich dann in Richtung der Jeeps. In der einen Hand trägt er zwei Säcke, in der anderen ein Klemmbrett. "Was immer er da macht, scheint er nicht verheimlichen zu müssen", murmelt Louis und wir beide folgen gespannt Holgers Bewegungen, als er sich in den erstbesten Jeep setzt, die Zündung betätigt und das in Tarnfarben lackierte Gefährt sich brummend und ratternd in Bewegung setzt. „Was, wenn Rose Recht hat? Wenn er einfach ein ganz normaler Ranger ist und Gott ihn einfach nicht mag.“ "Ich liege nicht falsch", antworte ich eisern. "Gott liegt nicht falsch. Los, wir folgen ihm." "Das sagt sich so leicht", flüstert Louis. "Wie sollen wir beide einem Jeep folgen? Hunter kann uns mit seiner Verletzung wohl kaum beide tragen." Mist. Daran hatte ich nicht gedacht. "Du fliegst Hunter", sage ich. "Ich nehme Jayjay." "Ich bin noch nie geflogen, Abby!", zischt Louis. Holger fährt unterdessen los. "Ich kann das nicht!" "Halt dich einfach an ihm fest", sage ich und rufe Ibitak. "Such ein Loch im Maschendraht und lande möglichst ein Stück abseits, damit Holger dich nicht sieht. Los, rauf jetzt. Hunter, lass ihn nicht runterfallen." Hunter krächzt zustimmend und breitet seine Flügel aus, damit Louis auf seinen Rücken steigen kann. Ich rutsche währenddessen zum gefühlt zehnten Mal das Dach hinunter, lande auf dem Balkon und hole tief Luft, bevor ich mich über das Geländer hänge und dann an den Maschendrahtzaun klammere und langsam hinunter klettere. Mein Fuß rutscht ab und mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich falle, aber ich bin nur zwei Meter vom Boden entfernt und außer einem dumpfen Aufprall und einem heftigen Kribbeln in meinen Beinen trage ich keine größeren Schäden davon. Ich schaue nach oben und entdecke Hunter, der mit Louis auf dem Rücken in Richtung Savanne fliegt. Sie schaffen das schon. Ich muss mich auf meine eigene Verfolgung konzentrieren. Ich greife nach meinem Pokéball. Jayjay materialisiert sich schnaubend und freudig tänzelnd vor mir und ich streiche ihm mit behandschuhten Händen über die Schnauze, bis er ruhig ist. Dann steige ich auf seinen Rücken. "Wir folgen dem Jeep", erkläre ich und halte dabei die Sattelschlaufen vorsichtshalber fest umklammert. "Wir dürfen nicht entdeckt werden, also kein Donnergrollen und kein Wiehern, hörst du?" Jayjay nickt stumm und ich atme erleichtert auf. Vielleicht wird das ja mal ein entspannter- Er galoppiert los, schießt über den holprigen Untergrund wie eine Kanonenkugel und mir stehen in Sekundenschnelle die Haare zu Berge, als ich mich eng an seinen Rücken drücke und sein Fell sich an mir entlädt. Verdammter Chaot. Obwohl Holger einen beachtlichen Vorsprung hat, entdecke ich ihn schon nach wenigen Sekunden des Höllensprints wieder und drossele Jayjays Geschwindigkeit mit viel Zurren und Fluchen zu einem lockeren Trab. Er darf uns nicht entdecken, sonst können wir uns den Rest gleich sparen. Jayjay wird langsamer, bis ich Holger nicht mehr sehen kann. Keine zwei Minuten später erreichen wir aber das Tor zur Savanne. Der Jeep steht leer vor dem Eingang und Holger ist etwa hundert Meter in das Areal eingedrungen. Ich hebe den Kopf. Auf dem Drahtkäfig sitzt Hunter. Als Louis mich entdeckt, winkt er mir zu und macht ein Zeichen mit der Hand. Vorsichtig. Das muss er mir nicht zweimal sagen. Ich steige von Jayjays Rücken, bedanke mich flüsternd und rufe ihn dann zurück. Das Knistern seiner Mähne ist verräterisch laut, genauso wie die kleinen Funken, die sein aufgeladenes Fell hin und wieder produzieren. Das Tor ins Areal ist zu, aber nicht verschlossen. Ich zucke zusammen, als das Metall beim Aufdrücken leise quietscht, aber Holger ist inzwischen schon weit genug entfernt, dass der Wind, der durch die Savanne fegt, die Geräusche übertönt. Ein leises Wusch erregt meine Aufmerksamkeit und im nächsten Moment taucht Hunter über mir auf und gleitet sanft zu Boden. Louis steigt mit zittrigen Beinen ab. "Ich weiß nicht, ob ich so scharf auf diese VM bin", sagt er und tätschelt Hunters Hals. "Das war verdammt beängstigend." "Folgen wir ihm", sage ich und deute in die Richtung, in die Holger verschwunden ist. "Weit kann es nicht mehr sein, es sind nur noch fünfzehn Minuten bis zur Übergabe." Wir schleichen über die vertrocknete Graslandschaft und verstecken uns hin und wieder hinter einer Kaktee, einem knorrigen Baum oder einem großem Felsen. Schließlich bleibt Holger jedoch stehen. Er setzt die Säcke neben sich ab und macht sich an seinem Klemmbrett zu schaffen. Ich schaue auf mein Handy. Noch fünf Minuten. Der Platz, den Holger sich ausgesucht hat, ist bis auf einige Felsen leer. Würde er sich umdrehen, hätte er einen perfekten Blick auf die gesamte Strecke zwischen hier und dem Arealeingang. Aber er ist mit seinem Klemmbrett beschäftigt und so ist es Louis, der die nahende Katastrophe als erstes bemerkt. „Abby“, flüstert er und tippt auf meine Schulter. Dann deutet er hinter uns. Ich drehe mich um. Rose läuft in unsere Richtung. Jetzt rauscht sie auf uns zu und es scheint nur noch Sekunden zu sein, bevor sie bei uns ist, bevor sie Holger eine Warnung zuschreit. Stattdessen wird sie langsamer. Ich atme erleichtert aus, als Holger keine Anstalten macht, sich umzudrehen, das Klemmbrett scheint ihn weit mehr zu interessieren und der immer neu aufkommende Wind übertönt das leise Rascheln, das Rose im dürren Gras verursacht. Sie kommt zum Stillstand und geht hinter dem Felsen in die Hocke. Ihre Augen sprühen Funken. Ich hätte nie geglaubt, sie jemals so wütend zu sehen. „Wie… wie könnt ihr nur?!“, zischt sie und holt mehrmals tief Luft, bevor sie weiterspricht. Ihr Gesicht ist feucht von Schweiß, trotz der niedrigen Temperatur. Sie muss die gesamte Strecke gerannt sein, die wir bequem auf dem Rücken meiner Pokémon zurückgelegt haben. „Er hat heute… Auswilderungsdienst! Natürlich wird er herkommen!“ Auswilderungsdienst. Ich drehe mich um und luge über den Felsen zu Holger. Die beiden Säcke neben ihm… sind das die Pokémon, die freigelassen wurden und hier wieder entlassen werden sollen? „Ich gebe euch eine letzte Chance“, flüstert Rose energisch. „Ich weiß, dass ihr nicht hier seid, um Pokémon zu stehlen oder Unruhe zu stiften, ihr jagt einfach nur einem Hirngespinst hinterher und vielleicht ist das bei deinen bisherigen Erfahrungen berechtigt, Abby, aber wenn ihr jetzt nicht sofort mit mir mitkommt, hole ich die Polizei.“ „Rose, das ist alles ein Riesenmissverständnis…“, beginnt Louis, aber ich unterbreche ihn. „Fünf Minuten“, sage ich und schaue ihr in die Augen. Sie sind hellbraun, wie Karamell. „Wenn in fünf Minuten nichts Verdächtiges vor sich geht, dann sehe ich ein, dass ich falsch lag und wir kommen mit dir mit. Aber gib mir diese fünf Minuten.“ Ich sehe sie flehend an. „Bitte.“ Rose zögert. Das ist mehr, als ich erwartet hätte. Aber schließlich schüttelt sie den Kopf. „Nein. Das ist lächerlich.“ Sie fährt sich durch die Haare. „Ich will nicht, dass Holger das hier mitkriegt. Kommt jetzt mit oder ich-“ Sie stockt, ihr Blick wandert in die Höhe. Ich drehe den Kopf und schaue in den Himmel. Dort, in dem Loch des Maschendrahts, hängt, kopfüber, ein Iksbat. Gegen die schwarze Nacht kann ich den Trainer auf seinem Rücken kaum erkennen, die dunkle Team Rocket Uniform macht ihn förmlich unsichtbar, wäre da nicht das R, das leuchtend rot auf seiner Brust prangt. Das Fledermauspokémon lässt sich in die Tiefe fallen, dreht sich in der Luft und kommt gleitend vor Holger zum Stillstand, wo es seine vier Flügel kurz ausschüttelt. Sein Trainer steigt ab und kratzt sich am Kopf. Eine schwarze Mütze verdeckt sein Haar. Ich kenne ihn nicht. Das ist gut und schlecht zugleich. Gut, weil es nicht Zach ist. Schlecht, weil ich nicht weiß, welchen Rang er belegt. „Harten Flug gehabt?“, fragt Holger, mit einer Stimme, die mit einem Mal weit weniger freundlich klingt, als wir sie von unserem Safaribesuch kennen. Ich werfe einen flüchtigen Blick zu Rose. Sie hat die Hand vor den Mund gepresst. „Du machst dir keine Vorstellung“, erwidert der Rocket. Gleichzeitig landet das zweite Mitglied neben ihm, eine kleine, stämmige Frau mit giftgrünem Haar, das in einem langen Flechtzopf im Wind hin und her peitscht. Ihr Fletiamo gibt ein fiependes Gurren von sich und schnüffelt mit der herzförmigen Nase in der Luft. „Louis“, murmele ich tonlos. „Ruf die Polizei.“ Er nickt und zieht sein Handy aus der Tasche. Rose schluchzt unterdessen ohne jeden Laut. Ich lege beruhigend eine Hand auf ihr Knie. Für sie muss der Verrat tausendmal schlimmer sein. Wie wäre es für mich, wenn Raphael sich plötzlich als ein Rocket herausstellt? Ich will gar nicht daran denken. „Was hast du heute dabei?“, fragt die Frau mit einer nasalen Stimme. „Wir haben nicht ewig Zeit.“ „Ganz die alte, wie ich sehe“, sagt Holger. Dann zeigt er ihr das Klemmbrett. Sie überfliegt die Papiere und nickt schließlich mit einem Ausdruck, den ich mit viel Fantasie als Zufriedenheit interpretiere. „Sieht solide aus. Marius, lad auf. Was ist in dem anderen Sack?“ „Maulkörbe“, sagt Holger. „Für die… weniger gehorsamen Kandidaten.“ Sie nickt erneut. „Gut, das wär´s dann. Wir hauen ab.“ Ich greife automatisch nach meinen Pokébällen. Ich kann sie nicht entwischen lassen. Aber Holger kommt mir zuvor. „Warte, Emma.“ Sie dreht sich genervt zu ihm um. „Was ist im HQ los? Beim letzten Termin habt ihr mich sitzen lassen.“ Sie verzieht das Gesicht. „Marius, dein Stichwort. Ich habe keine Nerven mehr für diesen Scheiß.“ Marius kommt ihrem Befehl nur zu gerne nach. „Dark, der Sohn vom Boss. Er hat Ärger gemacht.“ „Ärger?“ Holger schaut verwirrt zwischen den beiden Rockets hin und her. Ich halte den Atem an. Dark. Der mysteriöse Jugendliche. Die Nachrichten haben berichtet, dass er seit einiger Zeit nicht mehr gesichtet wurde. „Was hat er gemacht?“ Marius grinst breit. Seine weißen Zähne strahlen in der Nacht. „Er ist ausgestiegen.“ Kapitel 71: Schattenkampf (Vorahnung durch Seher) ------------------------------------------------- „Ausgestiegen?“ Holger schaut verwirrt zu Emma. „Wieso hat Atlas ihn gehen lassen?“ „Er hatte keine große Wahl, nach seiner Niederlage“, schnaubt sie und steigt auf ihr Pokémon, das ein schrilles Fiepen von sich gibt. „Dark hat sich immer mehr aufgespielt“, erklärt Marius. „Er hat Atlas kritisiert und schließlich ist dem Boss der Kragen geplatzt. Er hat seinen Sohn vor allen Mitgliedern zu einem Duell herausgefordert. Wollte ihm Manieren beibringen. Er hat nicht damit gerechnet, dass er den Kürzeren ziehen könnte.“ „Keine gute Stimmung im HQ grade“, sagt Emma und befestigt den Sack an ihrem Gürtel. „Sei froh, dass du Lieferant bist.“ „Hör mir auf damit“, murmelt Holger und verschränkt die Arme. „Ich kann hier kaum atmen. Immer lächeln, lächeln, dann diese Göre, die sich an mich ranschmeißt, als gäbe es kein Morgen mehr…“ Hinter mir gibt Rose einen erstickten Laut von sich. Louis nickt mir zu. Sein Telefonat ist beendet. Jetzt heißt es alles oder nichts. Ich greife nach Skus und Gotts Pokéball, aber als ich mich aufrichten will, bewegen meine Beine sich nicht. Wütend schaue ich nach unten, um zu sehen was mich festhält. Meine Beine zittern. Die Angst, die ich seit meiner letzten Begegnung mit Team Rocket verdrängt habe, steigt mit einem Mal wieder an die Oberfläche und hält mich am Boden. Das Kopfgeld. Holger scheint mich nicht zu kennen, aber Emma und Marius werden ohne Zweifel durch Mel Bescheid wissen. Sie könnten erster oder zweiter Rang sein, beide zu stark für mich. Wenn ich es vermassele, wenn sie mich fangen… Die Narbe auf meiner Schulter beginnt schmerzlich zu pochen. Mels verzerrtes Gesicht, ihr Geschrei, die Mordlust in ihrem Blick… Meine Hände sind kalt mit Schweiß. „Wir hauen ab“, sagt Emma in diesem Moment und reißt mich aus meiner Starre. Louis wirft mir einen fragenden Blick zu. Nein. Wütend presse ich meine Lippen aufeinander. Ich darf mich nicht von ihnen unterkriegen lassen. Außerdem bin ich nicht alleine. Louis ist hier. Meine Pokémon sind hier. Und wir müssen nicht gewinnen. Nur lange genug durchhalten, bis die Unterstützung kommt. Ich hole ein letztes Mal tief Luft, dann zwinge ich meine Beine in eine aufrechte Position und trete aus meinem Versteck hinter dem Felsen hervor. Louis tut es mir auf der anderen Seite nach, nur Rose bleibt, wo sie ist. Ohne Pokémon ist sie uns keine große Hilfe. Marius zieht scharf die Luft ein, woraufhin Emma und Holger beide den Kopf heben. Als Holger uns entdeckt, gibt er ein wütendes Zischen von sich. „Ich wusste, dass ihr noch Ärger machen würdet“, sagt er und greift nach seinen Pokébällen. Ich denke nicht nach. Noch bevor sich sein Nidoking richtig materialisiert hat, schießen aus allen Richtungen rote Lichtblitze in die Nacht, allen voran Sku und Gott, die sich mit gesträubtem Fell und loderndem Rückenfeuer vor mir aufstellen. Vor Louis taucht Harley auf, die im Ernst der Lage sogar ihre Tanzeinlage beendet, und sich ganz unseren Gegnern widmet. Neben Holgers Nidoking positioniert sich Emmas Hypnomorba und wiegt sanft hin und her, während Marius ein grausam stinkendes Deponitox ruft, das mit breitem Grinsen auf uns zu rutscht. "Wer sind die Kinder?", presst Emma zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne ihren Blick von uns abzuwenden. "Sag mir nicht, dass sie dir gefolgt sind." Marius spuckt auf den Boden und zum ersten Mal fallen mir seine tiefgelben Zähne auf. Alles in mir sträubt sich, auch nur eine Sekunde länger hier zu stehen, aber ich bewege mich keinen Zentimeter von der Stelle. "Ein bisschen Verlust ist immer", sagt er. "Erschieß sie und wir sparen uns den Kampf. Niemand wird die beiden vermissen." Ich schlucke, als Emma ihre Waffe zieht und sie abwägend in den Händen hält. Holger reibt sich den Nasenansatz und schüttelt den Kopf. "Ihr hättet zu Hause bleiben sollen, Kiddies.“ Emma hebt die Waffe und richtet sie direkt auf mich. Skus bedrohliches Knurren übertönt sogar den Wind, der um unsere Köpfe tobt und als Gott einen Schritt nach vorne macht, die Zähne gefletscht und bereit zum Sprung, hält Emma inne. "Ihr dürft sie nicht erschießen", sagt plötzlich eine Stimme hinter uns. Rose. Ich schiele flüchtig hinter mich, gerade genug, um zu sehen, dass sie auf den Felsen gestiegen ist und mit roten Augen in die Gesichter der Rockets blickt. "Mein Verschwinden wird man bemerken." "Rose?" Holgers fassungsloser Gesichtsausdruck weicht in Sekundenschnelle heißem Zorn. "Was machst du hier?!" "Ich wollte die beiden zurückholen. Ich habe dir vertraut, Holger!", ruft Rose mit erstickter Stimme. "Ich habe dich verteidigt!" "Wer ist das?", fragt Emma. Ihr Pistolenlauf ist weiterhin auf mein Gesicht gerichtet und ich wage nicht, auch nur einen Finger zu rühren, aus Angst, sie zu provozieren. "Die Tochter der Safarileiter", sagt Holger und flucht dann laut. "Meine Tarnung ist aufgeflogen!" Emma murmelt etwas Unverständliches, dann entsichert sie ihre Waffe. Ich habe keine Zeit mehr. "Also kann ich die drei erschießen?", fragt Emma. Marius nickt gierig. Nur Holger zögert für eine Sekunde. Eine Sekunde, die ich nutze. "Mel hat ein Kopfgeld auf mich angesetzt", sage ich so laut ich kann. "Lebend", füge ich schnell hinzu, bevor Emma auf dumme Gedanken kommen kann. "Woher kennst du Mel?", fragt sie mit zusammen gekniffenen Augen. "Wir sind alte Bekannte", sage ich. Dann, ohne Vorwarnung, "Rauchwolke!" Erstickender, schwarzer Rauch schießt explosionsartig aus Gotts Rückenflamme hervor und hüllt uns ein weiteres Mal in endlose Dunkelheit. "Rose, hau ab!", schreie ich, bevor ich mich zur Seite werfe, gerade rechtzeitig, um Emmas ersten beiden Schüssen zu entgehen. "Ihr nach!", ruft Holger und einer der Rockets, vermutlich Marius, rennt los. Seine Schritte donnern an mir vorbei und folgen Rose, die vom Stein gesprungen ist und in der Weite der Savanne ihre Rettung sucht. "Seher!", höre ich Emmas Stimme, bevor ein dritter Schuss fällt und sich nur Zentimeter neben meiner Hand in den Boden bohrt. Panisch rolle ich zur Seite und springe auf, um Ausschau nach Gott und Sku zu halten, die nur schemenhafte Gestalten im Rauch sind. Die Seherattacke kündigt sich mit einer bösen Vorahnung an, dem Gefühl, dass die Luft um uns herum schwerer wird, aber es wird einige Minuten dauern, bevor die psychischen Wellen uns treffen. "Toxin Sku, Gott, nochmal Rauchwolke!" "Winry, Ethan, los! Greift an, egal wie! Harley, versuch es mit Schlafpuder!" "Giftstachel, Nidoking!" Gotts stetige Rauchwolke verschleiert allen Pokémon die Sicht, aber auch ihren Trainern, was uns zumindest für´s erste vor Emmas Pistole bewahrt. Ich hatte gehofft, dass die Aussicht auf das Kopfgeld sie dazu bringen würde, die Waffe wegzustecken, aber sie kann mich immer noch mitnehmen, wenn sie Louis erledigt hat. Ich verbanne den Gedanken aus meinem Kopf und schleiche zur Seite. Hinter uns, zwischen heulendem Wind und Marius´ Geschrei, höre ich das Trampeln von Hufen und das stetige Pfeifen von Rose. Als ich mich kurz umblicke, entdecke ich ein Rihorn, das auf Marius zu galoppiert und sein Deponitox mit einer unaufhaltsamen Dampfwalze halb unter sich begräbt, bevor es einen Felsen aus dem Boden hievt und auf das Müllhaldenpokémon schleudert. Gleichzeitig erschüttert Ethans Fuchtler den Untergrund und Steine zerspringen, als sein Schweif auf der Suche nach gegnerischen Pokémon gegen sie prallt. Kleine Felssplitter rasen in meine Richtung. Schützend vergrabe ich mein Gesicht hinter meinem linken Arm, eine gute Entscheidung, wie ich schnell feststelle, denn die kleinen Geschosse bohren sich in meine Jacke und durchdringen den Stoff weit genug, um meine Haut aufzuritzen. Blind entferne ich mich von dem Kampf, der inmitten der dicken Rauchschwaden vor sich geht und taste mich über den trockenen Untergrund vor. Etwas Schweres trifft mich in die Seite und ich werde von dem flauschigen Etwas zu Boden gerissen, das sich nach einem kurzen Brummen als Sku erweist. Ich fahre flüchtig durch ihr Fell. Bis jetzt scheint sie unversehrt zu sein, aber sie zittert. Ich kann es ihr nicht verübeln. Ungeachtet dessen springt Sku auf, kaum dass ich sie losgelassen habe und stürzt sich wieder ins Getümmel. Ich muss ebenfalls weiter. Solange Emma noch ihre Waffe hat, sind wir alle in Gefahr. Ein weiterer Schlag auf den Boden lässt mich wanken und Ethans lautes Brüllen durchdringt das allgemeine Geräuschchaos ohne Schwierigkeiten. Ich habe gerade meine Balance wieder erlangt, da wird die Luft schwer. Meine Atmung bleibt für einen Moment stehen, bevor sich ein unerträglicher Druck in meinem Kopf breit macht. Lichter tanzen vor meinen Augen und ich bin mir vage bewusst, dass ich schon wieder auf dem Boden liege, bevor die Lichter durch Bilder ersetzt werden, Bilder, die ich niemals sehen wollte. Louis, blutend, Skus Pokéball verloren in einem Strudel, meine Mutter, die mich schluchzend zurück ruft, bevor ich ihr ein letztes Mal den Rücken kehre, Raphael, in einer dunklen Zelle, abgeschnitten von der Welt, die Regionen im Chaos, Team Rockets Machteinfluss größer denn je, ein Schiff, sinkend, tiefer und tiefer, bis schwarzes Wasser durch Fenster und Türen bricht und alle Passagiere verschluckt. Ein Tritt in meinen Bauch reißt mich in die Realität zurück und als ich mich zusammen krümme und stockend ausatme, erscheinen über mir ein grüner Zopf und ein Pistolenlauf. Der Schuss fällt, genau in dem Moment, da Gott mit einem gewaltigen Satz aus der Dunkelheit auftaucht und sein Gebiss in Emmas Arm vergräbt. Das zusätzliche Gewicht vereitelt ihren Treffer und die Kugel zischt ziellos durch den Rauch. Ich springe auf, an Emmas ausgestrecktem Arm vorbei und reiße sie mit mir zu Boden. Sie ist kleiner als ich, aber kräftiger, und mit weit mehr Erfahrung, aber Gotts Biss setzt ihr zu und so schafft sie es trotz lautem Fluchen und Kreischen nicht, die Waffe ein weiteres Mal auf mich zu richten. Das hält sie jedoch nicht davon ab, mir mit der anderen Hand meinen Zopf zu packen und daran zu zerrend, bis sich einzelne Strähnen von meiner Kopfhaut lösen und ich schreiend von ihr herabrolle. Gott verbeißt sich unterdessen immer weiter in Emmas Arm, bis sie es nicht mehr aushält, meine Haare loslässt und ihn mit der anderen Hand von sich wegreißt. Ich krabbele von ihr weg, nur um Sekunden später von dem roten Licht geblendet zu werden, das ihr drittes Pokémon ankündigt. Das Lunastein schwebt trotz seines beachtlichen Gewichts über dem Boden und seine roten Augen funkeln bedrohlich in Gotts Feuerschein. "Steinhagel!", befiehlt Emma atemlos und obwohl ich ihm noch ein Ausweichen zu rufe, donnert schon im nächsten Moment eine Steinkaskade auf Gott herab, der zwar zur Seite springt, aber trotzdem unter den Felsbrocken begraben wird. Die effektive Attacke besiegt ihn problemlos und ich spüre Panik in meiner Kehle aufsteigen. Ich kann Hunter rufen, seine Verfolgung ist effektiv gegen einen Psychotyp, aber er ist immer noch nicht fit und ich weiß nicht, wie stark Lunastein ist. Die Steinkaskade würde ihn wohl genauso leicht besiegen. Die Entscheidung wird mir von Sku abgenommen, die das Erlöschen von Gotts Flammen richtig gedeutet hat und jetzt in großen Sätzen zu meiner Unterstützung heran eilt und sich knurrend vor mir aufbaut, Schwanz bedrohlich in die Höhe gestreckt. Der Rauch lichtet sich langsam und ich rufe Gott zurück, der hilflos unter den Steinen begraben liegt. Emma wechselt ihre Waffenhand, der schwarze Ärmel ihrer Uniform hängt blutig und in Fetzen von der zerbissenen Haut herab und scheint zu nicht mehr viel Feingefühl zu gebrauchen zu sein. Wir betrachten einander argwöhnisch und ich nutze den kurzen Moment, um die Situation um uns herum aufzunehmen. Louis kämpft irgendwo zu meiner Linken mit Winry, Harley und Ethan gegen Holgers Golbat und die von Emma und Marius zurückgelassenen Flugpokémon Fletiamo und Iksbat. Marius ist mit der Verfolgung von Rose beschäftigt, die Unterstützung von einem der wilden Rihorn bekommen hat und Emmas Hypnomorba wankt langsam in meine Richtung. Nur Nidoking ist bisher ausgeschaltet. Ich beiße mir auf die Lippen. Es sieht nicht gut für uns aus. Emma bemerkt meine Zweifel und grinst zum ersten Mal. In ihrem Gesicht ist es keine schöne Regung. "Ihr macht verdammt viel Ärger", sagt sie und presst ihren verwundeten Arm gegen ihren Körper. "Ich habe Mel für dumm gehalten, als sie das Kopfgeld aufgesetzt hat. So langsam kann ich sie verstehen." "Was wollt ihr erreichen?", frage ich, meine Stimme heiser von dem aufgewirbelten Staub und dem Rauch, der noch in feinen Schlieren in der Luft hängt. "Warum stehlt ihr all diese Pokémon?" Hypnomorba erreicht uns und stellt sich neben Lunastein, das in der Luft auf und ab schwebt. "Weil wir es können", sagt Emma und hebt ihre Waffe. Ich greife nach meinem Pokéball. "Wirst du mich erschießen?", frage ich und bin überrascht, wie ruhig meine Stimme mit einem Mal ist. "Um ehrlich zu sein, bin ich sehr gespannt, was für Pläne Mel für dich hat", erwidert sie und das Bild von Mels leerer Augenhöhle blitzt ungebeten in meinem Kopf auf. "Hypnose!", schreit Emma, genau in dem Moment, da ich Sku ihren Kreideschrei befehle. Die surrenden, einschläfernden Schallwellen, die Lunastein aussendet, prallen auf Skus Schrei und verlaufen sich, ohne Schaden anzurichten. Ein bisschen Schläfrigkeit macht sich zwar bei mir bemerkbar, aber das hält mich nicht davon ab, Jayjay zu rufen und ihm eine Donnerwelle zu befehlen, kaum dass er sich in dem roten Licht materialisiert hat. Jayjays Mähne knistert, dann springen die Funken auf seine geladenen Hörner um und schießen in Richtung Lunastein, das paralysiert zu Boden sinkt und träge vor und zurück wiegt. "Tse." Emma schaut kurz zu Louis hinüber und obwohl ich den Moment nutzen will, um sie zu überraschen, folge ich ihrem Blick. Ethan scheint vergiftet und von seinem Fuchtler verwirrt zu sein, er windet sich und schlägt mit seinem Körper wild um sich, was bei einer Länge von über sechs Metern nicht ungefährlich ist. Louis hat Abstand genommen, Winry nah an seiner Seite. Auch sie hat einiges abbekommen, weicht ihrem Trainer aber nicht von der Seite und wehrt sich gegen die Angriffe mit ihrem Einigler und dem ein oder anderen Slam. Trotz der verstrichenen Zeit sind alle drei Flugtypen noch kampffähig und ich kann selbst aus dieser Entfernung sehen, dass Louis mit der Situation zu kämpfen hat. Gina gehorcht ihm nicht, Klaus ist für die Flugattacken anfällig und Glen ist trotz Kampfgeist zu schwach, um gegen drei stärkere Pokémon zu bestehen. Ich schaue zurück zu Emma, die immer noch die Pistole in ihrer linken Hand hält und mich einen Moment später ebenfalls in Augenschein nimmt. "Jayjay, unterstütz Louis!", befehle ich. "Funkensprung auf alles mit Flügeln!" Er dreht sich kurz zu mir um, schnaubt und galoppiert dann unter Donnergrollen davon. Ich hole tief Luft und rufe dann Hunter. Ich will ihn schonen, aber jetzt ist leider nicht der richtige Zeitpunkt für Halbherzigkeit. "Sku, greif ihr Hypnomorba mit Säurespeier an, Hunter, Verfolgung", rufe ich den beiden zu und sie schießen los, Sku über den Boden, Hunter durch die Luft. "Kontere mit Finte. Lunastein, Steinhagel auf ihr Ibitak", zischt Emma. Lunastein bemüht sich um eine Attacke, scheitert aber kläglich, als die Paralyse es schüttelt und die Steine, die es aus dem Boden gezogen hat, fallen polternd und wirkungslos zu Boden. Sku schafft es, eine große Ladung Säure auf Hypnomorba zu spucken, das sich jedoch im nächsten Moment fängt, zur Seite rauscht und Sku mit der Unlichtattacke trifft. Ich mache einen Schritt nach vorne. "Hunter, bitte!" Er schießt aus dem dunklen Nachthimmel herab und trifft Emmas Psychopokémon mitten ins Kreuz. Er mag auf einem niedrigeren Level sein, aber die Attacke ist sehr effektiv und Hypnomorba ist von Skus Giftattacke geschwächt. "Seher!" "Schlitzer und Verfolgung!" Hypnomorba lässt von Sku ab und hebt die schmalen, schwarzen Hände an seine Schläfen. Es schließt die Augen und das ominöse Gefühl ist im Inbegriff, wieder auf meine Atemwege zu drücken, doch dann bricht es ab. Skus Krallen machen schmerzhafte Bekanntschaft mit dem zierlichen Körper des Manipulatorpokémon und Hunters zweite Verfolgung gibt ihm den Rest. Es sinkt tonlos in sich zusammen, ohne seinen Seher beenden zu können und meine Pokémon nehmen fast augenblicklich wieder vor mir Stellung auf. Wieder schaut Emma von unserem Kampf auf und zu den anderen beiden Fronten und wie zuvor folge ich ihrem Blick. Louis hat Ethan inzwischen zurück gerufen und mit Klaus und Glen ersetzt, die sich beide ins Getümmel geworfen haben, bereit, ihrem neuen Trainer zu beweisen, dass er sie zu Recht trainiert. Winry sieht aus, als sollte sie schon längst besiegt am Boden liegen, allein ihre Loyalität scheint sie noch aufrecht zu halten und Harley weicht geschickt Fletiamos Herzstempel aus, bevor Iksbat sie mit einer Akrobatik-Biss Kombination überrascht und mit letzterer Attacke trifft. Golbat liegt besiegt am Boden, was Holger ohne Schutz zurück lässt. Jayjay verteilt unterdessen einen Funkensprung nach dem anderen und ich bin trotz der Situation stolz, dass sein Training so gut angeschlagen hat. Obwohl seine Gegner mit Sicherheit fünf Level höher sind, schwächt er sie zusehends. Emma flucht und ich wende rasch den Kopf in ihre Richtung, doch sie schaut mich nicht mal an. Ihr Blick gilt dem Geschehen hinter mir. Ich wage nicht, mich umzudrehen, aber dem steinernen Schnauben nach zu urteilen hat das Rihorn ganze Arbeit geleistet. Ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken und bereue es sofort, als Emma mich mit einem Blick aufspießt, der an Hass dem von Mel gleich kommt. "Du denkst, ihr habt gewonnen", flüstert sie und ruft ihr Pokémon zurück. "Aber das habt ihr nicht." Dann pfeift sie. Schrill. Ohne Vorwarnung schießen Fletiamo und Iksbat in die Höhe und fliegen in Rekordtempo in unsere Richtung. Jemand packt mich von hinten und ich weiß augenblicklich, dass es Marius ist, der von Rose weggerannt ist. Seine dreckige Hand ist fest auf meinen Mund und meine Nase gepresst und ich bekomme kaum Luft. Nicht schon wieder, denke ich und sauge panisch das bisschen Luft ein, das mir noch bleibt, bevor ich um mich trete, den Kopf nach hinten reiße und mich mit allen Mitteln wehre, die mir zur Verfügung stehen. Sku springt sofort in unsere Richtung, Zähne gefletscht, aber Marius weicht ihr aus und so streifen ihre Krallen lediglich meine Arme. Sie setzt zu einem neuen Sprung an, während Hunter wild krächzend in die Höhe schießt, da richtet Emma ihre Waffe weg von mir – in Richtung Louis. "Ruf dein Pokémon zurück, oder der Junge stirbt", sagt sie und ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie es ernst meint. Ich schiele zu Louis, der stocksteif steht, Winry dicht neben ihm. Holger steht leicht abseits, Arme seitlich hängend. Ich schaue zurück zu Emma. "Ich warte", sagt sie. Dann, als würde sie meine Gedanken lesen, lacht sie. "Kommt dir das bekannt vor?", fragt sie. "Seher ist ein Blick in die Zukunft. Er zeigt deine Ängste, und er zeigt, wie die Dinge sich entwickeln könnten, wenn du den falschen Weg einschlägst." Louis. Blutig. Das Schiff. Tränen steigen in meine Augen, aber ich drücke gehorsam den Knopf auf Skus und Hunters Pokéball und trotz ihres lautstarken Protests werden sie in ihre Bälle zurück gesogen. "Dummes Mädchen", sagt Emma und schüttelt fast amüsiert den Kopf. Dann schießt sie. Kapitel 72: Schuld (Dinge, die enden) ------------------------------------- Der Schrei, der meinen Mund verlässt, klingt nicht wie mein eigener. Er ist zu verzweifelt. Zu laut. Wie in Zeitlupe folgt mein Blick der Kugel, die sich ihren Weg durch die kalte Nachtluft bahnt und auf Louis zuschießt, auf Louis, der beinahe überrascht aussieht. Auf Winry, die sich vor ihren geliebten Trainer wirft. Die Kugel hat sich kaum in ihre Schulter gebohrt, da läuft die Zeit wieder normal. Mein Schrei klingt noch in meinen Ohren nach, da beiße ich schon in Marius´ Finger, tiefer, tiefer, bis ich Blut schmecke, bis ich weiß, dass ich ihn abbeißen könnte, wenn ich wollte. Es ist Wut, die mich jetzt antreibt, denn die Angst vor Emma und Marius hat sich mit dem Pistolenschuss verflüchtigt. Fluchend lässt Marius von mir ab und ich stürze mich auf Emma und wie damals, als ich Gabes Nase gebrochen habe, stehe ich völlig neben mir. Ich reiße Emma die Waffe aus der Hand, noch bevor sie richtig begreift, was vor sich geht und schlage damit wahllos auf sie ein, schreiend, weinend, bis Marius mich von hinten packt, meine Arme hinter meinen Rücken hebelt und mich gegen seine Brust gepresst hochzieht. Emma steht schwankend auf und wischt sich über ihre Wange, die eine hässliche Platzwunde aufweist. Ich werde kreischend und fauchend von Marius auf sein Iksbat gezerrt, während Emma auf ihr Fletiamo springt. "Was ist mit Holger?", fragt Marius, als Iksbat in die Höhe schießt. "Er kann nachkommen, wenn er die beiden Kinder entsorgt hat", ruft Emma gegen den Wind zurück. Zunächst wehre ich mich noch, aber als wir höher steigen und uns weiter vom Savannenboden entfernen, halte ich still. Ich schaue hinunter. Louis kniet neben Winry, deren Schweif schwach hin und her zuckt. Er scheint zu schluchzen. Ein Vorhang aus Taubheit legt sich über mich und ich betrachte wie eine Unbeteiligte, wie er aufsteht, in seine Tasche greift und etwas Kleines zu Tage fördert. Dann schleudert er es in Richtung Harley, die sich verwirrt dreht, den Gegenstand in ihrem Mund fängt und wie eine silberne Fackel zu leuchten beginnt. Ihre Entwicklung vergeht schnell. In einem Moment ist sie noch ein Ultrigaria, im nächsten ist ihr Körper größer, fleischiger und das Sarzenia stürzt sich mit der Trauer und Wut ihres Trainers auf Holger, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Ihre neu erlernte Rasierblattattacke hüllt ihn in einen Sturm aus messerscharfen Blättern. Dann stülpt sie sich über ihn. Mehr kann ich nicht erkennen. Iksbat und Fletiamo nehmen Fahrt auf und schießen durch eins der Löcher im Maschendraht über dem Areal. Ich frage mich flüchtig, ob Rose noch dort ist, ob sie Winry retten kann. Ich kann kaum klar denken. Alles wirkt unwirklich. Unwichtig. "Ich glaub, sie kippt gleich weg", ruft Marius gegen den Wind zu Emma, die voran fliegt. "Schock oder so." "Dann halt sie fest." Meine Schuld. Der Gedanke ist wie eine Faust, die sich um mein Herz schließt und ich schnappe nach Luft. Panik macht sich in mir breit. Meine Schuld. Meine Schuld, dass Winry angeschossen wurde, meine Schuld, dass Louis hier war, meine Schuld, alles meine Schuld. "Was ist das da hinten?", schreit Marius gegen den Wind. "Ein Pokémon?" "Nein, das ist…" "SCHEIßE!" Wie betäubt hebe ich den Kopf. Der Schmerz in meiner Brust ist immer noch da, aber bei dem Anblick, der sich mir bietet, flaut er ab. Ich weiß, dass die Polizei Unterstützung gesendet hat. Aber ich habe nicht mit Gold höchstpersönlich gerechnet. Lugia rast in unsere Richtung, die weißen Flügel wie zwei gewaltige Hände gegen den dunklen Nachthimmel ausgebreitet. Das legendäre Pokémon lässt sich in einen anderen Luftstrom fallen und dreht sich einmal in der Luft, bevor es kraftvoll mit den Flügeln schlägt und seine Geschwindigkeit verdoppelt. Marius lenkt Iksbat panisch zur Seite, während Emmas Fletiamo sich nach unten sacken lässt, um dort einen besseren Wind zu erhaschen, aber Lugia kommt in halsbrecherischem Tempo auf uns zu und sie müssen wissen, dass sie nicht entkommen können. Der Wind drückt auf meine Ohren und macht mir die Atmung schwer, aber in diesem Moment ist mir alles egal. Ich will nur, dass die beiden gefangen werden. „Was soll ich tun?!“, schreit Marius, als Gold haarscharf an uns vorbei fliegt und Lugia eine enge Kurve dreht, um uns abzufangen. „Ich kann ihn nicht abhängen!“ Emma flucht laut. „Wirf sie ab!“ Was? Marius packt meinen Arm, reißt ihn zur Seite und im nächsten Moment verliere ich mein Gleichgewicht, kippe zur Seite und falle in die endlose Tiefe unter uns. Wir sind hoch oben in der Luft, höher noch als die Klippen, die zur Safari geführt haben, dennoch kommt das Meer immer näher, zusammen mit scharfkantigen Felsen und einer Strömung, die krachend an den Steilwänden zerbirst. Ich will nach Hunter rufen, aber der Wind drückt so stark gegen mich, dass ich nicht schreien kann, geschweige denn meine Arme Richtung Pokéball bewegen. Und Hunters Flügel… nie im Leben kann er meinen Sturz abfangen. Etwas in mir löst sich, während ich in die Tiefe stürze, eine Angst, von der ich immer wusste, dass sie da ist. So endet es also, denke ich, während ich mich im Fall überschlage, die Orientierung verliere, keine Luft bekomme und schließlich meine Augen schließe. Ein heftiger Ruck geht durch meinen Körper und für einen Moment bleibt mir die Luft weg. Ich reiße die Augen auf. Golds Arm ist wie ein Schraubstock um meine Taille geschlungen und hält mich fest, während Lugia beinahe senkrecht in der Luft fliegt und langsam wieder in die Horizontale umschwenkt. „Geht es dir gut?“, fragt Gold gegen den Wind, der mit Lugias zunehmender Geschwindigkeit immer heftiger wird. Ich presse mein Kinn eng an meine Brust, um irgendwie atmen zu können. Wie schafft er es, zu sprechen? „Mach jetzt nicht schlapp“, sagt er und rüttelt mich einmal kräftig. Ich schiele zu ihm hoch und nicke dann einmal, was ihm als Antwort zu reichen scheint, denn er zieht mich enger an seinen Körper und greift mit der anderen Hand nach einem Pokéball. Wie zur Hölle schafft er es, ohne sich festzuhalten auf Lugias Rücken zu bleiben? Ein roter Lichtstrahl schießt in die Nacht und neben uns materialisiert sich ein gewaltiges Dragoran, das sofort los schießt, um mit Lugia mithalten zu können. „Wit, hol sie runter!“, ruft Gold seinem Pokémon zu, das schnaubt und dann an Lugia vorbei fliegt. „Bist du alleine?“, fragt Gold laut. „Wo ist dein Freund, der Rocky angerufen hat?“ Louis. Tränen schießen mir in die Augen und ich bäume mich gegen den kalten Gegenwind auf. „Er ist noch auf dem Safarigelände!“, schreie ich und mit einem Mal kehrt die ganze Verzweiflung von zuvor zurück. Ich will mich nur noch zusammen rollen, aber ich zwinge mich zu den nächsten Worten. „Sein Pokémon wurde angeschossen!“ Gold flucht, dann gibt er ein schrilles Pfeifen von sich und Lugia kippt in eine scharfe Linkskurve, die uns zurück in Richtung Safari lenkt. Es schlägt einmal mit den Flügeln und wird so schnell, dass die Welt nur noch in schwarzen und weißen Farbflecken an mir vorbei rauscht. Die Strecke, für die wir auf Iksbat und Fletiamo mehrere Minuten gebraucht haben, legt Lugia in nicht mal einer zurück. Wir sind kaum umgeschwenkt, da kann ich schon die Maschendrahtzäune über den Arealen erkennen und wenige Sekunden später das Loch, durch das wir geflogen sind. Erst jetzt wird mir das Offensichtliche bewusst: Lugia passt nicht hindurch. „Halt dich gut an mir fest“, ruft Gold in mein Ohr und ich klammere mich enger an seinen Körper. Seine Kleider verbergen es gut, aber unter dem Stoff sind seine Muskeln hart wie Stahl. Lugia ohne Hände zu reiten muss ein Ganzkörperakt sein. Ich selbst bin schon vom Festhalten und festgehalten werden völlig am Ende. Das Loch kommt immer näher, dann, ohne Vorwarnung, ruft Gold Lugia zurück. Durch die Geschwindigkeit fallen wir vorwärts – und geradewegs durch die Öffnung im Draht. Im selben Moment materialisiert sich Lugia wieder direkt unter uns und wir landen mit einem heftigen Ruck auf dem Rücken des Legendären, das wenige Meter über dem Boden weiter segelt, als wäre es nie zurück gerufen worden. „Da sind sie!“, rufe ich und deute auf die beiden Gestalten, die ich trotz der Entfernung als Louis und Rose ausmache. Lugia legt einen letzten Zahn zu und kommt dann unter viel aufgewirbeltem Staub zum Halt. Gold springt von seinem Pokémon, noch bevor wir richtig stehen und geht neben Winry auf die Knie. Ich folge weniger dynamisch, denn meine Beine zittern von der Anstrengung und wahrscheinlich auch von dem Adrenalin. Ich bleibe mit etwa einem Meter Abstand stehen. Rose scheint die Wunde so gut sie kann versorgt zu haben, Winrys Schulter ist mit zerrissenen Stoffstreifen verbunden, die Blut getränkt sind. Sie selbst kniet neben dem Pokémon und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ihre Finger und Handflächen sind Blut verschmiert. Louis hockt neben Winry und hat ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet. Sein Blick ist gesenkt, aber das zittrige auf und ab seiner Schultern spricht für sich. Das Gefühl, verantwortlich für das Leid der beiden zu sein, trifft mich wieder wie ein Hammerschlag. Gold nimmt Winrys Zustand kurz in Augenschein, dann nickt er. „Ihr habt die Wunde gut verbunden“, sagt er dann. Rose nickt schwach. „War es ein Durchschuss?“ Sie schüttelt den Kopf. „Die Kugel… die Kugel ist noch in ihrer Schulter. Sie muss gegen ihr Schulterblatt geprallt sein. Ich habe versucht, sie rauszuholen, aber…“ Louis erschaudert, als sei allein die Erinnerung zu viel für ihn. „Wir müssen sie sofort in ein Pokécenter bringen.“ Gold geht neben Winry in die Hocke und nimmt sie behutsam in seine Arme, dann erhebt er sich ächzend und geht mit sanften aber zügigen Schritten zu Lugia, das sich flach auf den Boden presst. Er hievt Winry auf ihren Rücken und steigt hinter ihr auf. „Ich komme mit“, sagt Louis. Er hat sich erst gerührt, als Winry schon auf Lugia lag, aber jetzt ist Entschlossenheit in seinem Blick, trotz der Tränenspuren auf seinen Wangen. Gold reicht ihm eine Hand und zieht ihn mühelos zu sich auf Lugias Rücken. „Ich komme zurück, sobald das Pokémon versorgt ist!“, ruft er uns zu, dann schießt Lugia schon in die Höhe und ist in Sekundenschnelle am Horizont verschwunden. Die geballte Erschöpfung trifft mich und ich lasse mich wo ich stehe auf den Boden sinken, ziehe meine Knie an und vergrabe mein Gesicht hinter meinen Armen. Ich spüre, wie Rose sich neben mich setzt. „Bei der Geschwindigkeit werden sie Anemonia City in weniger als zehn Minuten erreichen“, sagt sie, in einem Tonfall, der vermutlich beruhigend klingen soll. Stattdessen bricht er alle Dämme und mein haltloses Schluchzen füllt die nächsten Minuten.   Als ich mich beruhigt habe und mit dröhnendem Schädel und brennenden Augen den Kopf hebe, merke ich, dass Rose mich irgendwann während meines Zusammenbruchs in den Arm genommen hat und für einige Sekunden lehne ich mich dankbar an sie. Dann hole ich tief Luft und zwinge mich, zu ihr hoch zu schauen. „Es tut mir leid“, sage ich mit heiserer Stimme, aber Rose schüttelt nur traurig den Kopf. „Du hattest Recht“, flüstert sie und ihr Blick gleitet zu Harley, die Holger allem Anschein nach weiterhin mit dem größten Vergnügen in ihrem Maul festhält. „Er war immer so nett zu mir. Er war der einzige, dem ich je meine Gefühle anvertrauen konnte, der mich nicht angeschaut hat, als wäre ich übergeschnappt. Ich hätte nie geglaubt, dass… dass er einer von ihnen sein könnte.“ Ein Rauschen über unseren Köpfen lenkt unsere Aufmerksamkeit nach oben und als wir uns nach dem Geräusch umschauen, entdecke ich Golds Dragoran, das eine durchgeweichte und windzerzauste Emma in den kräftigen Pranken hält und gegen seine Brust presst. Marius ist nirgends zu sehen, dafür ihr Fletiamo, das halb bewusstlos hinter Dragoran durch die Luft trudelt und schlitternd auf dem Boden neben ihm aufschlägt. Die Säcke sind noch immer an seinem Sattel befestigt. Dragoran macht ein enttäuschtes Geräusch, als es Gold nirgends entdeckt, sieht dann aber mich und kommt ein wenig unbeholfen in unsere Richtung getapst. Ich schniefe ein letztes Mal und stehe dann auf. „Ist der andere entkommen?“, frage ich und Dragoran nickt missmutig. „Aber du hast die Trainerin mit dem Diebesgut“, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. „Das ist das wichtigste.“ Dragoran schlägt einmal zustimmend mit seinem Schweif auf den Boden und gibt ein freudiges Grollen von sich. „Das wirst du… bereuen,… Miststück…“, murmelt Emma. Ihr Zopf ist aufgelöst und ihre Stimme rau. „Nein“, sage ich leise. „Ihr werdet es bereuen. Du und all die anderen von Team Rocket. Wir werden euch kriegen. Einen nach dem anderen.“ Ich schaue sie an, bis sie meinen Blickkontakt erwidert. „Und wenn es soweit ist, werdet ihr bereuen, jemals diesen Weg eingeschlagen zu haben.“ Ein schrilles, echoendes Kreischen ertönt und ich drehe mich erschrocken um. Golds Lugia schießt im Sturzflug auf das Loch im Maschendraht zu und macht dieses Mal kein Anzeichen davon, zurück gerufen zu werden. Es legt die Flügel an und schießt senkrecht durch das Loch, nur um direkt darunter die Flügel auszubreiten und wieder in die Horizontale umzuschwenken. Mir ist sofort klar, warum Gold mit mir an Bord auf dieses Manöver verzichtet hat, denn er muss sich in die andere Richtung lehnen, bis sein Rücken aufrecht gegen das weiße Gefieder gelehnt ist und sein einziger Halt der Griff seiner Beine ist. Lugia kommt zum Stillstand und Gold springt ab, um die Anwesenden in Augenschein zu nehmen, dann nickt er Dragoran zu. „Gute Arbeit, Wit.“ Wit gibt ein Grollen von sich, das mit viel Interpretation als Zustimmung gewertet werden kann. Ich schaue zwischen Trainer und Pokémon hin und her. Nicht nur, dass seine Pokémon unfassbar stark sind, Gold scheint ihre Emotionen auch ohne Probleme deuten zu können. Diese Art von Bindung kommt wohl davon, wenn man zehn Jahre eng zusammen trainiert hat. Ich schüttele meinen Kopf. Jetzt ist nicht die Zeit, Gold für seine Fähigkeiten zu bewundern. Ich folge Roses Beispiel, die in seine Richtung läuft und sich leise mit ihm unterhält. „Geht es ihr gut?“, fragt sie, als ich in Hörweite bin. Ich jogge die letzten Meter. „Schwester Joy wird die Kugel operativ entfernen müssen“, erklärt Gold und zieht seine Cappi zu Recht, die durch den Flug halb von seinem Kopf gerissen wurde. „Ob und wie gut sie sich erholt, wird sich erst danach zeigen.“ „Was passiert mit den Rockets?“, frage ich. „Holger ist noch in Louis´ Sarzenia gefangen.“ Gold schaut flüchtig zu dem Pokémon und nickt dann anerkennend. „Ich werde Gale und Wit hier lassen, damit Rocky die beiden ohne großes Aufsehen festnehmen kann. Ihr beide kommt in der Zeit mit mir zum Pokécenter. Dort werdet ihr später verhört werden, also macht euch auf eine lange Nacht gefasst.“ Ich nicke. Ich bezweifle, dass ich ruhig schlafen könnte, selbst wenn ich wollte. Der Rückflug auf Lugia erweist sich als ruhiger als erwartet. Ohne Verfolgungsjagd oder Rettungsaktion im Nacken fehlt dem Legendären vermutlich der Anreiz, aufs Ganze zu gehen. Was nicht heißen soll, dass wir langsam sind. Lugia schießt weiterhin in horrendem Tempo durch die Lüfte und so brauchen wir kaum fünfzehn Minuten, bevor wir die Klippen und die Safari hinter uns lassen und Anemonias nächtlicher Strand in Sicht kommt. Gold landet sein Pokémon etwas abseits der Häuser und ruft es dann zurück, aber die Vorsicht hätte er sich sparen können. Inzwischen ist es nach ein Uhr in der Nacht und außer ein oder zwei Jugendlichen, die mit Flaschen in den Händen über die Bretterwege schwanken, ist die Stadt wie ausgestorben. Wir schlagen uns in der Dunkelheit zum Pokécenter durch, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Als wir eintreten, ist der Aufenthaltsraum so gut wie leer. Einzig Louis sitzt an einem der Tische, das Gesicht in den Händen haltend und völlig regungslos. Rose nähert sich ihm vorsichtig und legt Harleys Pokéball neben ihn auf die Tischplatte. Er schaut nicht mal auf. Ich mache ebenfalls einen Schritt in seine Richtung. Das weckt seine Aufmerksamkeit, er hebt den Kopf und schaut mich an. Seine Augen sind gerötet, seine Nase läuft und Tränen haben Schlieren auf seiner staubigen Haut hinterlassen. Ich war auf alles vorbereitet, auf Wut, auf Trauer, auf Anschuldigungen… Stattdessen ist sein Blick einfach nur leer. „Sie wird gerade operiert“, sagt er mit brüchiger Stimme, ohne von mir wegzusehen. „Schwester Joy weiß nicht, ob sie es schafft.“ Der Knoten in meiner Brust drückt fester zu und ich mache ein ersticktes Geräusch. Ich will ihn umarmen, ihn trösten, aber ich habe kein Recht. Es ist meine Schuld. Rose lässt sich neben Louis auf die Bank sinken und legt einen Arm um seine Schulter. Wie schon bei mir überwindet allein ihre Anwesenheit alle Barrieren und Louis lässt sich schluchzend in ihre Umarmung sinken. Ich schlucke meine eigenen Tränen hinunter und starre ins Nichts. Gold nimmt mich sanft bei der Schulter und führt mich hinaus in die Nacht. Gemeinsam schlendern wir ohne Ziel durch die Stadt. „Ich kenne dich, oder?“, fragt er nach einer Weile. „Du bist das Mädchen vom Indigo Plateau. Du hast uns dort auch schon auf Team Rocket aufmerksam gemacht.“ Ich nicke matt. „Wie war dein Name noch gleich?“ „Abby“, murmele ich. „Abbygail Hampton. Er nickt. Dann legt er wieder seine Hand auf meine Schulter und lenkt mich sanft in Richtung einer Bank, die am Rand der Stadt aufs Meer hinaus schaut. Eine einzelne Laterne wirft flackernde Schatten  in unsere Richtung. „Ich habe von Rocky gehört, dass du schon mehrmals mit ihnen in Kontakt gekommen bist“, fährt er fort. „Haben sie es auf dich abgesehen oder legst du es darauf an, von ihnen gefunden zu werden?“ Ich zucke die Achseln. Meine Gedanken sind bei Louis, bei dem Ausdruck in seinen Augen. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren. Als er mich erneut fragt, schüttele ich den Kopf. „Ich gehe ihnen wohl nicht so aus dem Weg, wie ich sollte“, sage ich schließlich. „Hör zu“, sagt Gold und lehnt sich auf der Bank nach hinten. „Du bist zu schwach, um ihnen nachzujagen. Lass uns das regeln. Und wenn du zufällig herausfindest, wo sie als nächstes zuschlagen, dann sag uns Bescheid. Und zwar nicht eine Minute, bevor sie dich angreifen. Verstanden?“ Ich lasse den Kopf hängen. Ich weiß es ja. Ich habe Mist gebaut. Und Louis… Tränen steigen wieder in meinen Augen auf. Gold, der denkt, seine Worte hätten mich verletzt, kratzt sich verlegen am Kopf. „Ich will dich nicht kritisieren“, sagt er dann. „Aber ich spreche aus Erfahrung. Alleine gegen eine ganze Organisation vorzugehen wird früher oder später in einem Selbstmordkommando enden, wenn man nicht weiß, worauf man sich einlässt. Als ich Trainer wurde, war ich in einer ähnlichen Situation wie du. Ich lief ihnen zufällig über den Weg, wieder und wieder, bis ich nicht mehr wusste, ob sie mir nachjagten oder ich ihnen. Damals war das Netzwerk der Trainer noch nicht das, was es heute ist. Ich hatte keine große Wahl. Johtos Sicherheit hing davon ab, ob ich Team Rocket aufhielt oder nicht. Aber es gibt einen Unterschied zwischen dir und mir.“ „Ich bin zu schwach“, flüstere ich. „Immer bin ich auf andere angewiesen. Chris musste mich retten, Raphael, du… Immer bringe ich alle um mich herum in Schwierigkeiten!“ „Du bist nicht schwach“, erwidert Gold. „Aber du bist auch nicht stark. Und wenn du alleine gegen Team Rocket ankommen willst, dann musst du sehr stark sein.“ „So stark wie du und Red?“, frage ich humorlos. „So stark wie ein Genie, das sich vor der Welt verkriecht?“ Gold schweigt. Das schlechte Gewissen macht sich sofort bemerkbar. „Tut mir leid“, murmele ich. „Ihr seid meine größten Idole. Ihr habt Kanto und Johto gerettet. Ihr seid die stärksten Trainer, die es gibt und-“ Gold lacht leise. „Idole?“, fragt er nach und zieht seine Cappi tiefer in sein Gesicht. Ich schaue zu ihm. Ist ihm das Lob etwa… peinlich? Nur sein Mund ist sichtbar. Sein schmunzelnder Mund. „Nun, selbst wenn ich einer der stärksten Trainer bin, kann ich Team Rocket nicht alleine zerschlagen. Dafür sind sie dieses Mal zu organisiert. Atlas hat dazu gelernt.“ „Was ist mit Red?“, frage ich vorsichtig. „Warum kommt er uns nicht zu Hilfe?“ Das Schmunzeln verschwindet aus seinem Gesicht. „Red ist…“, murmelt er und es klingt resigniert. Eiskalte Finger greifen nach meiner Brust. Kann es sein… kann es sein, dass er… „Ist er tot?“, frage ich mit belegter Stimme. Golds Kopf dreht sich abrupt in meine Richtung. „Wer hat dir das denn erzählt?“ „Niemand, du wirktest nur so...“ „Nein, Red ist nicht tot.“ Gold lacht. „Auch wenn er das schon seit Jahren sein sollte, so wie er sich um seine Gesundheit schert. Manchmal glaube ich, dass etwas in ihm gebrochen ist.“ „Gebrochen?“ „Er spricht nicht. Schon seit Jahren nicht mehr. Er isst kaum. Er lebt wie ein Einsiedler, immer wartend. Auf irgendjemanden, der ihn besiegen kann. Wenn ich sehe, was aus ihm geworden ist, frage ich mich, ob es mir genauso ergangen wäre. Wenn ich gewonnen hätte. Vielleicht war ich auch einfach nie so genial wie er. Wer weiß.“ „Also wird er nicht zurückkehren?“, frage ich ungläubig. „Nie wieder? Was ist mit seiner Mutter?“ Ein trauriger Ausdruck huscht über Golds Gesicht. „Sie hat es nicht leicht. Was immer in Red vorgeht, nur ein Trainer seines Kalibers kann ihn verstehen. Und selbst dann ist fraglich, ob er ihn zurückholen kann.“ Plötzlich schaut er auf seine Uhr. „Mist! Ich wollte dich eigentlich warnen, bevor wir so vom Thema abgekommen sind“, sagt er wütend und steht auf. „Jetzt ist es zu spät. Halt dich tapfer.“ „W-was? Wovor warnen? Gold!“ Aber er ist schon vorgegangen, Richtung Pokécenter und ich laufe ihm hastig hinterher. Auf halbem Wege entdecke ich den Grund für seine plötzliche Eile. Eine Gruppe Polizisten ist außerhalb der Stadt gelandet und kommt jetzt schnellen Schrittes auf uns zu, allen voran Holly. Ich winke ihr zu. Sie spießt mich mit ihrem Blick auf und läuft dann ohne ein Wort an mir vorbei, um zusammen mit Gold zum Pokécenter zu marschieren. Ich folge ihnen, wenn auch unwillig und fühle mich schon jetzt, als hätte sie mich angeschrien. Innerhalb der nächsten Stunde wünsche ich mir, es wäre bei diesem einen Blick geblieben.   „Ich bin zutiefst enttäuscht“, sagt Holly. Sie steht mit dem Rücken zu mir und schaut mit verschränkten Armen an die Wand. Gold sitzt auf einem Stuhl in der Ecke des kleinen Raums, den Joy uns unwirsch für die Zeugenaussagen zur Verfügung gestellt hat. Sie hat die Operation erst vor kurzem beendet und ist seitdem völlig außer sich. Louis ist sofort zu Winry gegangen, die noch immer betäubt in der Aufwachstation liegt. Rose ist bei ihm. „Es tut mir leid“, sage ich kleinlaut und schaue auf meine Hände, die ineinander gefaltet auf meinem Schoß liegen.  Holly fährt ungerührt fort. „Nicht nur, dass du uns nicht rechtzeitig Bescheid gegeben hast, obwohl du nach eigener Aussage schon vor über einer Woche von der Übergabe und Holgers Identität wusstest, du hast auch unsere in letzter Sekunde gemachten Pläne boykottiert und Zivilisten in Gefahr bracht.“ Sie dreht sich energisch um und ihr Blick bohrt sich durch mich hindurch. Am liebsten hätte ich geweint, aber meine Augen fühlen sich trocken und rau an. Ich habe keine Kraft mehr. „Dass Louis´ Wiesenior verwundet wurde, ist deine Schuld, genauso wie das Entkommen von Marius. Ich hoffe, das ist dir bewusst.“ „Ja.“ „Gut.“ Sie setzt sich mir gegenüber an den kleinen Tisch, an dem ich sitze und macht ein paar Notizen in ihrem Block, der seit Beginn meines Verhörs eine Menge neu gefüllter Seiten aufzeigt. „Du hast nicht böswillig gehandelt“, fährt sie mit einer etwas milderen Stimme fort, aber trotzdem weiß ich, wie sehr der Zorn in ihr brodelt. „Aber du hast uns nicht vertraut. Und das hat Konsequenzen mit sich gebracht. Gold war in der Nähe. Sobald wir den Notruf von Louis erhalten hatten, haben wir ihn kontaktiert. Er war bereit, die Rockets an der Safari abzufangen und sie unauffällig bis zu ihrem Hauptquartier zu verfolgen. Um Holger hätten wir uns später in aller Ruhe kümmern können. Selbst diese späte Meldung hätte uns so viele Möglichkeiten geboten, Team Rocket zu schwächen und du hast sie alle ruiniert. Wegen deiner Unbedachtheit und dem Bedürfnis, alles alleine machen zu müssen, stehen wir nun mit zwei niederen Lakaien da und haben nichts, womit wir weiter vorgehen können.“ Ich knete meine Finger. Nicht nur Winry. Ich habe nicht mal darüber nachgedacht, dass die Polizei Emma und Marius möglicherweise folgen könnte. Ich habe alles kaputt gemacht. „Ich wollte das nicht“, flüstere ich. „Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“ „Ich schon.“ Holly seufzt und klappt ihren Notizblock zu. „Du warst zu sehr damit beschäftigt, Zacharias zu decken.“ Ich schaue erschrocken auf. „Dachtest du, das merke ich nicht?“, fragt sie. „Bisher hast du augenblicklich die Polizei kontaktiert, wenn du neue Hinweise in Erfahrung gebracht hast. Und jetzt wartest du bis fünf Minuten vor der eigentlichen Attacke? Du hattest Angst, dass er dort sein könnte und hast uns deshalb nicht angerufen. Du hast die Sicherheit eines ehemaligen Freundes, der uns alle verraten hat, dem Wohl unserer Regionen vorgezogen.“ Stumm nicke ich. Was bringt es noch, es zu leugnen. Soll sie mich doch festnehmen. Wahrscheinlich habe ich es sogar verdient. Ich bin nicht besser als Zach, der in seinem eigenen Interesse das große Ziel aus den Augen verloren hat. Team Rockets Untergang ist ein weiteres Mal in weite Ferne gerückt. Und es ist allein meine Schuld. „Rocky wird entschieden, ob es noch weitere Konsequenzen für dich geben wird, sobald sie alle Aussagen vorliegen hat. Aber von meiner Seite aus ist unser Deal geplatzt.“ „Was?“, frage ich entsetzt. „Schau nicht so schockiert.“ Holly steht auf und öffnet die Tür, um mich hinaus zu lassen. „Ich kann mit niemandem arbeiten, der seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse vor das Gemeinwohl stellt. Und schon gar nicht mit jemandem, der mir und dem Rest meiner Einheit nicht vertraut. Du wirst keine weiteren Informationen mehr von mir bekommen, Abbygail.“ Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber Gold, der außerhalb von Hollys Blickfeld sitzt, schüttelt sanft den Kopf. Ich nicke geknickt und verlasse den Verhörraum. „Hol bitte Rose“, ruft Holly mir hinterher, als ich mich in Richtung der Aufwachstation wende. „Und sag Louis, er darf mich telefonisch kontaktieren, wenn er sich bereit fühlt, über den Vorfall zu sprechen.“ Ich nicke ihr dankbar zu und folge dann dem schwach beleuchteten Flur, bis ich eine angelehnte Tür erreiche. Langsam drücke ich sie auf und spähe hinein. Winry liegt auf einem der Betten, mit Schläuchen, Atemgeräten und Infusionen versorgt und einem dicken Verband um Brustkorb und Schulterregion. Louis sitzt auf einem Stuhl neben ihr und starrt auf seinen Starter, während Rose beruhigend seine Schultern reibt. Als sie mich sieht, flüstert sie etwas, lässt dann von ihm ab und kommt zu mir. „Wie war das Gespräch?“, fragt sie leise. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, aber Rose Blick sagt mir, dass sie es mir nicht abkauft. „Es hätte schlimmer laufen können, schätze ich. Du bist als nächstes dran.“ Rose nickt, wirft einen letzten Blick zu Louis und verlässt dann den Raum. Vorsichtig nähere ich mich ihm. Als er keine Regung zeigt, ziehe ich einen zweiten Stuhl neben Winrys Bett und lasse mich darauf nieder. Ich strecke eine Hand nach seiner aus. Er zuckt zurück, lässt mich dann aber doch gewähren und erwidert meinen kurzen Händedruck. „Wird sie es schaffen?“, frage ich nach einer Weile leise. „Schwester Joy sagt, wenn sich ihr Zustand über Nacht nicht verschlechtert, ist sie über den Berg. Aber…“ „Aber was?“ „Sie hat große Muskelschäden davon getragen“, sagt er und schaut von seinem Pokémon auf und zu mir. Seine Augen sind blutunterlaufen. „Sie wird sich vielleicht nie wieder richtig bewegen können. Und selbst wenn…“ „Selbst wenn was?“, frage ich mit einer bösen Vorahnung. Er holt tief Luft. „Sie wird nie wieder professionell kämpfen können. Ich kann nicht mehr mit ihr reisen, wenn ich an der Championship teilnehmen will.“ Es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter, aber ich lege einen Arm um Louis und halte ihn fest, als er wieder zu weinen beginnt. Winry ist sein Starterpokémon. Aber die Championship ist sein Traum. Und wegen mir wird er eins von beiden aufgeben müssen. Kapitel 73: Das Strudelinselrennen (Entscheidungen) --------------------------------------------------- Es ist tief in der Nacht, als Holly alle Verhöre zu ihrer Zufriedenheit abgeschlossen hat und uns mit Gold und den festgenommenen Rockets verlässt, um sie in das Polizeipräsidium in Saffronia City zu bringen, denn obwohl auch Johto eigene Polizeistationen hat, teilen sich beide Regionen das Gefängnis. Schwester Joy bietet uns dreien in Anbetracht der Umstände ein kostenloses Viererzimmer an, das wir dankend annehmen. Als Rose und ich Louis jedoch davon erzählen, schüttelt er den Kopf. „Ich bleibe hier.“ „Schwester Joy sagt, Winry wird nicht vor morgen Mittag aufwachen“, sage ich ruhig und lege eine Hand auf seine Schulter. „Du solltest schlafen.“ „Das kann ich ´eh nicht.“ Ich schaue besorgt zu Rose. „Sollen wir bei dir bleiben?“, fragt sie vorsichtig, aber Louis schüttelt den Kopf. „Ihr könnt ruhig hoch gehen, macht euch keine Sorgen.“ Er hebt den Kopf. „Ich will nur bei ihr sein, das ist alles.“ Ich umarme Louis ein letztes Mal fest von hinten, dann gehen Rose und ich ins Bett.   Am nächsten Morgen wache ich früher auf, als mir lieb ist. Ich stöhne und wälze mich auf die andere Seite, aber irgendjemand zieht meine Decke weg und als ich verzweifelt danach greife, falle ich halb aus dem unteren Teil des schmalen Hochbetts. Ich öffne ein Auge. Rose steht über mir, Decke in der Hand und lächelt mich an. Ihre Augen sind verquollen und dunkel unterlaufen und ich wette, dass meine nicht besser aussehen, aber sie scheint sich gefangen zu haben. „Aufstehen“, sagt sie. „Du hast Schwimmtraining.“ „Schwimm…training?“ Ich starre sie an. „Ich war gestern erst nach 3:00 Uhr im Bett!“ „Soll das eine Ausrede sein?“, fragt jemand von draußen. Ich reiße den Kopf in die Höhe. Vals Gesicht erscheint in dem schmalen Türspalt, den Rose offen gelassen hat. „Guten Morgen.“ „Morgen“, sage ich perplex und setze mich vorsichtig auf. „Was machst du denn hier?“ „Dich abholen. Das Rennen ist in einer Woche. Du hast keine Zeit, auszuschlafen.“ „Aber ich hätte eigentlich erst heute Abend zurückkommen sollen!“, protestiere ich. „Ich habe euch doch gesagt, dass ich mindestens zwei Tage oben in der Safari bin.“ „Ein paar von den älteren Schwimmern waren gestern Nacht noch unterwegs und haben dich mit der Polizei zum Pokécenter gehen sehen. Du warst beim Aufwärmen nicht da, also haben sie mir davon erzählt und ich bin hergekommen.“ „Sag bloß, du schwänzt das Aufwärmen, nur um mich abzuholen?“ „Steh einfach auf und komm mit“, sagt Val und öffnet die Tür, um in unser Zimmer zu spähen. „Wir sind schon viel zu spät.“ „Ich weiß nicht...“ Hilfesuchend schaue ich zu Rose. Sie hilft mir auf. „Ich kümmere mich um Louis, keine Sorge.“ „Vielen Dank, Rose.“ Ich zögere, dann umarme ich sie. „Ich bin wirklich froh, dass du hier bist.“ „Ich auch. Aber du solltest jetzt wirklich los.“ Gesagt, getan. Val schaut mir ungeduldig dabei zu, wie ich meinen Rucksack zusammenpacke und keine zwei Minuten später laufen wir die Treppen hinunter, an Schwester Joy vorbei und hinaus in den frischen Dezembermorgen. Val zwingt mich zu einem lockeren Jogg, aber zu meiner großen Überraschung fällt er mir nicht mehr so schwer wie noch vor einigen Wochen. Das tägliche Aufwärmtraining mit dem ASV und meine regelmäßigen Fluchten haben mich abgehärtet und so schaffe ich es sogar, eine Unterhaltung mit ihm zu führen, während wir uns dem Strand hinter der Stadt nähern. „Warum kümmert es dich, ob ich bei dem Wettbewerb… mitmache oder nicht?“, frage ich zwischen zwei Atemzügen. „Bis vor kurzem wolltest du mich doch… überhaupt nicht dabei haben.“ „Was soll das denn für eine Frage sein?“, fragt er. „Du schwimmst leidenschaftlich, natürlich will ich, dass du teilnimmst.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Du bist ziemlich nervig und unvorsichtig, aber das heißt nicht, dass ich dich vom Schwimmen abhalten will“, fährt er fort. „Niemand sollte von dem abgehalten werden, was ihm am wichtigsten ist.“ Dieser eine Satz und mit einem Mal ist die Stimmung gedrückt. „Hast du mal darüber nachgedacht, nicht Arenaleiter zu werden?“, frage ich vorsichtig. Val schaut mich überrascht an. Dann schüttelt er den Kopf. „Mein Vater würde mich umbringen.“ Er wird langsamer, bis er nur noch geht und ich folge seinem Beispiel. „Außerdem habe ich nichts dagegen, Arenaleiter zu werden. Ich will nur nicht, dass er mir das Schwimmen verbietet.“ „Vielleicht brauchst du einfach andere Erfahrungen mit dem Kampfsport“, schlage ich nach einer Weile vor. „Du bist immer gedrillt worden, du hast nie selber Spaß daran gefunden. Und dein Vater hat dir Druck gemacht. Vielleicht würde es dir sogar Spaß machen, wenn du mal etwas Abstand von dem Erwartungsdruck hast.“ Valentin schaut mich an und lacht dann laut. Ich bleibe verwirrt stehen. „Was ist?“ „Nichts“, er wischt sich über die Augen. „Genau das gleiche hat Kat erst gestern zu mir gesagt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass ihr Mädchen für mich den Psychologen spielt.“ „Pff“, mache ich, aber insgeheim freue ich mich. Es ist das erste Mal, dass Valentin in meiner Gegenwart wirklich gelacht hat. Wir hatten einen holprigen Start, aber auch wenn er manchmal etwas arrogant und schnippisch ist, mag ich ihn. „Vielleicht sollte ich das wirklich“, sagt Val schließlich und schaut in die Ferne aufs Meer, wo wir schon die schnelleren der Schwimmer bei der Rückkehr von ihrer ersten Runde erkennen können. „Kat sagte, du reist Ende Dezember ab. Wohin geht es?“ „Zurück nach Kanto“, erwidere ich und denke an unser Haus am Hafen. An Mama. Plötzlich kann ich es gar nicht mehr erwarten, zurückzukehren, selbst wenn es nur ein kurzer Aufenthalt ist. „Ich bin seit August weg von zu Hause und muss mich dort mal wieder blicken lassen.“ „Du fährst mit der Fähre, nehme ich an?“ „Ja. Rose kommt auch mit.“ „Das Mädchen von eben?“ Ich nicke. „Gibt es in Kanto eine Kampfarena?“, fragt er dann und ich spüre, dass er mit der Idee liebäugelt. „Nicht direkt“, antworte ich. „Es gab eine inoffizielle Arena in Saffronia City, die sich auf Kampfpokémon spezialisiert hat, aber der Andrang dort ist so gering, dass sie gleichzeitig als Dojo und Karateclub genutzt wird. Und um Bruno zu treffen, müsstest du mit der Seesprintfähre auf die Eilande fahren, dort lebt und trainiert er, soweit ich weiß.“ Valentin schaut nachdenklich geradeaus, dann joggt er plötzlich wieder los und ich muss mich bemühen, Schritt zu halten.   Der Rest der Woche bis zu dem Rennen vergeht in einer merkwürdigen Dynamik. Das Schwimmtraining mit Kat, Val und dem Rest des ASV ist anstrengend wie immer, aber ich bin dankbar für die Zerstreuung, die es mir gewährt. Im Vergleich dazu ziehen sich die Abende im Pokécenter in die Länge und die Stimmung bleibt gedrückt. Winry erwacht am Abend nach ihrer Operation, ist aber noch so schwach, dass sie kaum alleine essen kann und schläft fast sofort wieder ein. Louis bemüht sich, nicht allzu deprimiert zu wirken, aber sein Lächeln ist gezwungen und wenn wir es tatsächlich einmal schaffen, ihn zum Lachen zu bringen, stellt sich bei ihm sofort das schlechte Gewissen ein, weil er sich keine Freude eingestehen will, solange es Winry noch so schlecht geht. Nach und nach erholt sie sich aber und schließlich erklärt Schwester Joy sie als fit genug, das Krankenbett für einige Stunden pro Tag zu verlassen. Percy bringt täglich Salben und andere Medikamente vorbei, die den Heilungsprozess von Pokémon beschleunigen sollen und berichtet mir von dem Mädchen, das ich mehr oder weniger mit ihm verkuppelt habe. Anscheinend kommen er und Helga gut miteinander klar. Ich weiß nicht, inwiefern seine Erzählung von der pinken Brille seiner Liebe verzerrt ist, aber die Tatsache, dass sie ihn noch nicht fortgejagt hat, spricht schon mal für sich. Valentin erwähnt unser Gespräch mit keinem Wort, aber in unseren Pausen am Strand erwische ich ihn mehrmals mit einem zerfledderten Guide über Kanto und Kat wirft mir öfter als gewöhnlich vielsagende Blicke zu.   Am Abend vor dem 20. Dezember kann ich vor Aufregung kaum schlafen. Sku liegt neben mir unter der Decke und wacht mit halb geschlossenen Augen über mein nervöses Herumwälzen, bevor sie ein grollendes Schnurren von sich gibt und eine Pfote auf meine Nase drückt. „Ich kann nichts dafür“, verteidige ich mich flüsternd. Rose schläft bereits und sogar Louis ist in unser Zimmer gezogen. Sein Schnarchen erfüllt die nächtliche Ruhe. „Ich kann Christine einfach nicht überholen!“ Sku kuschelt sich enger an mich und ich seufze leise. Ihre roten Augen schauen mich gelassen an. Du packst das schon. „Das sagst du so leicht“, murre ich, aber ihre ruhige Atmung und das regelmäßige Brummen, das von ihr ausgeht, beruhigen mich dennoch. Ich schlafe ein, bevor ich es merke.   Obwohl es noch etwa zwei Stunden bis zum Wettbewerbsbeginn sind, ist der Strand gefüllt. Seit gestern haben die Mitglieder des ASV außerhalb des Trainings Stände, Siegertreppchen und Fahnenwimpel aufgebaut und nun stehe ich gemeinsam mit den anderen Teilnehmern in einer langen Reihe vor der Nummernausgabe, um uns herum die regen Gespräche der Zuschauer, die zu großen Teilen aus Freunden und Familienmitgliedern bestehen. Hartwig kann ich nirgends entdecken, aber eine Frau mittleren Alters mit grau gesträhntem Dutt hat sich vor einigen Minuten mit Valentin unterhalten. Ich recke den Kopf, um einen Blick auf ihn und Kat zu erhaschen, die sich als Senioren des Clubs gemeinsam um die Organisation und jetzt um die Anmeldungen kümmern. Die Schlange verkürzt sich langsam aber stetig und ich nutze die Zeit, um Ausschau nach Louis und Rose zu halten, die irgendwo in der Menge verschwunden sind, um sich etwas zu Essen und einen guten Stehplatz zu sichern. Als ich schließlich an der Reihe bin, muss ich auf einer Liste unterschreiben, die Kat mir zwinkernd reicht und erhalte dann von Valentin zwei Teilnehmernummern, die mit wasserfestem Klebstoff beschichtet sind. Ich ziehe die Schutzfolie ab und pappe mir das weiße Schild auf den Bauch, während Val die zweite Nummer auf meinem Rücken anbringt. Dann nickt er zufrieden und wendet sich dem nächsten Schwimmer zu. Die Zeit bis zum Beginn des Wettbewerbs vertreibe ich mir mit den anderen ASV-Mitgliedern beim gemeinsamen Aufwärmen, denn auch wenn Spannung und Rivalität in der Luft liegen, ist der Club eine eingeschweißte Truppe und obwohl ich erst seit wenigen Wochen dabei bin, gehöre ich heute endlich vollends dazu. Als es fast soweit ist, kommen auch Val und Kat zu uns, machen die Runde und wünschen jedem Glück oder tauschen kleine Witzeleien aus. Ich warte darauf, dass sie zu mir kommen, da tippt mir jemand auf die Schulter. Erschrocken drehe ich mich um, Hand zu meiner Hüfte schießend, wo ich sonst immer meine Pokébälle aufbewahre. Christine schaut mich verwundert an und ich könnte mich im nächsten Moment ohrfeigen, aber die Paranoia, die mich seit dem Kampf in der Safari-Zone begleitet, ist noch nicht ganz verklungen. „Hey“, sage ich und lasse schnell meine Hand sinken. „Hey“, erwidert Christine belustigt. Bisher haben wir kaum ein einziges Wort miteinander gewechselt. Mir wird mit einem Mal bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was für eine Person sich hinter der schwarzen Lockenmähne verbirgt, die sie für den Wettbewerb in einen engen Zopf gezwungen hat. „Was gibt’s?“, frage ich ungelenk. Sie reckt mir ihre Hand hin. „Ich wollte dir viel Glück beim Wettkampf wünschen.“ Ihre Augen funkeln, aber sie scheint es ernst zu meinen. „Möge die Bessere gewinnen.“ Ich schaue auf ihre dargebotene Hand, dann zurück zu ihr. Grinsend schlage ich ein. „Dir auch viel Glück. Du wirst es brauchen.“ Sie lacht herzhaft. „Das bezweifle ich.“ Ich will etwas erwidern, aber da ertönt schon Kats laute Stimme durch ein Megaphon, dass die Teilnehmer anweist, sich an der Startlinie aufzustellen. Christine löst ihre Hand aus meinem Griff und als sie sich abwendet, peitscht ihr Zopf durch die Luft. Ich schaue ihr nach. Möge die Bessere gewinnen.   Wasser schlägt mit jedem Schwimmzug gegen mich und ich wechsele zwischen einatmen und unter Wasser ausatmen, während ich versuche, meinen schlechten Start wieder wett zu machen. Der Rhythmus, den ich mir beim Training so mühsam angeeignet habe, will mir heute nicht gelingen und so kämpfe ich mich in der ersten Runde durch die rauen Wellen und versuche, meine Energiereserven nicht zu früh auszuschöpfen. Normalerweise bin ich jetzt schon an mindestens der Hälfte aller anderen Schwimmer vorbei. Was ist los mit mir? Wütend auf mich selbst und auf meinen Körper, der nicht so arbeitet, wie ich es von ihm gewohnt bin, breche ich durchs Wasser, eine mühsame Armlänge nach der anderen. Das würde zum Rest meiner Woche passen, wenn ich im Training immer gut war und beim eigentlichen Wettkampf kläglich versage. Christine hatte Recht. Wenn hier jemand Glück braucht, dann eindeutig ich. Wann immer mein Kopf für einige Momente durch die Wasseroberfläche bricht, entdecke ich Christine, die schon zu Beginn zügig an mir vorbei gezogen ist. Sie weiß, dass ich auf Ausdauer ausgelegt bin, deswegen muss sie ihren Vorsprung so früh wie möglich ausbauen. Bisher gelingt es ihr prächtig. Valentin hat vom ersten Moment an jeden außer Kat abgehängt, die nah an ihm dran ist, aber immer weiter hinter dem Senior zurück fällt. Damit ist sie uns anderen trotzdem noch um Längen voraus. Ich atme falsch und komme aus dem Rhythmus, was mir den Schwung nimmt und im nächsten Moment zieht ein weiterer Schwimmer an mir vorbei. Frustriert verdoppele ich meine Anstrengungen, nur um einige Meter später wieder langsamer zu werden, weil ich meine Sprintstärke überschätzt habe. Das ist wirklich nicht mein Rennen. Hoch, runter, hoch, runter. Das Wasser steigt und sinkt über den Rand meiner Schwimmbrille und als ich mich dabei erwische, wie meine Gedanken zu Louis, Winry und Holly abdriften, wird mir mit einem Mal bewusst, was mein Problem ist. Ich denke zu viel nach. Hollys enttäuschte Worte und meine Schuldgefühle hallen in meinem Kopf hin und her und ich schaffe es kaum, mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Dabei ist es so einfach. Jetzt so gut wie möglich abzuschneiden ist das einzige, was ich noch beeinflussen kann. Ich kann nicht vorwärts gehen, wenn ich mir nicht selbst verzeihe. Ich habe große Fehler gemacht. Aber ich werde sie nicht wiederholen. Und egal was ich tue, ich werde Team Rocket zur Strecke bringen. Nichts wird sich mir in den Weg stellen. Sie werden für das bezahlen, was sie Louis, mir und all den anderen Trainern angetan haben. Die Wut, die sich in mir aufbaut, beflügelt meine Arme und Beine und plötzlich ist es, als hätte ich nie einen schlechten Start hingelegt. Dies ist die Disziplin, die ich liebe. Die ich beherrsche. Es ist so einfach. Mein Einschluss und das zufriedene Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben, vertreiben die düsteren Gedanken aus meinem Kopf und jede meiner Bewegungen wird stärker. Langsam aber sicher nehme ich Geschwindigkeit auf und ziehe an dem Jungen vorbei, der mich vor kurzem noch überholt hat. Ich muss sie einen nach dem anderen überholen. Es wird nicht leicht werden. Christine hat einen beachtlichen Vorsprung und die erste Runde um die Inseln ist schon fast zu Ende. Aber ich kann es schaffen. Einer nach dem anderen. Als ich dieses Mal zum ausatmen untertauche, schwimme ich nicht mehr gegen das Wasser, sondern mit ihm. So, wie es von Anfang an hätte sein sollen.   Meine Lunge und meine Muskeln brennen, während ich wie ein Pfeil durchs Wasser schieße. Nur noch wenige Meter trennen mich von Christine und dem ersehnten dritten Platz. Leider trennen Christine und die Zielgerade ebenfalls nur noch etwa fünfzig Meter. Die Aufholjagd hat mich mehr mitgenommen als beabsichtigt, aber jetzt zwinge ich meinen Körper, über seine Grenzen hinauszugehen. Langsam, ganz langsam komme ich Christine näher, die vor mir durchs Wasser schwimmt und genau wie ich einen Zahn zulegt. Die Jubelrufe, die am Strand ausbrechen, rücken in weite Ferne. Wahrscheinlich beglückwünschen sie Valentin und Kat, die hintereinander ins Ziel gekommen sind. Das stetige Platschen von Wasser und mein eigener Atem füllen meine Ohren und blenden alles andere aus. Ich werde gewinnen. Der  Gedanke allein treibt mich weiter an, während er wie ein Mantra wieder und wieder durch meinen Kopf hallt. Ich habe auf dieser Insel so viel verbockt. Dieses Mal werde ich nicht verlieren. Nicht hier. Nicht jetzt. Und mit diesem Entschluss fest in mir verankert, ziehe ich an Christine vorbei, die verzweifelt mit ihren Beinen schlägt und für einige Momente schwimmen wir Kopf an Kopf. Das Ende der Strecke ist nur noch wenige Meter entfernt. Ich muss es schaffen. Ich muss. Ich muss! Eine letzte Anstrengung, einige letzte Züge, und ich durchquere die Zielgerade, kaum einen Meter vor Christine. Was danach passiert, kann ich im Nachhinein kaum noch zusammensetzen. Christine und ich bleiben im seichten Wasser, Arme und Beine zu zittrig, um aufzustehen. Irgendwann kommen Val und Kat und helfen uns an den Strand, wo mich bereits Rose, Louis und sogar Percy erwarten und umarmen. Ich falle halb in ihre Arme. Eine Banane essend sitze ich schließlich mit ihnen im Sand etwas abseits der größten Menschenmenge und trinke Wasser in kleinen Schlucken. Nach und nach kommen auch die anderen Schwimmer ins Ziel und schließlich ziehen sich Val und Kat in den ASV-Stand zurück, um die letzten Vorbereitungen vor der Siegerehrung zu treffen. Die Ehrung selbst läuft sehr herzlich ab. Da Kat und Valentin beide selbst zu den Gewinnern zählen, übernimmt Hartwigs Ehefrau die Medaillen- und Preisgeldübergabe. Wie benommen stehe ich auf dem kleinsten der Treppchen, immer noch in meinem langärmligen Bikini und nur mit meiner Winterjacke darüber und betrachte die Bronzemedaille, das ASV-T-Shirt und den Umschlag mit den 15.000 PD in meinen Händen, während Val sich nach vorne beugt, um die Goldmedaille umgehängt zu bekommen. Applaus brandet zum dritten Mal auf, wir lächeln in die Kamera, damit ein Foto von den winterlichen Gewinnern geschossen werden kann und steigen schließlich von dem Podest herab. Kat umarmt mich einmal fest und gibt mir einen dicken Kuss auf die Wange. „Du hast es tatsächlich geschafft! Ich hätte nicht gedacht, dass du Chrissi auf der Endgeraden noch einholen würdest.“ Verlegen und gleichzeitig sehr zufrieden grinse ich. Val überrascht mich mit einem breiten Lächeln und umarmt mich ebenfalls, wenn auch nur flüchtig. „Glückwunsch.“ „Danke“, sage ich. „Und danke für das Shirt und dass ihr mich habt mit trainieren lassen und für die Schwimmbrille und… für alles, eigentlich. Vielen Dank.“ Kat grinst selbstgefällig und Val knufft ihr in die Wange. Dann blickt er zu mir. „Hast du jetzt noch etwas vor?“, fragt er. Ich schüttele den Kopf. „Ich wollte ins Pokécenter zurück und duschen und mich umziehen, danach habe ich Zeit.“ Misstrauisch schaue ich ihn an. „Warum?“ „Komm danach zu mir nach Hause. Es steht direkt neben der Arena.“ Kat zieht schwungvoll eine Augenbraue hoch. „Fragst du heute?“ Mir geht ein Licht auf. Ich nicke enthusiastisch. „Ich beeil mich!“ Dann renne ich zu Louis und den anderen zurück, die in der Menge auf mich warten. Wie versprochen dusche ich in Rekordzeit, ziehe mir das neu erworbene T-Shirt unter meine Winterjacke und binde meine Haare zu einem losen Zopf zusammen und laufe sofort aus dem Pokécenter und in Richtung Arena. Kat und Val erwarten mich vor einem für Anemonia City Verhältnisse ausladendem Strandhaus mit indigoblauen Ziegeln und etwas abseits der Bretterwege. Als sie mich entdecken, erheben sie sich. „So sehr hättest du dich nun auch nicht beeilen müssen“, meint Kat grinsend und legt kameradschaftlich einen Arm um meine Schulter. „Val will die Sache am liebsten vor sich herschieben.“ „Will ich nicht“, erwidert er, aber es klingt halbherzig. Kat zwinkert mir zu, dann lässt sie von mir ab und klopft Val aufmunternd auf den breiten Rücken. Er atmet tief durch, dann holt er einen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnet die Eingangstür. Wir treten nacheinander ein. Hartwigs Haus wirkt, als hätte jemand einst versucht, es stilvoll einzurichten, nur um im Chaos der Bewohner kläglich zu versagen. Weiche Teppiche sind auf dem Holzboden ausgelegt und die Regale und Anrichten mit poliertem Treibgut und Korallen dekoriert, aber zahllose Medaillen, Pokale, Trainingsklamotten, Wäschekörbe und Urkunden nehmen der Einrichtung jede Art von Ordnung, obwohl alles sauber gehalten ist. „Ich habe Freunde mitgebracht!“, ruft Val zur Begrüßung, welchem Kat ein fröhliches Huhu! nachfügt. Ich murmele ein halblautes Hallo und folge den beiden in das Wohnzimmer, das eine große Couch, eine Trainingsecke mit Hanteln und anderen Gerätschaften und einen Esstisch bereithält. „Da bist du ja“, begrüßt Hartwigs Frau uns und schaut aus einem benachbarten Raum zu uns ins Wohnzimmer. Der Schürze und dem Messer in ihrer Hand nach zu urteilen, ist es die Küche. „Ich wusste nicht, dass du Besuch mitbringst. Soll ich für fünf kochen?“ „Ja, bitte“, erwidert Val und schaut sich im Wohnzimmer um. „Ist Vater noch im Dojo?“ „Wahrscheinlich, aber er wollte rechtzeitig zum Essen zurück sein.“ Sie schaut ihren Sohn misstrauisch an. „Hast du etwas mit ihm zu besprechen?“ Val nickt, aber sie fragt nicht weiter nach, sondern verschwindet wieder in der Küche. Er drängt uns an den Esstisch, bringt Getränke und Gläser und so unterhalten wir uns, bis eine halbe Stunde später die Eingangstür zuschlägt. Gespannt drehe ich den Kopf. Als Hartwig ins Wohnzimmer tritt, ist seine fleischige Hand um den Griff einer gigantischen Sporttasche geschlungen und ein Handtuch hängt um seine nackten Schultern. Wie zuvor schaut seine Frau aus der Küche hinaus und nimmt das Bild mit missbilligendem Blick auf. „Du wirst krank werden, wenn du geschwitzt und halbnackt durch den Wind läufst“, schilt sie ihn. Hartwig schnaubt. „Abhärtung, Henni. Mein Körper muss den Elementen standhalten können, sonst ist er zu schwach, um meinen Willen auszuführen.“ Sein Blick fällt auf uns. „Hallo, Katja“, begrüßt er sie mit einem sehr neutralen Ton. „Und du bist?“ Zeit, meinen Charme anzuschalten. Val wird jede Unterstützung brauchen. „Ich bin Abby, Louis´ Freundin.“ Hartwigs Gesicht hellt sich augenblicklich auf. „Ah, er hat von dir erzählt! Ein waschechter Kerl, der Junge. Noch ist er schwach, aber sein Wille wird ihn weit bringen. Wie geht es ihm? Ich habe gehört, sein Pokémon ist krank.“ „Verletzt“, stimme ich zu. „Es ging ihr sehr schlecht, deswegen wollte er sie nicht alleine lassen.“ Hartwig nickt. „Das Band zu seinen Pokémon ist sehr wichtig. Leider sieht das nicht jeder so.“ Sein Blick gleitet missbilligend zu Val und ich verziehe innerlich das Gesicht. Ich wollte keine negative Aufmerksamkeit auf ihn lenken. „Ich habe eine sehr enge Bindung zu meinen Pokémon“, erwidert Val ruhig, aber dennoch mit einer gewissen Intensivität. „Erzähl das deinem Maschock.“ Die beiden funkeln sich an. Ich werfe Kat einen hilfesuchenden Blick zu. So sollte das Gespräch nicht laufen. Sie räuspert sich. „Henni, warum essen wir nicht erst und unterhalten uns danach über die ernsten Themen?“ „Eine hervorragende Idee“, wirft Henni ein und kommt mit einem großen Topf voller dampfendem Eintopf und einem Korb frischen Brots in den Raum. „Hartwig, zieh dir etwas an, so isst du nicht an diesem Tisch.“ Das Abendessen verläuft in angespanntem Schweigen, das Henni durch Fragen an mich und Kat aufzulockern sucht, aber es gelingt ihr nur teilweise, denn Hartwig und Valentin werfen sich regelmäßig feindselige Blicke zu. Schließlich jedoch sind wir alle gesättigt und obwohl Valentin so aussieht, als würde er das folgende Gespräch gerne bis in die Unendlichkeit verschieben, wendet er sich an seinen Vater. „Ich möchte nach Kanto reisen“, sagt er ohne Vorwarnung. Henni lässt ihre Gabel fallen und das echoende Klirren zieht die folgende Stille in die Länge. „Nein“, sagt Hartwig schließlich. „Auf keinen Fall.“ „Ich will nicht weglaufen“, erwidert Valentin ruhig. „Abby kommt aus Kanto. Dort gibt es ein großes Dojo, in dem Trainer mit ihren Pokémon trainieren können und Bruno lebt auf den Eilanden. Wenn ich diese Arena eines Tages übernehmen soll, möchte ich das aus eigenen Stücken tun und nicht, weil du mich gezwungen hast. Aber wenn ich hier bleibe, werde ich den Kampfsport schon sehr bald hassen. Und dann werde ich wirklich weglaufen.“ Seine Mutter hebt vorsichtig die Gabel auf und legt sie auf die Tischplatte. Dann schaut sie zu Hartwig, der mit versteinertem Gesichtsausdruck auf seinen Sohn starrt. „So dankst du es mir?“, fragt er. „All die Jahre, die ich dich an den Sport herangeführt habe, die Pokémon, die ich dir geschenkt habe, und du willst mein Dojo verlassen?“ „Ich will nicht für immer weg bleiben. Nur für ein paar Monate.“ „Ein paar Monate?!“, donnert Hartwig. „Ein paar Monate ohne Training und du wirst aus der Übung kommen! Wer wird dich zwingen, zu trainieren, wenn du alleine unterwegs bist? Du wirst nur wieder deinem sinnlosen Hobby-“ „Vater…“ „-deinem sinnlosen Hobby nachgehen und wenn du zurückkommst, war alles umsonst!“ „Ist es so schwer zu glauben, dass ich am Kampfsport Spaß haben könnte, wenn ich nur von deiner Fuchtel wegkomme?!“, schreit Valentin und springt auf. Kat und ich sinken in unseren Stühlen tiefer nach unten. „Du scherst dich nicht um die Arena und du scherst dich nicht um den Sport!“, brüllt Hartwig genauso hitzig. „Wenn ich dich nicht zwinge, wirst du so verweichlicht bleiben und dann kannst du niemals in meine Fußstapfen treten! Ich wünschte, ich hätte einen anderen Sohn!“ Valentin, der bei dem Wortgefecht nur wütend aussah, zuckt regelrecht zusammen. Seine Mutter steht auf, geht auf Hartwig zu – und schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. „Sprich nie wieder so mit unserem Sohn“, fährt sie ihn an. Dann stellt sie sich neben Val. „Der Junge ist siebzehn, Hartwig. Eines Tages wird er seinen eigenen Weg gehen, ob wir es wollen oder nicht. Und wenn er sagt, er möchte die Freude an der Kampfkunst in Kanto finden, wer sind wir, ihm das zu verbieten?“ Hartwig schaut verdattert von seiner Frau zu seinem Sohn, dann seufzt er und rauft sich die Haare. „Val ist kein Lügner“, sagt Kat. „Wenn er sagt, dass er sich in Kanto mit dem Kampfsport auseinander setzen möchte, dann wird er das tun.“ „Vielleicht lässt sich ein Kompromiss finden“, schlage ich vor. Henni nickt eifrig. Hartwig zögert, dann lässt er sich auf seinen Stuhl zurück plumpsen und reibt sich mit seiner gigantischen Hand die Stirn. „Also schön“, gibt er sich schließlich geschlagen und nimmt Val in Augenschein. „Unter folgenden Bedingungen: Du bezahlst Hin- und Rückreise aus eigener Tasche.“ Val nickt. Wenn er jeden der bisherigen Wettbewerbe gewonnen hat, sollte Geld das Geringste seiner Probleme sein. „Außerdem möchte ich, dass du uns einmal wöchentlich anrufst und uns über deinen Fortschritt berichtest. Und du wirst dir in Prismania City einen Wasserstein kaufen und Quaputzi endlich zu einem Quappo entwickeln.“ Nun entgleisen Vals Gesichtszüge doch. „Vater, muss ich wirklich-“ „Das ist meine Bedingung“, fährt Hartwig eisern fort. „Und da du mit dem Magnetzug zurück nach Dukatia City fahren kannst, wirst du dort Maschock im Globalen Terminal zu einem Machomei entwickeln.“ Val schließt die Augen. Dann seufzt er und schaut resigniert zur Seite. „In Ordnung. Ich werde mein Arenateam voll entwickeln, im Dojo trainieren, Bruno besuchen und alle Kosten selbst tragen.“ Henni gibt ein leises Schluchzen von sich, dann umarmt sie Val und schließlich auch Hartwig. „Wann willst du abreisen?“, fragt Hartwig, ein wenig mürrisch. Val schaut zu mir und grinst leicht. „In einer Woche.“   An diesem Abend sitze ich zusammen mit Louis auf seinem Bett, Winry schlafend über unseren Beinen drapiert. Ihre Atmung ist noch ein bisschen holprig, weil sie Schmerzen in der Schulter hat, aber sie fiept leise und zufrieden, während wir abwesend durch ihr beigegestreiftes Fell streicheln. „Ich habe nachgedacht“, sagt Louis schließlich in die Dunkelheit hinein. Außer dem Mondlicht von draußen haben wir keine Lichtquelle. „Ich werde meine Protrainerkarriere aufgeben.“ Ich sage nichts, sondern lehne mich nur enger an ihn. Was kann ich schon sagen. Über den Lauf des Abends habe ich mich ein dutzend Mal entschuldigt und Louis hat mich ein dutzend Mal beruhigt. Wir haben außerdem die eine oder andere Träne vergossen, aber die Zeit für Reue und Bedauern ist nun vorbei. Wir müssen nach vorne schauen. „Was wirst du tun?“, frage ich sanft. „Vorerst hier bleiben, denke ich.“ Er atmet erschöpft aus. „Mit Hartwig trainieren. Darauf warten, dass Winry sich wieder erholt.“ Sie zuckt mit den Ohren, lässt die Augen aber geschlossen. „Sie hat sich für mich geopfert, Abby. Sie hat mein Leben gerettet und jetzt ist sie… verkrüppelt. Wenn ich sie einfach zurücklasse, könnte ich mir das nie verzeihen. Und wohin es mich jetzt treibt… mal sehen.“ Ich nicke. „Versprich mir eins Abby“, flüstert er und seine Stimme klingt energischer als noch zu vor. Energisch genug, dass ich den Kopf drehe und ihm in die strahlend blauen Augen schaue. „Bring Team Rocket zu Fall. Und bitte, bleib am Leben.“ Kapitel 74: Gerüchteküche (Alle Mann an Bord) --------------------------------------------- Mit einer nicht unbeträchtlichen Menge an Schuldgefühlen betrachte ich die einundvierzig ungeöffneten E-Mails, die meine Mutter seit unserem letzten Telefonat auf meinem Trainerkonto hinterlassen hat. Die Angelegenheiten der RES-Qs in Teak City, die Probleme in Oliviana City und schließlich die Begegnung mit Team Rocket in der Safari-Zone haben mich durchgängig auf Trab gehalten. Meine einzige Rechtfertigung ist, dass ich seit Teak City nicht mehr ordnungsgemäß in einem Pokécenter geschlafen habe, aber selbst für mich klingt diese Ausrede sehr dünn. Immerhin haben die Qs zumindest einige Tage im Pokécenter übernachtet und auch auf Anemonia City hat Schwester Joy uns kostenlos ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Ich habe ganz einfach vergessen, meine Mails zu checken. Ein wenig verängstigt scrolle ich bis zur letzten Nachricht, die sie mir geschickt hat. Das Datum ist der 25. Dezember. Erst gestern also. Ich hole tief Luft und klicke auf Öffnen, innerlich gegen jedwedes Donnerwetter gestählt. Stattdessen begrüßt mich nur eine Handvoll Sätze. Abby, bitte melde dich. Ich bin krank vor Sorge. Geht es dir gut??? Ich bin kurz davor, die Polizei zu rufen. Ich liebe dich, Mama Ich schlucke schwer. „Von deiner Mutter?“, fragt Val, der in dem Moment hinter mir auftaucht. Nickend drehe ich mich um. Er wedelt mit einem Ticket für die Fahrt nach Kanto am Montag. Nachdem wir uns zusammen mit Rose von Kat, Louis und einigen anderen verabschiedet haben, sind wir dank Roses Bitten mit den Flugpokémon einiger Ranger nach Oliviana City geflogen und dort abgesetzt worden. Hunter hat mein Gepäck übernommen und war sichtlich froh, seinen Flügel endlich wieder belasten zu dürfen. Außer ein paar längeren Pausen hat er sich gut gehalten. „Ich fühle mich furchtbar“, gestehe ich und rücke zur Seite, damit er einen kurzen Blick auf die Mail werfen kann. „Ich habe mich seit fast drei Monaten nicht mehr bei ihr gemeldet.“ Valentin pfeift leise. Es klingt nicht sonderlich begeistert. „Du solltest ihr schreiben, dass du bald zu Besuch kommst“, empfiehlt Rose. Sie ist nach Val ins Pokécenter getreten, das wie immer überfüllt ist, und hat sich mit geröteten Wangen durch die Trainerschlange vor der Rezeption gequetscht. „Wenn du ihr so lange nicht geschrieben hast, macht sie sich bestimmt furchtbare Sorgen.“ Ich nicke geknickt und wende mich wieder der Mail zu, während Rose und Valentin über die Frage unseres Schlafplatzes diskutieren, denn wie erwartet ist Olivianas Pokécenter seit Wochen ausgebucht. Liebe Mama, beginne ich. Es tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe, es ist so viel passiert und ich war nicht immer in der Nähe eines Pokécenters. Aber es geht mir gut und ich habe viele neue Freunde gefunden. Zwei von ihnen wirst du schon sehr bald kennen lernen, denn ich fahre am Montag mit der M.S. Aqua zurück nach Orania City. Laut Fahrplan werden wir am 10. Januar ankommen. Ich freue mich sehr, euch wieder zu sehen! Ich liebe dich auch, Abby Ich drücke auf Senden und fühle mich gleich viel wohler. Kurz überlege ich, auch Agnes oder Tarik eine Nachricht zu schreiben, aber wenn Mama die Mail liest, weiß ohnehin bald ganz Kanto von meiner Rückkehr. Mir wird mit einem Mal bewusst, wie lange ich schon fort bin. Wenn ich in Orania ankomme, werden es genau fünf Monate sein. Fast ein halbes Jahr, in dem ich von einer Katastrophe in die nächste gestolpert bin. Ich habe mir viele mächtige Feinde, aber auch Freunde gemacht. Mel mag ganz Team Rocket gegen mich aufgehetzt haben, aber ich bin nicht mehr so schwach und naiv wie noch vor einigen Monaten. Und wenn es hart auf hart kommt, gibt es immer noch Gold und Chris. Und Raphael. Ich checke erneut meine E-Mails, aber von ihm ist keine dabei. Seit seinem Arenakampf ist er wie vom Erdboden verschluckt. Die letzten zwei Wochen haben mich und vor allem Louis sehr mitgenommen und ich habe durchgängig versucht, alle negativen Gedanken abzuschalten. Aber Raphael bleibt verschwunden und ich habe keine Ahnung, wie ich ihn erreichen soll. Frustriert logge ich mich aus und unterbreche dann Vals und Roses angeregte Unterhaltung mit meinem Wissen über den Leuchtturm. Der Ort birgt zwar nicht nur gute Erinnerungen für mich, aber die zwei bis drei Nächte bis zur Abfahrt werde ich überleben. Nachdem wir uns drei Schlafplätze im obersten Stockwerk gesichert haben, lasse ich die beiden alleine durch die Stadt stromern, während ich mich zu Erhards Lederwarengeschäft aufmache, um einen Teil meines neugewonnen Vermögens anzuzahlen. Nachdem ich dort weitere 10.000 PD abgegeben habe, sind meine Schulden bei ihm auf 20.000 PD gesunken, eine Menge, die mir immer noch abstrus groß vorkommt, aber in Kanto werde ich schon eine Möglichkeit finden, an das Geld zu kommen. Und mit etwas mehr als 5000 PD in der Tasche mache ich mich zu Ivys Hafenbar auf, wo Val und Rose mich bereits zu unserem verabredeten Abendessen erwarten.   Die restlichen Tage bis zum Ablegen der M.S. Aqua verbringen Valentin und ich damit, durch die Stadt zu schlendern und einige letzte Einkäufe zu tätigen. Rose bleibt öfter als nicht im Leuchtturm, um dort an ihrer Geschichte weiterzuschreiben. Ich bin nicht ganz sicher, wie es sie faszinieren kann, mehrere Stunden lang auf ein leeres Stück Papier zu starren und Wörter darauf zu kritzeln, aber irgendetwas muss sie an ihrem Hobby finden, also lasse ich sie. Ich nutze die freie Zeit außerdem, um meinen Pokémon wieder etwas mehr Auslauf zu geben, denn in den Wochen vor dem Schwimmwettbewerb hatte ich neben dem Schwimmtraining und der schlechten Stimmung im Pokécenter wenig Energie, mich mit ihnen zu befassen. Jayjay reite ich mindestens einmal pro Tag auf den Taurosweiden vor der Stadt aus, während Hunter über unseren Köpfen durch die Luft sirrt und seinen Geschwindigkeitsdrang zufrieden krächzend stillt. Sku lasse ich vom späten Nachmittag und die ganze Nacht über aus ihrem Pokéball und Gott wird schnell zum allgemeinen Heizkörper unseres Leuchtturmstockwerks, was er mehr oder weniger friedlich hinnimmt. Am 28. Dezember ist es jedoch so weit. Mit unseren dicken Rucksäcken bepackt stehen wir in der Schlange vor dem Schiffaufgang, wo ein Matrose unsere Tickets kontrolliert, bevor die Passagiere über Rampen auf den Kreuzer geleitet werden. Es ist ein kalter Tag, nur eine Woche nachdem ich noch im Meer geschwommen bin, ist es plötzlich so eisig, dass ich trotz meiner Winterjacke bibbernd zwischen Rose und Valentin stehe. Beide, vor allem Rose, wirken steif und unsicher mit den drängelnden Menschengrüppchen um uns herum, aber bis wir an Bord kommen, müssen sie noch ein Weilchen durchhalten. Je näher wir dem Meer kommen, desto stärker liegt mir der salzige Geruch in der Nase und das Kreischen der Wingulls über unsern Köpfen übertönt beinahe das Getuschel um uns herum. Schließlich sind aber auch wir an der Reihe und ich staune nicht schlecht, als ich den Ticketkontrolleur wiedererkenne. Wir beide brauchen einen Moment, bevor wir uns richtig eingeordnet haben, dann lacht Stanz schallend und nimmt mich in eine zu kräftige Umarmung. "Abby! Du fährst also nach Kanto!" "Zurück nach Hause, zur Abwechslung mal", erwidere ich und reiche ihm mein Ticket. Stanz überprüft es zusammen mit denen von Rose und Val flüchtig, dann stempelt er die Papierscheine ab und winkt uns durch. "Dann hoch mit euch. Besuch mich doch mal in der Kombüse, wenn du eine freie Minute hast." Klar!", rufe ich ihm hinterher, während wir bereits die Rampe hinauf gehen. "Wer war das?", fragt Rose und schaut sich um. "Stanz, ein Matrose auf dem Schiff hier", erkläre ich, als wir ins Schiffinnere treten. "Er hat mir vor ein paar Wochen zu  einem Job verholfen." Direkt neben dem Eingang, durch den wir gerade getreten sind, steht ein dünner Junge mit weißblondem Lockenkopf und wässrig blauen Augen. Die Matrosenuniform, die er trägt, ist zu groß für seinen spindeldürren Körper. Er streckt eine Hand aus. "D-darf ich bitte ihre Tickets sehen?", fragt er mit gezwungen lauter Stimme. Wir reichen sie ihm. "Ihre Kajüten sind auf d-dem nächsten Stockwerk", erklärt er und deutet zu einer Treppe am Ende des Ganges. "Ihre Zimmernummern stehen neben der B-buchungsnummer." Wir erhalten unsere Tickets zurück, zusammen mit den zugehörigen Schlüsseln, und machen uns auf zur Treppe. "Welches Zimmer habt ihr?", frage ich und schaue neugierig auf mein eigenes Ticket. Die Nummer 127 ist in schwarzen Lettern auf dem Papier gedruckt. "109", sagt Val und schaut zu Rose. "Du?" "Hier steht 145", sagt sie und hebt den Kopf. "Wir scheinen zumindest dasselbe Stockwerk zu belegen." Sie hat Recht, allerdings liegen unsere Kajüten auf unterschiedlichen Gängen, sodass wir uns an einer der Flurgabelungen trennen müssen. Mein Zimmer finde ich nach nur wenigen Minuten. Es ist schmal, mit einem am Boden befestigten Einzelbett, einem schmalen Schrank und einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Ein kreisrundes Bullauge ermöglicht mir einen Blick hinaus aufs Meer, wenn ich halb über den Tisch krabbele. Ich stelle meinen Rucksack ab und beschließe, zur Feier des Tages meine Sachen auszupacken. Es ist Monate her, seit ich nicht aus meinem Koffer gelebt habe und jetzt die Kleidungsstücke, Utensilien und anderen angesammelten Gegenstände heraus zu holen, fühlt sich sehr ungewohnt an. Als ich vor dem Kleiderschrank stehe, gähnt mir jedoch seine unendliche Leere entgegen. Was meinen Rucksack fast zum Bersten gebracht hat, füllt nun kaum ein Drittel, wobei der größte Teil von meinen Inlinern, dem Schlafsack und dem Rucksack selbst eingenommen wird. Meine Tops, die ich damals mit so viel Grübelei ausgesucht habe, sind ausnahmslos beschmutzt, zerrissen oder anderweitig beschädigt, genauso wie meine Shorts und meine lange Hose trage ich seit Azalea City fast durchgängig. Seufzend stopfe ich alles zurück in den Rucksack und lasse nur die sperrigsten Teile im Schrank. Ich habe erwartet, irgendwann das heimatlose Reisen leid zu sein, nicht mehr von einer Stadt in die nächste hetzen zu wollen. Aber jetzt fühlt sich selbst dieses vorläufige Zimmer stickig und eng an. Wann ist mein Fernweh so schlimm geworden? Wütend auf mich selbst klaube ich meine Sachen zusammen und verlasse die Kajüte. Ich finde Rose im Gang nebenan, wo sie es sich schon in ihrem Zimmer gemütlich gemacht hat. Ihre Tasche mit den Collegeblöcken liegt auf dem Tisch, daneben ein kleines Etui, aus dem einige Kugelschreiber kullern und ihre Tasche ist fertig ausgeräumt und im Schrank verstaut. "Wollen wir etwas essen gehen?", frage ich an den Türrahmen gelehnt. "Es ist schon nach Mittag und wir hatten nichts Richtiges zum Frühstück." Rose begutachtet ein letztes Mal ihr Werk, dann dreht sie sich zu mir um und nickt. Ihre karamellfarbene Haut leuchtet und ihre Rasterlocken wippen sanft um ihre Stirn. Sie wirkt, als hätte jemand eine große Last von ihrem Schultern genommen. Wir holen Valentin ab und machen uns dann auf den Weg zurr Bordküche im ersten Stock. Der Strom neuer Passagiere findet kein Ende und gerade im Eingangsbereich ist kaum ein Durchkommen, weil sich Trainer, Familien, Geschäftsleute und sogar eine kleine Zirkusgruppe mit ihren Koffern durch die Gänge drängeln. Schließlich schaffen wir es jedoch, in den richtigen Gang abzubiegen und finden den ausgeschilderten Essbereich. Runde Tische, die bis zu sechs Personen Platz bieten, sind über die gesamte Fläche des Saales verteilt und der rote Teppich unter unseren Füßen federt, als wir uns an einen der freien Tische setzen. Eine lange Bar trennt uns von den Schwingtüren, die in die Küche und dahinter wahrscheinlich in die Kombüse der Matrosen führen und wann immer sich eine von ihnen öffnet, schallt uns lautes Lachen, hektische Rufe und das Klirren von Geschirr entgegen. Einer der Matrosen kommt an unseren Tisch, um uns drei große Teller mit Reis und Gemüse zu bringen und ich schaffe es, von ihm die Erlaubnis zu ergattern, Stanz in der Kombüse besuchen zu dürfen. Der Matrose ist unsicher, ob Stanz überhaupt dort ist, aber ich bestehe darauf, selbst nach ihm zu suchen und er zuckt schließlich mit den Schultern und gibt mir ein kleines Stück Papier mit seiner Unterschrift als Erlaubnis. "Aber Stanz kontrolliert doch die Fahrscheine", sagt Rose und schaut dem Matrosen verwirrt hinterher. „Du wirst ihn nicht in der Küche finden.“ „Nein“, stimme ich zu. „Aber man weiß nie, wann sowas hilfreich sein kann.“ Valentin schaut skeptisch von seinem Essen auf, zuckt dann aber mit den Schultern und widmet sich wieder seinem Reis. Nachdem wir fertig sind, verabschiedet Rose sich von uns, um sich einen Ort zum Schreiben zu suchen, sodass Val und ich am Tisch zurück bleiben und uns ratlos anschauen. „Ich gehe mal in die Kombüse“, sage ich schließlich. Val steht auf. „Dann gönne ich mir eine Dusche.“ Wir verabschieden uns und ich mache mich auf den Weg zur Bar, wo ich meinen kleinen Zettel vorzeige und in die Küche gelassen werde. An den Anrichten und Herden ist die Hölle los, aber ich schlängele mich die Wand entlang, bis ich den Kochbereich hinter mir lasse und zu den langen Esstischen komme, die im hinteren Bereich aufgebaut sind. Zeit, mich ein bisschen nach Neuigkeiten umzuhören. Die Matrosen werfen mir neugierige Blicke zu, als ich mich zu ihnen an den Tisch setze, schlagen mir aber schnell kameradschaftlich auf den Rücken, als ich mein Treffen mit Stanz zum Besten gebe und nebenbei einfließen lasse, bei dem Wintercup auf Anemonia City den dritten Platz gewonnen zu haben. Die Unterhaltung kommt schnell wieder auf gewohnte Bahnen und ich höre aufmerksam zu, während der neuste Tratsch aus Kanto diskutiert wird. „Wo das hinführen soll, weiß ich auch nicht mehr“, sagt Rolf, der bulligste der Gruppe mit einer Glatze und einem dichtem Vollbart. Er hält seinen Bierkrug fest umklammert und tippt mit den Fingerspitzen rhythmisch auf das feuchte Glas. „Bob sagt zwar, er ist nicht sicher, aber…“ „Du glaubst doch nicht wirklich den Humbug, den die Jungs vom Kraftwerk erzählen“, wirft sein Kumpane mit der schiefen Nase ein. „Die wollen sich nur wichtigmachen. Ein Ball? Dass ich nicht lache.“ „Weiß man´s?“ Lorenz beißt in sein Brötchen, bevor er fortfährt. „Ich kenne die beiden. Unruhestifter, aber keine Lügner. Vielleicht haben sie die Geschichte ein bisschen aufgebläht, aber selbst der Major sagt, irgendetwas ist anders.“ „Schwachsinn.“ Der Matrose schüttelt entschieden den Kopf. „Wenn ich keine Beweise sehe, dann glaub ich´s auch nicht. Und niemand wird mich vom Gegenteil überzeugen.“ „Worum geht es denn?“, frage ich, nachdem klar wird, dass die drei nicht weiter über das Thema reden wollen. „Ah, natürlich, das würdest du nicht wissen“, sagt Rolf. „In Orania ist es das einzige, worüber geredet wird und ich wette, bald weiß es ganz Kanto.“ „Zwei Jungs sind vor etwa zwei Wochen völlig von der Rolle nach Orania City gekommen und wollten unbedingt Major Bob sprechen“, fährt Lorenz fort. „Anscheinend haben sie vor dem Kraftwerk trainiert, als der Himmel sich plötzlich verdunkelte und Zapdos in Blitz und Donner vom Himmel herab sank.“ „Die Jungs haben sich sofort versteckt, aber sie haben die Wiese im Auge behalten und dort einen Jungen gesehen, der seelenruhig das Pokémon erwartete. Sie haben sich sehr lange angestarrt. Und dann soll der Junge einen Ball in die Höhe gehalten haben und Zapdos hat sich freiwillig fangen lassen.“ „Unsinn! Hört euch doch nur mal zu!“ Wütend spuckt der dritte Matrose auf den Boden. „Als wenn ein Legendäres Pokémon sich ohne einen Kampf fangen lässt. Das ist der größte Mist, den ich seit langem gehört habe.“ „Ich wiederhole nur, was ich aufgeschnappt habe“, sagt Lorenz, ein wenig beleidigt. Dann beugt er sich zu mir und flüstert verschwörerisch „Natürlich kann das alles eine Lüge der beiden sein. Aber Major Bob ist mit ihnen zu dem Kraftwerk gegangen und hat bestätigt, dass die Elektrizitätsmessungen seit dem Vorfall rapide gesunken sind. Und Bob versteht sich auf Elektrotypen, der weiß, wovon er spricht.“ „Hmm.“ Nachdenklich schaue ich an den dreien vorbei an die Wand, während das laute Tratschen um mich herum immer leiser zu werden scheint. Ich muss mich dem Skeptiker der Gruppe anschließen. Ein Legendäres, das sich ohne Kampf fangen lässt? Mit nur einem einzigen Ball? Sehr unwahrscheinlich. Ich beschließe, bei meiner Rückkehr einmal mit Major Bob persönlich zu reden, um die Gerüchte aus erster Hand bestätigt zu kriegen. Vielleicht lässt sich daraus ja sogar meine allererste Story basteln, wer weiß. Ich will mich gerade verabschieden, da ertönt ein mir sehr bekanntes schallendes Lachen am Eingang und ich drehe mich auf der Holzbank am. Stanz schlägt einigen seiner Mitstreiter auf den Rücken, sieht mich und kommt breit grinsend auf uns zu. Ich rücke zur Seite und schon bald bin ich wieder in eine angeregte Unterhaltung verwickelt.   Bis ich mich von den geschwätzigen Matrosen losreißen kann, ist es später Nachmittag. Mein schlechtes Gewissen meldet sich zu Wort, weil ich Valentin und Rose so lange alleine gelassen habe, aber als ich an die Zimmer der beiden klopfe, ist niemand da. Achselzuckend mache ich mich auf den Rückweg und durchforste die Gänge des Schiffs, bis ich das Gefühl habe, überall schon dreimal gewesen zu sein. Im ersten Untergeschoss sind wie im Obergeschoss Kabinen der Passagiere und die Kojen der Matrosen, aber eine weitere Treppe, die mit einem Zugang nur für Befugte versehen ist, scheint tiefer in die Fracht- und Maschinenräume zu führen. Ich mache auf dem Absatz kehrt und erschrecke fast zu Tode, als ich Rose entdecke, die unter der Treppe nach oben auf dem Teppichboden sitzt und ihren Collegeblock über den Knien hält. Sie lächelt mich frech an. „Buh“, sagt sie und ich lache, als meine Panik sich legt. „Was machst du hier unten?“, frage ich und lasse mich neben ihr auf dem Boden nieder. „Ich schreibe gerne an Orten mit Hintergrundgeräuschen“, erklärt sie und klappt ihren Block zu. „In Anemonia war ich deswegen entweder in der Safari-Zone oder im Café in der Stadt. Und hier kann ich die Gespräche von oben und die Maschinen von unten hören, ohne dass ich gestört werde.“ „Wenn du meinst“, sage ich und stehe auf. „Hast du Valentin gesehen?“ „Nein.“ Sie richtet sich ebenfalls auf, kommt unter der Treppe hervor und streckt ihren Rücken durch. „Aber ich helfe dir suchen, wenn du möchtest. Ich habe mein Pensum für heute erledigt.“ „Dann komm mit“, meine ich und laufe zur Treppe. „Ich glaube, außer dem Deck habe ich schon alles doppelt abgesucht.“ Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Erdgeschoss, von dem aus wir uns einen Weg zum Deck bahnen. Draußen ist es kalt und dunkel, aber zahlreiche Lampen und Lichterketten erhellen den Außenbereich und ich bin überrascht, so viele Passagiere draußen versammelt zu sehen. Erst der plötzlich anschwellende Applaus gibt mir einen Hinweis auf den Tumult. Rose und ich laufen zu der Menschentraube, an deren Rand wir Valentin und sein Jurob finden, das sich im eisigen Wind sehr wohl fühlt und von seinem Arm aus auf das Zentrum der Gruppe blickt. Wir schlängeln uns zu ihm und nun entdeckte ich endlich, was den Auflauf verursacht hat. Die Zirkusgruppe hat sich auf dem Deck versammelt, um dort eine kleine Darbietung zu liefern. Der Feuerspucker trinkt abwechselnd aus einer durchsichtigen Flasche und speit dann, mithilfe seines Vulpix, eine Flammensäule in den schwarzen Nachthimmel, während zwei Jongleure mit umgedrehten Hüten vor der ersten Reihe her tänzeln und Spenden sammeln. Ein violett gekleideter Mann schwebt im Schneidersitz einen Meter über dem Boden und lässt sich dort von seinem Psychopokémon, einem kleinen Abra, in der Luft halten. „Machen die Werbung für ihren Zirkus?“, frage ich neugierig und Val zuckt zusammen, als er meine Stimme plötzlich so nah hört. „Sie haben einfach angefangen und sammeln jetzt Trinkgeld ein“, erwidert er schließlich. „Von einem Zirkus haben sie noch nichts gesagt.“ Ich beobachte, wie das letzte Mitglied der Gruppe, eine Frau, aus den Schatten tritt und sich vor den anderen Zirkusleuten aufstellt. Sie ist groß und dünn wie ein Zweig, mit grau meliertem, hochgestecktem Haar und einem feuerrotem Wintermantel, der die Holzplanken des Schiffdecks streift. Der Feuerspucker lässt seine Flasche sinken und sein Vulpix speit eine letzte Flamme in den Himmel, bevor es sich zu seinen Füßen einrollt. Die beiden Jongleure lassen die Hüte mitsamt Geld in ihren bunt gemusterten Kleidern verschwinden und stellen sich hinter der Frau auf, die allem Anschein nach das Sagen hat. Selbst der Psycho, der dank seines Abras in der Luft schwebt, sinkt langsam zu Boden und öffnet die Augen. „Liebe Zuschauer!“, begrüßt die große Frau uns mit durchdringender Stimme und das Getuschel verstummt. „Vielen Dank, dass sie so zahlreich zu unserer kleinen Vorstellung erschienen sind. Mein Name ist Rita und ich bin die Leiterin dieser bunten Truppe.“ „Wie groß sie ist…“, murmelt Rose andächtig. „Meine Gruppe und ich möchten sie zu einem kleinen Wettstreit einladen. Ich mag vielleicht nicht so aussehen, aber ich bin eine formidable Pokémontrainerin und ich biete ihnen folgendes an: Ab Neujahr werde ich Herausforderungen von anderen Trainerin annehmen. Gegen einen kleinen Geldbetrag, der in einen gemeinsamen Pot eingeht, werde ich mich in einem Eins gegen Eins Duell jedem stellen, der mich bis zum Ende der Fahrt herausfordern möchte. Wer mich besiegt, erhält all das bis dahin gesammelte Geld im Pot doppelt. Jeder Trainer darf mich so oft er möchte herausfordern, aber nur einmal pro Tag. Und als Zusatzregel gilt: Ein Pokémon, das bereits verloren hat, darf nicht mehr eingesetzt werden und kann bei unserem Mediteam über Nacht geheilt werden. Kostenlos, versteht sich.“ Raunen und Getuschel werden laut. Die einen sind misstrauisch, weil sie glauben, Rita wollte uns mit einem abnormal starken Pokémon platt machen, andere wundern sich über die Beweggründe ihrer kleinen Gruppe. „Was ist, wenn niemand den Pot gewinnt, bis wir anlegen?“, fragt ein junger Mann im Nadelstreifenanzug. „Dann geht das Geld an unsere Zirkusgruppe“, erwidert Rita. „Aber auch wenn ich gerührt bin, dass sie mir eine solche Stärke zutrauen, glaube ich doch nicht daran, gegen jeden hier bestehen zu können.“ „Kann man erneut antreten, wenn man bereits den Pot gewonnen hat?“, ruft eine ältere Frau. Hierauf schüttelt Rita den Kopf. „Das wäre den anderen Passagieren gegenüber unfair“, erklärt sie. Nach und nach verstummt das Gemurmel und wird durch langsam anschwellende Euphorie ersetzt. Mich eingeschlossen. Der Gedanke an mein enges Zimmer im ersten Stock ist hier draußen in im kalten Nachtwind und unter freiem Himmel wie weggefegt. Die Bewegung wird meinen Pokémon gut tun und ich kann Geld nun wirklich immer gebrauchen. „Sehr schön, dann fahren wir mit unserer Show für heute Abend fort!“, ruft Rita, bevor sich die Massen verlaufen können. Neben dem Kopf des Psychos tauchen plötzlich die Augen eines keckernden Nebulaks auf. „Wer möchte sich für eine Hypnosedarbietung zur Verfügung stellen?“ Kapitel 75: Dilettantentee (Lebenszeichen) ------------------------------------------ Am nächsten Morgen gönne ich mir eine Dusche und hole anschließend Rose und Valentin für das Frühstück ab. Gesprächsthema Nummer eins ist, wie erwartet, die Zirkustruppe, die am anderen Ende des Saales sitzt und ebenfalls isst. „Ich frage mich, wie stark Rita ist“, sage ich zwischen zwei Bissen. „Die Fähre wird schließlich von vielen Trainern genommen. Sie muss ziemlich gut sein, wenn sie glaubt, irgendeinen Profit machen zu können.“ „Ich traue ihr nicht“, sagt Val und schaut zum wiederholten Mal an diesem Morgen über seine Schulter. „Als wenn sie so stark wäre, dass sie niemals verliert. Und das ist wirklich die einzige Möglichkeit, wie sie Profit aus der ganzen Aktion schlagen kann. Solange sie kein anderes Motiv hat, versteht sich.“ „Vielleicht möchte sie nur die Langeweile auf dem Schiff vertreiben“, sagt Rose und stochert in ihrem Obstsalat herum. „Sie erschien mir sehr nett. Aber auf meine Einschätzung sollte man wohl keinen besonderen Wert mehr legen.“ „Nicht jeder, den du nett findest, tut nur so, Rose“, sage ich schnell. „Holger war eine Ausnahme.“ „Meinst du?“ „Naja, Val und ich sind ganz sicher keine Rockets“, sage ich grinsend und bin froh, ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. So wie mir Mels Drohungen in den Knochen sitzen, ist es bei ihr der Verrat eines Freundes. In dem Moment klingelt mein Handy. Meine Hand schießt zu meinen Pokébällen und ich bin aufgesprungen, bevor ich es merke. Der Stuhl kippt nach hinten und fällt polternd um. Der ganze Saal starrt mich an. Ich atme tief durch, ziehe mein Handy aus meiner Tasche und verschwinde aus dem Speisesaal. Ich hatte gehofft, meine Sprunghaftigkeit über die letzten Wochen losgeworden zu sein, aber ein plötzliches Geräusch, während ich in Gedanken bei Mel bin, gibt mir automatisch einen Adrenalinschub. Genervt, mich so blamiert zu haben, schaue ich nicht mal auf die Nummer und lege das Handy einfach an mein Ohr. „Ja?“, frage ich ein wenig ruppig. „Oh Gott, Abby, zum Glück erreiche ich dich.“ „Raphael?“ Ich erstarre. „Was war los?! Ich bin vor Sorge fast gestorben!“ „Es tut mir leid, ich wollte mich melden, aber man hat mir mein Handy erst bei der Entlassung zurückgegeben.“ „Entlassung?“ Ich lasse mich auf einer Treppenstufe nieder, die gerade in der Nähe ist. „Wovon sprichst du?“ „Rocky hat mich direkt nach dem Arenakampf in Gewahrsam genommen“, erklärt er und je weiter er kommt, desto größer werden meine Augen. „Sie wollte sicher gehen, dass ich nicht entkomme, also hat sie den Moment abgepasst, als meine Pokémon geschwächt waren. Ich bin natürlich mitgegangen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sie von mir wollte. Mit Richard haben sie dasselbe Spiel abgezogen. Wir wurden wochenlang getrennt voneinander verhört. Die wollen Zach, Abby. Und Richard haben sie immer noch in Gewahrsam, weil er mit den ganzen Verbindungsleuten in Kontakt stand, die Zachs Nachrichten weitergeleitet haben. Einer von denen hat wohl versehentlich etwas ausgeplaudert.“ „Warte, warte!“, werfe ich ein. „Richard und du wart im Gefängnis?“ „Nein, nicht im Gefängnis.“ Raphael seufzt und zügelt sein Tempo ein wenig. „In Untersuchungshaft. Aber wenn Richard ihnen nicht dabei hilft, an Zach heran zu kommen, dann wollen sie ihn wegen Behinderung der Polizeiarbeit und als Komplize von Team Rocket dran kriegen. Den Schlag wird Alfreds Image nicht verkraften. Und derzeit sieht es ganz so aus, als würde Richard es darauf anlegen. Bisher hat Alfred die ganze Sache noch vertuscht, aber ich weiß nicht, wie lange er mit unserer Reise nach Sinnoh durchkommt.“ „Ihr müsst ihnen die Wahrheit sagen“, sage ich eindringlich. „Wenn ihr so weiter macht, werden bald alle Favoriten festgenommen! Sagt Rocky, dass Zach nur so tut, als wäre er ein Mitglied, um seine Schwester zu rächen. Sagt ihr, dass sie ihn als Spion benutzen können. Ihr müsst mit der Polizei kooperieren.“ „Ja, das werden die uns auch jetzt noch glauben“, schnaubt Raphael. „Du hast keine Ahnung, wie frustriert Rockys ganze Einheit ist. Erst vor kurzem ist ihnen schon wieder eine große Möglichkeit durch die Lappen gegangen und sie schaffen es einfach nicht, die Oberhand zu gewinnen. Die Öffentlichkeit fragt sich inzwischen, ob ihre Spezialeinheit nicht völlig nutzlos ist. Und alle starken Trainer stehen dank Zach jetzt unter Verdacht. Dass sie Gen noch nicht eingesackt haben, ist ein Wunder.“ „Das war meine Schuld“, sage ich kleinlaut. „Was war deine Schuld?“ „Dass sie die Möglichkeit nicht ergreifen konnten“, sage ich. „Ich wusste nicht, ob Zach bei dem Rocket Anschlag dabei ist, also habe ich erst kurz vorher die Polizei eingeschaltet und weil ich gegen sie gekämpft habe, ist Winry verwundet worden und Gold musste sie festnehmen, statt ihnen wie geplant zum HQ zu folgen. Und einer ist entwischt und Winry wird nie wieder… nie wieder kämpfen können und jetzt hat Louis aufgegeben, ein Protrainer zu sein und es ist alles meine Schuld!“ Schweigen. „Abby, hör mir zu“, sagt Raphael schließlich. „Es ist nicht deine Schuld, dass Winry verwundet wurde. Das war Team Rocket. Und es ist nicht deine Schuld, dass die Polizei frustriert ist. Ohne deinen Hinweis hätten sie gar nichts ausrichten können. Wenn sie in all den Jahren trainiert hätten, anstatt dumm auf dem Revier zu sitzen und Däumchen zu drehen, dann hätten wir jetzt eine perfekt organisierte, starke Truppe und Gold müsste nicht alles alleine machen. Die Polizei ist mindestens genauso Schuld an der ganzen Sache wie wir.“ Ich nicke schwach. „Du hast Recht.“ Er atmet schwer aus. „Also, wie geht es Louis?“   Es ist nicht das erfreulichste Gespräch, das wir je geführt haben, aber mit Raphael über meine Schuldgefühle zu reden, ist etwas ganz anderes, als sie Louis zu offenbaren und als wir über eine Stunde später schließlich auflegen, fühle ich mich leichter, als in einer sehr langen Zeit. Rose, die irgendwann während meines Gesprächs nach unten zu ihrem neuen Lieblingsschreibplatz verschwunden ist, überlasse ich ihrem täglichen Schreibwahn und suche stattdessen Valentin, den ich wie erwartet auf dem Deck finde. In eine dicke Winterjacke eingewickelt steht er an die Reling gelehnt und sein mittellanges, dunkelbraunes Haar peitscht im Meereswind um sein Gesicht. Ich lehne mich neben ihm an die Metallstreben und schaue hinaus aufs Wasser. Oliviana City ist in der Ferne noch sichtbar, aber wegen meines Telefonats habe ich das eigentliche Ablegen wohl verpasst. „Ich habe Anemonia nie verlassen“, sagt Val und starrt in die Ferne. „Und jetzt reise ich in eine neue Region.“ „Du gewöhnst dich dran“, sage ich und stoße mich vom Geländer ab. „Es sind noch drei Tage, bis wir Rita herausfordern können. Wollen wir trainieren?“ Er zieht eine Augenbraue hoch. „Du willst da mitmachen?“ „Ich bin dauerpleite“, sage ich grinsend. „Wettbewerbe sind mein bester Freund.“ Er schüttelt fassungslos den Kopf. Letztlich gibt er aber doch nach und nur wenige Minuten später stehen wir am Ende des Decks, frierend aber kampfbereit. „Ich kämpfe mit Quaputzi“, verkündet Valentin und ruft sein Pokémon. Es springt auf und ab und macht Boxbewegungen. Obwohl es noch keinen Kampftyp hat, scheint es schon mal die richtige Einstellung mitzubringen. „Hm…“ Meine Finger schweben über meinem Trainergürtel. Sku ist stark genug und Gott will ich die viele Zuschauer bei dem Wettbewerb nicht zumuten. Jayjay hätte leichtes Spiel mit Quaputzi, aber… „Hunter, los.“ Auf meinen Ruf hin materialisiert sich Ibitak in einem roten Lichtstrahl und landet flatternd und gurrend auf meinen Schultern, wo er seinen Kopf fest gegen meine Wange reibt. Ich lache und stupse ihn weg. „Wir kämpfen heute, Hunter, reiß dich zusammen.“ Er krächzt freudig und flattert in die Höhe, um seinen Gegner zu erwarten. Ich gestehe, dass ich Valentin unterschätzt habe. Ich bin davon ausgegangen, dass er kein besonders starker Trainer ist, weil Hartwig so unzufrieden war und Val sich ohnehin mehr für das Schwimmen interessiert, aber sein Quaputzi muss über Level 30 sein und nachdem Hunter sein erstes Aero-Ass landet, wird er von einer Hypnose und einem doppelten Blubbstrahl ausgeschaltet, bevor er mit Spiegeltrick kontern kann. „Nicht schlecht“, gestehe ich und rufe nun doch Jayjay. „Funkensprung!“   Etwa eine Stunde später sind unsere Pokémon erschöpft und Val und ich machen uns auf den Weg ins Innere des Schiffes. Der salzige Meereswind hat meine Finger steif gefroren und Vals Wangen sind so rot wie Äpfel. Ich bin versucht, mir wieder eine warme Dusche zu gönnen, stattdessen bestellen wir uns Tamottee und einen Kakao und setzen uns an die Bar, um die wärmenden Getränke zu schlürfen. Der Matrose, dem ich dort gestern meine Kombüsen-Erlaubnis gezeigt habe, scheint mich zu erkennen, denn als er nicht mehr mit Gläserputzen beschäftigt ist, gesellt er sich zu uns und verwickelt mich ein Gespräch. Val, der nicht allzu begeistert von Fremden zu sein scheint, die sich mit ihm unterhalten wollen, trinkt seinen Kakao und bleibt stumm. „Du bist also Stanz´ kleine Freundin?“, fragt er zur Begrüßung und ich schlage in seine dargebotene Hand ein. „Die bin ich“, sage ich grinsend. „Das hat sich ziemlich schnell rumgesprochen.“ Der Matrose lacht und zwirbelt seinen dunklen Schnauzbart. „Was heißt hier rumgesprochen? Du warst ´n Paar Stunden mit den Jungs in der Kombüse, da blitzt sowas durch.“ Plötzlich richtet er sich auf und schaut an uns vorbei zur Tür des Speisesaals. Val und ich drehen uns um. Ich kneife die Augen zusammen, als der Junge, der uns gestern die Schlüssel gegeben hat, mit hängendem Kopf ein Tablett voller unbenutztem Geschirr zur Bar balanciert. Seine weißblonden Locken stehen in alle Richtungen ab und er schaut sich mit seinen wässrig blauen Augen um, als wäre ihm ein Auftragskiller auf den Fersen. „Claude, was ist? Will sie den Tee nicht?“ „E-es ist die falsche Sorte“, erklärt Claude mit dünner Stimme und schiebt das Tablett auf den Tresen. Die Teekanne ist noch randvoll mit blassgrünem Tee, die Tasse ist unberührt und der Keks entpackt, in Stücke gebrochen, aber ungegessen. „Die falsche Sorte?“ Der Matrose betrachtet die Kanne von Nahem. „Sie hat ihn nicht mal probiert!“ „Sie hat g-gerochen, dass sie ihn nicht mögen wird. Sagt sie.“ „Argh!“ Der Matrose schlägt wütend auf den Tresen, dann stopft er sich den zerkrümelten Keks in den Mund und reißt die leere Tasse vom Tablett, um sie an die Wand zu schmeißen. Auf Vals hochgezogene Augenbrauen hin räuspert er sich jedoch und setzt die Tasse wieder auf dem Tablett ab, wenn auch nicht unbedingt sanft. Er räuspert sich erneut. „Tut mir leid. Aber… diese Frau! Sie regt mich auf!“ „Ihr schmeckt der Tee nicht?“, rate ich grinsend. „Sie probiert ihn ja nicht mal!“ Wütend rauft er sich die Haare und lässt sich dann niedergeschlagen auf seinen Barhocker plumpsen. „Das ist die fünfte Kanne, die ich neu gemacht und zu ihr hoch geschickt habe. Sie will irgendeine spezielle Mischung,  die wir nicht hier haben und die Köche haben besseres zu tun, als mit unseren vorhandenen Sorten herum zu experimentieren, bis Fräulein Möchtegernteekennerin zufrieden ist!“ Claude, der während dieser Tirade geschrumpft zu sein scheint, murmelt eine unverständliche Entschuldigung und will davon schleichen, aber der Matrose kratzt sich am Bart und ruft ihn mit etwas ruhigerer Stimme zurück. „Tut mir leid, Claude, ich hätte nicht so schreien sollen. Es ist nicht deine Schuld, dass diese Alte so ein Stück Sch… so ein Stück ist“, verbessert er sich mit einem Seitenblick in meine Richtung. Valentin schnaubt belustigt. „T-tut mir leid“, wiederholt Claude. „Ich werde ihr s-sagen, dass wir den Tee nicht haben.“ Mit hängenden Schultern verlässt er den Speisesaal und der Matrose an der Bar lässt sich erschöpft zurück auf seinen Barhocker fallen. „Es gibt zwei Arten von alten Frauen“, sagt er schließlich resigniert. „Süße Omis und Schreckschrauben.“   Als ich mich einige Minuten später auf den Rückweg zu meinem Zimmer mache, bin ich nicht wenig überrascht, in meinem Gang Claude zu entdecken, der vor einer halboffenen Türe steht und händeringend wartet, bis eine hutzlige Dame hinaus tritt und ihm den Zeigefinger auf die Brust presst. In ihrem anderen Arm hält sie ein Flampion, das glücklich quietschend mit den kurzen Beinchen strampelt und in die Hände klatscht. „Ich lasse mir solche Ungeheuerlichkeiten nicht bieten, junger Mann“, schimpft sie lautstark und Claude zuckt bei jedem ihrer Worte zusammen. „Glaubt euer Schiffskoch, ich könnte einen Babiri-Durintee nicht von einem dilettantisch zubereiteten Honmel-Rabutatee unterscheiden? Eine Frechheit! Ich habe für Service auf diesem Schiff bezahlt, nicht dafür, von dem Personal an der Nase herum geführt zu werden! Ich werde mit deinem Vorgesetzten sprechen und mir notfalls den Tee selbst zubereiten. Hm!“ Einen Moment lang denke ich darüber nach, einfach in meinem Zimmer zu verschwinden, bis die Frau verschwunden ist, aber Claudes entsetzter Gesichtsausdruck und das Zittern seiner Hände, als er den Mund öffnet und doch kein Wort herausbringt, lassen mich umdrehen und zu der Frau aufschließen. „Warum gehe ich nicht mit ihnen zum Koch und wir fragen ihn, ob er uns einige Teesorten zur Verfügung stellt, damit wir die richtige Mischung für sie finden?“, frage ich hastig und hake mich in ihren freien Arm ein. Sie wirft einen skeptischen Blick in meine Richtung, nickt dann aber gnädig ihr Einverständnis und lässt sich von mir die Treppen hinunter leiten. Ich zwinkere Claude über meine Schulter hinweg zu und sehe noch, wie er erleichtert ausatmet und sich an die Tür lehnt, dann muss ich mich auf die Stufen konzentrieren. Der Koch und der Matrose an der Bar sind nicht unbedingt begeistert darüber, dass ich die alte Dame, die sich als Cornelia Harris und Teeliebhaberin vorstellt, in ihrem Vorhaben unterstütze, aber ich erkläre den beiden so leise ich kann, dass sie sich so das Experimentieren in Zukunft sparen können und schließlich weisen sie uns eine kleine Ecke in der geschäftigen Küche zu, in der wir Wasser aufsetzen und verschiedene Beerentees zusammen mischen können. „Die wenigsten wissen noch, wie man Tee richtig zubereitet und trinkt“, beschwert Cornelia sich nach der ersten halben Stunde fehlgeschlagener Experimentierversuche zum fünften Mal. „Jedes beliebige Gesöff wird mit Milch und Zucker und Sahne und wer weiß was für Undenkbarkeiten versetzt und dann wundern sich die Leute, dass alles gleich schmeckt. Hm! Ich hoffe doch sehr, dass du dich nicht zu jener Gruppierung zählst?“ Ich schmunzele und gieße das heiße Wasser über unsere letzte Kombination: Honmel, Giefe und Rabuta. Nicht allzu weit von dem entfernt, was Claude ihr zuletzt angeboten hat, aber die Schärfe der Giefebeere hat gefehlt. „Ich bevorzuge puren Tamottee“, erkläre ich und Cornelia nickt anerkennend. „Eine sehr gute Wahl. Feurig scharf. Nicht wahr, Flampion?“ Sie kitzelt ihr Feuerpokémon am Bauch und es strampelt glucksend mit den Beinchen, die Augen genüsslich geschlossen. „Hier.“ Ich reiche ihr die neue Teekombination und warte geduldig, bis Cornelia die perfekte Ziehzeit abgewartet hat und schließlich vorsichtig an der dampfenden Flüssigkeit nippt. Sie schweigt und schaut in das Gefäß. Nervös luge ich über den Tassenrand, um die Farbe des Tees auszumachen, die von einem blassen gelbgrün ist. „Nicht ideal, aber trinkbar“, gesteht Cornelia schließlich und gibt auch ihrem Pokémon einen Schluck des Tees ab. Als ihre Worte in der Kombüse laut werden, stehen mit einem Mal alle versammelten Matrosen auf und klatschen in Scheinbegeisterung in ihre Hände, allen voran der Matrose von der Bar. „Komm mit mir auf mein Zimmer“, befiehlt Cornelia ungerührt und gibt dem Schiffskoch Anweisungen, ihr den Tee genau so und nicht anders zuzubereiten, dann verschwindet sie auch schon ohne einen Blick zurück aus der Schiffsküche, offenbar überzeigt, dass ich folgen werde. Ich erhebe mich, bedanke mich bei dem Koch für seine Geduld und folge Cornelia dann die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer. Sie erwartet mich bereits ungeduldig und scheucht mich auf einen der beiden Stühle, die neben dem kleinen Tisch vor dem Bullauge stehen. Sie trinkt einen weiteren Schluck ihres Tees und setzt Flampion dann auf ihrem Bett ab, wo das kleine Pokémon freudig auf und ab hüpft. „Ich würde nie irgendwo ohne ihn hingehen“, sagt sie und betrachtet Flampion liebevoll, dann wendet sie sich wieder mir zu. „Es ist furchtbar in diesem Zimmer“, fährt sie schließlich mit ihren Beschwerden fort. „Gleich nebenan scheint diese Rita aus der Zirkustruppe untergebracht zu sein und bis tief in die Nacht muss ich mich mit ihren Gesprächen und Telefonaten herumschlagen. Hm! Furchtbar. Ich bin zu alt für solche nächtlichen Aktionen, nein, ich bleibe bei meinem Tee und meinem Pokémon und damit bin ich zufrieden, aber nicht einmal das lässt sich heutzutage ja noch genießen. Alles muss man selbst in die Hand nehmen. Oh, aber ich werde sie herausfordern, den Spaß werde ich mir gönnen. Ich bin eine alte Frau, aber ich bin nicht schwach, oh nein. Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Hm.“ Sie schimpft noch eine Weile halblaut vor sich hin, dann scheucht sie mich auch schon wieder hinaus und ich bin nicht ganz unglücklich, der alten Frau endlich entkommen zu sein. Trotzdem. Ganz unsympathisch ist sie mir nicht, und wenn es nur ihr Kommentar zu meinem Teegeschmack war. In Ermangelung anderer Optionen mache ich mich auf die Suche nach Rose, die ich wie erwartet unter der Treppe finde, wo sie mit dem Kopf an die Wand gelehnt sitzt und mit leicht geöffnetem Mund vor sich hin döst. Ich schmunzele. Schreiben, schon klar. Über den Teppich schleichend nähere ich mich ihr und beuge mich vor, bis mein Gesicht vor ihrem ist. Dann tippe ich sie an. Rose fährt kreischend auf, als sie mein Gesicht von so nahem sieht, dann bricht sie in einen hysterischen Lachanfall aus, dem ich mich nur zu gerne anschließe. Auf dem Weg nach oben zu einem frühen Abendessen und einem Kartenspiel mit Val berichte ich ihr von meiner Begegnung mit Cornelia Harris. Rose lächelt in sich hinein. „Vielleicht schreibe ich mal so einen Charakter“, sagte sie dann und ich schüttele nur fassungslos den Kopf. Schreiber. Ich werde nicht aus ihnen schlau.   Die restlichen nächsten beiden Tage verbringe ich am Morgen damit, meine Pokémon in halbernsten Duellen gegen Val und einige andere Trainer antreten zu lassen und in der Küche mit den Matrosen über alle möglichen Gerüchte zu fachsimpeln. Meine Geschichten aus Teak City und Anemonia City sind bei den Männern sehr beliebt und als ich davon erzähle, wie ich Amphi vor Gabe und Kevin beschützt habe, geht ein entrüstetes Raunen und schließlich eine allgemeine Begeisterungswelle durch die Menge. Der Schiffskoch gibt mir eine große Tasse Tamottee aus und ich lausche für den Rest der Zeit, wie sich die Matrosen über die vielen Neueinstellungen in der M.S. Love beschweren. Viele scheinen dort gearbeitet und erst vor kurzem auf der Aqua angeheuert zu haben. „Und die Hälfte von denen hat´s nicht mal drauf“, beschwert sich einer der ausgewechselten Matrosen lautstark über seinem Bier und nimmt einen weiteren großen Schluck, bevor er den Krug zurück auf den Tisch knallen lässt und Bierschaum über seine Finger schwappt. Als Claude mich am ersten Nachmittag sucht und mir stotternd berichtet, dass Cornelia zusammen mit mir ihren Tee einnehmen möchte, bin ich ein wenig überrascht, entscheide aber schließlich, dass ich mich genauso gut darauf einlassen kann, denn Rose hält sich an ihr damaliges Versprechen, den Großteil der Reise mit Schreiben zu verbringen und Val ist oft auf dem Deck, um Jurob, Seeper und Quaputzi die Meeresluft atmen zu lassen. Seit ich ihn kenne, habe ich ihn noch nie sein Maschock rufen sehen. Cornelia beschwert sich über alles und jeden. Über Claude, den sie kaum versteht, weil er so vor sich hin nuschelt, über Rita, die wieder einmal nachts zwielichtige Telefonate führt und sie am Schlafen hindert, von den anderen Mitgliedern, die über die Gänge schleichen, über die Staubflusen auf ihrer Bettdecke und den Tee, der viel besser war, als sie ihn selbst zubereitet hat. Mit viel Argumentationskunst überzeuge ich sie davon, dem Koch diesen Job zu überlassen und lasse die restliche Zeit ihre Schimpftiraden über mich ergehen, denn so sehr sie mich anstrengen, so unterhaltsam sind sie.   Am 31. Dezember tischt das Küchenteam ein ganz besonderes Neujahrsessen auf und gemeinsam mit Val und Rose stehe ich kurz vor Mitternacht zwischen all den anderen Passagieren auf dem Deck, frierend und mit schlotternden Zähnen, aber mit kleinen Kerzen in den Händen, die wir genau um zwölf Uhr laut singend und schreiend in die Höhe halten. Kurz danach hocke ich an Vals Beine gelehnt auf dem Boden und tippe eine Frohes Neujahr SMS an alle, die mich auf meiner diesjährigen Reise begleitet haben. Es sind viel zu viele, trotzdem schreibe ich jedem eine, mehr oder weniger personalisiert. Louis bekommt die Längste. Kapitel 76: Kampf um den Pot (Grippewelle) ------------------------------------------ Als ich am nächsten Morgen erwache, liegt Sku halb auf meinem Kopf und Gott schläft eingerollt auf dem Tisch, seine Rückenflamme kaum mehr als ein leichtes Glühen unter den grünblauen Schuppen. Ich gähne ausgiebig, schiebe mit etwas Mühe Sku von meinem Kopf und verschwinde dann unter der Dusche. Wenig später kehre ich in ein Handtuch gewickelt zurück und finde meine beiden Pokémon auf dem Tisch vor, wo sie auf den Hinterläufen an die Wand gelehnt stehen und durch das kreisrunde Fenster auf die dunklen Wellen schauen. „Tut mir leid, dass ich dich auf dem Deck noch nicht raus gelassen habe“, sage ich zu Gott und kraule ihn am Kopf. „Wenn du die anderen Passagiere in Ruhe lässt, können wir das aber nachholen.“ Er gibt ein leises Grollen von sich und schüttelt den Kopf. Ich seufze und rufe die beiden zurück, dann mache ich mich auf den Weg in den Speisesaal, wo Rose, Valentin und, zu meiner Überraschung, Cornelia bereits an einem der Tische auf mich warten. Claude ist ebenfalls da und rennt zwischen Küche und Tisch hin und her, um Cornelias Extrawünsche zu erfüllen. Als ich mich setze, wirft Val mir einen leidenden Blick zu und macht eine unscheinbare Kopfbewegung in Richtung Cornelia, die wie immer ihr Flampion im Arm hält und sich bei Rose über die Qualität ihres Frühstücks und den schlechten Service beklagt. „Musstest du dich mit ihr anfreunden?“, fragt er lautlos, ohne dabei das Gesicht zu verziehen. Ich zucke mit den Achseln, belasse es aber dabei und stürze mich auf mein Essen. „Möchtet ihr Rita heute herausfordern?“, fragt Rose, nachdem wir fertig gegessen haben. Ich zögere einen Moment, schüttele dann aber den Kopf. „Wenn wir gewinnen sollten, wird noch fast kein Geld im Pot sein. Ich warte, bis es sich ein bisschen mehr rentiert.“ „Mir ist das Geld egal“, murmelt Valentin und trinkt einen Schluck Kaffee. „Ich will nur sehen, wie stark meine Pokémon im Vergleich sind. Du wirst sonst wahrscheinlich keine Ruhe geben, oder Abby?“ Ich grinse. „Niemals.“   Etwas später am Nachmittag machen Rose, Valentin und ich uns auf den Weg nach draußen. Der Wind hat an Stärke gewonnen und ich danke Raphael in Gedanken tausendfach dafür, dass er mir die Jacke mitfinanziert hat. Handschuhe und eine Mütze wären auch nicht schlecht, aber darauf muss ich jetzt wohl verzichten und so schließe ich den Kragen, bis der Stoff bis über mein Kinn reicht, vergrabe meine Hände in meinen Jackentaschen und wünsche mir sehnlichst Gotts wärmende Flammen herbei. Jurob sitzt wie immer quietschfidel in Vals Armen und scheint das eisige Wetter in vollen Zügen zu genießen. Einzig Rose scheint es elender als mir zu gehen. Sie ist ganz in Schals, Handschuhe, Ohrenwärmer und eine dicke Jacke eingepackt und erinnert mich sehr an einen zusammen gerollten Schlafsack. Das Wetter trägt seinen Teil dazu bei, die Anzahl der Herausforderer gering zu halten, dennoch sind ein gutes Dutzend Passagiere auf dem Deck versammelt und schauen dem Kampf gespannt zu. Rita steht ihrem Gegner am vordersten Teil des Decks gegenüber, aber als wir ankommen, scheint der Kampf gerade geendet zu haben, denn Ritas Pokémon ist zurückgezogen und der Mann mit ergrauendem Haar, der ihr gegenüber steht, ruft seufzend sein Sonnflora zurück. Einer der beiden Jongleure sitzt an eine Kiste gelehnt im Windschatten und hält den Pot zwischen seinen Beinen eingeklemmt, ein großen Einmachglas, dessen Boden bereits mit grünen Pokédollarscheinen gefüllt ist. „Du kannst dein Pokémon in Zimmer 129 heilen lassen“, sagt Rita lächelnd. „Eines unserer Mitglieder besitzt eine tragbare Regenerationsmaschine.“ „Tragbar?“, murmele ich gegen den Wind. „Sowas hätte ich auch gerne.“ „Gibt es noch einen Herausforderer?“, fragt Rita in die Runde. Einige der Anwesenden schauen sich unsicher um, aber Val tritt einfach vor und setzt Jurob auf dem Boden ab. „Mich“, sagt er und wir drängeln uns nach vorne, um besser sehen zu können. „Die Teilnahmegebühr liegt bei 300 PD“, intoniert der Jongleur und reckt Val das Gefäß entgegen. „Der Potinhalt beträgt derzeit 1800 PD.“ Val zuckt mit den Schultern und wirft sein eigenes Geld hinein. „Der Potinhalt beträgt nun 2100 PD“, verkündet der Jongleur und lässt das Gefäß wieder sinken. „Siegt der Herausforderer, erhält er einen Geldbetrag von 4200 PD.“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Obwohl es der erste Tag ist, liegt der Gewinn schon bei meinem derzeitigen Gesamtvermögen. Vielleicht hätte ich doch sofort antreten sollen. Rita lächelt Val zu und zieht dann ihren eigenen Pokéball. Der Saum ihres bodenlangen Mantels peitscht im eisigen Fahrtwind um ihre Fußgelenke, die in hohen schwarzen Stiefeln stecken. „Los, Zapplardin.“ „Jurob, starte mit Kopfnuss“, ruft Val seinem Pokémon zu, das los robbt, um Schwung zu holen. „Funkensprung, los!“ Während Jurob noch dabei ist, die Distanz zwischen sich und seinem Gegner zu überbrücken, flitzt der kleine Stromfisch schon durch die Luft, beginnt elektrisch zu knistern und entlädt dann eine Woge Starkstrom in Richtung Jurob, das einen kläglichen Schrei von sich gibt und dann sang und klang los auf die Seite fällt, wo es zuckend und wimmernd liegen bleibt. Neben mir gibt Rose einen erstickten Laut von sich und presst eine Hand vor ihren Mund. Ich greife beruhigend nach ihrer anderen. Val ist schon längst zu seinem Pokémon gelaufen und hebt es vorsichtig auf, bevor er es in seinen Pokéball zurück ruft. „Das war wohl nichts“, sagt er kaum hörbar und schaut zu Rita auf, die selbst ihn überragt. „129, nicht wahr?“ „Es tut mir leid“, sagt sie und wirft ihm ein aufmunternd gemeintes Lächeln zu. „Wie furchtbar“, sagt Rose, als Val ohne ein Wort an uns vorbei geht, um sein Pokémon heilen zu lassen. „Hast du seinen Schrei gehört? Wie könnt ihr es ertragen, eure Pokémon solchen Schmerzen auszusetzen? Es gibt nicht mal einen Grund! Ihr seid nicht in Gefahr, es besteht doch keine Notwendigkeit…“ Sie schüttelt den Kopf, windet sich aus meinem Griff und flieht ins Schiffsinnere. Ich balle die Fäuste. Mit meinen Pokémon zu kämpfen ist für mich schon lange kein Grund zur Besorgnis mehr. Es war nie ein Grund, wenn ich ehrlich bin. Sku war immer faul, aber sie hat sich nie vor einem nächtlichen Trainingskampf gescheut. Ich schüttele meinen Kopf. „Das arme Ding“, sagt plötzlich Cornelias kratzige Stimme hinter mir und ich drehe mich erschrocken um. „Sie ist keine Trainerin, oder? Nein, das dachte ich mir. Sie muss ein dickeres Fell entwickeln, wenn sie in dieser Welt glücklich werden will. Pokémon sind wie wir Menschen, es gibt solche und solche. Die einen wollen kämpfen, die anderen nicht.“ Sie lächelt müde. „Das Jurob von diesem Jungen will kämpfen. Es will sich für seinen Trainer einsetzen und ihm zur Seite stehen. Und wenn wir mit jenen, die wir lieben, ein Team bilden wollen, müssen wir die unschönen Seiten genauso akzeptieren wie die schönen.“ Flampion, das in ihrem Arm hängt, fiept zustimmend. „Ja, Kleiner, wir werden auch noch kämpfen. Aber nicht jetzt. Hm! Es ist noch zu früh für deinen Auftritt.“ „Warst du auch Trainerin, Cornelia?“, frage ich. Sie schaut mich entrüstet an. „Aber natürlich! Das bin ich immer noch! Diese alten Knochen mögen nicht mehr die Strapazen der Reisen aushalten, aber ich bin eine Trainerin durch und durch. Diese Rita wird sich an mir die Zähne ausbeißen, oh ja, das wird sie.“ Sie schüttelt sich. „Aber jetzt rein, rein ins Warme, es ist fast Zeit für den Tee.“ Ich schaue zurück zu Rita, die gerade gegen ihren nächsten Herausforderer gewonnen zu haben scheint, denn eine junge Frau kommt mit hängendem Kopf und einem Pokéball in ihren Händen in unsere Richtung. Mein Blick fällt auf den Pot. So viel Geld… „Ich werde sie auch herausfordern“, sage ich. „Geh schon mal rein.“ „Und mir den Kampf einer jungen Trainerin entgehen lassen? Hm! Wofür hältst du mich, Mädchen.“ Ich schultere mich durch die versammelten Passagiere, werfe drei Scheine in den Pot und stelle mich vor Rita auf. Hunter ist keine gute Wahl, nicht mit ihrem Zapplardin, dessen Level ich nicht kenne. Ich weiß nicht, was sie sonst im Petto hat, aber bevor ich mit Sku kämpfe, will ich erstmal ihre anderen Möglichkeiten austesten. „Der Potinhalt beträgt nun 2700 PD“, verkündet der Jongleur erneut. „Siegt der Herausforderer, erhält er einen Geldbetrag von 5400 PD.“ „Los, Jayjay“, rufe ich und er materialisiert sich schnaubend und stampfend vor mir. Sein hektischer Blick verrät mir, dass er mit dem Wetter nicht unbedingt zufrieden ist, aber da muss er jetzt durch. Seine elektrisch geladene Mähne steht steil in die Höhe. „Dann kämpfe ich mit dir, Kinoso.“ Das violette Blütenpokémon erscheint vor Rita im eisigen Wind und zieht sich noch weiter in seinen Blütenblattmantel zurück. Ich atme tief durch und gebe Jayjay seinen ersten Befehl. „Ladevorgang, dann attackier mit Funkensprung!“ „Sorg für ein bisschen Sonne, Kinoso und benutz danach deinen Egelsamen.“ Jayjay lädt sich mit einer geballten Ladung elektrischer Energie auf, um seine Spezialverteidigung und seine Elektroangriffe zu verstärken, während Kinoso vor und zurück torkelt und einen Sonnentag heraufbeschwört, der alle Passagiere auf dem Deck mit seiner drückenden Wärme vor den schlimmsten Winden schützt. Die Sonne blendet so stark, dass ich meine Augen abschirmen muss, bevor ich erneut von Jayjays Funkensprung geblendet werde, als dieser eine weiß leuchtende Stromladung auf Kinoso nieder regnen lässt. Als ich wieder halbwegs sehen kann, ist das verhüllte Pokémon verschwunden. An seiner Stelle tänzelt ein kleines gelb und rosafarbenes Pokémon über das Deck, sonnt sich in den Strahlen seines Sonnentags und scheint die Attacke mehr oder weniger gut überstanden zu haben. Plötzlich schießen schmale, pinke Ranken aus den Verdickungen an seinem Kopf und saugen sich an Jayjays Hals und Flanke fest, was ihn wütend aufschnaufen lässt, aber befreien kann er sich aus dem Egelsamen nicht. Ich muss hilflos mit ansehen, wie das Kinoso ihm einen Teil seiner Energie raubt. „Gut, als nächstes Blättertanz!“ „Komm ihm zuvor mit Ruckzuckhieb!“, rufe ich dazwischen. Jayjay galoppiert unter lautem Donnergrollen los und trifft Kinoso fast im selben Augenblick mit einem frontalen Treffer. Das Pokémon quietscht und wird zurück geworfen, schlägt auf dem Boden auf und bezieht gleichzeitig Energie durch den Egelsamen. Es springt auf und beginnt, sich im Kreis zu drehen, schneller und schneller, bis blassrosa Blütenblätter in alle Richtungen schießen und sich wie durch Zauberhand auf Jayjay stürzen, der versucht, sich durch hektisches vor und zurück Preschen vor der Attacke zu schützen, doch die messerscharfen Blüten treffen ihn von allen Seiten und schließlich knickt er ein, strauchelt und droht, zu fallen. „Halte durch!“, schreie ich. „Nochmal Funkensprung!“ Aber der Sturm der Blüten reißt nicht ab und noch während Jayjay seine Kräfte für die Elektroattacke sammelt, verliert er das Bewusstsein und sackt mit einem dumpfen Schlag zur Seite. Kinoso kommt torkelnd zum Stillstand und schaut sich desorientiert um. „Du hast dich gut geschlagen“, flüstere ich und rufe Jayjay zurück. Rita nickt mir anerkennend zu. Dann wendet sie sich an die anderen Zuschauer. „Die nächsten Herausforderungen nehme ich erst wieder nach dem Abendessen an.“ Als ich zu Cornelia zurückkehre, tätschelt sie mir unbeholfen die Hand. „Du hast gut gekämpft, Mädchen. Es war klug, dass du deinen Trumpf noch nicht ausgespielt hast.“ „Woher weißt du das?“, frage ich. „Oh bitte.“ Sie deutet auf meinen Gürtel. „Du besitzt vier Pokémon und erwartest von mir, dass ich glaube, du würdest gegen einen unbekannten Gegner gleich mit deinem Stärksten starten? Nein, nein, ich bin alt, aber nicht senil. Und jetzt hinein ins Warme, Flampion ist kalt.“ Ich werfe einen Blick auf das Feuerpokémon, das in ihrem Arm döst und ein wenig zittert. „Warum rufst du ihn nicht zurück?“, frage ich, als ich ihr in den Speisesaal folge. „Habe ich das nicht schon gesagt?“, erwidert sie unwirsch. „Ich würde nie irgendwo ohne ihn hingehen.“   Wir nehmen unseren Tee zusammen auf Cornelias Zimmer ein, bevor ich mich auf den Weg zu Zimmer 129 mache, um Jayjay heilen zu lassen. Er würde sich zwar auch ohne Geräte erholen, aber das wird eine ganze Weile dauern und wenn ich schon die Möglichkeit habe, will ich sie auch wahrnehmen. Ich verlasse Cornelias Raum und klopfe an die Tür gleich nebenan. Es ist der Psycho, der mir die Tür öffnet. Er trägt eine Art violette Tunika, die er mit einem dicken schwarzen Gürtel um seine Taille befestigt hat und mustert mich von oben bis unten, bevor er mich hinein lässt. Auf dem Stuhl am Fenster sitzt sein Abra und ich meine, Nebulaks Augen hin und wieder im Raum aufflackern zu sehen. Taschen und Koffer voller Zirkusutensilien stapeln sich unter dem Tisch und im Schrank und eine runde Maschine liegt auf dem Bett, mit einer durchsichtigen Haube, die man aufklappen kann und einer faustgroßen Vertiefung in der Mitte. „Ist das die tragbare Regenerationsmaschine?“, frage ich interessiert. Er nickt stumm und bietet mir den freien Stuhl am Tisch an, während er Jayjays Ball in die Vertiefung legt. Dann schnalzt er mit der Zunge. Ich entspanne mich ein wenig und schaue zu dem Nebulak, das vor mir aufgetaucht ist. Irgendwie ist das leise Klicken des Heilgeräts sehr beruhigend. „Möchtest du erneut antreten?“, fragt der Psycho. „Ja, natürlich.“ „Gut. Du solltest dein Pokémon für´s erste nicht rufen. Es muss sich noch eine Weile erholen.“ Ich nicke. „Selbstverständlich.“ Nebulaks Augen leuchten kurzzeitig auf, dann verschwinden sie wieder. Ich höre ein Rascheln unter dem Tisch und plötzlich spüre ich die Hand des Psychos auf meiner Schulter. Ich schaue zu ihm auf. „Hier.“ Er reicht mir Jayjays Pokéball. „Komm bald wieder.“ Ich erhebe mich und verlasse den Raum.   Auf der Suche nach Rose plagt mich mein schlechtes Gewissen, aber ich dränge es zur Seite. Ich bin ein Pokémontrainer. Ich kämpfe mit Pokémon. Rose hat ihre Entscheidung getroffen und ich die meine. Außerdem ist Jayjay wieder erholt, auch wenn ich ihn vorerst nicht rufen will. In Gedanken bin ich schon dabei, mein nächstes Duell gegen Rita zu planen. Wann Cornelia sie wohl herausfordern möchte? Als ich Rose nicht unter der Treppe finde, mache ich mich stattdessen auf die Suche nach Valentin. Der sitzt im Speisesaal und betrachtet die Tasse Kakao zwischen seinen Händen. Er muss meine Schritte gehört haben, denn er schaut auf und ringt sich ein müdes Lächeln ab. „Auch verloren?“, fragt er und ich nicke. „Rose ist wütend auf uns“, fährt er fort und schaut wieder auf seine Tasse. „Sie will nicht, dass wir unsere Pokémon unnötig leiden lassen.“ „Ich will trotzdem erneut teilnehmen“, sage ich sofort. „Ich auch.“ Wir schweigen. Dann spricht Val weiter. „Sie wollte Jurob fragen, ob es ihm besser geht. Aber ich soll ihn vorerst nicht rufen.“ „Ich auch nicht“, stimme ich automatisch zu. „Das Gerät hat wohl nicht die Power von denen im Pokécenter.“ „Wahrscheinlich nicht, nein.“ Obwohl ich nach ihr Ausschau halte, finde ich Rose nicht und als sie sogar mein Klopfen an ihrer Zimmertür ignoriert, lasse ich es für den Moment gut sein. Spätestens morgen werde ich sie wieder sehen und dann kann ich ihr zusammen mit Cornelia erklären, warum es nicht falsch ist, mit seinen Pokémon Kämpfe auszutragen. Für den restlichen Abend ziehe ich mich jedoch in die Kombüse zurück, wo ich ein kleines Pläuschchen mit Stanz halte und er mir die Gerüchte aus Kanto bezüglich Zapdos bestätigt. „Ich weiß natürlich nicht, wie viel an der Geschichte mit dem einzigen Ball dran ist“, sagt er gut gelaunt und trinkt einen Schluck Bier, „aber Bob ist in jedem Falle davon überzeugt, dass Zapdos von dem Kraftwerk verschwunden ist, ob gefangen oder anders. Und dem Major glaube ich.“ Später am Abend, als ich mit Sku eingekuschelt unter meiner Decke liege und den Nachrichten lausche, kreisen meine Gedanken um mein nächstes Duell mit Rita. Es ist wie ein innerer Trieb, den ich plötzlich nicht mehr abschalten kann. Es dauert lange, bis ich einschlafe.   Ein Klopfen an meiner Tür weckt mich am nächsten Morgen. Stöhnend rolle ich mich auf die andere Seite, aber Sku patscht mir mit ihrer Pfote ins Gesicht, bis ich auf das dringlicher werdende Klopfen reagiere, aufstehe und verschlafen die Tür öffne. Rose schaut mich entgeistert an. „Du siehst furchtbar aus!“, ruft sie und kommt ungebeten in mein Zimmer. „Es ist schon fast Mittag und du warst nicht beim Frühstück. Geht es dir gut? Du hast so schlimme Augenringe...“ Gotts Fauchen lässt sie verstummen. Er liegt wie schon die ganze Nacht auf dem Tisch und hat nun den Kopf gehoben, die Zähne leicht gefletscht. Rose lässt ihre Hand sinken und er beruhigt sich fast augenblicklich. „Ich habe nicht gut geschlafen“, antworte ich schließlich und lasse mich aufs Bett plumpsen. Sku macht es sich sofort auf meinem Schoß bequem und ich fahre ihr durch ihr dichtes Winterfell. „Irgendwas hat mich wach gehalten.“ Rose schürzt ihre Lippen, setzt sich aber auf einen der Stühle, mit etwas Abstand zu dem immer noch grollenden Gott, und beobachtet mich wachsam. „Val sah heute Morgen auch mitgenommen aus“, fährt sie fort. „Und es tut mir leid, dass ich euch gestern Abend aus dem Weg gegangen bin. Cornelia hat heute Morgen mit mir gesprochen und mir die Unterschiede unserer Situation erklärt. Aber meinst du nicht, dass euer schlechter Schlaf etwas mit gestern zu tun hat? Es kann kaum ein Zufall sein.“ „Jayjay geht es gut“, erwidere ich sofort und Rose schreckt bei meinem Ton zusammen. Ich atme tief durch und reibe mir die Augen. „Tut mir leid. Ich bin noch nicht ganz zurechnungsfähig.“ „Das merke ich“, sagt Rose und steht auf. „Warum belässt du es nicht bei dem einen Versuch? Val hat Rita eben zum zweiten Mal herausgefordert und sein Seeper hat natürlich verloren. Warum kämpft er überhaupt? Er weiß doch, dass sie ein Zapplardin hat! Seine Wasserpokémon haben keine Chance.“ „Er hat schon wieder gekämpft?“, frage ich und springe auf. „Hat schon jemand den Pot gewonnen?“ „Nein.“ Rose beobachtet mich argwöhnisch. „Ein Grund mehr, es sein zu lassen.“ „Nein, ich will kämpfen“, sage ich entschieden. „Ich habe noch drei Pokémon, mit denen ich sie herausfordern kann.“ „Abby, bitte, du benimmst dich nicht wie du selbst.“ „Was weißt du schon davon, wie mein wahres Ich ist?“, fahre ich sie an. Roses entgeisterter Blick treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. „Es tut mir so leid“, presse ich hervor. „Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich kann gerade nicht klar denken.“ „Vielleicht solltest du dich heute ausruhen“, sagt Rose kühl und verlässt mein Zimmer. Die Tür knallt nicht, schlägt aber auch nicht gerade sanft zu. Verwirrt lasse ich mich auf mein Bett sinken. Ich weiß, dass Rose mir in irgendeiner Weise im Weg stand und ich sie deshalb loswerden wollte, aber trotzdem habe ich keine Ahnung, warum ich so gemein zu ihr war. Das ist nicht meine Art. Ich schaue zu Sku hinunter, die mich besorgt mustert, aber loyal wie immer ihren Kopf gegen mein Kinn presst und brummend schnurrt. Gotts Flammen, die während meiner Unterhaltung mit Rose in die Höhe geschossen sind, sinken langsam wieder zu einer seichten Glut ab. Am liebsten hätte ich Roses Rat befolgt und mich den restlichen Tag in meinem Zimmer verkrochen, aber allein der Gedanke daran, in diesem kleinen Raum festzusitzen, dreht mir den Magen um. Vielleicht ist es auch der Hunger, der sich jetzt bemerkbar macht. Keine zehn Minuten später bin ich auf dem Weg nach unten in den Speisesaal. Als Rose mich sieht, verfinstert sich ihr Blick. Sie steht auf, sagt etwas zu Cornelia und Val, die mit ihr am Tisch sitzen und geht ohne ein weiteres Wort an mir vorbei. „Ist etwas vorgefallen?“, fragt Cornelia und schaut Rose hinterher. Flampion quietscht besorgt. „Ich war ein Arschloch“, sage ich und lasse mich auf einen Stuhl sinken. Mein Blick fällt auf Valentin. Wenn ich nur halb so schlimm aussehe wie er, kann ich Roses Besorgnis nachvollziehen. „Es geht eine Grippe um“, erklärt Cornelia auf meinen Blick hin. „Das viele Kämpfen an der kalten Luft scheint allen hier zu schaffen zu machen. Es war klug von dir, auszuschlafen.“ „Mehr oder weniger…“, murmele ich und bestelle mir bei Claude, der wie immer nicht weit von Cornelia auf etwaige ruppige Befehle wartet, einen Tee und ein kleines Mittagessen. „Hast du Seeper schon geheilt?“, frage ich Valentin. Er nickt stumm und stochert in seinem Essen. „Er muss sich noch erholen“, sagt er. Ich nicke verständnisvoll. „Wie geht es Jurob?“ „Gut“, antwortet er sofort. „Wie geht es Jayjay?“ „Gut.“ „Wenn ihr noch ein bisschen mehr wie Zombies klingen wollt, empfehle ich euch ein gelegentliches Stöhnen“, sagt Cornelia und kneift mir in die Backe. Ich reiße den Kopf herum. „Ah ja, das ist besser. Claude, wo bleibt der Tee?!“ „H-hier!“ Er taucht neben uns auf, reicht mir Tee und Essen und wirft uns einen panischen Blick zu, dann verschwindet er weder. Cornelia schüttelt angewidert den Kopf. „Ihr Kinder solltet euch erholen, bevor ihr Rita erneut herausfordert. Speziell du, Valentin. Seit deinem zweiten Duell siehst du noch schlimmer aus. Was erwartest du auch, wenn du mit einer beginnenden Erkältung draußen herum turnst. Aber auf meine Ratschläge hört die Jugend ja nicht mehr. Hm!“ Ich lasse den Blick über die restlichen Passagiere gleiten. Cornelia hat Recht. Viele weisen Augenringe oder andere Anzeichen von Krankheit und Übermüdung auf. Ich hoffe nur, dass sich unser Gesundheitszustand nicht zu einer echten Grippe verschlimmert. Ich kann mir Lustigeres vorstellen, als auf einem Schiff voller Kranker festzusitzen. „Ich werde jetzt Rita herausfordern“, sage ich und stehe auf. Cornelia wirft mir einen ungläubigen Blick zu. „Hast du mir nicht zugehört?“, ruft sie wütend. „Geh ins Bett und erhole dich! Du wirst noch genauso enden wie Valentin, wenn du nicht auf deinen Körper hörst.“ Ich weiß, dass sie Recht hat. Trotzdem greife ich nach Hunters Pokéball und mache mich auf den Weg hinaus aufs Deck. Kapitel 77: Erwachen (Rose und Claude) -------------------------------------- „Hast du verloren?“, fragt Rose. Sie steht an die Wand gelehnt neben Zimmer 129 und beobachtet mich. „Ja, habe ich“, sage ich knapp, nicht gerade in der Stimmung, meine demütigende Niederlage gegen Zapplardin Revue passieren zu lassen. „Hunter ist geheilt und mir geht es gut.“ Ich höre Roses Schritte hinter mir auf der Treppe, als sie mir in den Speisesaal folgt. Dort finde ich nur Cornelia vor, die mir einen unwirschen Blick zuwirft, mich dann aber doch zu sich an den Tisch winkt. Ich lasse mich neben ihr auf den Stuhl sinken und warte, bis sie mit der Inspektion meines Gesichts fertig ist. „Claude, bring uns das Abendessen und den Tee, aber schnell!“, ruft sie dann. Claude, der hinter uns steht, schrickt zusammen und macht Anstalten, davon zu eilen, aber Rose nimmt ihn bei der Hand und hält ihn fest. „Claude ist nicht dein Sklave, Cornelia“, sagt sie wütend. „Holt euch euer Essen selbst. Komm Claude, wir lassen die beiden alleine.“ „A-aber…“, widerspricht er noch, aber da hat sie ihn schon davon gezerrt. „Diese Schiffsreise wird immer unangenehmer“, sagt Cornelia kühl und krault ihrem Flampion den runden Bauch. Es macht ein glucksendes Geräusch. Schließlich bringt ein Matrose uns unsere Teller und ich beginne zu essen, bin aber in Gedanken schon längst bei meinem nächsten Kampf gegen Rita. Mit Sku werde ich sicher gewinnen. Das Geld im Pot beläuft sich inzwischen auf über 10.000 PD. Wenn ich gewinne, bin ich meine Schulden auf einen Schlag los. „Abby. Abby, ich rede mit dir!“ Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. „Tut mir leid. Was?“ „Hoch und ab ins Bett mit dir“, sagt Cornelia. „Du bist schon völlig neben der Spur. Ich will dich morgen nicht hier unten sehen, verstanden? Claude kann dir Essen aufs Zimmer bringen.“ „Aber ich muss-“ „Gar nichts musst du, Mädchen.“ Sie stößt mir mit ihrem Zeigefinger gegen die Brust. „Du bist kurz davor, eine waschechte Grippe auszubilden und ich werde verhindern, dass du das ganze Schiff damit ansteckst.“ „Dann gehe ich am besten gleich hoch“, sage ich wütend und stehe auf. „Eine sehr weise Entscheidung“, stimmt Cornelia ungerührt zu. „Valentin ist auch in seinem Zimmer. Und wenn ich nur einen von euch hier unten erwische, dann lasse ich mir vom Kapitän die Erlaubnis geben, euch in Quarantäne zu stecken.“   In dieser Nacht schlafe ich noch schlechter als in der vorherigen, wenn das möglich ist. Unruhig wälze ich mich hin und her, bis Sku sich auf meiner Brust einrollt, um mich still zu halten, aber selbst das hilft nicht. Stattdessen lausche ich den Schritten auf dem Gang. Cornelia sagt, das seien die Zirkusleute. Irgendwann schiebe ich Sku von mir runter, schleiche zur Tür und lege mein Ohr an das Holz, aber außer leisem Getuschel kann ich nichts verstehen. Der Drang, die Tür einen Spalt zu öffnen, ist groß, aber ich halte mich zurück. Zurück in meinem Bett umarme ich Sku fest und mit ihrem Herzschlag so nah an meinem und dem leisen Knistern, das von Gott ausgeht, komme ich tatsächlich zu einigen Stunden Schlaf.   Gotts leises Knurren weckt mich am nächsten Morgen. Ich öffne die Augen, kann mich aber kaum bewegen, so kraftlos fühlt sich mein gesamter Körper an. Dann klopft es. Erschöpft schließe ich wieder die Augen. Einige Sekunden bleibt es still. Dann klopft es wieder. „Sku, wärst du so lieb?“, murmele ich und sie springt gehorsam vom Bett, um sich an der Tür aufzubäumen und unbeholfen die Klinke herunter zu drücken. „Ehm, e-entschuldigung“, ertönt Claudes Stimme. „Abby? Ich habe dein M-mittagessen.“ „Stell es da auf den Tisch“, sage ich und beobachte, wie der Schiffsjunge ein Tablett mit dampfender Suppe und einer großen Flasche Wasser auf den Tisch stellt. Gotts Rückenflammen schießen steil in die Höhe und Claude lässt vor Schreck fast das Tablett fallen, dann zieht er sich so schnell er kann zurück. „Tut mir leid für die Störung!“, presst er hervor und macht auf dem Absatz kehrt. Dann macht er zu meiner großen Überraschung kehrt. „Rose fragt, o-ob sie dich später besuchen darf.“ „Natürlich“, sage ich und lasse mich zurück in meine Kissen sinken. „Sie muss nicht extra fragen.“ Die Tür schließt sich, als Claude mein Zimmer verlässt und mich in meinem Gefängnis alleine lässt. Ich fühle mich wie einmal durchgekaut und wieder ausgespuckt, aber der Duft der Suppe und mein nagender Hunger bringen mich schließlich doch dazu, das Bett zu verlassen. Kaum bin ich aber mit Essen fertig, wird das Verlangen, hinunter zu gehen, unerträglich. Gott knurrt leise, als ich immer unruhiger werde und in meinem Zimmer auf und ab gehe. Sku, die sich neben ihm auf dem Tisch eingerollt hat, folgt meinen Bewegungen mit besorgt zusammen gekniffenen Augen. Als Rose schließlich anklopft, bin ich am Ende meiner Beherrschung. Ich reiße die Tür auf und will an ihr vorbei stürmen, aber sie scheint mein Vorhaben erahnt zu haben, denn sie drückt mich augenblicklich zurück und dank meiner Müdigkeit schafft sie es, mich in mein Zimmer und auf einen Stuhl zu drängen. „Abby“, flüstert sie. „Etwas geht hier vor sich, das mir ganz und gar nicht gefällt.“ „Was meinst du?“, frage ich und schaue an ihr vorbei zur Tür. Wenn ich es schaffe, sie zur Seite zu stoßen, kann ich vielleicht- „Genau das meine ich!“, ruft sie wütend und schnippt mit ihren Fingern direkt vor meinem Gesicht. „Was?“ „Seit du gegen Rita gekämpft hast, verhältst du dich komisch! Und nicht nur du. Valentin und viele andere Passagiere auch. Siehst du nicht, was mit dir passiert?“ „Was passiert mit mir?“ „Du schläfst kaum“, zählt Rose an ihren Fingern auf. „Du verspürst einen krankhaften Drang, gegen Rita zu kämpfen, obwohl dir jeder davon abrät, die bist reizbar, du weigerst dich, deine Pokémon zu rufen, obwohl sie schon längst wieder erholt sein müssten und du schweifst mit deinen Gedanken ab.“ „Ich bin krank“, sage ich. „Und warum bin ich dann nicht krank?“, fragt Rose. „Oder Cornelia? Weil du nicht krank bist, ganz einfach. Es hat alles mit Rita angefangen. Wusstest du, dass Valentin heute Morgen hinunter gestürmt ist und Cornelia zur Seite gestoßen hat, als sie ihn aufhalten wollte? Er hat sie auf den Boden geschubst und fast keiner der anwesenden Passagiere war geschockt! Sie stehen Schlange, auf dem Deck und vor dem Zimmer. Wir müssen herausfinden, was mit euch los ist!“ „Hat er gewonnen?“, frage ich nach einigen Sekunden. „Was?“ Rose starrt mich entsetzt an. „Hat Valentin gewonnen?“ „Nein, natürlich nicht!", erwidert sie wütend. "Er hat drei Wasserpokémon, sein Quaputzi hatte genauso wenig eine Chance gegen Zapplardin wie schon Jurob und Seeper. Und wo wir schon von Jurob sprechen: Er hat ihn noch kein einziges Mal gerufen, seit er mit ihm gekämpft hat.“ „Wir sollen sie nicht rufen“, sage ich automatisch. „Sie müssen sich erholen.“ Rose schüttelt den Kopf. „So kann das nicht weitergehen. Ich werde dafür sorgen, dass ihr wieder normal werdet, und wenn ich dich dafür an dein Bett fesseln muss!“ Gott springt auf und sein Feuer lodert heiß und zischend in die Höhe. Rose macht einen Schritt zurück. „Erhol dich bitte“, sagt sie dann. „Ich sehe vielleicht gerade wie die Böse aus, aber ihr zwei macht mir wirklich Angst. Bis später.“ Dann ist sie verschwunden. Sku springt zu mir aufs Bett und reibt sich eng an mich. Ich streiche durch ihr dickes Fell. Wenn Valentin noch nicht gewonnen hat, besteht noch Hoffnung.   Claude bringt mir am Abend neues Essen und nimmt das Tablett wieder mit nach unten. Mein Verlangen, ihm zu folgen, ist so überwältigend, dass ich es kaum aushalte, aber dieses Mal ist es Sku, die mich zurückhält. Schließlich bin ich kurz davor, sie zurück zu rufen, aber in diesem kleinen Raum sind sie und Gott die einzigen Gründe, nicht verrückt zu werden und tatsächlich bin ich so müde, dass ich nicht die Kraft aufbringe, den ganzen Weg bis aufs Deck zu laufen. Morgen, verspreche ich mir selbst. Wenn ich ausgeschlafen bin. Morgen werde ich gewinnen. Wie durch ein Wunder schlafe ich in dieser Nacht durch. Ob es an meiner allgemeinen Erschöpfung oder dem Gedanken liegt, erst ausgeschlafen gegen Rita kämpfen zu können, weiß ich nicht, aber als ich am nächsten Morgen aufwache, geht es mir sehr viel besser. Ich rufe Gott und Sku zurück, dusche und bin noch vor den anderen beim Frühstück. Gerade, als ich fertig gegessen habe und hinaus aufs Deck treten will, höre ich Cornelias Ruf. Ich drehe mich zu ihr um und sehe, wie sie auf mich zu gehumpelt kommt. Sie scheint sich bei dem Fall gestern leicht verletzt zu haben. „Was tust du hier?“, fragt sie wütend. Ich grinse sie an. „Mir geht es viel besser“, erwidere ich. „Und jetzt werde ich Rita besiegen.“ Cornelia kneift die Augen zusammen. „Du siehst besser aus, Mädchen, aber bist du sicher, dass du gewinnen kannst?“ „Sku ist mein stärkstes Pokémon“, sage ich und tätschele Flampions Kopf, der seine kleinen Händchen nach mir ausstreckt. „Ich werde dich nicht aufhalten“, sagt Cornelia und folgt mir hinaus aufs Deck. Es ist nicht ganz so kalt wie die letzten Tage und selbst Flampion scheint der Wind nichts auszumachen. „Aber wenn du verlierst, werde ich diesem Spuk ein für alle Mal ein Ende bereiten. Hm.“ Da es noch so früh ist, stehen gerade einmal zwei andere Trainer in der Schlange. Sie unterhalten sich nicht, sondern beobachten gierig den Pot und den Kampf, den Rita mit ihrem Kinoso bestreitet und ohne Probleme gewinnt. Als ich schließlich an der Reihe bin, löst sich die Anspannung, die mich seit gestern geplagt hat und ich atme erleichtert aus, bevor ich Sku rufe und das Geld in den Pot werfe. „Der Potinhalt beträgt nun 23.400 PD“, verkündet der Jongleur. „Siegt der Herausforderer, erhält er einen Geldbetrag von 46.800 PD.“ Rita greift nach einem ihrer Pokébälle. „Dann wähle ich dich, Omot. Starte mit Superschall.“ „Sku, kontere mit Kreideschrei und danach Schlitzer“, rufe ich ihr zu. Omot schlägt mit den blass violetten Flügeln und stößt dann kurze, piepende Töne aus, aber Sku übertönt die Giftmotte mit ihrem Kreideschrei und stürzt sich anschließend mit ausgefahrenen Klauen auf ihren Gegner. Omot, das mit seiner Attacke beschäftigt war, wird von Skus Gewicht zu Boden gerissen und fiept schrill, als Skus Krallen drei tiefe Schnitte in ihrem Unterleib reißen. „Okay, Omot, versuch es mit deiner Stachelspore“, befiehlt Rita. Omot windet sich aus Skus Griff und schlägt mehrmals kraftvoll mit den Flügeln. Sku versucht auszuweichen, kann sich vor dem gelben Puder, der aus nächster Nähe auf sie herab regnet, jedoch nicht retten und wird über und über von den Pollen bedeckt. Sie schüttelt sich, um das Pulver aus ihrem Pelz loszuwerden, scheitert aber kläglich. „Lass dich davon nicht beeindrucken“, rufe ich ihr zu. „Bleib bei Schlitzer!“ „Zeit für die Ampelleuchte“, sagt Rita und Omots Hinterteil beginnt, goldgelb aufzuleuchten, bevor das Licht sich explosionsartig verstärkt und als zielgerichteter Strahl in Skus Gesicht prallt. Sku gibt ein klägliches Heulen von sich und wirft sich blind in Omots Richtung, um mit ihrem Schlitzer zu attackieren, aber das grelle Licht hat sie verwirrt und sie verfehlt Omot um einen Meter, fliegt durch die Luft und schlägt mit einem lauten Knall auf dem Deck auf. „Sku, nein!“, schreie ich und will zu ihr rennen, aber da hat sie sich schon wieder aufgerappelt. Die Paralyse und die Verwirrung hindern sie in ihren Bewegungen, aber nichtsdestotrotz macht sie sich für einen neuen Angriff auf Omot bereit, das von einer ihrer Pranken gestreift wird und sanft zu Boden trudelt. „Beende es mit Ampelleuchte“, sagt Rita und ich sehe hilflos dabei zu, wie Omot seine Attacke auflädt und eine weitere Woge gleißend goldenen Lichts in Skus Richtung schießt. Als ich wieder sehen kann, liegt Sku besiegt am Boden. Ich sinke auf die Knie. Geschlagen. Wenn ich mit Sku nicht gegen Rita gewinnen kann, dann habe ich auch mit Gott kaum eine Chance. Ich rufe meinen Starter zurück und spüre Cornelias runzlige Hand, die mich am Ellenbogen hochzieht. „Du hast dich gut geschlagen“, sagt sie und tritt an mir vorbei. „Aber jetzt werde ich dieses Spektakel beenden.“ Noch immer neben der Spur mache ich Cornelia Platz, die ihr Geld in den Pot wirft und sich dann vor Rita positioniert. Flampion quietscht vergnügt und springt dann aus den Armen seiner Trainerin, um mit einem doppelten Salto vor ihr auf dem Boden zu landen. Rita ruft ihr Omot zurück und ersetzt es mit Zapplardin, das genauso aufgeregt wie sein Gegner zu sein scheint und mit lautem Knistern durch die Luft flitzt. „Flampion, leichte Offensive“, befiehlt Cornelia. „Funkensprung, Zapplardin!“, ruft Rita ihrem Pokémon zu. Flampions kleine Faust beginnt zu glühen und es katapultiert sich in die Höhe, nur um im nächsten Moment auf Zapplardin herab zu sausen. Die Elektroattacke trifft das Lampionpokémon frontal, aber Flampion lässt sich davon nicht beeindrucken und führt seinen Feuerschlag gnadenlos zu Ende. Die Wucht des Angriffs lässt den kleinen Stromfisch auf den Boden aufschlagen und einige Meter weiter schlittern, während das Feuerpokémon lediglich in die Hände klatscht und freudig auf und ab springt. „Zapplardin, noch mal Funkensprung“, befiehlt Rita mit gezwungen ruhiger Stimme und ich beobachte, wie die beiden Pokémon ihren Angriff von zuvor wiederholen, Flampion seinen kraftvollen Feuerschlag und Zapplardin seinen Funkensprung. Wieder wird das Elektropokémon zurück geschleudert, aber auch Flampion kann seine schwindenden Kräfte nicht mehr länger verbergen. Es schlägt sich zweimal gegen den Kopf, um seine Konzentration zurück zu erlangen, aber das knisternde Zittern, das seinen Körper umhüllt, hat nichts mit fehlender Energie zu tun. Zapplardins Funkensprung hat es paralysiert. Cornelia lächelt schelmisch und faltet die Hände. „Beende es mit deiner Fassade“, befiehlt sie, gerade, als Zapplardin sich für einen letzten Funkensprung bereit macht. Die beiden Pokémon schießen aufeinander zu, Zapplardin entlädt eine gewaltige Woge Strom auf seinen Gegner, die Flampion mit gekreuzten Ärmchen abfängt, hindurch läuft und den Stromfisch mit einem einzigen, gezielten Schlag ans andere Ende des Decks schleudert, wo es gegen die Reling prallt und besiegt liegen bleibt. Keine Sekunde später kippt Flampion vornüber und landet mit einem leisen Plumps auf dem Boden. Unentschieden? „Das ist eine schwierige Situation“, gesteht Rita und ruft ihr Pokémon zurück. Cornelia hebt ihr Flampion vorsichtig auf und hält es im Arm, dann deutet sie auf den Pot. „Die Hälfte aus dem Pot, und dieselbe Menge aus deiner Tasche dazu“, fordert sie und Rita legt den Kopf schief, nickt dann aber. „Das ist fair“, stimmt sie zu und innerhalb kürzester Zeit hat der Jongleur das Geld ausgezählt und es Cornelia in die Hand gedrückt. Sie wendet sich ab, zieht mich mit sich und gemeinsam machen wir uns auf den Weg hinauf zu Zimmer 129. Auf der Treppe kommen uns Rose und Claude entgegen, bepackt mit Tabletts voller Handtücher und Medikamente. Als ihr Blick auf das besiegte Flampion fällt, reißt Rose die Augen auf und bleibt stehen. „Du hast auch gegen sie gekämpft?“, fragt sie wütend und scheint den Tränen nahe zu sein. „Ich dachte, du wärst auf meiner Seite!“ „Welche Seite?“, fragt Cornelia. „Ich wollte nur nicht, dass die beiden sich überanstrengen, wenn sie krank sind, aber wie du siehst, geht es Abby besser und es bestand demnach kein Grund, sie von einem Kampf abzuhalten.“ „Aber du hast gesehen, wie Valentin sich gestern verhalten hat!“, schreit Rose sie an. Claude zuckt zusammen und macht sich so klein wie möglich. „Das ist nicht normal! Etwas geht hier doch vor sich!“ „Nun, was immer es war, ich habe es beendet“, verkündet Cornelia. „Ich habe Rita besiegt, alles andere wird sich schon klären. Hm! Nun geh weiter, los, los, bevor ich ungemütlich werde.“ „Nur damit du es weißt“, sagt Rose zornig und schaut mir in die Augen. „Valentin hat hohes Fieber. Er redet im Schlaf davon, dass er gegen Rita kämpfen will, aber nicht mit seinem Maschock, aber dass er muss, dass jemand ihm sagt, er müsse gegen Rita kämpfen. Wenn du auch so endest, werden wir ja sehen, wer Recht hat.“ Sie flüstert Claude etwas ins Ohr und geht dann an mir vorbei und die Treppen hinunter. Claude bleibt unschlüssig stehen, macht dann auf dem Absatz kehrt und geht zurück zu Valentins Zimmer im linken Flügel. Cornelia murmelt unverständliche Flüche über die Jugend vor sich hin, während wir dem Gang folgen und schließlich an die Tür zu Zimmer 129 klopfen. Der Psycho öffnet die Tür und schaut uns mit schief gelegtem Kopf an, dann lässt er Cornelia hinein, versperrt mir aber den Weg. „Warum kann ich nicht mit rein?“, frage ich. Er wirft mir einen düsteren Blick zu. „Nur einer auf einmal.“ Verwirrt bleibe ich vor dem Zimmer stehen und lasse mir die Tür vor der Nase zuziehen. Die Worte von drinnen sind gut zu verstehen, aber es ist nur das übliche Prozedere. Schließlich kommt Cornelia aus dem Raum, Flampion sicher in seinem Pokéball verstaut und schaut mich mit einem merkwürdigen Blick an. „Ich gehe uns einen Tee bestellen“, sagt sie dann und verschwindet an mir vorbei und die Treppe hinunter. Ich betrete das Zimmer, gebe dem Psycho Skus Pokéball und beobachte das Nebulak, das vor mir auf und ab schwebt und Grimassen schneidet. Der Psycho schnalzt mit der Zunge und das leise Klacken der Heilmaschine hallt beruhigend in meinen Ohren wider. „Möchtest du Rita erneut herausfordern?“, fragt er und ich nicke abwesend. Das Bild von Gott blitzt kurz vor meinem geistigen Auge auf und ich bin mir entfernt bewusst, dass er nicht vor so vielen Zuschauern kämpfen sollte, aber ich antworte trotzdem automatisch. „Natürlich.“ Das Rascheln unter dem Tisch, dicht gefolgt von einer Hand auf meiner Schulter, reißt mich aus meinen Gedanken. „Du solltest dein Pokémon vorerst nicht rufen. Es muss sich noch-“ „-erholen“, antworte ich abwesend und stehe auf. Ein dünnes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab und Nebulak keckert leise, dann öffnet er mir die Tür und ich trete hinaus, nur um halb über Claude zu stolpern, der vor der Tür gestanden hat und jetzt mit einem leisen Aufschrei nach hinten springt und dann die Treppen hinunter läuft. Verwirrt schaue ich ihm nach und folge ihm schließlich hinunter in den Speisesaal. Cornelia sitzt wie versprochen an einem der Tische und hat zwei dampfende Tassen Tee vor sich stehen, während Rose und Claude auf der anderen Seite des Tisches sitzen und leise miteinander reden. Rose nickt beunruhigt und wirft mir wieder und wieder Blicke zu. „Wie geht es Sku?“, fragt sie dann und meine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. „Gut.“ „Willst du sie nicht rufen?“ „Sie muss sich erholen.“ Roses Gesichtsausdruck verfinstert sich, aber zu meiner Erleichterung sagt sie nichts mehr sondern steht auf. „Claude, du kümmerst dich um Valentin und das, was wir besprochen haben.“ Er nickt ernst und verlässt dann den Speisesaal.   Später in der Nacht liege ich alleine in meinem Bett und starre an die orangerot flackernde Decke. Gott schnarcht leise vor sich hin, scheint sich an Skus Abwesenheit aber nicht weiter zu stören. Ich hingegen fühle mich merkwürdig leer und alleine und als ich gerade kurz vor dem Einschlafen bin, werde ich durch Poltern und Schritte im Gang geweckt. Frustriert rolle ich mich auf die andere Seite, presse mein Kissen auf meine Ohren und kneife die Augen zusammen. Aber meine Chance auf Schlaf ist nun endgültig vergeben und als am nächsten Morgen die Sonne aufgeht, habe ich nicht eine Sekunde geschlafen.   Übermüdet, aber hungrig, quäle ich mich hinunter zum Frühstück. Gott habe ich in seinem Finsterball dabei, bereit, meinen letzten Versuch gegen Rita zu wagen, aber als ich die Treppen hinunter steigen will, entdecke ich Rose, die aus Valentins Zimmer kommt und ihm allem Anschein nach Frühstück gebracht hat. Als ihr Blick auf mich fällt, schlägt sie eine Hand vor den Mund und läuft auf mich zu. „Abby, was ist passiert?“, fragt sie und hält meine Schultern fest. „Du siehst halb tot aus.“ „Nicht geschlafen“, murmele ich und lasse mich von ihr hinunter führen. „Du solltest im Bett bleiben“, widerspricht sie mit Tränen in den Augen. „Ich hätte dich nicht aus den Augen lassen sollen! Es tut mir leid, ich war so wütend darauf, dass ihr mir nicht geglaubt habt und habe euch einfach ans offene Messer laufen lassen!“ „Wovon redest du?“, frage ich, ein wenig überfordert mit der Situation. „Claude hat mir gestern Abend erzählt, was in dem Heilzimmer vor sich geht“, fährt Rose ungerührt fort. „Er hat mir versprochen, heute Nacht mehr herauszufinden. Aber was ich bisher weiß, ist äußerst beunruhigend. Wir werden gleich mit ihm sprechen. Er wollte mich im Speisesaal treffen.“ Der Speisesaal ist so gut wie ausgestorben. Obwohl es kaum acht Uhr ist, sind fast alle Passagiere draußen auf dem Deck versammelt und stehen für einen Kampf gegen Rita Schlange. Die wenigen, die keinerlei Interesse an Pokémonkämpfen oder Geld haben, sitzen an den vielen Tischen verteilt und diskutieren leise über ihrem Frühstück. Cornelia sitzt an unserem Stammplatz und schlürft ihren Tee. Von Claude keine Spur. Rose wird langsamer und bleibt schließlich neben Cornelia stehen. „Wo ist Flampion?“, fragt sie mit ausdrucksloser Miene. Cornelia schüttelt belustigt den Kopf. „Es geht ihm gut. Er muss sich erholen.“ Ich nicke wissend, auch wenn mich irgendetwas an dieser Aussage stört. Hat Cornelia nicht gesagt, dass sie… ohne Flampion… nirgendwo hingeht? „Abby. Abby!“ Ich schrecke hoch. „Siehst du Claude irgendwo?“ Rose klingt beunruhigt. „Er wollte hier sein.“ Ich schüttele den Kopf und lasse meinen Blick noch einmal durch den gesamten Saal gleiten, aber nirgends ist sein weißblonder Lockenschopf zu erkennen. Stattdessen entdecke ich Valentin, der durch den Eingang schlurft und mit einem Pokéball in der Hand auf das Deck zu steuert. „Da“, sage ich und deute in seine Richtung. Rose dreht sich hoffnungsvoll um, entdeckt dann aber, wen ich eigentlich meine und lässt mich halb fallen, als sie sich Valentin in den Weg stellt. „Du bist in keiner Verfassung zu kämpfen, Val“, sagt sie flehend. „Bitte, geh zurück ins Bett.“ „Ich muss gegen Rita kämpfen“, murmelt Val. „Ich muss… kämpfen.“ Als Rose eine Hand nach ihm ausstreckt, stößt er sie von sich. Auch mir kommt mit einem Mal wieder der Gedanke, gegen Rita kämpfen zu müssen. Ich mache auf der Stelle kehrt und folge Val, der schon auf halbem Wege durch den Saal ist. „Warum merkt hier denn keiner, was wirklich vor sich geht?!“, schreit Rose und bevor ich etwas tun kann, hat sie mich schon von hinten angesprungen und zu Boden gerissen. Wir rangeln eine Weile auf dem Boden, bis sie die Oberhand gewinnt und eine Hand nach meinen Pokébällen ausstreckt. „NEIN!“, schreie ich und reiße ihre Hand weg. „Sie müssen sich erholen!“ „Ihr seid alle wahnsinnig!“, kreischt Rose und presst eine Hand in mein Gesicht, während sie mit der anderen nach meinen Pokébällen greift. „Merkt ihr denn gar nichts?!“ So sehr ich mich auch wehre, letztendlich schafft Rose es doch, einen der Pokébälle von meinem Gürtel zu reißen und kaum hat sie ihre Finger um das Plastik geschlossen, springt sie von mir weg, hält den Pokéball vor sich und öffnet ihn. Mein Herz bleibt für einen Moment stehen. Er ist leer. Kapitel 78: Wie ein echter Trainer (Zurück) ------------------------------------------- Es ist, als wären all diese Zeit meine Ohren mit Watte gestopft und meine Augen mit Scheuklappen versehen gewesen. In dem Moment, da sich der Pokéball öffnet und sich keins meiner Pokémon materialisiert, löst sich der Schleier der letzten Tage und ich fasse mir an den Kopf, in dem sich plötzlich höllische Kopfschmerzen anbahnen. Taub greife ich nach dem nächsten Pokéball, der nach seiner Position an meinem Gürtel Hunter sein sollte und öffne ihn. Leer. Skus Pokéball. Leer. Meine Hände beginnen zu zittern und ich starre auf die drei leeren Pokéballgehäuse auf dem Boden. Valentin, der näher gekommen ist, nimmt schluckend seine eigenen Pokébälle in die Hand und öffnet sie einem nach dem anderen. Das einzige Pokémon, das sich materialisiert, ist sein Maschock. Ein Wehklagen wird hinter mir laut, als Cornelia Flampions Pokéball überprüft und ihn, natürlich, leer vorfindet. Rose, die sich als einzige noch auf ihren Beinen hält, schluckt, als sie in die Runde schaut und tief Luft holt. „Ihr wurdet hypnotisiert“, sagt sie. „Ihr alle. Alle, die gegen Rita gekämpft und ihre Pokémon bei ihr im Zimmer haben heilen lassen. Eure Pokébälle wurden ausgetauscht und ihr wurdet manipuliert, damit ihr es nicht merkt. Und Claude…“ „Sie haben ihn“, sage ich. Das plötzliche Wissen, was in der letzten Nacht vor meinem Zimmer so gepoltert hat, schnürt mir die Kehle zu. „Er sollte ihnen nachschnüffeln, oder? Sie haben ihn entdeckt. Wahrscheinlich halten sie ihn irgendwo auf dem Schiff gefangen.“ „Genauso wie die gestohlenen Pokémon“, sagt Valentin und erhebt sich langsam. „Wir müssen sie finden.“ „Heimlich“, fügt Cornelia mit brechender Stimme hinzu. „Sie dürfen es nicht bemerken, bis es zu spät ist, sonst hypnotisieren sie uns gleich wieder. Und dieses Mal im großen Maßstab.“ Ich erhebe mich langsam und sammele die drei Pokéballhülsen auf, die ich bis vor wenigen Minuten noch für meine Teammitglieder gehalten habe. Einzig Gott scheint mir geblieben zu sein, denn ich habe nicht mit ihm gekämpft und ihn jede Nacht raus gelassen. Außerdem bezweifle ich, dass der Psycho einen Finsterball zum Austausch gehabt hätte. „Wir müssen uns irgendwo unterhalten, wo wir ungestört sind“, bringe ich schließlich hervor und nicke Rose zu, die sofort ihren Raum zur Verfügung stellt. „Wir müssen unsere Informationen zusammen tragen und besprechen, wie wir vorgehen. Und wem wir vertrauen.“ Rose nickt. „Folgt mir.“ In Roses Zimmer wird es mit vier Leuten ziemlich eng, aber schließlich sind alle untergebracht: Cornelia und ich auf den Stühlen am Tisch, Rose auf dem Bett und Val an den Schrank gelehnt. Ich bemühe mich, Roses Ausführungen aufmerksam zuzuhören, aber nach meiner schlaflosen Nacht fällt es mir schwer, meine Konzentration aufrecht zu halten und Val, der durch den Konflikt zwischen seinen eigenen Wünschen und der Hypnose ein echtes Fieber entwickelt hat, hat Mühe, überhaupt die Augen aufzuhalten. Rose wirft uns mitfühlende Blicke zu, redet aber ohne Unterbrechung und schließlich sind wir über alle ihre Nachforschungen aufgeklärt. Nachdem sich der Großteil des Schiffes merkwürdig zu benehmen begann, hatte sie bereits geahnt, dass irgendetwas vor sich geht, aber erst durch Claude, der für sie hinter mir und Cornelia her spioniert hat, ist ihr das Ausmaß des Ganzen bewusst geworden und sie hat den Zusammenhang zwischen dem Heilraum und den Hypnosetricks geschlossen, die der Psycho uns am ersten Abend auf dem Schiff gezeigt hat. Im Nachhinein kommt mir alles so selbstverständlich vor, aber meine Erinnerungen an die letzten Tage, die ich unter dem anhaltenden Einfluss der Hypnose gestanden habe, sind in meinen Erinnerungen von einem weißen Rauschen unterlegt. „Claude wollte mir heute Morgen berichten, mit wem Rita jede Nacht telefoniert und was die anderen Gruppenmitglieder auf dem Gang zu tun haben, darüber hatte Cornelia sich schließlich oft genug beschwert.“ „Aber sie haben Claude entdeckt und gefangen genommen“, beende ich für sie. Rose nickt schwach. „Ich hätte das nicht von ihm verlangen sollen…“ „Unfug“, sagt Cornelia. „Du hast wie ein echter Trainer gehandelt. Claude und wir anderen, wir sind Teil eines Teams. Und der Teamleiter entscheidet, wie er die Stärken seiner Mitglieder am besten für die Zwecke der Gruppe einsetzen kann. Das hast du getan. Hm! Dass Claude nun gefangen wurde, ist ein Rückschlag, genauso wie der Verlust unserer Pokémon. Aber wir werden sie wieder bekommen.“ „Es kann nicht allzu viele Orte geben, wo sie Claude und die Pokémon verstecken können“, sage ich nach einer Weile. „Vorschläge?“ „Unbenutzte Zimmer“, sagt Valentin. „Das Lager“, schlägt Cornelia vor. Roses Gesicht hellt sich auf. „Der Maschinenraum!“ „Sehr gut.“ Ich nicke zufrieden. „Rose, du nimmst wieder dein Schreibprogramm unter der Treppe auf. Vielleicht schaffst du es, Claude eine Nachricht zukommen zu lassen oder zumindest herauszufinden, ob er dort unten gefangen ist. Wenn sie Claude wirklich dort gefangen halten, müssen sie ihm ab und zu essen bringen. Außerdem scheinen sie die gestohlenen Pokémon nachts irgendwo hin zu transportieren. Wir müssen herausfinden, wie viele Wachen sie dort unten stationiert haben, wer Zugang zu den Maschinenräumen hat und wie wir sie am besten überrumpeln.“ „Sollten wir nicht die Polizei rufen?“, fragt Valentin und Cornelia nickt. „Auch den Kapitän sollten wir kontaktieren.“ „Was mich zum zweiten Themenpunkt bringt“, fährt Rose fort. „Wem können wir trauen und wen sollen wir einweihen?“ „Die Polizei“, wiederholt Val. „Sie werden zwar Probleme haben, während der Fahrt her zu kommen, ohne zu großes Aufsehen zu erregen, aber wir sollten sie auf jeden Fall über die Diebstähle informieren.“ „Ich stimme Valentin zu“, sage ich und denke an Golds Rat, den er mir bei unserem letzten Treffen gegeben hat. „Nun, ich für meinen Teil bezweifle, dass die Polizei derzeit an irgendetwas anderem als Team Rocket interessiert ist“, meint Cornelia ein wenig säuerlich. „Und mit denen haben wir es hier ja wohl eindeutig nicht zu tun.“ Rose schüttelt den Kopf. „Sie sind oft inkognito unterwegs. Abby, was denkst du? Du hast die meiste Erfahrung mit ihnen.“ Ich denke einen Moment lang nach. „Ich kann nicht ausschließen, dass sie für Team Rocket arbeiten oder sie irgendwie unterstützen“, sage ich schließlich. „Aber ich glaube nicht, dass sie Teil der Kernorganisation sind. Nachdem ich ihre Pläne in der Safari-Zone vereitelt habe, sollte inzwischen so gut wie jeder von ihnen mein Gesicht kennen. Und wenn sie sich trauen, Claude direkt unter unseren Nasen zu entführen, dann hätten sie das bei mir auch gemacht und sich das Kopfgeld gesichert.“ Ich zucke die Achseln. „Oder sie handeln wirklich auf eigene Faust und haben nichts mit Team Rocket zu tun. Ich habe keine Ahnung.“ Cornelia beobachtet mich wachsam. „Ich werde einmal ignorieren, dass Team Rocket ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt hat und deinen Worten Glauben schenken“, sagt sie dann. „Auch wenn ich sicher bin, dass es eine faszinierende Geschichte ist.“ „Faszinierend und sehr lang“, sage ich grinsend. „Was ist mit dem Kapitän?“, fragt Rose. „Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber wir sollten ihm trotzdem Bescheid sagen“, meine ich. „Und wir werden die Unterstützung einiger der Matrosen brauchen. Sie werden merken, dass Claude fehlt und uns bestimmt helfen können, wenn es hart auf hart kommt. Ich kann zumindest für Stanz bürgen.“ „In Ordnung.“ Rose, die inzwischen mehr oder weniger das Kommando unserer Operation übernommen hat, klatscht in die Hände. „Ich werde den Maschinenraum im Auge behalten und hoffentlich herausfinden, ob Claude dort festgehalten wird. Cornelia, du kontaktierst bitte den Kapitän und die Polizei. Dir wird man eher Glauben schenken als drei Jugendlichen. Abby und Valentin, ihr behaltet unauffällig Rita und den Psycho im Auge. Den Feuerspucker und den zweiten Jongleur habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen, wir müssen also davon ausgehen, dass sie im Maschinenraum oder wo auch immer stationiert sind und nachts die Gänge patrouillieren. Wenn ihr könnt, folgt ihnen, aber bleibt auf der sicheren Seite.“ Ich werfe Cornelia einen Blick zu und sie lächelt wissend. Rose schaut uns verwirrt an.„Was ist so lustig?“ „Nichts“, sage ich grinsend. „Ich dachte nur gerade, dass du eine prima Pokémontrainerin abgeben würdest.“   Auf Cornelias Befehl hin machen Valentin und ich uns nach der Besprechung auf den Weg in unsere eigenen Zimmer, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Vor allem Val schläft halb im Stehen ein und wenn wir heute Nacht zurechnungsfähig sein wollen, müssen wir uns ein wenig Erholung gönnen. In meinem Zimmer angekommen lasse ich mich auf mein Bett fallen, rufe Gott aus seinem Finsterball und tätschele die Decke neben mir. Er wirft einen misstrauischen Blick auf den brennbaren Stoff, fährt dann sein Rückenfeuer herunter und springt neben mich. Ich wickele mich gemeinsam mit ihm in die Decke und lehne mich gegen Wand, an die das Bett gestellt ist. Er schaut verwirrt zu mir auf. „Sku und die anderen wurden gestohlen“, flüstere ich und schlucke die Tränen hinunter, die ich schon seit heute Morgen zurück halte. „Aber wir werden sie zurückholen. Sie und Claude.“ Gott brummt zustimmend und reibt sich enger an mich. Nun kommen mir doch die Tränen und ich bleibe lange einfach still sitzen, Gott in meinen Armen, die Augen geschlossen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich von Sku getrennt wurde. Damals in den Alph-Ruinen war ich nicht sicher, ob ich sie je wieder sehen würde, aber immerhin wusste ich, dass sie sicher in dem Tresor aufbewahrt war. Dann, als sie ins Meer geworfen wurde, hatte ich keine Zeit, über irgendetwas anderes nachzudenken, als ihr hinterher zu springen. Aber jetzt muss ich geduldig sein und warten, bis wir die Oberhand in diesem Spiel gewinnen. Und Hunter und Jayjay… Sie sind schon seit Tagen nicht mehr bei mir. Schuldgefühle, bitter wie Galle, steigen in meiner Kehle auf und ich presse Gott enger an mich. Ich weiß nicht, wie ich einschlafe. Aber irgendwie gelingt es mir.   Als ich aufwache, ist es schon dunkel, was Anfang Januar nicht viel zu sagen hat. Gott hat sich irgendwann aus meiner Umarmung frei gestrampelt und döst jetzt auf dem Tisch, während seine auf und ab sinkende Rückenflamme unregelmäßige Lichtflecken an die Decke und Wände wirft. Vorsichtig wickele ich mich aus der Decke und stehe schwankend auf. Die schlimmsten Kopfschmerzen sind verklungen, aber ein stetiges Pochen an meiner rechten Schläfe bleibt bestehen. Ich rufe Gott zurück und werfe einen Blick auf mein Handy. Inzwischen ist fast sieben Uhr. Zeit für ein Abendessen. Im Speisesaal entdecke ich weder Cornelia noch Rose, die vermutlich beide mit ihren jeweiligen Aufgaben beschäftigt sind, aber Valentin sitzt an einem der Tische und löffelt seine Suppe. Ich hole mir mein eigenes Abendessen und lasse mich neben ihm an den Tisch sinken. „Gut geschlafen?“, frage ich leise. Er nickt stumm und schiebt mir dann einen zusammen gefalteten Zettel zu, den er vorbereitet zu haben scheint. Ich entfalte ihn unauffällig und lese die Botschaft. Wir müssen so aussehen, als seien wir noch hypnotisiert Nichts leichter als das. Ich setze mein leidendstes, müdestes Gesicht auf und beginne, meine Suppe mit trägen Bewegungen aufzuessen. Während wir so nebeneinander sitzen und uns darum bemühen, die Aura eines Toten zu imitieren, lasse ich unauffällig meinen Blick über die anderen Passagiere gleiten. Diejenigen, die unter Nebulaks Hypnose stehen, sind leicht zu erkennen. Dunkle Augenringe, starrer Blick und eintönige Konversation sind ihre Markenzeichen und es verängstigt mich, noch heute Morgen einer von ihnen gewesen zu sein. Kein Wunder, dass Rose so panisch war. „Ich muss einen Weg finden, mit Stanz zu sprechen“, flüstere ich tonlos. Valentin hebt unauffällig den Kopf und überprüft die Seite des Speisesaals, die ich ohne den Kopf zu drehen nicht beobachten kann. „Rita ist nicht hier“, murmelt er. „Aber der Jongleur.“ „Isst er?“ „Nein“, sagt Valentin leise. „Er sitzt nur da und beobachtet uns.“ „Du musst ihn ablenken, damit ich in die Küche schleichen kann“, flüstere ich zurück. „Wir werden Stanz brauchen, wenn wir irgendwo hinwollen.“ Valentin schnaubt. „Ich werd´s versuchen.“ Wir essen unsere Suppen zu Ende und unterhalten uns eine Weile laut über das einzige Thema, das Hypnotisierte interessiert: Der nächste Kampf gegen Rita und wie gut es unseren Pokémon geht. Es macht mir Angst, wie leicht mir die monotonen Worte über die Lippen gehen, ganz als hätten sie sich in mein Gehirn gebrannt. Schließlich steht Valentin auf, geht an mir vorbei und zu dem Jongleur, der überrascht aufsieht. Ich erhebe mich ebenfalls und trage mein Tablett zur Bar, so als wolle ich nur mein Geschirr dort abgeben. Valentin positioniert sich so, dass er den Blick auf mich blockiert und beginnt dann, den Jongleur anzuflehen, noch heute Abend ein Duell gegen Rita bestreiten zu dürfen. Ich nutze die kurzzeitige Ablenkung, husche hinter die Bar und schleiche geduckt zur Tür in die Kombüse. Als der Matrose, der Cornelias Tee hochgeschickt hat, durch die Tür tritt, fällt er fast über mich, aber ich mache ein zischendes Pst! und husche an ihm vorbei durch den offenen Türspalt. In Sicherheit vor den Augen des Jongleurs richte ich mich erleichtert auf, ignoriere die kuriosen Blicke der Köche und mache mich mit gestrafften Schultern auf den Weg zu dem langen Tisch, an dem ich bereits Stanz´ breites Kreuz erkenne. Ich tippe ihn von hinten an und warte, bis er sich zu mir umgedreht hat, dann lehne ich mich vor und flüstere ihm ins Ohr: „Wir müssen reden.“   „Das sind ernste Anschuldigungen“, sagt er, nachdem ich ihm die Situation erklärt habe und wir etwas abseits in der Ecke der Großraumküche stehen. „Es ist nicht unmöglich, dass jemand die Schlüssel zum Maschinenraum oder zum Lager gestohlen hat, speziell mit der Fingerfertigkeit eines Jongleurs… Es würde zumindest das Verhalten der Trainer erklären. So etwas habe ich in meiner gesamten Zeit an Bord noch nicht erlebt.“ „Wirst du uns helfen?“, frage ich. Stanz nickt. „Wenn sie Claude und all die Pokémon wirklich entführt haben, dann ist es unsere Pflicht, zu helfen! Ist der Kapitän schon informiert worden?“ Ich nicke. „Gut. Aber ihr regelt das nicht auf eigene Faust“, sagt er dann. „Wenn ihr sicher seid, wo sie Claude und die Pokémon haben, kommt zu mir.“ „Werden wir“, sage ich. „Keine Sorge.“ Nachdem Stanz mir seine Zusage und seine Handynummer gegeben hat, verlasse ich unter viel Schleichen und um die Ecke Gucken die Küche, merke aber schnell, dass ich mir die Mühe hätte sparen können. Valentin und er Jongleur sind verschwunden und auch der Gang bis zur Treppe ist frei. Ich steige die Stufen hinauf und halte zur Sicherheit selbst jetzt meinen müden Gang und den ausdruckslosen Blick aufrecht. Als ich das erste Stockwerk erreiche, will ich gerade in den Korridor zu meinem Zimmer einbiegen, da packt mich jemand von hinten und presst eine Hand auf meinen Mund. Ich beiße in die Finger, höre einen unterdrückten Aufschrei, reiße mich los und stehe Val gegenüber, der seine gebissene Hand durch die Luft wedelt und mich wütend anschaut. Dann zieht er mich aus dem Flur, deutet stumm in den Gang, den ich gerade betreten wollte und macht mit den Händen das Werfen und Fangen von Bällen nach. Ich nicke mein Verständnis und lasse mich von ihm zu seinem Zimmer führen. „Bleib am besten bis heute Nacht hier“, sagt er, kaum dass wir die Tür hinter uns geschlossen haben. „Wenn du ihnen aus deinem Zimmer heraus folgst, kannst du dich nicht so gut verstecken wie wenn sie schon halb die Treppe unten sind.“ „Werden wir sie hören?“, frage ich und er nickt. „Wenn sie nicht plötzlich ihr Gehverhalten ändern, wirst du jeden Schritt mitkriegen. Außerdem knarzt eine der Stufen, wenn man mit zu viel Gewicht darüber geht. Spätestens dann werden wir wissen, dass sie hier sind.“ Wir lassen uns neben der Tür auf den Boden sinken und lauschen auf das noch so kleinste Geräusch, obwohl wir wissen, dass die nächtlichen Gänge erst nachts stattfinden.  „Ich habe vor dem Essen kurz mit Rose gesprochen“, sagt Val nach einer Weile.„Sie hat Geräusche aus dem Maschinenraum gehört und ist ziemlich sicher, dass Claude dort ist. Cornelia hat die Polizei erreicht, aber die können nicht vor morgen Abend hier sein, weil wir auf dem Meer mit maximalem Abstand zu Kanto und Johto sind und sie keinen der erfahrenen Polizisten absetzen können. Der Kapitän wird frühestens morgen Zimmerdurchsuchungen anordnen können und die wird den ganzen Tag dauern.“ „Haben sie das mitbekommen?“, frage ich. „Wir müssen davon ausgehen, dass sie heute Nacht alle verdächtigen Gegenstände nach unten bringen. Rose wird über Handy mit uns in Kontakt bleiben, also schalte es stumm.“ Genau das tue ich. Dann schreibe ich Stanz eine SMS, in der ich ihm von der Situation berichte und ihn bitte, sich für etwaige Notfälle bereit zu halten. Danach heißt es warten.   Ich muss eingenickt sein, denn als Val plötzlich mein Knie antippt, schrecke ich auf. Er deutet stumm zur Tür und legt ein Ohr an das Holz. Ich folge seinem Beispiel. Schritte. Dann ein lautes Knarzen, gefolgt von weiteren Schritten. Er nickt mir zu und wir stehen leise auf. Dann, vorsichtig, öffnen wir die Tür seines Zimmers und schleichen hinaus in die Dunkelheit. Gebückt folgen wir dem Gang bis zum Treppenabsatz, wo Valentin die Gänge sichert und ich den Weg nach unten überprüfe. Eine Gestalt ist im unteren Stockwerk angelangt und folgt nun dem Gang nach links, Richtung Untergeschoss, wo das Lager und der Maschinenraum sind. Ich mache eine hektische Bewegung und lasse Valentin den Vortritt, der weiß, wo sich die knarzende Stufe verbirgt. Beinahe lautlos schleichen wir die Treppe hinunter und folgen danach der Person, immer eng an die Wände gepresst und mit flachem Atem. Erst, als die einzelne Gestalt die Treppe hinunter steigt, wird mir der Ernst der Lage klar. Rose muss noch dort unten sein! Panisch schaue ich zu Val, dessen Augen sich weiten, bevor er gebückt über den Boden läuft und mit viel zu geringem Abstand die Treppe hinunter schleicht. Ich folge, leiser, aber langsamer und verfluche mich dafür, Rose nicht sofort Bescheid gegeben zu haben. Hoffentlich sieht man sie unter der Treppe nicht auf den ersten Blick. Plötzlich geht der Strahl einer Taschenlampe im Untergeschoss an und erleuchtet den Gang bis zum Maschinenraum mit einem gespenstisch flackernden Lichtkreis. Valentin und ich halten den Atem an, wagen aber nicht, stehen zu bleiben. Jetzt heißt es alles oder nichts. Im schwachen Licht der Lampe kann ich zumindest erkennen, um wen es sich bei diesem nächtlichen Ausflug handelt. Es ist der Jongleur, den Valentin im Speisesaal ablenken musste und der bisher immer den Pot festgehalten hat. Über die linke Schulter hat er einen großen Rucksack geschlungen, den er festhält. Als der Moment kommt, da er sich neben der Treppe umdrehen muss, um dem Gang zu folgen, weiten sich seine Augen bei unserem Anblick, denn natürlich stehen wir völlig ungeschützt auf den mittleren Treppenstufen. Sein Mund öffnet sich zu einem Ausruf, aber da taucht Rose plötzlich unter der Treppe auf und schlägt ihn mit ihrem Collegeblock mitten ins Gesicht. Val springt die Treppe halb herunter, macht am Geländer eine scharfe Kurve und schlägt dem Jongleur mit zwei präzisen Handkantenschlägen in die Seiten seines Halses. Ohne einen Laut klappt der Mann in sich zusammen und wird im letzten Moment von Val aufgefangen, bevor er auf dem Boden aufschlagen kann. „Gute Arbeit“, flüstert Valentin an Rose gewandt. Sie nickt matt, strafft dann aber ihre Schultern und beginnt, die diversen Taschen des Mannes zu durchsuchen. Ich mache mich unterdessen an dem Rucksack zu schaffen. Als ich den Reißverschluss aufziehe, quellen mir dutzende von Pokébällen entgegen. „Keine Chance“, flüstere ich. „Das wird eine längere Suchaktion, bis wir unsere Pokémon wieder haben.“ Val nickt und geht in die Knie, um den Jongleur auf dem Boden abzulegen. „Schlüssel?“, fragt er Rose. Frustriert schüttelt sie den Kopf. „Keinen, den ich so schnell finden könnte. Vielleicht besitzt er sie auch nicht und es gibt ein Passwort oder einen Klopfcode oder so etwas in der Art.“ „Ich rufe Stanz an“, sage ich. „Er hat einen Schlüssel. Wenn wir sie überraschen wollen, dann heute Nacht, bevor jemand das Verschwinden von dem hier merkt.“ Wir warten kaum drei Minuten, bevor ich Schritte über uns höre und zur Treppe gehe. Stanz schleicht hinunter, was bei seiner Größe und dem damit verbundenen Gewicht nicht ganz einfach ist. Valentin schaut immer wieder paranoid zu dem Jongleur, der noch bewusstlos auf dem Boden liegt, aber hin und wieder einen Laut von sich gibt und leicht zuckt. Stanz schaut auf den Mann herab, dann seufzt er. „Seit ihr Kids absolut sicher, dass die Zirkustruppe Pokémon stiehlt?“ Rose und ich nicken gleichzeitig. „In Ordnung.“ Er bückt sie und hebt den Jongleur hoch. „Abby, der Schlüssel zum Maschinenraum ist in meiner Hosentasche. Ich bringe den hier an einen sicheren Ort und komme dann wieder. Wartet so lange hier.“ Ich nehme den Schlüssel und beobachte dann, wie Stanz um eine Ecke verschwindet, den bewusstlosen Jongleur in seinen Armen. „Was ist eigentlich mit Cornelia?“, frage ich leise. „Sie ist unsere Sicherheitsleine, sozusagen“, erklärt Rose. „Wenn uns etwas passiert, kann sie der Polizei und dem Kapitän Bescheid sagen.“ Stanz kommt nur wenige Minuten später zurück und gemeinsam stellen wir uns vor der Tür zum Maschinenraum auf. Ich schaue mich noch einmal zu meinen Begleitern um. Rose, deren kinnlange Rasterlocken verwegen in ihr Gesicht hängen und die mit nichts als einem Kugelschreiber bewaffnet ist, Valentin, der Maschocks Pokéball am Gürtel trägt und ganz auf unser Ziel fokussiert zu sein scheint und Stanz, der wie ein Berg hinter ihnen steht und uns allen den Rücken stärkt. Der Pokéball, in dem sich vermutlich sein Quaputzi befindet, hält er lose in einer Hand. Meine eigene fährt ein letztes Mal testend über Gotts Finsterball, dann stecke ich den Schlüssel ins Schloss und atme tief durch. „Also gut“, sage ich und drehe ihn um. „Packen wir´s an.“ Kapitel 79: Gegenschlag (Der Trick mit dem Spiegel) --------------------------------------------------- Das Zischen von Dampf, das Rattern der Maschinen und das widerhallende Klonk Klonk unserer Schritte umhüllen uns, kaum dass wir durch die Tür in den Maschinenraum treten. Eine Stahltreppe führt zwei Wände entlang und mündet in einem Labyrinth aus Rohren, Schaltreglern, Kurbeln und anderen Gerätschaften, die ich in ihrem glänzenden grau, grün und blau kaum voneinander unterscheiden kann. Geduckt schleiche ich voran und langsam die Treppe hinunter. Noch kann ich keine Menschenseele entdecken, aber in dem Wirrwarr aus Maschinen und Zwischenräumen ist das nicht weiter verwunderlich. Jeder meiner Schritte klingt verräterisch laut, blendet aber in die allgemeine Geräuschkulisse und so bewege ich mich etwas forscher über die Stufen. Valentin ist dicht hinter mir, gefolgt von Stanz und schließlich Rose. Je weiter wir vordringen, umso lauter werden die Motoren, Turbinen und was sonst noch hier unten für die Fahrtüchtigkeit des Schiffs sorgt. Plötzlich bleibt Valentin neben mir stehen und versperrt mir mit einem Arm den Weg. Mit dem anderen deutet er in einen der einsehbaren Gänge inmitten der Maschinen. Dort, mit verbundenen Augen und an die Rohre gefesselt, sitzt Claude. Ich nicke Valentin zu, der mich daraufhin durchlässt und Seite an Seite steigen wir tiefer hinab. Als wir das Ende der Treppe erreichen, verstecken wir uns sofort hinter einem großen Metallkasten voller Hebel, Schalter und Tachos und warten darauf, dass auch Stanz und Rose ein Versteck finden. Dann schleichen wir in unseren Kleingruppen durch die Gänge, jederzeit bereit zum Kampf. Letztlich bin ich es, die uns verrät. Ich entdecke die Tasche voller Pokébälle erst, als ich schon halb darüber gefallen bin und entkomme nur dank Valentins rasch nach vorne schießender Hand einem Sturz. Aber das laute Klackern, Rollen und Aufschlagen der Pokébälle erregt die Aufmerksamkeit der beiden Wachen, die plötzlich vor uns stehen. Dann müssen Stanz und Rose sich jetzt um Claudes Befreiung kümmern, denke ich noch, bevor ich an den Finsterball an meinem Gürtel greife und Gott rufe, neben dem sich gleichzeitig Maschock materialisiert. Gotts Feuer schießt in die Höhe und erleuchtet den gesamten Gang, sowie den Feuerspucker und den zweiten Jongleur, die am anderen Ende stehen und bei der plötzlichen Helligkeit gequält die Augen zusammen kneifen. Dann schießen drei weitere rote Lichtstrahlen aus ihren Händen und die Pokémon der beiden erscheinen inmitten der verstreuten Pokébälle. Vulpix und Magby bauen sich vor dem Feuerspucker auf, während ein kleines Griffel sich mit dem Schwanz abstößt und auf und ab hüpft. „Funkenflug ihr beide!“, befiehlt der dickbäuchige Feuerspucker und als er keine Anweisung gibt, wen die beiden mit ihren Attacken angreifen sollen, schaut Magby sich verwirrt zu seinem Trainer um, während Vulpix auf Maschock zuspringt, um ihn anzugreifen. „Gott, wenn nötig ausweichen und Konter mit Ruckzuckhieb“, befehle ich und höre gerade noch, wie Valentin seinem Pokémon einen Fußkick befiehlt. Vulpix wird von Maschocks nach oben schnellenden Fuß in die Magengrube getroffen und ohne einen Laut ans andere Ende des Gangs geschleudert, wo es gegen ein Rohr prallt und besiegt liegen bleibt. Magby, das nach diesem Angriff Gott für das leichtere Ziel hält, speit eine Woge Feuerfunken in seine Richtung, rechnet aber nicht mit Gotts Wendigkeit, die ihn zwischen den glühenden Geschossen hindurch manövriert und in einem Ruckzuckhieb auf das perplexe Pokémon prallen lässt. Die Attacke besiegt Magby nicht auf der Stelle, aber Maschocks Karateschlag erledigt den Rest und innerhalb von wenigen Sekunden ist nur noch Griffel übrig, das mit geweiteten Augen auf seine beiden übermächtigen Gegner starrt. „Sternschauer!“, kreischt der Jongleur, aber obwohl Griffel eine sehr elegante Attacke ausführt, ist sie an Effizienz noch schlechter dran als die Showfeuerattacken seiner beiden Vorgänger und ein einzelner gezielter Fußtritt seitens Maschock gibt dem violetten Pokémon den Rest. In Schockstarre stehen uns die beiden Zirkusmitglieder gegenüber, dann geraten sie in Panik, stolpern zurück, fallen über die Pokébälle und stürzen zu Boden. Einen Moment lang genieße ich mit Genugtun, wie sie haltlos über die Pokébälle kriechen, dann greift der Feuerspucker plötzlich nach einem der Bälle und ruft das Pokémon, das ich darin befindet. Sein Partner tut es ihm gleich und plötzlich stehen Gott und Maschock ein düster dreinblickendes Schillok und ein Enekoro gegenüber. „Greif an!“, ruft der Jongleur panisch. „Los!“ Enekoro dreht den Kopf, mustert den ihm unbekannten Trainer abschätzig und setzt sich dann auf seine Hinterläufe, um seine Pfoten zu lecken. Schillok scheint eher der Typ für Kämpfe zu sein. Es fackelt nicht lange und attackiert Gott mit einem Nassschweif, dem dieser gerade noch rechtzeitig ausweichen kann, um nicht die volle Kraft des Schlages abzubekommen, doch auch so hechelt er und sein Rückenfeuer gibt zischende Laute von sich. „Rauchwolke und Einigler“, befehle ich, woraufhin Valentin Maschock einen Überwurf befiehlt. Schwarzer Rauch füllt in Sekundenschnelle unser Sichtfeld und ich kann Gotts Position nur an dem leichten Flackern in der Dunkelheit ausmachen, da höre ich schon das sprudelnde Geräusch von Schillok Nassschweif, dicht gefolgt von einem Kampfschrei und einem lauten, dumpfen Knall. Der Rauch lichtet sich und ich kann erkennen, dass Schillok sich vorsichtshalber gegen Maschocks nächsten Angriff mit einem Schutzschild gewappnet hat, was Valentin und ich sofort ausnutzen, um unseren Pokémon einen kurze Pause zu gewähren. „Energiefokus“, befiehlt Valentin. Gott bleibt automatisch bei seinem Einigler. Kaum, dass Schillok seinen Schutzschild aufgeben muss, rast Maschock gemeinsam mit Gott auf das Pokémon zu, das sich nicht gleichzeitig gegen den Ruckzuckhieb und den Karateschlag wehren kann und schlitternd zurück gedrückt wird, auf den Pokébällen ausrutscht und bei dieser Gelegenheit vier weitere Pokémon befreit, die sich verwirrt umblicken. Zeit, abzuhauen. Ich packe Valentins Hand, drehe auf der Stelle um und renne den Weg zurück, den wir gekommen sind. Außer einem angriffslustigen Shuppet folgt uns von den Pokémon glücklicherweise keines und nachdem Gott den ersten Spukball abbekommt, macht er kehrt und lässt eine regelrechte Kaskade aus Flammenrädern auf seinen Gegner los, der schnell seine Lektion lernt und von uns ablässt. Gott schießt an mir vorbei und führt uns in Richtung der anderen, wobei er immer wieder über seine Schulter schaut, damit wir ihm auf jeden Fall folgen. Wir finden Rose und Stanz einige Gänge weiter, wo sie verzweifelt versuchen, Claudes Handschellen zu lösen, doch die sind aus Stahl und die Schlüssel höchstwahrscheinlich noch bei den beiden Wachen. Auch hier liegt eine große Tasche voller gestohlener Pokébälle, aber ich bezweifle, dass wir durch Zufall darin fündig werden. „Wir kriegen sie nicht auf!“, ruft Rose verzweifelt. Claude, dem die beiden inzwischen zumindest die Augenbinde abgenommen haben, steht unter Schock, sein Blick huscht paranoid durch die Gegend und er windet sich, wenn Rose versucht, ihn zu berühren. „Lass mich mal“, sagt Val und schiebt Rose zur Seite. Er betastet die Handschellen, dann winkt er sein Pokémon zu sich. Einen Moment lang schauen die beiden sich abschätzend an, dann seufzt Val und macht Maschock Platz. „Dann zeig mal, was du im Dojo gelernt hast“, sagt er und zwingt sich zu einem Lächeln. Ein Strahlen bildet sich auf dem Gesicht des Kampfpokémons, es strafft die Schultern, dehnt seine Arme und greift dann mit beiden Händen in die Kette, die um das Rohr geschlungen ist und die beiden Handschellen verbindet. „Das ist nicht dein Ernst“, sage ich und schaue Maschock dabei zu, wie es sich bereit macht, die Stahlkette auseinander zu reißen. „Warte ab.“ Val nickt seinem Pokémon zu, das tief Luft holt und dann in entgegen gesetzte Richtungen zieht. Zunächst geschieht nichts. Dann, ganz langsam, wird ein metallisches Knirschen laut, die Kettenglieder biegen sich auf, brechen und Claude fällt vornüber, als ihn nichts mehr aufrecht hält. „Unterschätze niemals die Stärke eines Kampfpokémons“, sagt Val ein wenig selbstgefällig. Stanz klopft dem Maschock auf die Schulter, dann bückt er sich und hebt Claude hoch, den er ohne große Mühe in seinen Armen hält. „Wo sind die Zirkusleute?“ Gute Frage. Gott setzt sich auf seine Hinterbeine, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dann deutet er mit dem Kopf Richtung Ausgang. Der Feuerspucker ist bereits halb die Treppe hinauf gerannt, während der Jongleur mit etwas Abstand hinter ihm her hinkt. „Sie wollen entkommen!“, fluche ich und sprinte Gott hinterher, der davon schießt, um die beiden Trainer einzuholen. Ein rotes Licht explodiert an meiner Seite und Stanz´ Quaputzi überholt mich mit federnden Schritten. „Schneide ihnen den Weg mit Flammenrad ab!“, rufe ich Gott zu, der auf das nächstbeste Rohr springt, sein Maul öffnet und einen gewaltigen Feuerring in die Luft spuckt, der vor dem Eingang in die Wand einschlägt und den Feuerspucker zurückschrecken lässt. „Hypnose!“, befiehlt Stanz, dicht gefolgt von Valentins Befehl für einen Fußkick. Maschock holt Anlauf, springt vorwärts und rammt dem Jongleur seinen Fuß ins Kreuz, der schreit und dann bewusstlos auf den untersten Treppenstufen zusammenbricht. Quaputzi stößt einschläfernde Schallwellen aus, die sich nach oben hin zwar verflüchtigen, den Feuerspucker aber dennoch treffen und wenn nicht bewusstlos zumindest erschöpft zu Boden sinken lassen. „Alles sicher!“, rufe ich den anderen zu und komme neben dem Jongleur zum Stehen. Stanz setzt Claude auf dem Boden ab und läuft zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppen hinauf, von wo er den Feuerspucker nach unten zerrt. Ich suche inzwischen den Schlüssel für Claudes Handschellen, werde nach einigem Herumtasten fündig und gehe vorsichtig zu Claude. „Ich nehme dir jetzt die Handschellen ab“, sage ich und als ich sicher bin, dass er versteht, öffne ich die Schlösser an den Stahlringen, um seine Hände zu befreien. „Was jetzt?“, fragt Stanz, als er wieder bei uns angekommen ist und den Feuerspucker neben dem noch bewusstlosen Jongleur fallen lässt. „Haben wir irgendetwas, womit wir die beiden fesseln können?“ Ich schüttele den Kopf. „Kannst du sie nacheinander nach oben bringen?“, frage ich. „Dort, wo der erste Jongleur ist." „Sag das, bevor ich ihn runter extra runter schleppe“, lacht Stanz. „Wenn ihr den anderen so lange in Schach halten könnt, geht das klar.“ „Das schaffen wir schon, keine Sorge“, sage ich grinsend und Gott knurrt zustimmend, bevor er von dem Rohr herab springt und sich vor mir einrollt, die Augen starr auf unsere beiden Gefangenen gerichtet. Stanz nickt und hievt mit Quaputzis Hilfe den Feuerspucker in die Höhe, bevor die beiden sich auf den Weg nach oben machen. „Valentin, sammelst du die Pokébälle ein und bringst sie her?“, frage ich ihn und er macht sich wortlos mit Maschock im Schlepptau auf den Weg zur Stelle unseres ersten Kampfes. Rose streckt sich und mustert den Jongleur und Claude. „Das lief besser als erwartet“, gesteht sie dann. „Jetzt müssen wir nur noch- Hmmm!“ Erschrocken drehe ich mich zu ihr um und entdecke, zu meinem Entsetzen, dass wir nicht mehr alleine sind. Der Psycho hat sie von hinten gepackt, einen Arm um ihren Hals geschlungen, die Hand auf ihren Mund gepresst. An seinem Bein hangelt sein Abra. „Teleport“, murmele ich automatisch und ein gespenstisches Grinsen bildet sich auf seinem Gesicht. „Wenn du nicht willst, dass ich deiner Freundin den Hals umdrehe, dann schrei nicht um Hilfe, beweg dich nicht und tu, was ich sage. Verstanden?“ Ohne eine große Wahl nicke ich. „Wo ist der andere?“, flüstert er und ich nicke wahllos in irgendeine Richtung. Er seufzt, dann schnalzt er mit der Zunge und Nebulaks Augen schweben mit einem Mal neben seinem Kopf. Gott faucht leise, wagt aber nicht, mein Versprechen zu brechen, auch wenn sein Rückenfeuer wütend aufflammt. Schweigend warten wir. Ich bin nicht sicher, ob der Psycho weiß, dass Stanz jeden Moment zurück kommen könnte oder ob er darauf spekuliert, uns alle gleichzeitig zu hypnotisieren. Seine Augen huschen immer wieder zum Ausgang des Maschinenraums und zu dem Gang, in dem er Valentin vermutet, während meine Augen stur auf Rose geheftet sind. Ihr einer Arm wird von dem Psycho fest gegen ihren Körper geklemmt, aber der andere ist beweglich. In der Hand hält sie den Kugelschreiber umklammert. Valentins Schritte kommen näher und hallen im Maschinenraum wieder. „Abby? Ich habe alle.“ „Okay!“, rufe ich ihm zu und Rose nutzt den Moment, um das klickende Ende des Kugelschreibers unbemerkt zu drücken. Der Psycho wartet geduldig, bis Valentin um die Ecke kommt, dann verstärkt er seinen Griff um Rose. „Nebulak, hypnotisier sie!“ Ich kneife automatisch meine Augen zu, dann höre ich das Klackern der zu Boden fallenden Pokébälle, als Valentin von der Hypnose getroffen wird und die Taschen los lässt und den Schrei des Psychos, gefolgt von hastigen Schritten. Ich öffne die Augen und nehme das Bild vor mir in Sekundenschnelle auf. Valentin steht inmitten eines Berges aus Pokébällen, mit glasigen Augen und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, Maschock hält ihn aufrecht und der Psycho hält sich fluchend seine blutende Hand. Mein Blick huscht zu Rose, die ihren Kugelschreiber wie eine Waffe in ihren Händen hält und mir zunickt. „Gott, wir beenden das jetzt!“, rufe ich und er faucht zustimmend. Dann bäumt er sich auf und speit eine Woge Flammenräder auf Nebulak und den Psycho. Noch bevor das Feuer sie treffen kann, sind sie jedoch verschwunden. Panisch schaue ich mich um, da spüre ich ein Ziehen an meinem Gürtel und packe nach was auch immer dort ist, aber da teleportiert der Psycho sich schon wieder mit etwas Abstand vor uns. „Sag adieu“, sagt er und im nächsten Moment wird ein protestierender Gott in den gestohlenen Finsterball zurückgezogen. „Ist das alles, was ihr draufhabt?“, frage ich wütend. „Pokémon stehlen?“ „Mehr muss ich nicht können“, sagt der Psycho und lächelt mich an. Dann schnalzt er mit der Zunge, das Zeichen, das ich inzwischen mit einer bevorstehenden Hypnose in Verbindung gebracht habe. Nebulaks Augen leuchten auf und ich schaue schnell weg, um den Effekt heraus zu zögern. Dann fällt mein Blick auf die Pokébälle. Könnte es sein, dass… „Hypnose!“, ruft der Psycho und ich antworte mit einem Schrei, der mich schon in vielen Situationen gerettet hat. „Hunter!“ Aus den Tiefen des Ballhaufens schießt ein roter Lichtblitz in die Höhe, gefolgt von Hunter, der sich krächzend und mit den Flügeln flatternd über uns materialisiert. Noch während ich spüre, wie die Hypnose mich erreichen will, kommt mir plötzlich Maschock zu Hilfe, das sich wie ein Schutzschild vor mich wirft und die Attacke abfängt. Es sackt schlafend vor meinen Füßen zusammen und ich tue das einzige, was mir in dieser Situation noch übrig bleibt. „Spiegeltrick!“, befehle ich und schaue wie in Zeitlupe dabei zu, wie Hunters Augen sich weiten, er Nebulaks Hypnoseattacke kopiert und sich dann mit ausgebreiteten Flügeln vor mir zu Boden sinken lässt. Seine Hypnose trifft das Nebulak unerwartet und von seiner eigenen Attacke eingeschläfert sinkt es matt zu Boden. Abra schimmert und ich spüre mehr als dass ich sehe, dass der Psycho sich aus dem Maschinenraum teleportieren will. „Verfolgung“, befehle ich und Hunter schießt den beiden entgegen, trifft mit seiner Unlichtattacke das Abra und reißt es vom Bein des Psychos, der schreit und nach hinten fällt. Nur wenige Sekunden sind vergangen und der Kampf ist vorbei. „Hypnose“, sage ich und Hunter lässt das besiegte Abra vor dem Psycho zu Boden fallen, bevor er die durch Spiegeltrick erlernte Attacke ein zweites Mal verwendet, dieses Mal auf den Trainer. Rose fällt mir um den Hals und drückt mich so fest sie kann, dann lässt sich mich los und sinkt auf die Knie, erschöpft, aber auch erleichtert. Mir geht es nicht anders und die Anspannung, die ich seit Beginn unserer Mission gespürt habe, fällt von mir ab. Genau in dem Moment öffnet sich über uns die Tür und Stanz schaut über das Geländer zu uns hinunter. „Das habe ich nicht mit Warten gemeint“, sagt er lachend und im nächsten Moment stimmen Rose und ich ein.   Nachdem Stanz den Jongleur hochhebt und ebenfalls wegbringt, wecken Rose und ich Valentin und Maschock und machen uns dann daran, die Pokébälle einzusammeln. Bevor Stanz den Psycho wegbringt, rufe ich sein Abra und das Nebulak zurück und nehme beide Bälle an mich. Wären es normal trainierte Pokémon, müsste ich diese Maßnahme nicht ergreifen, aber ein Abra, mit dem er sich durch Wände teleportieren kann und ein Nebulak, das nicht nur einschläfert, sondern auch manipuliert, sind zu gefährlich, um sie bei ihm zu lassen. Gotts Finsterball sammele ich ebenfalls ein, danach nimmt jeder von uns eine Tasche und gemeinsam tragen wir die Pokébälle in Roses Zimmer, das wir als unsere Basis auserkoren haben. Danach kehren wir alle in unsere eigenen Zimmer zurück. Ich setze mich auf mein Bett und betrachte die beiden Pokébälle. Den linken, der das Abra enthält, stecke ich zurück in meine Hosentasche. Den anderen öffne ich. Das Nebulak materialisiert sich schlafend vor mir. Zur Sicherheit rufe ich außerdem Gott, der bei dem Anblick des Geistpokémons faucht, sich aber gehorsam auf meinem Schoß einrollt. Gemeinsam warten wir, bis das Pokémon schläfrig ein Auge öffnet, dann beide aufreißt und ans andere Ende des Zimmers schießt, bevor es unsichtbar wird. „Nebulak?“, frage ich vorsichtig. „Es ist alles gut. Ich will dir nichts tun.“ Die Augen des Pokémon tauchen neben dem Bullauge auf und ich lächele es an. Schließlich taucht es ganz auf und sinkt niedergeschlagen auf den Tisch herab. „Es tut mir leid, dass ich dich mitgenommen habe“, sage ich und streiche beruhigend über Gotts Pfoten, damit er nicht auf das verängstigte Pokémon losgeht. „Aber dein Trainer hat schlimme Dinge getan und die Polizei wird ihn morgen festnehmen. Du wolltest ihn nur unterstützen, aber ich kann dich vorerst nicht zu ihm lassen.“ Nebulak seufzt leise und senkt den Blick. „Du kannst mir aber mit etwas helfen“, sage ich. „Wenn du das tust, dann verspreche ich, dass dein Trainer bei der Polizei leichter davon kommen wird. Was sagst du?“ Nebulak zögert. Dann verschwindet es und taucht direkt vor mir wieder auf. Seine Augen leuchten. „Gut“, sage ich grinsend und rufe Gott zurück. „Es geht um folgendes…“   Einige Minuten später klopfe ich an Ritas Zimmertür. Nebulak schwebt direkt neben mir, als die Tür sich öffnet und in dem Moment, da Rita überrascht von mir zu dem Pokémon schaut, wirkt es seine Hypnose. „Möchten sie uns nicht rein lassen?“, frage ich unschuldig. „Natürlich. Kommt rein.“ Rita schüttelt verwirrt den Kopf, tritt aber zur Seite und ich folge ihr in das Zimmer, in dem drei meiner Pokémon ausgetauscht wurden. „Warum setzen wir uns nicht?“, frage ich. Rita lässt sich auf den Stuhl hinter sich sinken. „Absolut.“ Ich setze mich zu ihr an den Tisch, falte meine Hände unter meinem Kinn und beobachte Ritas Gesichtszüge ganz genau. Ihr Blick ist mehr auf das Nebulak gerichtet, als auf mich, aber das ist in Ordnung. „Sie wollten mir von ihrem Motiv für die Pokémon-Diebstähle berichten“, sage ich. Rita legt den Kopf schief. „Wollte ich das?“ „Oh ja. Sie wollten es mir unbedingt sagen.“ „Ja, das wollte ich wohl…“ Rita kneift die Augen zusammen, dann nickt sie. „Meine Gruppe verdient ihr Geld mit Pokémon-Diebstählen. Wir haben verschiedene Auftraggeber, die uns bezahlen.“ „Wen?“ „Schwarzmarkthändler, hauptsächlich. Spielhallenbesitzer. Team Rocket.“ „Team Rocket?“, frage ich interessiert. „Das waren auch dieses Mal die Auftraggeber, nicht wahr?“ „Ja… ja, das waren sie.“ Ihr Blick fokussiert sich für einen kurzen Moment auf mich, dann huscht er wieder zu dem Nebulak zurück. „Ein Mann namens Lambda.“ „Wer aus der Zirkusgruppe weiß von ihm?“ „Nur ich. Ich gebe ihnen das Geld und sie stellen keine Fragen.“ „Wie lassen sie ihm all die Pokémon zukommen?“, frage ich und gebe mein Bestes, meine steigende Aufregung zu verbergen. „Es gibt einen Treffpunkt, an dem der Austausch stattfindet.“ „Wird er persönlich dort sein?“ „Ich weiß es nicht.“ Rita runzelt die Stirn. „Aber es ist nicht unüblich, einen Abgesandten zu schicken.“ „Wann? Wo?“ Ich rutsche auf dem Stuhl nach vorne. „In Kanto. In der Unterführung zwischen Saffronia City und Prismania City, nahe des Eingangs auf Route 8… in der Nacht zum 1. März, um drei Uhr morgens.“ „Wissen die anderen davon?“, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. Ein Plan, gewagt und wahrscheinlich sehr dumm, macht sich in meinen Gedanken breit. Ich drücke die Unsicherheit bei Seite und schaue Rita fest in die Augen. „Dieses Gespräch hat nie stattgefunden“, sage ich eindringlich. „Morgen werden sie in ihrem Zimmer bleiben, bis die Polizei sie abholt. Wenn man sie befragt, erinnern sie sich an alle Details ihres Auftrags, außer die Übergabeinformationen. Sie wissen nicht, wann oder wo sie Lambda treffen, aber sie wissen, dass sie ihn treffen. Wenn die Polizei sie festnimmt, werden sie sich nicht wehren. Wenn sich einer ihrer Gruppe wehrt, werden sie ihnen sagen, dass es das Beste ist, mit der Polizei zu kooperieren.“ Ich stehe auf und verlasse rückwärts den Raum. Ritas Augen folgen mir unaufhörlich und im letzten Moment, bevor ich die Tür zwischen uns schließe, pausiere ich einen Moment länger. „Dieses Gespräch“, wiederhole ich, „hat nie stattgefunden.“ Sie nickt. Dann stoppt Nebulak seine Hypnose, ich ziehe die Tür zu und verschwinde in meinem Zimmer. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Ich kann nicht glauben, dass ich meine Idee tatsächlich umsetzen werde, aber tief in mir weiß ich, dass ich es tun werde. Richard ist wegen mir immer noch unter Verdacht. Es ist an mir, ihn da raus zu holen. Kapitel 80: Enthüllung (Zukunftspläne) -------------------------------------- Cornelia zerrt mich am nächsten Morgen mehr oder weniger aus meinem Bett. „Wie kannst du bei all dem Aufstand ruhig schlafen?“, schimpft sie vor sich hin, während ich mich hastig anziehe und dann mit ihr die Stufen hinunter eile. „Die Passagiere laufen bald Amok, wenn das so weitergeht.“ „Was ist passiert?“, frage ich verwirrt, aber Cornelia schüttelt nur den Kopf. „Siehst du gleich, Mädchen, siehst du gleich.“ Im Speisesaal ist außer Rose, Valentin und einige Matrosen keine Menschenseele. Bis auf Stanz weiß niemand von unserer gestrigen Nachtaktion oder überhaupt, dass die Pokémon gestohlen wurden. Aber was sich draußen auf dem Deck abspielt, ist auch so besorgniserregend genug. „Sie stehen seit heute Morgen dort Schlange“, sagt Rose und schaut verzweifelt über ihre Schulter. „Sie wollen alle gegen Rita kämpfen, aber sie ist noch nicht aufgetaucht!“ „Wird sie auch nicht“, sage ich und winke ab, als die anderen mich überrascht anschauen. „Wir sollten die Pokémon draußen befreien. Wenn die Trainer merken, dass sie beraubt wurden, sollte die Hypnose sich von alleine verflüchtigen.“ „Bist du sicher, dass Rita nicht kommen wird?“, fragt Valentin skeptisch. Ich zucke mit den Schultern. „Selbst wenn, sie kann nicht gegen alle Pokémon gewinnen.“ Rose, Valentin und ich laufen zurück, um die Taschen mit den Pokébällen zu holen und als wir schließlich bepackt auf das Deck treten, drehen sich alle Augen in unsere Richtung. „Alle mal herhören!“, schreie ich gegen das Schwappen der Wellen und den pfeifenden Meereswind an. „Rita wird nicht mehr kämpfen! Der Wettstreit ist beendet! Er war nur ein Vorsatz, euch zu hypnotisieren und eure Pokémon zu stehlen! Wir werden jetzt alle Pokémon nacheinander freilassen. Bitte wartet, bis ihr euer Pokémon erkennt, dann holt es ab und wir sind bis zum Mittagessen fertig.“ Niemand glaubt uns, das kann ich in den zahlreichen Gesichtern erkennen, aber das werden sie schon noch früh genug. Wir machen je eine Station auf, greifen einen der Pokébälle in unseren Taschen und rufen das darin befindliche Pokémon, das mit seinem eigenen Pokéball in den Händen, Pfoten, Flossen oder Flügeln auf die Suche nach seinem Trainer geht. Die meisten werden schon von weitem gesichtet und nicht wenige der Passagiere schauen sich mit einem Mal desorientiert um, bevor sie mit Tränen in den Augen zu ihrem Pokémon laufen und es in den Arm nehmen. Es herrscht ein heilloses Chaos, freudige und ängstliche Rufe werden laut und große Pokémon wie das ein oder andere Onix und Garados drängen uns immer weiter zusammen. Jayjay finde ich etwa eine Stunde nach Beginn der Freilassungen in meinem eigenen Rucksack und gebe ihm einen dicken Kuss auf die Schnauze, was mir sofort einen Schlag verpasst, aber sein glückliches Wiehern ist mir den kurzzeitigen Schmerz allemal wert. Auf Sku muss ich länger warten, so lange, dass mein Herz sich immer weiter zusammenzieht. Was, wenn sie woanders ist? Wenn wir sie verloren oder vergessen haben? Die Bälle und Passagiere werden immer weniger und selbst diejenigen, die ihre Pokémon noch nicht haben, sind jetzt ausnahmslos von ihrer Hypnose befreit. Sie sitzen allesamt auf dem Boden, knabbern an ihren Fingernägeln, beißen sich auf ihre Lippen und flüstern leise vor sich hin. Neben mir ertönt plötzlich ein lautes Schnurren und im nächsten Moment springt Sku in meine Arme, brummt und schnurrt und reibt ihren Kopf an meine Wange, ihre Krallen fest in meinen Schultern vergraben. Nichts hat sich je so gut angefühlt.   Beim Mittagessen müssen Rose, Valentin und ich ein tränenreiches Danke nach dem anderen annehmen, unterbrochen von anderen Belobigung und schließlich sogar der öffentliche Ehrung durch den Kapitän und Stanz, die beide unseren Mut, unsere Initiative und unsere Zusammenarbeit mit unseren Pokémon in den Himmel loben, bis Rose farblich ihrem Name alle Ehre macht, ich vor lauter Lächeln meine Mundwinkel nicht mehr spüre und Valentin immer tiefer in seinem Stuhl versinkt und so aussieht, als würde am liebsten davon rennen. Aber auch das hat ein Ende und den Nachmittag verbringen wir zusammen mit Cornelia beim Kartenspiel in Roses Zimmer, fernab von allen Passagieren, die uns zufällig auf dem Gang begegnen und nur nochmal kurz Danke sagen wollen. Als die Polizeiabgeordneten das Schiff schließlich erreichen, ist es noch nicht ganz Abend, aber spät genug, dass die Matrosen die Landefläche für die Flugpokémon mit zusätzlichen Lampen markieren müssen. Es sind insgesamt sechs Polizisten, die zur Hälfte Teil von Rockys Spezialeinheit sind, unter ihnen, zu meiner großen Erleichterung, keine mir bekannten Gesichter. Ich bin nicht sicher, wie Holly darauf reagiert hätte, mir so schnell und unter so ähnlichen Umständen wieder zu begegnen. Sie sind nicht milde überrascht, vom Kapitän zu erfahren, dass alle Pokémon bereits an ihre Besitzer zurückgegeben und alle Mitglieder der Zirkusgruppe in Gewahrsam genommen wurden. Zwei Matrosen waren seit heute Morgen vor Ritas Zimmertür abgestellt, aber Nebulaks Hypnose hat ihren Zweck erfüllt und Rita hat keine Anstalten gemacht, ihr Zimmer zu verlassen. Das Verhör, dass alle an der Mission beteiligten über sich ergehen lassen müssen, ist relativ angenehm, wenn auch langwierig und als ich am Ende meiner Befragung die Pokébälle des Psychos an einen der Polizisten abgebe, hoffe ich inständig, dass mein Versprechen an Nebulak sich erfüllen wird. Mehr als eine Verringerung der Strafe für Kooperation vorzuschlagen, kann ich nicht tun. Rita und die anderen vier werden mit Handschellen versehen, ihre Pokémon beschlagnahmt und ohne große Probleme auf die sechs Flugpokémon verteilt. Und als die sechs Silhouetten am nächtlichen Horizont verschwinden, atme ich zum ersten Mal seit vielen Tagen richtig durch.   ooo   „Ich meine ja nur“, verteidige ich mich, „dass ihr sehr viel Zeit miteinander verbringt.“ „Und ist das etwas Verwerfliches?“, fragt Rose mit tiefroten Wangen. Ich grinse. „Das habe ich nie gesagt.“ „Jetzt hör schon auf, sie wegen Claude auszuquetschen, Abby“, murmelt Valentin, der auf Roses Bett liegt und Jurob streichelt, das auf seiner Brust liegt und schläft. „Sonst darfst du uns gleich von dir und Louis berichten.“ Nun ist es an mir, rot zu werden, aber schließlich lache ich nur und Rose stimmt mit ein. Die restlichen Tage unserer Fahrt nach Kanto sind in relativer Ruhe vergangen und nun ist es nur noch eine Nacht, die wir an Bord verbringen müssen, bevor die M.S. Aqua im Hafen von Orania City anlegt. Ich stütze mein Kinn auf einer Hand ab und schaue aus dem runden Fenster hinaus in die Dunkelheit. Obwohl es kaum fünf Uhr ist, hat sich der Himmel bereits dunkelblau gefärbt und scheint mit dem Meer zu verschmelzen. Nur das elektrische Schimmern einiger Lanturn hebt sich gegen das schwarze Wasser ab. Obwohl ich nur nach Hause zurückkehre, bin ich aufgeregt. Nicht nur, weil ich Mamas Reaktion nicht abschätzen kann, sondern auch, weil ich das Gefühl eines festen Wohnsitzes über die letzten Monate vergessen habe. Das Haus am Meer, in dem ich fünfzehn Jahre gelebt habe, erscheint mir nun wie eine Zwischenstation. Ein Ort, an dem man für einige Nächte übernachtet und dann weiter reist. Ich weiß nicht, ob es schlecht ist, so zu fühlen, aber der Gedanke, wieder zu Hause einzuziehen, ist inzwischen unvorstellbar. Das Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken und ich mache Anstalten, mich zu erheben, aber da ist Rose schon aufgesprungen und zur Tür gelaufen, die sie jetzt öffnet. Im Türrahmen steht Cornelia, die sich an Rose vorbei drängt, dicht gefolgt von Claude, der ein gigantisches Tablett Tee und Kekse in seinen Händen umklammert und dankbar aufatmet, als Rose es ihm lächelnd abnimmt. Ich werfe Valentin einen vielsagenden Blick zu und obwohl er kritisch die Augenbrauen hebt, schmunzelt er. Flampion, das seit der Rückkehr zu seiner Trainerin noch anhänglicher geworden ist, quietscht fröhlich und patscht mit den kleinen Händchen auf seinen runden Bauch. „Ist ja gut, ist ja gut, Kleiner“, säuselt Cornelia und setzt sich kurzerhand auf den Stuhl, der vor kurzem noch Rose gehört hat. „Gleich kommt der Tee.“ „Dieses Zimmer ist eigentlich nicht für fünf Leute gemacht“, protestiert Rose leise, stellt das Tablett aber dennoch auf dem Tisch ab und setzt sich dann zusammen mit Claude vor den Schrank, wo die beiden schon bald in eine leise aber angeregte Unterhaltung verfallen. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln, während ich Cornelia und mir Tee einschenke und Valentin einen Keks zuwerfe, den dieser aus der Luft fängt. Ich hätte nie gedacht, dass Claude so viel am Stück reden kann, aber vielleicht ist Rose einfach die richtige Gesprächspartnerin. „Ich kann noch Sku rufen, dann wird es wirklich kuschlig“, rufe ich Rose zu. „Wehe dir“, lacht sie und fängt die Kekse auf, die ich ihr zugeworfen habe, bevor sie sich wieder Claude widmet. „Wenn ich gewusst hätte, was für eine chaotische Fahrt das wird, hätte ich mir ein späteres Ticket gekauft“, murrt Cornelia und tätschelt ihrem Pokémon den Kopf. „Aber nein, ich werde durch die halbe Weltgeschichte gescheucht, meines geliebten Partners beraubt und muss mich mit mittelmäßigem Tee zufrieden geben.“ „Wer scheucht dich denn?“, frage ich grinsend und beiße in meinen Keks. „Mein Enkel, dieser Rotzbengel“, murrt sie. „Da geht eine alte Dame wie ich alle zwanzig Jahre mal auf Reisen und dann wird man wie ein Sklave zurück nach Kanto bestellt. Nein, ich hätte mir das nicht bieten lassen sollen. Hm!“ „Du kommst also aus Kanto?“, frage ich interessiert. Obwohl ich so viel Zeit mit ihr verbracht habe, wird mir plötzlich klar, dass ich fast nichts über Cornelia weiß, außer dass sie ein Teepurist ist, an allem etwas auszusetzen hat und ihr Pokémon abgöttisch liebt. „Ja, natürlich.“ Sie winkt ab. „Ich lebe in Prismania City, aber meine Tochter hat es in dieses Dörfchen namens Alabastia verschlagen. Was sie dort so schön findet, weiß niemand, aber da lebt sie nun. Ein Enkel! Hm! Mehr hat sie nicht zu Stande gebracht, Himmel noch eins. Da verlässt man sich auf sein Kind und so dankt sie es mir.“ „Also hast du auch nur eine Tochter?“, hake ich nach. Sie kneift die Augen zusammen. „Was willst du damit sagen, Abby?“ Ich verstecke mein Grinsen hinter dem Rand meiner Teetasse und warte einige Momente, damit Cornelia sich wieder beruhigen kann, bevor ich fortfahre. „Warum hat dein Enkel dich so gehetzt?“ „Eine ganz kuriose Geschichte“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Er ist irgendeiner Art Club beigetreten und jetzt darf ich sie alle durchfüttern. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir das antue.“ Das sagt sie, aber um ihre Mundwinkel spielt so etwas wie ein Lächeln und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr das Durchfüttern weniger ausmacht, als sie zugeben möchte. „Wie dringend musst du nach Prismania?“, schaltet Val sich vom Bett aus ein und wir drehen uns beide in seine Richtung. „Ich werde sofort dorthin reisen“, sagt Cornelia. „Mein Enkel wird mich abholen, dann spare ich mir den grausigen Fußmarsch durch die Kälte.“ „Warum fragst du?“, frage ich. Er setzt sich ächzend auf und schiebt Jurob zur Seite. „Ich bin noch unschlüssig, ob ich sofort nach Saffronia City gehen soll oder die Seesprintfähre auf die Eilande nehme, wenn ich schon mal in Orania bin. Ich dachte, ich kann vielleicht mit Cornelia reisen, aber wenn sie abgeholt wird, hat sich das erledigt.“ „Was hast du vor?“, frage ich Rose, die uns seit einiger Zeit gespannt zuhört. „Oh, ich werde Liz über Route 12 entgegen kommen“, sagt sie. „Sie holt mich dann irgendwo zwischen Route 13 und 14 ab, weil es dort von starken Trainern und Bikern nur so wimmelt. Ich werde aber auch zügig abreisen.“ „Dann heißt es wohl bald Abschied nehmen“, sage ich, ein wenig geknickt. Ich hatte gehofft, gemeinsam mit den beiden weiter zu reisen, aber natürlich hatte ich völlig vergessen, dass Rose in die entgegen gesetzte Richtung unterwegs ist. Ich bin wohl die einzige ohne festen Plan. „Und du?“, fragt Cornelia. „Wohin verschlägt es dich?“ „Erst mal nirgendwohin“, sage ich und lehne mich in meinem Stuhl zurück. „Ich werde wohl erst Mal ein bisschen zu Hause bleiben, aber danach habe ich noch keine festen Pläne.“ „Wenn du noch in Orania bist, wenn ich von den Eilanden zurückkomme, können wir ja zusammen nach Saffronia City gehen“, schlägt Valentin vor. Ich grinse. „Einverstanden.“   Später am Abend sitze ich an die Wand gelehnt in meinem Bett, fest in meine Decke eingewickelt und mit Gott und Sku zu beiden Seiten meiner Beine. Morgen ist es soweit. Obwohl es schon spät ist, liegt mir nichts ferner, als zu schlafen. Ob Agnes da sein wird? Sicher hat Mama alle zusammen getrommelt. Maya wird vermutlich nicht kommen, sie hat mit ihrer Ausbildung genug zu tun. Unter der Decke betaste ich mein Handy. Ich bin nicht sicher, wie lange ich warten soll, bevor ich Holly kontaktiere, aber jetzt ist es in jedem Fall noch zu früh. Soll sie erst frustriert werden. Sie wird noch früh genug von mir hören. Ich seufze und lasse meinen Kopf gegen die Wand sacken.   Am nächsten Morgen weckt mich das laute Klopfen an meiner Tür. Meine Augen öffnen sich schlagartig und mir wird zu meiner Schande bewusst, dass ich in meinen Klamotten und noch immer an die Wand gelehnt eingeschlafen sein muss. Sku brummt leise und öffnet ein rot unterlaufenes Auge, während Gott bereits mit gefletschten Zähnen vor der Tür steht und knurrt. „Abby, mach sofort auf“, schimpft Cornelia von draußen. Jetzt doch froh, noch angezogen zu sein, springe ich aus dem Bett, rufe Gott und Sku zurück und öffne die Tür. Cornelia steht in voller Montur und mit gepackten Koffern im Gang und schaut mich erwartungsvoll an. Flampion ist mit einem Gurt auf einen der Koffer geschnallt und scheint sein neues Gefährt sehr zu genießen. „Haben wir schon angelegt?“, frage ich argwöhnisch und schaue hinaus in den Gang, aber außer uns ist niemand wach und dunkel scheint es auch noch zu sein. „Natürlich nicht“, grummelt Cornelia und drückt mir den Nicht-Flampionkoffer in die Hand. „Hilf mir damit runter.“ „Was wollen wir denn schon unten?“, frage ich und fahre mir so gut es geht durch meinen aufgelösten Zopf, der wahrscheinlich in alle Richtungen steht. „Wir kommen schon noch früh genug an.“ „Darum geht es nicht, Mädchen“, sagt Cornelia genervt und steigt die Treppen vor mir hinunter. „Mein Enkel holt mich jetzt ab.“ „Jetzt?“, frage ich ungläubig. „Es ist noch stockduster!“ „Ganz recht. Er will kein Aufsehen erregen.“ „Kein Aufsehen erregen, schon klar…“, murmele ich, als ich den Koffer die Treppen hinunter hieve und Cornelia dann durch den leeren Speisesaal hinaus aufs Deck folge. „Kommt er auf einem Flugpokémon?“ „Natürlich“, sagt Cornelia unwirsch. „Wie sonst?“ Auf dem Schiffsdeck ist es eiskalt und windig. Cornelia beschwert sich unentwegt über dieses und jenes, aber über das Klappern meiner Zähne und den tosenden Seewind verstehe ich kaum ein Wort. Wenn ich mich anstrenge, kann ich schon Orania City am Horizont erkennen. Es sind vielleicht noch ein paar Stunden, bis wir anlegen, aber selbst aus dieser Entfernung sind die Lichter der Arena und des Pokécenters sichtbar. Ich versuche, mein Haus zu erkennen, aber dafür ist es dann doch zu dunkel. Plötzlich ertönt Cornelias aufgeregte Stimme. „Da ist er!“ Ich hebe den Kopf. Wäre da nicht das Feuer seines Schweifes, hätte ich das Glurak nicht erkannt, denn es ist so dunkel wie der Himmel. Meine Augen weiten sich und ich springe zurück, als Jayden samt seinem schwarzen Glurak auf dem Deck landet und schwungvoll vom Rücken des Feuerpokémons springt. „Hey, Oma“, begrüßt Jayden Cornelia und umarmt die sich sträubende Frau. „Hände weg!“, ruft sie und schlägt ihm auf den Kopf. Er grinst nur. „Lieb dich auch. Wen hast du diesmal als Sklaven angeschleppt?“ Er runzelt die Stirn, dann hellt sich sein Blick auf. „Abby? Was machst du denn hier?“ „Als Sklave angeschleppt trifft es ziemlich gut“, sage ich und komme mitsamt Koffer näher. „Wir haben uns auf dem Schiff kennen gelernt.“ „Tut mir leid für dich“, sagt Jayden und zwinkert Cornelia zu, die ihn wütend mustert. „Ich bin nur deinetwegen hier“, sagt sie schließlich. „Ein bisschen Dankbarkeit wird man da wohl noch erwarten dürfen. Hm!“ „Kriegst du noch früh genug. Gib mir die Koffer.“ Er nimmt Cornelia den Griff aus der Hand, fördert ein paar lange Gurte aus den Tiefen seiner Jackentaschen und beginnt dann, die Koffer unter Gluraks Bauch zu befestigen. Flampion wedelt begeistert mit den kurzen Ärmchen. „Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?“, fragt er an mich gewandt. „Wenn du nicht zu weit weg musst, schafft Glurak auch drei Leute plus Gepäck. Wird nur etwas eng.“ „Nein, das ist schon in Ordnung“, sage ich schnell. „Ich muss vom Hafen aus nur fünfzig Meter gehen.“ „Na dann.“ Jayden hilft der protestierenden Cornelia auf Gluraks Rücken, das gelangweilt Rauchringe in die Nacht bläst, welche sofort vom Wind verweht werden und klackert mit seinen Krallen. Da fällt mir plötzlich die Unterhaltung von gestern ein. Bevor Jayden hinter Cornelia aufsitzen kann, rufe ich ihn zurück. „Was gibt’s?“, fragt er und lehnt sich an sein Pokémon, das uns mit seinen Flügeln vor dem schlimmsten Wind schützt. „Cornelia meinte, sie soll sich um deinen Club kümmern. Was für ein Club?“ „Club…“ Jayden schüttelt lachend den Kopf. „Eigentlich war es Chris´ Idee. Sie hat von diesem Typen mit dem Zapdos gehört und weil sie vor kurzem erst Ho-Oh gefangen hat, wollte sie ihn kennen lernen. Mich hat sie mitgeschleppt und weil ich derzeit eh´ nichts Besseres zu tun hab, haben wir ihn ausfindig gemacht.“ „Und?“, frage ich aufgeregt. „Ist es wahr, dass er Zapdos mit nur einem Ball gefangen hat?“ „Ja, so halb. Es war aber kein Pokéball, sondern ein Turboball. Jedenfalls…“ Er wischt sich ein paar orangeblonde Haarsträhnen aus dem Gesicht, „…haben wir ihn in Prismania City gefunden. Er ist cool. Verdammt stark. Und er hat weder mit Orden, noch mit sonstiger Hypescheiße was am Hut, also haben wir uns ein paar Mal getroffen und unterhalten.“ „Und jetzt seit ihr ein Club aus… was, ordenlosen Trainern?“, frage ich skeptisch. „Kein Club“, verbessert Jayden mich. „Ein Team. Chris meinte, du hättest das in Teak City sogar selbst vorgeschlagen. Durch dich ist sie überhaupt erst auf die Idee gekommen.“ „Ich habe das vorgeschlagen?“, frage ich und denke fieberhaft nach. Dann fällt es mir wieder ein. „Das war ein Witz!“, protestiere ich. „Ah, wirklich?“ Jayden grinst und zieht ein Bonbon aus seiner Lederjacke. „Ihr Fehler. Chris hat´s nicht so mit Humor.“ „Ihr habt also tatsächlich eine Anti-Orden-Kampagne gegründet?“, frage ich. Er zuckt mit den Schultern. „Mehr oder weniger. Wir nennen uns Team Shadow, aber außer uns drei ist noch keiner dazu gestoßen. Chris meint, Ronya könnte interessiert sein, also mal sehen. Im Grunde sind wir nur eine Gruppe Trainer, denen das Training wichtiger ist als die Belohnungen, die man dafür in den Arsch geschoben bekommt.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch, sage aber nichts. „Ihr solltet nach einem Gerard Laval Ausschau halten“, empfehle ich stattdessen. „Der könnte auch was für Team Shadow sein.“ „Wirklich? Cool.“ „Wie lange wollt ihr zwei mich noch hier oben erfrieren lassen!“, schnauzt Cornelia und Jayden zerbeißt sein Bonbon, bevor er Gluraks Seite tätschelt und sich dann hinter seiner Oma auf den aschgrauen Rücken schwingt. „Komm uns doch mal in Prismania City besuchen, dann erzähl ich dir mehr“, sagt er zum Abschied. „Du bist ja quasi Mitbegründerin. Ehrenmitglied oder so.“ „Wo finde ich euch?“, rufe ich zu ihm hoch. „Such uns in der Spielhalle, da holt dich dann jemand ab.“ Glurak speit eine Feuerwoge in die Luft, ungeduldig, endlich aufzubrechen, und erhebt sich schwerfällig in die Lüfte. Egal, was Jayden sagt, ich bezweifle, dass es uns drei mitsamt Gepäck hätte tragen können. „Eins noch!“, schreie ich ihm hinterher. „Wie heißt der Junge, der Zapdos gefangen hat?!“ „Hab ich das noch nicht gesagt?!“, ruft Jayden gegen den aufkommenden Wind zurück. „Dark! Er nennt sich Dark!“ Dann schießt Glurak in den grauenden Morgen davon und lässt mich perplex auf dem Deck zurück. Kapitel 81: Die Narben einer langen Reise (Tränenmeer) ------------------------------------------------------ Dark. Fänger des legendären Zapdos. Ehemaliges Mitglied von Team Rocket. Sohn von Atlas, ihrem Anführer. Ordenloser Trainer. Jetzt Mitglied von Team Shadow. Bei dem ich Ehrenmitglied bin? Ich kann mein Glück kaum fassen. Mir ist nach Singen zu Mute, als ich hinauf in mein Zimmer laufe und mich dort rückwärts auf mein Bett fallen lasse. Mein gesamter Weg bis hierher kommt mir plötzlich wie Schicksal vor. Überall habe ich an der Oberfläche gekratzt und jetzt, endlich, fügt sich alles in einem Bild zusammen. Team Shadow. Am liebsten möchte ich sofort nach Prismania City reisen, aber natürlich muss ich zuerst nach Hause. Was Mama wohl sagen würde, wenn ich wieder in Orania City bin und dann ohne Zwischenstopp weiterreise? Ich will mir ihr Gesicht gar nicht vorstellen. Die restlichen Stunden bis zum Anlegen der M.S. Aqua ziehen wie ein halbvergessener Traum an mir vorüber. Meine Tasche ist seit ich hier bin so gut wie immer gepackt und nachdem ich auch noch Schlafsack und Inliner an den Rucksack geschnürt habe, verlasse ich mein Zimmer und finde mich zusammen mit Rose und Valentin im Erdgeschoss der Fähre ein, um die Schlüssel abzugeben und auszusteigen. Meine Verabschiedung von Stanz ist kurz aber herzlich, nicht so wie die von Claude und Rose, die beiden ein schmerzliches Lächeln abverlangt. Valentin und ich halten respektvollen Abstand, als sie auf Wiedersehen sagen. Schließlich ist jedoch alles gesagt und zu dritt verlassen wir das Schiff und folgen der Menschenmenge über die Rampe und den Steg zum Festland. Als sich unser Sichtfeld lichtet, kann ich unser Haus entdecken. Vor der Eingangstür stehen sie alle aufgereiht: Mama, Papa, Tarik und Agnes. Als sie mich entdecken, schlägt Mama eine Hand vor ihren Mund und bricht in haltloses Schluchzen aus. Ich denke nicht mehr nach, sondern lasse meinen Rucksack an Ort und Stelle fallen und laufe zu ihr, um sie zu umarmen. Sie krallt sich an mich und weint und weint und flüstert zusammenhanglose Sätze, die ich kaum verstehe. Erst Minuten später schaffe ich es, mich vorsichtig von ihr zu lösen, nur um als nächstes in Papas Armen zu landen, der mich fest drückt und dann an Agnes und Tarik weiterreicht. Agnes´ Umarmung fällt weniger stürmisch, aber genauso liebevoll aus, denn obwohl sie mein Vorhaben von Anfang an unterstützt hat, muss auch sie sich große Sorgen gemacht haben. Tariks Begrüßung ist vielleicht die kälteste, aber nicht, weil er mich nur einmal fest drückt, sondern wegen den Worten, die er in mein Ohr flüstert. „Wenn du ihr nochmal so wehtust, werde ich dir das nie verzeihen.“ Dann löst er sich, grinst mich an und wuschelt mir durchs Haar. „Du bist gewachsen“, stellt er fest. „Und dünn geworden“, stimmt Agnes misstrauisch zu. „Hast du genug gegessen, Abby?“ „Ich musste viel weglaufen“, sage ich grinsend, inzwischen gewohnt, meine diversen Fluchten und Nahtoderfahrungen als kleinen Schwank zwischendurch zu erwähnen. Erst Mamas geweitete Augen erinnern mich daran, dass ich mich ab jetzt auf gefährlichem Terrain bewege. Ich räuspere mich und winke Valentin und Rose zu mir, die bis dahin etwas abseits gestanden haben und jetzt mitsamt meinem Gepäck zu uns aufschließen. „Das sind meine Freunde, die ich in Anemonia City kennen gelernt habe“, stelle ich sie vor. „Rose und Valentin.“ „Seid ihr auch Trainer auf Reisen?“, fragt Mama, wirkt aber zu meiner Erleichterung nicht feindselig oder misstrauisch. Rose und Val sind schließlich auch gut zwei Jahre älter als ich. „Ich besuche eine alte Freundin in Fuchsania City“, erklärt Rose und reicht allen die Hand, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Valentin tut es ihr gleich, auch wenn sein Ausdruck etwas aufgesetzt wirkt. „Ich möchte auf die Eilande fahren“, sagt er und als keine weiteren Ausführungen kommen, übernimmt Papa das Wort. „Die Fähre legt einmal wöchentlich hier an“, sagt er zur Begrüßung und leitet Valentin und Rose Richtung Tür. „Sie klappert alle Stationen ab, die Fahrt dauert also ein bisschen, aber…“ Dann verschwinden sie im Haus. Mama schaut mich lange an, dann umarmt sie mich erneut, nimmt mir meine Tasche ab und bugsiert mich schließlich ins Haus. Agnes zwinkert mir zu. „Ich habe Maya angerufen, dass du kommst, aber sie hat viel im Labor zu tun“, entschuldigt Mama sich, kaum dass wir alle am Esstisch sitzen, wo sie schon eine große Gemüselasagne aufgetischt hat. „Sie hätte dich bestimmt gerne wiedergesehen.“ „Das bezweifle ich“, murmele ich zwischen zwei Bissen und sage, lauter, „Ich kann sie einfach in Marmoria City besuchen, wenn ich dort in nächster Zeit vorbei komme.“ „Was meinst du damit?“, fragt Mama sofort. Am Tisch wird es plötzlich ganz ruhig und ich beobachte aus den Augenwinkeln, wie Val hastig seinen Bissen runterschluckt und die Gabel auf den Teller legt. Alle schauen mich an. „Wenn ich dort vorbei komme, kann ich sie ja besuchen“, wiederhole ich, unsicher, wo das Problem liegt. Papa räuspert sich. „Natalie und ich sind davon ausgegangen, dass du hier bleibst“, erklärt er. „Du warst fünf Monate weg, Abby, wir dachten, das reicht dir als Abenteuer. Zumal du von dem, was wir gehört haben, in einigen Schwierigkeiten gesteckt hast.“ „Nicht so vielen“, verteidige ich mich schnell. „Und ich hatte nicht vor, gleich morgen wieder abzureisen. Aber das heißt nicht, dass ich für immer hier bleibe.“ „Niemand redet von für immer, Abby“, beschwichtigt Agnes mich. „Wir haben dich alle so lange nicht gesehen, da wünschen wir uns natürlich, dass du eine Weile hier bleibst.“ „Ich kann vorerst in Kanto bleiben“, stimme ich schließlich zu. „Ich habe jetzt ein Flugpokémon, Reisen wird also schneller gehen als noch in Johto.“ „Ein Flugpokémon?“, fragt Agnes aufgeregt. „Du musst es mir gleich zeigen. Und die anderen Neuzugänge, wenn es welche gibt.“ Langsam entspannt sich die Stimmung am Tisch wieder, auch wenn ich merke, dass Tarik mir immer wieder mahnende Blicke zuwirft. Ich werde versuchen, nicht wieder nachts abzuhauen, aber wenn Mama mir das Reisen verbieten will, werde ich mich ganz sicher nicht in meinem Zimmer verkriechen. „Wäre es in Ordnung, wenn Rose und Valentin die Nacht über hier bleiben?“, frage ich, als wir fertig gegessen haben. „Das ist nicht nötig, Abby, wir können auch in das Pokécenter“, widerspricht Rose sofort, aber Mama schüttelt energisch den Kopf. „Ihr könnt gerne ein paar Tage hier bleiben, wenn ihr möchtet“, sagt sie lächelnd. „Valentin, die Seesprintfähre legt erst am Montag ab, bis dahin bist du also herzlich eingeladen, hier zu bleiben. Dasselbe gilt natürlich für dich, Rose, aber ich glaube, du willst so früh wie möglich abreisen?“ „Morgen früh wäre mir am liebsten“, stimmt sie zu. „Ich werde heute noch ein paar Einkäufe in der Stadt tätigen.“ „Fühlt euch wie zu Hause“, sagt Papa. „Wenn du in den Pokémonmarkt willst, sollte ich wohl schnell wieder aufmachen.“ Er erhebt sich vom Tisch, gibt Mama und mir einen Kuss und verlässt dann das Haus. „Ich komme mit, Rose“, sagt Val und erhebt sich ebenfalls. „Ich muss auch aufstocken.“ „Und du zeigst uns deine neuen Pokémon, Abby“, verkündet Agnes glücklich und innerhalb kurzer Zeit ist der Tisch abgeräumt und ich stehe mit ihr, Tarik und Mama vor dem Haus. „Also gut“, sage ich grinsend. „Ich darf vorstellen, Team Abby.“   Später am Abend, nachdem Agnes abgereist ist und die Abendnachrichten zu Ende sind, genehmige ich mir eine lange, heiße Dusche und kehre dann, in mein Handtuch gewickelt und über den knarzenden Holzboden schleichend, in mein Zimmer zurück. Valentin und Rose sind in Mayas altem Zimmer untergebracht, Mama und Papa unterhalten sich leise in der Küche und unter Tariks Tür scheint ein schmaler Lichtstreifen in den Flur. Ich schlüpfe in mein Zimmer, werfe das Handtuch aufs Bett und ziehe mir eine Unterhose an, bevor ich mich an meinem Rucksack zu schaffen mache, alle Klamotten darin auf den Boden werfe und schließlich in meinem Schrank nach einem Schlafanzug suche. In dem Moment öffnet sich die Tür. „Tarik!“, kreische ich lautlos und bedecke meinen nackten Oberkörper reflexartig mit meinen Armen. „Raus!“ „Du hast nichts, was man abschauen könnte, also reg dich nicht auf“, murmelt Tarik genervt, dreht aber gehorsam den Kopf in die andere Richtung. Sein Blick fällt geradewegs auf den Spiegel, der am Schrank hängt und seine Augen weiten sich. „Abs, was zur… was ist das da an deiner Schulter?“ „Nichts“, sage ich zu schnell und im nächsten Moment steht Tarik vor mir, dreht mich gewaltsam um und begutachtet den großen, ausgebleichten Fleck auf meinem Schulterblatt von nahem. „Das ist nicht nichts, Abs“, flüstert er. Dann, zu meiner Panik, begutachtet er mich genauer. Er geht in die Hocke. „Ist das eine Bisswunde an deinem Knöchel?“, fragt er entsetzt. Ich trete nach ihm und löse eine Hand von meiner Brust, um ihn gewaltsam aus meinem Zimmer zu schieben, habe aber natürlich nicht an die große Brandnarbe gedacht, die sich auf meiner Handinnenfläche befindet und die Tarik jetzt in voller Pracht sehen kann. „Ich komme in einer Minute wieder rein“, warnt er mich. „Zieh dir was an. Danach reden wir Klartext.“ Er schließt die Tür hinter sich und lässt mich in mehr als nur einem Aspekt entblößt in meinem Zimmer zurück. Wie versprochen kommt er genau eine Minute später wieder und findet mich, dieses Mal im Schlafanzug, auf meinem Bett sitzend vor. „Ich glaube, du hast deine Reise bisher ziemlich runter gespielt“, sagt er und lässt sich neben mir auf das Bett sinken. „Was zur Hölle ist dir passiert?“ Einige Sekunden lang erwäge ich, ihn anzulügen. Aber ein Blick in sein Gesicht lässt mich den Gedanken verwerfen. Nicht nur ich bin in diesem letzten halben Jahr erwachsener geworden. Er wird mir keine Halbwahrheiten abkaufen. Ich seufze, lehne mich etwas auf dem Bett zurück und beginne ganz am Anfang. Ich brauche über eine Stunde, bis ich alle wichtigen Ereignisse abgedeckt habe, minus Feinheiten wie Zachs eigentliche Motivation und Darks Identität und dergleichen, aber es reicht, um Tarik sprachlos zurück zu lassen. „Und du hast immer noch nicht genug?“, fragt er fassungslos. „Vergiftet, entführt, bedroht, lebendig begraben, hypnotisiert, fast ertrunken, fast erschossen um Himmels Willen, und du willst einfach weitermachen?“ „Ich kann nicht anders“, sage ich und denke an den Anruf mit Holly, der mir noch bevorsteht. Mein Treffen mit Team Shadow. Meine offene Rechnung mit Team Rocket. „Ich habe einige Dinge angefangen, die ich nicht so einfach stehen lassen kann.“ „Du wirst dich noch umbringen, Abs, wirklich.“ Tarik schaut mich ernst an. „Wenn Mama nur die Hälfte von dem mitkriegt, was du mir gerade erzählt hast, wird sie dich nie wieder gehen lassen.“ „Deswegen darf sie es nicht erfahren.“ „Ich kann ihr das nicht verschweigen, Abs!“ Er wedelt hilflos mit den Händen. „Du bist da draußen mehrmals fast gestorben und ich soll so tun, als wüsste ich nichts davon?“ „Ich werde so oder so wieder losziehen“, sage ich wütend. „Wenn du willst, dass ich wie letztes Mal ohne ein Wort verschwinde und euch nicht sage, wo ich bin, dann bitte, sag ihr alles. Aber wenn es dieses Mal besser laufen soll, dann behältst du alles, was du gerade gehört hast, für dich. Kein Wort über die Narben oder irgendetwas anderes.“ „Hasst du uns so sehr?“, fragt Tarik leise. „Ist dir der Gedanke, hier zu bleiben, wirklich so zuwider, dass du Mama lieber das Herz brichst?“ Der Stich, den mir seine Worte versetzen, kommt nicht unerwartet, aber mildern tut ihn das nicht. Ich schüttele stumm den Kopf und als Tarik seine Arme ausbreitet, umarme ich ihn fest. „Ich kriege Panik…“, flüstere ich und unterdrücke die Tränen, die sich anbahnen. „Wenn ich… wenn ich zu lange irgendwo bin, ich kann nicht… nicht mehr hier bleiben, ich…“ „Shhh…“ Tarik reibt mir beruhigend über den Rücken. „Ganz ruhig. Ich werde nichts sagen. Ganz ruhig, okay?“ Ich nicke und presse mein Gesicht fester gegen seinen Hals.   Am nächsten Morgen verlieren weder Tarik noch ich ein Wort über unser nächtliches Gespräch und als Rose sich schließlich auf den Weg Richtung Route 12 macht, begleiten Val und ich sie. Hunter zieht weite Kreise über unseren Köpfen und macht sich mit den lokalen Pokémon und Landschaften vertraut, während Jayjay neben mir her trottet und in regelmäßigen Abständen vorläuft, um zu grasen, solange wir noch zu ihm aufholen. Mehr als einmal landet Hunter auf seinem Rücken und lässt sich einen kurzen Sprint lang durch die Gegend kutschieren, was ihm wie immer große Freude zu bereiten scheint. „Du wirst vielleicht meinen besten Freund Raphael treffen“, sage ich, als wir schließlich vor dem Durchgangshäuschen stehen, durch das sie auf die Route kommt und uns mit vielen Umarmungen voneinander verabschieden. „Er wollte nach seinem Arenakampf die Safari-Zone besuchen.“ „Raphael Berni?“, fragt Rose überrascht. „Der Favorit?“ Ich nicke grinsend. „Dann freue ich mich darauf, ihn kennen zu lernen. Mach es deiner Familie nicht zu schwer“, sagt sie, dann umarmt sie auch Val zum Abschied und verschwindet schließlich durch das kleine Häuschen. „Warum lässt du nicht Maschock raus?“, frage ich Valentin, der wie immer nur Jurob aus seinem Ball lässt. Quaputzi und Seeper hat er zumindest am Meer kurz gerufen, aber sein Kampfpokémon scheint er durchgängig zu vernachlässigen. „Ich komme nicht gut mit ihm klar“, erwidert er kühl. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Im Maschinenraum kamt ihr ziemlich gut miteinander aus“, erwidere ich. Er zuckt mit den Schultern. „Ich habe ihn nur, weil mein Vater das wollte.“ „Aber Maschock ist dein Pokémon, nicht das von deinem Vater“, entgegne ich. „Ich glaube, ihr würdet sehr gut miteinander auskommen, wenn du ihm nur eine Chance geben würdest.“ Valentin seufzt und bleibt im eisigen Wind stehen. „Geh ruhig schon zurück“, sagt er. Ich zögere, nehme die subtile Bitte dann aber hin und sitze auf Jayjay auf, der uns in einem donnernden Galopp zurück zur Stadt befördert. Hunter fliegt kreischend über uns und überholt uns auf den letzten Metern.   Als Valentin sich am Montag ein Ticket für die Fähre kauft, begleite ich ihn und bevor er ablegt, verabschieden wir uns flüchtig, aber mit dem Versprechen, uns bald in Saffronia City wieder zu sehen. Im Vergleich zu Johto, wo alle Städte gute zwei bis drei Tage Fußmarsch voneinander entfernt sind, liegen in Kanto die zentralen Städte so nah aneinander, dass ich Hunter sogar die gesamte Strecke zutrauen würde. Und selbst wenn nicht, Jayjay würde Saffronia mit Sicherheit in unter einer Stunde erreichen. Jetzt, ohne meine beiden Freunde, bin ich völlig in Kanto angekommen. Und wieder zu Hause zu wohnen fühlt sich sehr, sehr merkwürdig an. Tarik hält sein Versprechen und erwähnt weder meine Narben noch meine diversen gefährlichen Erlebnisse, aber trotzdem bleibt die Stimmung oft gedrückt und ich habe stets das Gefühl, über ein Minenfeld zu laufen. Wo ich zuvor frei reden konnte, muss ich jetzt jedes Wort doppelt abwägen. Geheimnisse zwischen mir und meinen Eltern türmen sich auf, je länger ich dort bin und bereits nach der ersten Woche ist die Luft so dick, dass ich trotz der Kälte fast den ganzen Tag auf den Trainingswiesen oder in der Stadt verbringe. Am Montag, den 19. Januar, mache ich mich nach einigen SMS mit Louis auf den Weg zum Pokécenter. Schwester Joy hat mich bei meiner Rückkehr vor gut einer Woche herzlich begrüßt und sich scherzend über den vielen Schlaf beklagt, den sie seit meiner Abwesenheit hatte. Inzwischen bin ich wieder Stammkunde, denn Gotts Training habe ich in Ermangelung anderer Beschäftigungen erneut aufgenommen, auch wenn ich mich an die normalen Tageszeiten halte. Und im Winter mit einem Feuerpokémon durch die Wiesen zu streifen, ist gar nicht mal so ungemütlich. „Abby, wie kann ich dir helfen?“, fragt Schwester Joy fröhlich, als ich eintrete. Einige der anwesenden Trainer schauen zu mir auf, aber auch sie kennen mich inzwischen vom Sehen und widmen sich schnell wieder ihrer Routenplanung oder dem Abendessen. „Einmal durchchecken, bitte“, sage ich und gebe ihr Gotts Ball. „Und ich würde gerne eine Videokonferenz nach Anemonia City machen.“ Joy nickt, gibt mir den Finsterball wieder und zeigt mir den Kommunikationsraum, in dem zwei der klobigen Telefone mit Bildschirm stehen, zusammen mit einfachen Telefonzellen, die durch Sichtblenden voneinander abgeschirmt sind. Ich fahre mir ein letztes Mal durch mein Haar und lasse mich dann vor einem der Videotelefone nieder, wo ich die Nummer des betreffenden Pokécenters eingebe. Nach nur zweimal Klingeln erscheint Louis´ Bild auf dem Schirm. Ich grinse ihn breit an. „Da bin ich“, begrüße ich ihn und er lächelt breit. „Ich seh´s. Sogar lebendig.“ „Ich gebe mein Bestes.“ Ich begutachte ihn einen Moment. Sein Gesicht wirkt dünner. Ich weiß nicht, ob es mir vorher nicht aufgefallen ist, aber Winrys Verletzung hat auch bei ihm sichtbare Spuren hinterlassen. „Wie geht es ihr?“, frage ich. „Sie ist wieder fit, Gott sei Dank“, sagt Louis und seufzt. „Sie humpelt und ist nicht mehr so wendig wie früher. Manchmal bewegt sie sich zu hastig, und hat Schmerzen, aber sie schläft nicht mehr den ganzen Tag und isst normal.“ „Das ist gut“, stimme ich zu. „Ich habe nochmal versucht, mit ihr zu kämpfen“, fährt Louis geknickt fort. „Im hohen Gras, gegen schwache Pokémon, aber sie kommt nicht mit. Schnelle Attacken schafft sie nicht mehr und selbst nach einem kurzen Kampf steht sie kurz vor einer Panikattacke. Joy hatte Recht.“ „Du kannst dich immer noch um entscheiden“, sage ich. „Winry wird es dir nicht übel nehmen, wenn du sie nicht durchgängig dabei hast. Und mit Kramurx kannst du dein Team aufstocken.“ „Vielleicht, aber… ach keine Ahnung.“ Er stützt sich auf eine Hand und schaut zur Seite. „Ich bin einfach nicht dafür gemacht, Protrainer zu sein, glaube ich. Ich wollte es immer werden, weil ich mir etwas beweisen wollte, aber das Bedürfnis habe ich nicht mehr. Es gibt mehr im Leben, als ein starker Trainer zu sein und ich glaube, ich kann in anderen Dingen genauso gut oder besser sein.“ „Wie läuft dein Training bei Hartwig?“ „Er ist total begeistert. Frag mich nicht warum.“ Er lacht. „Aber ich werde glaube ich nicht mehr lange durchhalten. Es ist zwar ganz lustig, aber ich komme außer Training zu gar nichts mehr und meine Pokémon kommen derzeit auch zu kurz. Und du? Wie war die Fahrt? Langweilig hoffe ich?“ Er grinst. „Frag nicht“, lache ich und starte dann meinen Bericht. „Oh Mann.“ Er schüttelt fassungslos den Kopf. „Deine Mutter sollte dich wirklich in Watte packen und an ein Bett fesseln.“ „Bei meinem Glück stürzt ein Team Rocket direkt über mir ab und bricht durch das Dach.“ „Ja, wahrscheinlich…“ Er schaut zu mir, dann weg, dann wieder zurück. „Mann, ich vermiss dich, Abby. Nicht mal Rose ist hier. Es ist verdammt langweilig.“ „Sie wird nicht ewig weg bleiben“, muntere ich ihn auf. „Und wir telefonieren nun wirklich oft.“ „Wenn du das oft nennst…“, spottet er, aber ich strecke ihm nur die Zunge raus. „Hör zu“, sage ich und schaue mich um. Niemand ist zu sehen. „Erinnerst du dich an unser Verhör mit Jack? Als ich ihm gesagt habe, was ich im Flegmonbrunnen überhört habe?“ „Natürlich“, sagt Louis sofort. „Das war die Nacht, in der ich dir…“ Er räuspert sich. „Genau“, stimme ich hastig zu. „Ehm. Also. Ich habe nicht alles erzählt, was ich gehört habe. Es wurde nicht nur Atlas erwähnt.“ „Wer noch?“, fragt Louis. Ich grinse breit. „Sein Sohn.“   „Du willst mir ernsthaft weißmachen, dass dieser Dark zufällig einem Club beigetreten ist, in dem du durch Zufall Ehrenmitglied geworden bist?“, fragt Louis. „In dem dieser Typ aus Viola ist? Und das Mädchen mit dem Ho-Oh?“ „Kein Club, Louis“, verbessere ich und klinge dabei fast wie Jayden. „Ein Team. Team Shadow. Und ich werde sie besuchen. Ich werde mit Dark reden können! Wer weiß, was er mir alles über Team Rockets Pläne verraten kann? Niemand außer mir weiß, dass er ein ehemaliges Mitglied ist.“ „Willst du ihn erpressen?“, fragt Louis mit hoch gezogenen Augenbrauen. „Was? Nein, natürlich nicht.“ Ich schüttele den Kopf. „Er wird Team Rocket nicht ohne Grund verlassen haben. Ich wette, wenn er jemanden hat, dem er ohne Furcht vor Konsequenzen seine Identität preisgeben kann, wird er mir alles erzählen.“ „Sehr optimistisch.“ „Irgendwo muss ich anfangen“, erwidere ich. „Es ist alles so verzwickt, Louis, ich weiß nicht mehr, was überhaupt vor sich geht. Ich habe mir in Oliviana City ein Notizbuch gekauft, in dem ich alles, was ich über Team Rocket in Erfahrung bringe, aufschreibe. Es ist halb voll und ich weiß immer noch nicht, was sie überhaupt vorhaben. Sie sind überall! Sie haben Verbindungen zum Untergrund, zu Bikern, zu anderen Gruppierungen, von denen es wer weiß wie viele gibt und sie scheinen sich seit Jahren überall in die Systeme eingeschlichen zu haben. Die Safari-Zone? Die Pokécenter? Es würde mich nicht wundern, wenn sie in noch einflussreicheren Positionen vertreten sind.“ „Das mag sein, aber meinst du nicht, dass du das der Polizei überlassen solltest?“, fragt Louis nach einer Weile. „Versteh mich nicht falsch. Du hast verdammt viel zu den Ermittlungen bis hierher beigetragen und wenn du ihnen begegnest, solltest du weiterhin alles daran setzen, sie hinter Gitter zu bringen. Aber du steigerst dich da in etwas rein und ich mache mir Sorgen um dich. Es ist mehr, als ob du die Konfrontation mit ihnen suchst, als sie mit dir. Verstehst du, was ich meine?“ „So etwas ähnliches hat Gold auch gesagt“, stimme ich matt zu. „Da, siehst du. Selbst dein Idol macht sich Sorgen. Jetzt guck nicht so, Abby. Oh Mann.“ Er kratzt sich an der Nase. „Warum redest du nicht mal mit diesem Dark. Das kannst du dann an die Polizei weiterleiten. Aber pass auf dich auf. Bitte.“ „Werde ich.“ Ich lächle schwach. „Liebe Grüße von Sku übrigens. Sie vermisst dich mindestens so sehr wie ich.“ „Das will ich doch hoffen“, meint Louis. „Wann reist du nach Prismania?“ Verzweifelt lasse ich mich auf dem Stuhl zurück sinken. „Ich habe keine Ahnung! Als ich das letzte Mal erwähnt habe, bald wieder weg gehen zu wollen, haben mich alle angeguckt, als wäre mir ein zusätzlicher Kopf gewachsen. Ich will das Thema nicht nochmal anschneiden, aber ich halte es jetzt schon kaum noch aus.“ „Sag es lieber früher als später“, sagt Louis. „Dann können sie sich darauf einstellen. Und außerdem bist du nun wirklich nicht weit weg.“ „Nein, eigentlich nicht.“ Ich seufze. „Ich muss jetzt auflegen, es gibt gleich Abendessen. Gib Winry einen Kuss von mir.“ „Und ich kriege keinen?“, fragt Louis gespielt gekränkt und ich schmunzele, bevor ich meine Finger küsse und sie gegen die Kamera drücke. „Bitte.“ Er streckt mir die Zunge raus. „Melde dich, wenn du in Prismania angekommen bist.“ Wir verabschieden uns und ich lege auf. Ihn zu sehen hat gut getan, auch wenn er wirklich mitgenommen aussieht. Aber das wird sich hoffentlich bald wieder legen. Als ich durch den kalten Wind nach Hause zurücklaufe, spiele ich in Gedanken schon die Szenarien für das bevorstehende Gespräch durch. Am liebsten würde ich komplett darauf verzichten, aber ich kann nicht wieder einfach abhauen. Ich stopfe die Hände fest in meine Jackentaschen und stemme mich gegen den Wind. Ich bin lange genug geblieben. Kapitel 82: Die falschen Worte (Der Ruf der Freiheit) ----------------------------------------------------- „Auf keinen Fall.“ Ich lege meine Gabel mit gezwungener Ruhe auf den Tisch und schaue Mama direkt ins Gesicht. „Es geht nicht um das ob, Mama“, sage ich betont. „Es geht um das wann und wie.“ „Du warst fünf Monate weg“, fährt sie mich an. „Fünf Monate, in denen ich jeden Tag Angst um dich hatte! Ich wusste nicht, wo du bist, was du tust und die Male, die du dich bei mir gemeldet hast, kann ich an einer Hand abzählen. Eigentlich müsste ich dir bis zu deinem nächsten Geburtstag Hausarrest geben, bei der Art, wie du dich verhalten hast.“ Ich presse meine Lippen aufeinander. Mit dem Punkt hat sie gar nicht mal so Unrecht. Aber die nächsten sieben Monate hier festsitzen? Nein. Niemals. „Abby hat sich nicht oft gemeldet, Natalie, das stimmt“, sagt Papa vorsichtig und legt seine Hand auf die ihre. „Aber das war nur, weil sie Angst hatte, du würdest sie zurückholen.“ „Und wie ich das getan hätte“, sagt Mama wütend. „Mitten in der Nacht abhauen, in der Nacht zu ihrem eigenen Geburtstag! Hast du eine Ahnung, wie ich mich dabei gefühlt habe, Abby? Ich hatte deinen Kuchen schon im Ofen, bevor mir der Zettel aufgefallen ist. Ich dachte, ich…“ Sie stockt, dann bricht sie plötzlich in Tränen aus und Papa nimmt sie in den Arm. Betreten schaue ich zu Boden. „Es tut mir leid, dass ich euch so große Probleme bereitet habe“, beginne ich kleinlaut. „Aber die Geheimnistuerei war nur, weil ich wusste, dass du mich nicht gehen lassen würdest. Deswegen will ich dieses Mal mit euch darüber reden. Damit ihr mich versteht und wir eine Lösung finden können, die uns alle zufrieden stellt.“ „Das klingt vernünftig, oder Natalie?“, fragt Papa. Sie schüttelt schniefend den Kopf und erhebt sich dann. „Du wirst dieses Haus nicht verlassen“, sagt sie und deutet hoch auf mein Zimmer. „Du warst eine Woche hier und bisher habe ich dich nur zum Frühstück und zum Abendessen gesehen. Bis auf weiteres hast du Hausarrest.“ „Wie lange?“ „So lange, wie ich es sage.“ „Das ist keine Antwort“, erwidere ich. „Wie lange?“ „Mindestens zwei Monate“, sagt Mama wütend und deutet in Richtung meines Zimmers. „Ab jetzt.“ Zwei Monate. Ich rechne in meinem Kopf nach. In zwei Monaten wird es Mitte März sein. Die Übergabe in der Unterführung ist dann schon vorbei. Ich habe keine Zeit für Hausarrest. „Nein“, sage ich daher. „Es gibt Dinge, in die ich verwickelt bin. Ich habe keine Zeit, zwei Monate in meinem Zimmer zu hocken.“ „Du wirst jetzt sofort hoch gehen!“, sagt Mama mit hysterischer Stimme. „Oder dich erwartet mehr als nur Hausarrest.“ „Natalie, bitte, beruhige-“ „Beruhigen?“, fährt sie Papa wütend an. „Das ist mein Kind, das vor mir weglaufen will und sich mit wer weiß was für düsteren Gestalten herumtreibt! Ich will doch nur, dass sie bei mir bleibt!“ „Ich bin aber nicht dein Eigentum!“, schreie ich sie an und stehe ebenfalls auf. „Du denkst, du hast irgendein Privileg, mich hier zu behalten, aber das hast du nicht! Ich habe fünf Monate alleine in einer anderen Region gelebt, denkst du wirklich, ich bin davon abhängig, ob du meinen Reisen zustimmst?! Ich will dir nicht schon wieder so viel Kummer machen, das ist der einzige Grund, warum ich überhaupt mit dir darüber rede! Aber ich hatte letztes Mal Recht, mit dir kann man nicht verhandeln, du bist so in deiner eigenen kleinen Welt gefangen, dass du-“ „Abby“, sagt Papa schneidend. „Es reicht.“ Ich hole tief Luft. „Die Regionen stehen vor einer Katastrophe, Mama. Es geht hier nicht um dich oder um mich, hier geht es um das Wohl aller. Ich muss wieder los ziehen. Und egal, was du sagst, egal, was du tust, du wirst mich nicht davon abhalten können.“ Mama umrundet den Tisch, geht an mir vorbei und steigt die Treppen hinauf. Tarik wirft mir einen undefinierbaren Blick zu, dann läuft er ihr hinterher und ich kann von oben seine eindringliche Stimme hören. „Das lief nicht ideal“, stellt Papa fest und ich lasse mich erschöpft auf den Stuhl zurück sinken. „Weißt du, was das Schlimmste ist?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Ich dachte, ich hätte damals vorschnell gehandelt. Dass sie, wenn ich ihr alles erkläre und wir Regeln besprechen, kein Problem damit hätte, mich gehen zu lassen. Aber ich hatte Angst, dass sie sich mir in den Weg stellt und deshalb bin ich weggelaufen, ohne euch zu sagen, wohin oder wie lange.“ „Und jetzt?“ „Ich wollte ehrlich sein!“, sage ich wütend. „Ich wollte es mit euch besprechen. Nicht einfach abhauen, sondern mit eurer Einverständnis weiterreisen. Ich hätte genauso gut sagen können, dass ich Agnes besuchen möchte, und dann einfach in Prismania City bleiben. Oder nachts abhauen, so wie letztes Mal. Aber ich dachte, dieses Mal mache ich es richtig. Ich hätte einfach lügen sollen.“ „Ich verstehen deine Frustration, Abby“, sagt Papa, „aber du musst es von Natalies Sicht der Dinge sehen. Du hast ihr Vertrauen gebrochen, als du weggelaufen bist und alles, was sie bisher von deiner Reise weiß, ist, dass du in Johto warst und einmal im Krankenhaus gelandet bist. Du erzählst uns nichts von dem, was du erlebt hast. Wie sollen wir die Dringlichkeit verstehen, wenn du uns im Dunkeln lässt?“ „Tarik weiß alles“, sage ich trocken. „Und er meinte, wenn ich euch davon erzähle, lässt Mama mich erst Recht nicht mehr gehen.“ „Das klingt nach einer sehr spannenden Geschichte“, sagt Papa. Dann winkt er mich zu sich und ich setze mich ohne zu Zögern auf seinen Schoß. In seinen Armen entspanne ich mich ein wenig und lasse seine beruhigenden Worte über mich waschen. „Ich werde heute Abend mit Natalie reden“, sagt er. „Tarik ist allem Anschein nach ja schon eifrig dabei. Bleib noch ein paar Tage und wir werden sehen, ob Natalie sich nicht vielleicht doch zu einem Kompromiss bereit erklärt.“ Ich seufze, löse mich von ihm und zwinge mich zu einem Lächeln. Papa ist der Letzte, der meine schlechte Laune verdient hat. „Ich gehe ins Bett.“ Als ich schon halb die Treppe hinauf bin, drehe ich mich ein letztes Mal zu ihm um. „Ende der Woche bin ich weg“, sage ich. „Egal wie.“   Am nächsten Morgen komme ich zum Frühstück nach unten, nur um außer mir niemanden vorzufinden. Nicht weiter verwunderlich. Es ist Dienstag, Mama und Papa müssen arbeiten und Tariks Frühschicht in der Arena ist auf dem Familienkalender am Kühlschrank eingetragen. Mehr aus Interesse versuche ich, die Haustür zu öffnen, und weiß nicht, was ich davon halten soll, sie verschlossen vorzufinden. Wenn ich wirklich gehen wollte, hätte ich genug Möglichkeiten. So ist es nur ein weiterer Grund, mich unwohl zu fühlen. Ich mache mir eine Schale Müsli, rufe Gott, mit dem ich es mir auf dem Sofa gemütlich mache und schalte den Fernseher an. Irgendwann gesellt sich sogar Nancy zu uns, die Gott mit einem leisen Knurren in ihre Schranken weist. Sie rollt sich in ihrem Bett neben dem Sofa ein und wirft uns einen letzten trägen Blick zu, bevor sie weiterschläft. An Faulheit komme ich ihr an diesem Tag gleich. Außer eine Reportage und Nachrichtensendung nach der anderen zu verfolgen, lasse ich mich zu nichts motivieren. Selbst Gott wird es irgendwann zu viel. Er knabbert schwach an meiner Hand und springt dann vom Sofa und läuft zur Haustür. Er kratzt an dem Holz. „Zu“, sage ich. Sein Rückenfeuer sinkt zu einer schwachen Glut und er dreht den Kopf. Schließlich seufze ich, schalte den Fernseher aus und laufe die Treppen hoch. Gott folgt mir. In meinem Zimmer angekommen öffne ich das Fenster, lehne mich hinaus und rufe Hunter und Jayjay, die sich hinter unserem Haus materialisieren und verwirrt zu mir auf schauen. „Na komm, raus mit dir“, sage ich und setze Gott aufs Fensterbrett. „Ich darf nicht raus, aber ihr könnt euch ruhig die Beine vertreten. Mach nur keinen Ärger, okay?“ Er wirft mir einen verwirrten Blick zu. Warum darfst du nicht? Ich blinzele. Bisher konnte ich nur Sku so klar in ihrer Mimik verstehen. „Hausarrest“, erkläre ich. „Meine Mutter verbietet mir, das Haus zu verlassen.“ Gott faucht und springt von der Fensterbank zurück in mein Zimmer, wo er sich auf den Schreibtisch neben der Tür setzt und mich aufmerksam beobachtet. „Ich kann nicht“, sage ich resigniert. „Ich werde noch eine Woche versuchen, sie irgendwie zu überzeugen. Aber danach sind wir wieder unterwegs, keine Sorge.“ Er knurrt, mehr oder weniger versöhnt und rollt sich dann auf dem Schreibtisch ein. Als ich zurück nach unten gehe, macht er keine Anstalten, mir zu folgen und so sitze ich schon bald mit Sku auf meinen Schultern auf dem Sofa und widme mich der einzigen Beschäftigung, die mir alleine in diesem Haus bleibt. Gegen Nachmittag kommt Tarik zurück und findet mich beinahe kopfüber auf dem Sofa wieder, Sku platt auf dem Rücken liegend und halb von meinem Bauch hängend. Er zieht seine Schuhe und Jacke aus und lässt Altaria frei, die gurrend durch die Luft schwebt und es sich dann auf seiner Schulter gemütlich macht, ihre flauschigen Flügel angelegt. „Deine Pokémon erregen ziemliches Aufsehen“, stellt er fest und lässt sich neben mir auf das Sofa plumpsen. Er drückt den Stummknopf des Fernsehers und ich beobachte ihn dabei, wie er zögerlich Skus Bauch krault. Sie schnurrt wohlig und räkelt sich, rollt von mir herunter und fällt fast vom Sofa. „Selbst Major Bob hat die Arena verlassen, um dein Zebritz zu sehen. Die beiden verstehen sich ziemlich gut.“ Ich schmunzele. „Schön.“ „Hast du heute irgendwas gemacht, außer vor der Glotze zu hängen?“, fragt Tarik. Ich lache humorlos. „Was denn? Fliesen zählen?“ „Du bist unfair, Abby.“ „Bin ich das?“, frage ich und setze mich auf. „So wie ich das sehe, darf jeder machen, was er möchte. Nur ich nicht.“ „Du suhlst dich in Selbstmitleid“, erwidert Tarik kühl. „Richtig.“ Wütend lasse ich mich gegen die Polster fallen. „Das bin ich doch, oder nicht? Eine Gefangene. Wie würdest du dich fühlen, wenn Mama dich einfach eines Tages aus dem Haus schmeißen würde? Wenn sie dich zwingt, in ferne Regionen zu reisen und du darfst erst wieder kommen, wenn sie es dir erlaubt?“ „Das würde sie nie tun“, sagt Tarik, aber die Farbe ist ihm aus dem Gesicht gewichen. „Ganz genau.“ Ich starre auf die Menschen, die sich wild gestikulierend im Fernseher bewegen und doch keinen Laut machen. „Aber jemanden, der reisen will, einsperren, das ist vollkommen in Ordnung.“ Tarik seufzt und lässt sich neben mir an die Sofalehne sinken. „Warten wir, bis Mama heimkommt.“ Während wir vor dem Fernseher sitzen, lasse ich mir von Tarik einige seiner Erfahrungen aus der Arena berichten. „Du wärst überrascht, wie viele Trainer uns leicht besiegen und dann an Major Bob scheitern“, sagt er. „Harpy ist inzwischen fast schon zu stark für die Arenakämpfe, aber solange ihr Level noch im Rahmen liegt, wird er sie nicht austauschen.“ „Wie sind eure Richtlinien, was Level angeht?“, frage ich neugierig. „Mal sehen…“ Tarik denkt kurz nach. „In der dritten Arena ist der erlaubte Level 23, wenn ich mich nicht irre. Die Vortrainer sind im Normalfall etwas schwächer. Aber das ist nur ein grober Richtwert. Je nach Arenatyp, Pokémonanzahl und weiteren Faktoren wird das genau berechnet. Meistens liegen zwischen zwei Arenen aber etwa 5 Level Schritte.“ „Und was passiert, wenn Harpy die Grenze überschreitet?“, frage ich. „Dann darf er sie nicht mehr einsetzen. Natürlich wird der Major sie weiter trainieren und vielleicht sogar in seinem Team aufnehmen. Sie hat ziemlich Temperament, aber mindestens genauso viel Potenzial.“ „Hat Bob etwas zu dem Zapdos gesagt?“, frage ich nach einer kurzen Pause. Tarik sieht mich schief an. „Woher weißt du davon?“ „Die Matrosen haben darüber geredet“, sage ich und deute dann auf den Fernseher. „Und es wird dauernd in den Nachrichten erwähnt.“ „Das war ein ziemlicher Aufruhr, das kann ich dir sagen.“ Tarik legt den Kopf in den Nacken und starrt an die Decke. „Die ganzen Nachrichtenteams, die Fanclubmitglieder, irgendwelche altmodischen Grüppchen, die gegen das Fangen von Legendären sind… Ich hatte tagelang keine Ahnung, ob ich einen Herausforderer vor mir habe oder nur jemanden, der irgendwas von Bob aufschnappen will.“ „Und niemand weiß, wer der Trainer war, der Zapdos gefangen hat?“ Tarik schüttelt den Kopf. „Jeder hat irgendwelche Vermutungen, aber wirklich wissen… nein. Und wenn sie es wüssten, würde es bestimmt in Dauerschleife in den Nachrichten kommen. Hast du nicht gesagt, du warst dabei, als in Johto Ho-Oh gefangen wurde?“ „War ich“, stimme ich zu. „Siehst du. Das war quasi mitten in der Stadt, und trotzdem hat keiner eine Ahnung, wie das Mädchen heißt und was sie macht.“ „Chris“, sage ich leise. „Ihr Name ist Chris.“ „Warum interessierst du dich so dafür?“, fragt Tarik nach einer Weile. Ich schaue ihn nur mitleidig an. „Dinge herausfinden? Gerüchten auf die Spur kommen?“ Ich lache. „Was denkst du, warum ich so schnell wieder weg will?“ Mama kommt am frühen Abend heim. Ich weiß, dass ich Hunter und Jayjay hätte zurückrufen können, aber ich will sie provozieren. Als sie die Tür öffnet, wirkt sie gestresst und ziemlich fertig mit der Welt. Tarik steht sofort auf und geht zu ihr, um ihr die Einkaufstüten abzunehmen, ich lasse mir hingegen ein bisschen mehr Zeit. „Abby, ruf bitte deine Pokémon zurück“, sagt Mama abwesend und trägt eine Tasche ächzend in die Küche. „Wo sind sie?“, frage ich. „Draußen.“ „Ist der Hausarrest schon aufgehoben?“, frage ich gespielt überrascht. Mama wirft mir einen scharfen Blick zu. „Bitte ruf einfach deine Pokémon zurück, ich hatte einen langen Tag und möchte jetzt nicht über so etwas streiten.“ „Ich hatte einen verdammt langweiligen Tag“, erwidere ich. „Dann lass sie draußen, um Himmels Willen.“ Wütend zieht Mama die Lebensmittel aus der Tüte und fängt an, sie in Schränke zu räumen. Tarik wirft mir einen bösen Blick zu und schließlich helfe ich den beiden beim Ausräumen. Mama beginnt mit dem Kochen und Tarik und ich helfen ihr beim Gemüse schneiden, aber die Stimmung ist noch eisiger als die gesamte letzte Woche und als Mama sich schließlich über Sku beschwert, die im Wohnzimmer schnarcht, lasse ich ohne ein Wort meine Arbeit liegen, rufe Sku und verschwinde mit ihr in meinem Zimmer. Gott spürt meine schlechte Laune, kaum dass ich die Tür knallend hinter mir zuziehe, springt auf meine Schulter und fährt sein Rückerfeuer hoch, bis er merkt, dass es keinen Gegner gibt und er sich wieder beruhigt. Zehn Minuten später höre ich Tarik, der mich zum Essen ruft. Ich reagiere nicht. Zwei weitere Minuten später ruft Mama. Ich bleibe stur an meinem Fenster sitzen und schaue Jayjay dabei zu, wie er, ermüdet von dem langen Tag an der frischen Luft, hinter unserem Haus grast und gelegentlich wiehert, wenn Hunter ihm in den Po piekst. Schließlich klopft es an meiner Tür. „Wenn ihr sie nicht abgeschlossen habt, ist sie offen“, sage ich, woraufhin die Tür ein Stück aufschwingt. „Hast du keinen Hunger?“, fragt Papa besorgt. Als er Gott sieht, der bedrohlich auf meiner Schulter sitzt und bei seinem Anblick kleine Flammen in seinem Mundraum produziert, hebt er die Augenbrauen. „Fackel bitte nicht unser Haus ab.“ Ich lache leise und schiebe Gott von meiner Schulter. „Ganz ehrlich, ich habe keine Lust, runter zu gehen“, sage ich. Papa seufzt, ruft nach unten, dass die beiden schon mit Essen anfangen sollen und setzt sich dann zu mir aufs Bett. „Wir wollen doch einen Kompromiss erarbeiten, oder nicht?“, fragt er. „Wie willst du das anstellen, wenn du hier oben in deinem Zimmer sitzt?“ „Ich kann nicht mit ihr reden, ohne wütend zu werden“, erwidere ich frustriert. „Ich habe Mama wirklich lieb, aber wenn es so weiter geht, werde ich sie Ende der Woche hassen. Und so wie ich das sehe, will sie keinen Kompromiss. Sie tut so, als wäre alles wie früher. Sie hat die Eingangstür abgeschlossen. Was ist das hier, ein Gefängnis?“ Papa steht auf und reicht mir seine Hand. „Na komm. Dreißig Minuten, wer weiß, was sich in dieser Zeit ergeben kann. Musstest du auf deinen Reisen nie etwas tun, das dir nicht gefallen hat? Mit Personen umgehen, die dich aufgeregt haben?“ Ich muss an Ruth denken, als sie in Azalea City war und ich sie bedienen musste. Das war ziemlich unangenehm. Andererseits wurde ich dort bezahlt. Ich konnte hingehen, wohin ich wollte. Hat es sich zum Schluss ausgezahlt? Irgendwie schon. Ich nehme seine Hand und lasse mich von ihm hochziehen. „Meinetwegen. Aber ich nehme Gott und Sku mit. Die beiden haben noch nichts gegessen.“ „Das klingt fair.“ Gemeinsam mit Papa, Sku und Gott steige ich wieder die Treppen hinunter und, wie beabsichtigt, werden Mamas Augen schmal, als sie meine Pokémon entdeckt. Während Papa sich an den Tisch setzt, gehe ich seelenruhig in die Küche, bereite Futterschüsseln für Gott und Sku vor und setze mich anschließend zu den anderen. Mein Schweigen wird durch die Gespräche der anderen drei wettgemacht, aber ich kann sehen, wie Mamas Blick immer wieder irritiert zu Gott und Sku wandert. Sie sagt jedoch nichts, was ich als kleinen Fortschritt sehe. Schließlich ist das Essen zu Ende und wir alle sitzen am Tisch, wissend, dass eine Diskussion bevorsteht, die niemand so richtig beginnen möchte. Natürlich ruiniert Mama meine Laune mit dem nächsten Kommentar. „Musstest du deine Pokémon runter bringen?“, fragt sie. Ich sehe, wie Papa ein Auge zusammen kneift und mir einen entschuldigenden Blick zuwirft. „Ich habe es ihr erlaubt, Natalie“, sagt er. Sie schaut zu ihm, lässt dann das Thema fallen und berichtet stattdessen von ihrem Arbeitstag. Ich lausche nur mit halbem Ohr, aber als der Name Gold fällt, horche ich doch auf. „Unsere Fanartikel sind ausnahmslos ausverkauft“, beklagt Mama sich. „Und ich kann keine neuen bestellen, weil Gold sich nicht kontaktieren lässt. Es ist wirklich sehr problematisch.“ „Gold hat andere Sachen zu tun, als Poképuppen zu unterschreiben“, meine ich. Sie schaut überrascht zu mir. „Und woher möchtest du das wissen?“, fragt sie. Ich grinse. „Weil ich ihm schon mehrmals begegnet bin, weil ich in Kontakt mit Rockys Spezialeinheit stehe, die er unterstützt und weil ich der Einheit schon mehrmals geholfen habe. Und weil sich das jeder denken kann, der ein bisschen auf die Team Rocket Nachrichten achtet.“ „Sag mir bitte nicht, dass du mit diesen Verbrechern in Kontakt gekommen bist“, sagt Mama entsetzt. „Jemand wie du sollte nichts mit der Polizei zu schaffen haben. Warum würden sie ein Kind helfen lassen?“ „Weil ich mehrfach Zeuge war“, erwidere ich, ein wenig irritiert. „Und weil ich Team Rocket mehrmals vor ihnen entdeckt habe und die Polizei nur dank mir rechtzeitig zur Stelle war. Du denkst vielleicht, ich bin in den letzten fünf Monaten nur sinnlos durch die Gegend gewandert, aber ich habe ziemlich viele Kontakte geknüpft. Und einige von denen muss ich dringend sprechen, um die Polizei weiter unterstützen zu können.“ „Das kann die Polizei ohne deine Hilfe sicher genauso gut“, sagt Mama automatisch. „Vielleicht hat Abby ja wirklich Informationsquellen, die der Polizei helfen“, kommt Papa mir zu Hilfe. „Ich traue das unserer Tochter zu.“ „Abby hat wirklich einiges geleistet, Mama“, stimmt nun sogar Tarik zu. „Die Bikergruppe, die in Teak City lahm gelegt wurde? Sie war Teil des Trainerteams. Und die Festnahmen in der Safari-Zone hat sie auch ermöglicht.“ „Nicht zu vergessen die Frühwarnung auf dem Indigo Plateau“, stimme ich zu. „Dabei bin ich zwar im Krankenhaus gelandet, aber das war halb so wild.“ „Und ich soll gutheißen, dass du dich in Polizeiarbeit einmischst?“, fragt Mama. „Dass du dich in Gefahr bringst, wenn es Erwachsene gibt, die für diesen Job ausgebildet sind? Ganz sicher nicht.“ Gott knurrt leise und alle Augen richten sich auf ihn, was ihn seine Flammen hochfahren lässt. „Und bitte, ruf dieses Pokémon zurück“, fährt Mama wütend fort. „Er ist gefährlich.“ „Er braucht Auslauf“, erwidere ich kühl. „Den er ja leider nicht kriegt, weil ich hier drinnen festsitze und er zu aggressiv ist, um ihn alleine raus zu lassen. Was denkst du, was ich die letzte Woche draußen gemacht habe? Ich war ganz sicher nicht Blumen pflücken.“ „Nicht in diesem Ton, Abbygail“, sagt Mama und erwidert meinen Blick mit der gleichen Härte. „Dann behandle du mich nicht wie einen Schwerverbrecher“, sage ich und stehe auf. „Denkst du, wenn ich abhauen wollte, könnte ich das nicht? Ich bin nur hier, weil Papa und Tarik davon überzeugt sind, dass du dich irgendwann zu einem Kompromiss umstimmen lassen kannst, aber ich glaube nicht mehr daran. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich noch eine Woche mit dir in einem Haus aushalte.“ „Abby, bitte“, mischt Papa sich ein, „wir wollen das jetzt nicht eskalieren lassen.“ „Richtig“, sagt Mama. „Noch ein Wort, und du kannst deinen Pokémon für die nächste Woche Lebewohl sagen.“ Papa reißt den Kopf herum, Tarik öffnet den Mund, bringt aber kein Wort heraus und ich starre Mama einfach nur an. „Natalie, das geht nun wirklich zu weit!“, sagt Papa laut, aber Mama erhebt sich und wütende Tränen stehen in ihren Augen. „Wenn das der einzige Weg ist, wie ich meine Tochter erziehen kann, dann werde ich nicht davor zurückschrecken, ihre Pokémon erst zurückzugeben, wenn sie sich benehmen kann!“ Sie hätte es nicht so laut sagen sollen. Sie hätte es am besten niemals sagen sollen. Es ist eine Sache, mich vom Reisen abzuhalten. Es ist eine andere, mir damit zu drohen, meine Pokémon weg zu nehmen. Ich schaue zu Sku und Gott, die auf dem Küchenboden sitzen und sich langsam erheben, Fell gesträubt und bereit zum Kampf. Es ist nicht das erste Mal, dass man versucht hat, mir meine Freunde weg zu nehmen. Dass meine Mutter mir damit drohen würde, hätte ich aber nie gedacht. „Das war´s dann wohl“, sage ich mit aller Ruhe, die ich zustande bringe. „Gott, Sku, wir gehen.“ Die beiden laufen an meine Seite und als ich mich umdrehe und zur Treppe gehe, meine ich, Mamas erleichtertes Aufatmen zu hören. Denkt sie, sie hätte gewonnen? Vor dem Fuß der Treppe wende ich mich ihr wieder zu und das einzige Bedürfnis, dass ich in diesem Moment habe, ist, ihr mit meinen Worten weh zu tun. „In Azalea City wurde ich fast von Team Rockets umgebracht“, beginne ich und schaue mit Genugtun dabei zu, wie Mamas Augen sich weiten. „Auf dem Weg nach Viola City wurde ich lebendig in einer alten Ruine begraben. Auf dem Indigo Plateau hat ein Arbok mich schwer vergiftet. In Teak City wurde ich von Bikern entführt, in Oliviana City bin ich fast ertrunken, in Anemonia City wurde ich beinahe erschossen. Meine Pokémon wurden mehrfach von mir gestohlen. Denkst du wirklich, ich lasse dich dasselbe tun?“ Mit diesen Worten sprinte ich die Treppe hoch, Gott und Sku dicht an meinen Fersen und schlage die Tür hinter mir zu. Es dauert nicht lange, bevor ich polternde Schritte und Rufe auf der Treppe höre. Ich klemme meinen Schreibtischstuhl unter die Türklinke und stopfe all meine wichtigsten Habseligkeiten in meinen Rucksack, der wie immer zu großen Teilen gepackt ist. Die Inliner lasse ich liegen, schnüre nur schnell meinen Schlafsack an die Träger, dann rufe ich Gott und Sku zurück und öffne das Fenster. Mama und Papa trommeln an meine Zimmertür, aber ich ziehe bloß meine Jacke, meine Schuhe und meinen Rucksack an und klettere über das Fensterbrett. Mit den Beinen auf dem Dach hängend rufe ich Jayjay zurück und schaue mich ein letztes Mal zu der Tür um, die in diesem Moment aufgetreten wird. Der Stuhl poltert durch das Zimmer und ich erhasche einen letzten Blick auf Mamas fassungsloses Gesicht, als ich eine Hand hebe und winke, bevor ich Hunters Namen rufe und aus dem Fenster springe. Kapitel 83: Der Junge mit dem Zapdos (Die Spielhalle) ----------------------------------------------------- Hunter schießt gerade rechtzeitig in die Höhe, um mich vor einem schmerzhaften Aufprall zu bewahren und schlägt mehrfach kräftig mit den Schwingen, bevor er sein Gleichgewicht findet und in Richtung Prismania City davon fliegt. Der Wind tönt laut in meinen Ohren und als wir durch die Dunkelheit rasen, verspüre ich kurz das Bedürfnis, mich umzusehen. Ich ignoriere es. Wie erwartet dauert der Flug nicht lange. Nach etwa einer Stunde im eiskalten Wind, die Hunter über Weiden, kleine Seen und Wälder davon schießt, bin ich völlig steifgefroren und als sich die Lichter von Prismania City am schwarzen Horizont abzeichnen, kann ich mich vor Kälte kaum noch freuen. Ohne spezielle Anweisungen meinerseits landet Hunter vor dem Pokécenter, das ganz im Prismania Stil in einem Hochhaus angesiedelt ist und mir per Digitalanzeige vor dem Eingang versichert, dass noch einige der Zimmer frei sind. Eigentlich ist mir mein Geld zu schade, um es hier auszugeben, aber meine Zähne klappern und meine Fingerspitzen sind violett. Ich rufe Hunter zurück und trete ins Pokécenter. Die zuständige Schwester Joy hebt den Kopf und wartet geduldig, bis ich mit tauben Füßen vor ihr stehe und das billigste Zimmer buche, das es gibt, eine kleine Notabsteige im obersten Stockwerk. Mitsamt Schlüssel und Gutenachtwünschen nehme ich den Aufzug nach oben und steige im sechsten Geschoss aus. Wie von Joy angekündigt, ist mein Zimmer mehr eine Abstellkammer als ein ordentlicher Raum: Ein schmales Bett steht an die Wand gelehnt und ein genauso breiter Streifen Boden führt daneben zu einem Fenster, das über die weniger schönen Straßen der Stadt hinausblickt. Ein Bad gibt es nicht, nur den gemeinsamen Waschraum, aber davon lasse ich mich nicht beirren. Ich werfe meinen Rucksack in die Ecke und verschwinde, angezogen und durchgefroren, unter den Laken.   Nachdem ich Louis eine SMS über meine Ankunft in der Stadt gesendet habe, packe ich meine Sachen und mache mich auf den Weg nach unten zu einem kleinen Frühstück. Als ich die letzten Treppenstufen hinunter steige, finde ich mich in einer düsteren Atmosphäre wider. Verwirrt schaue ich mich um, nur um beide Seiten des Speisesaals von unterschiedlichen Parteien besetzt zu sehen. Links hat sich eine Gruppe Trainer versammelt, die ich an ihren herunter gekommenen Rucksäcken, den uneinheitlichen Kleidern und der ein oder anderen Narbe erkenne. Rechts sind einige der KPA-Studenten auf die Tische verteilt, einheitlich in ihrem dunkelblauen und weißen Dresscode und mit hochherrschaftlicher Miene. Vorsichtig gehe ich zu Schwester Joy, die das Verhalten ihrer Kunden mit gerunzelter Stirn begutachtet und bestelle mir bei ihr einen Haferbrei. Während ich auf das Essen warte, schaue ich mich immer wieder zu den feindseligen Gruppen um. "Furchtbar", sagt Joy, als hätte sie meine Gedanken gelesen und schüttelt den Kopf. "Man sollte meinen, dass Pokémon die Jugend zusammenschweißen, aber selbst die Umstände eines Trainers scheinen jetzt schon zu Streitereien zu führen." "War das schon immer so?", frage ich überrascht. Ich bin oft in der KPA gewesen, um dort zusammen mit Tarik Agnes´ Vorlesungen zu lauschen, aber unsere kurzen Besuche im Pokécenter waren immer friedlich. "Nein, erst seit ein paar Tagen", erklärt Joy und widmet sich dann einem der Trainer, der seine Pokémon bei ihr abgibt, um sie zu heilen. Kaum ist er weg, drückt sie mir den Haferbrei in die Hand und spricht weiter. "Einer der KPA-Studenten hat etwas zu laut geprahlt, dass Trainer, die aus der KPA sind, viel besserer Chancen auf den Championtitel haben. Dann haben die Trainer sich verteidigt und nun sind sie wie zwei verfeindete Lager. Es ist eine unangenehme Atmosphäre, wirklich." Ich bedanke mich für das Essen und setzte mich dann auf die linke Seite, auch wenn ich mit dem ganzen Konflikt nichts zu tun haben will und schließlich auch kein richtiger Protrainer bin. Mein dicker Rucksack und meine Klamotten weisen mich jedoch automatisch als Reisende aus und ich werde freundlich genug aufgenommen. Trotzdem mache ich mich, sobald ich mit Essen fertig bin, auf den Weg in die Innenstadt. Ich brauche etwa zehn Minuten, bevor ich die lange Straße erreiche, in der die KPA steht und den zentralen Park vor dem Kaufhaus erreiche. Ein Springbrunnen ist in der Mitte errichtet worden und die Statue eines Trainers, der von den drei Kantostartern Glumanda, Bisasam und Schiggy umgeben ist, ragt aus dem Wasser in die Höhe. Kahle Bäume und Bänke füllen den Platz aus Pflasterstein und obwohl es kalt ist, ist der Park gut besucht. Ich reibe meine Hände zusammen, die übergangsweise in meinen fingerlosen Handschuhen stecken und trete durch die hohen Türen ins Innere. Keine halbe Stunde später bin ich mit gefütterten Handschuhen und einer Ohrenklappmütze ausgestattet, sowie einer Art großen Schwimmbrille, die wegen der Jahreszeit doppelt reduziert war. So für etwaige Winterflüge auf Hunters Rücken gerüstet und mit wie gewohnt leerem Geldbeutel, mache ich mich auf den Weg zur Spielhalle. Die Prismania Spielhalle hat ein gemischtes Ansehen in der Stadt. Im unteren Viertel von Prismania angesiedelt, ist sie Teil der etwas heruntergekommeneren Geschäfte, auch wenn das Gebäude selbst noch gut in Schuss ist. Aber ihre Vergangenheit hat die Spielhalle nie losgelassen und als ehemalige Einkommensquelle sowie Hauptquartier von Team Rocket ist sie auch heute noch ein zwielichtiger Ort, den zu besuchen bei vielen der Bevölkerung verpönt ist. Als ich eintrete, erwarte ich nicht wirklich, jemanden vorzufinden, schließlich ist es gerade erst zehn Uhr morgens, aber die Tresen sind besetzt und einige übernächtigt wirkende Männer und Frauen in herunter gekommenen Kleidern sitzen vor den Spielautomaten und werfen ein Geldstück nach dem anderen ein. Das Licht ist gedimmt, aber nicht so dunkel, dass ich nichts erkennen könnte und so mache ich mich auf den Weg zu den Münzverkäufern. "Entschuldigung", sage ich und lehne mich auf den Tresen. "Ich suche jemanden." "Deinen Vater?", fragt der Verkäufer gelangweilt und macht eine ausladende Handbewegung in Richtung der versammelten Spieler. "Such dir einen aus." Irritiert nehme ich etwas Abstand. "Nein. Zwei Jugendliche. Jayden und Chris und…" Ich stocke, unsicher, ob der Mann überhaupt weiß, dass Dark hier ist und unter welchem Namen er sich der Öffentlichkeit zeigt. Der Verkäufer schaut mich einen Moment lang abschätzend an, dann nickt er und verschwindet in einem der hinteren Räume. Als er wieder kommt, beugt er sich zu mir. "Komm mit." Ich folge etwas zögerlich, lasse mich aber in einen Flur führen, der vom Rest der Spielhalle abgetrennt ist und allem Anschein nach zu den Toiletten führt. Am Ende des Ganges hängt ein Poster an der Wand. "Man erwartet dich bereits", sagt er, greift unauffällig unter das Plakat und betätigt dort irgendeine Art Schalter. Als er sicher ist, dass niemand im Flur ist, drückt er gegen die Wand. Langsam aber sicher öffnet sich ein schmaler Spalt, als die Mauer beinahe lautlos nach hinten gedrückt wird und ich werde unsanft hinein geschoben, bevor selbst das schwache Licht aus dem Flur verschwindet und ich in absoluter Dunkelheit zurückgelassen werde. "Hallo?", flüstere ich und unterdrücke die Panik, die sich in mir breit macht. Es ist nicht so sehr die Dunkelheit, die mir Angst macht, wie die leisen Geräusche, die immer wieder in unregelmäßiger Lautstärke an meine Ohren dringen und mich an heulenden Wind erinnern. Ich fühle mich in den Wald in Azalea City zurück versetzt und setze zaghaft einen Fuß vor den anderen. Dann fällt mir ein, dass ich Pokémon besitze und ich rufe Gott, mit dessen Erscheinen der schmale Gang vor mir hell erleuchtet wird. Ich atme auf. Auch wenn die Geräusche immer noch da sind, zusammen mit Gott ist der Weg nur noch halb so gruselig. Am Ende des Flurs erkenne ich nun eine Treppe, die in die Keller unter der Spielhalle führt. Ich steige die Stufen hinunter und finde mich in einem offenen Raum wider, der zu vielen Konferenzräumen mit kompliziert aussehenden Gerätschaften und alten Computergeräten führt. Eine weitere Treppe führt tiefer hinunter und mir wird mit einem Mal klar, dass dies das ehemalige Hauptquartier von Team Rocket gewesen sein muss, bevor Red sie auf die Eilande verdrängt hat. Ich stelle mir die Keller zu Reds Zeit vor, voll mit geschäftigen Rockets, die ihren neuen Coup planen. Rockets, die Wache stehen, bereit, jeden Eindringling zur Strecke zu bringen, Wissenschaftler, Techniker, die für Geld den Untergang einer ganzen Region verantworten würden. Und Red. Allein. Wissend, dass jeder hier seinen Tod will und der sich allen Gefahren zum Trotz der Organisation in den Weg stellt. Sich tiefer und tiefer vorkämpft, bis er schließlich den Boss Giovanni selbst herausfordert, einen Trainer auf dem Level eines Champions. Es ist aufregend, mir vorzustellen, wie er über denselben Boden, durch dieselben Flure gegangen ist und ich gehe in Richtung der zweiten Treppe, die tiefer ins Innere der Rocket-Höhle führt. "Dort solltest du nicht runter gehen", sagt plötzlich eine Stimme und ich reiße erschrocken den Kopf herum. Gotts Feuer hat das sich nähernde Licht verschleiert, aber trotzdem hatte ich auf sein Knurren vertraut, sollte sich jemand nähern. Ein Blick nach unten zeigt, dass er sich hinter meinen Beinen auf den Boden presst und am ganzen Leib zittert. "Den Effekt hat Hundemon oft", sagt die Stimme. "Tut mir leid." Dann tritt ihr Besitzer hinter einer Wand aus den Schatten hervor. Der Junge ist kleiner als ich, aber alles an ihm strahlt Selbstvertrauen aus. Sein aufrechter Gang, die stechenden Augen, die Hände, die er lässig in seine Hosentaschen gesteckt hat und das Hundemon, dessen Muskelstränge unter dem schwarzen Fell deutlich sichtbar sind. Glutfunken stieben bei jedem seiner Schritte in die Höhe und sein Rachen glüht wie ein zweites Höllenfeuer. Wenn ich irgendeinen Zweifel an seiner Stärke gehabt hätte, wäre Gotts Reaktion Beweis genug. "Die Fallen in den unteren Geschossen sind noch aktiv", fährt der Junge fort, bei dem es sich ohne Zweifel um Dark handelt. Dark, dessen Stärke selbst von Trainern wie Jayden anerkannt wird. Sein schwarzes Haar fällt in zottigen Strähnen in seine Stirn und über seine Ohren. Sein schlanker Oberkörper wird von einem einfachen, schwarzen Rollkragenpullover bedeckt und die genauso schwarze Hose, die lose um seine Beine fällt, spricht von seiner Zeit bei Team Rocket. "Und das heißt?", frage ich, immer noch unter Schock. All die Gerüchte, und nun steht er direkt vor mir. "Das heißt, dass du den Aufzug nehmen solltest, wenn du dort unten nicht explodieren möchtest", sagt Dark und wippt ein wenig auf seinen Fersen vor und zurück. "Komm mit. Jayden und Chris warten schon." Unsicher, ob die Sache mit dem Explodieren als Witz oder ernst gemeint war, schließe ich zu Dark auf. Sein Hundemon flößt mir enormen Respekt ein und als Gott bleibt, wo er ist und allem Anschein nach keinen Schritt näher kommen möchte, rufe ich ihn zurück. Hundemon und Dark führen mich durch einige verwahrloste Räume zu einem rot lackierten Metallaufzug, den Dark mit einem Passwort öffnet und dann hinein tritt. Ich folge und zu dritt fahren wir ins vierte Untergeschoss. Schummrige Lampen füllen den Raum mit bleichem Licht und ehemals blaue Tapeten fläddern von dem nackten Beton ab oder hängen in abgerissenen Bahnen zu Boden. Schlieren auf dem Fliesenboden lassen vermuten, dass jemand versucht hat, hier zu wischen, aber an den dicken Schichten aus Staub und klebrigem Schmier gescheitert ist. Dark führt mich ungerührt nach rechts und steuert auf einen hell erleuchteten Raum zu, in dessen Inneren ich einige orangerote Sofas, Schreibtische und andere Möbel erkennen kann. Stimmen dringen durch die offen stehende Tür zu uns und verstummen, als Hundemons Krallen uns durch ihr lautes Klackern auf den beigebraunen Fliesen verraten. Wir treten nacheinander ein und mein Blick fällt auf Chris und Jayden, die uns bereits erwarten. Chris sitzt in nichts als Shorts und langärmligen schwarzen T-Shirt auf dem linken Sofa und krault ihrem Pikachu den Kopf, das auf ihrem Schoß sitzt und die Augen genüsslich geschlossen hat. Auf dem Tisch vor ihr steht eine ausgetrunkene Tasse und neben ihr auf dem Sofa kann ich eine Zeitungsausgabe entdecken. Jayden sitzt auf einem der Tische, die jemand an den Rand des Raums geschoben hat und grinst mich schief an. Neben ihm stehen eine Kaffeemaschine, sowie einige angebrochene und verschlossene Milchkartons. "Da ist ja unser Ehrenmitglied", sagt er und springt schwungvoll vom Tisch. "Willkommen in Team Shadows Hauptquartier." "Danke für die Einladung", sage ich und schaue mich in dem Raum um. Dark geht an mir vorbei und lässt sich auf dem anderen Sofa nieder, wo Hundemon sich zu seinen Füßen hinlegt und den Kopf auf seine Pfoten bettet. Die geschwungenen Hörner, die seine Ohren verdecken und gestreckt mindestens die Länge meines Unterarms hätten, glänzen matt im Licht der Deckenlampe. "Hallo Abby", begrüßt Chris mich. "Setz dich." Ich lasse mich neben ihr auf das Sofa sinken und beobachte Jayden dabei, wie er zu einem der Schränke geht, mit einer Tasse zurück kommt und mir dann Kaffee einfüllt. Ich nehme die heiße Flüssigkeit dankend an, verbrenne mir fast die Zunge und entspanne mich allmählich. Dark beobachtet mich aufmerksam. "Du bist also Abby", sagt er schließlich und lehnt sich nach hinten. "Ich war gespannt, was für eine Art Person du sein würdest. Bist du Trainerin?" "Mehr aus Notwendigkeit", sage ich und stelle meine Tasse auf den Tisch. Jaydens und Chris´ Blicke ruhen auf mir und ich fühle mich zugleich akzeptiert und herausgefordert. "Ich hatte viel mit Team Rocket zu tun. Wenn ich nicht trainiert hätte, wäre ich jetzt vielleicht tot." Ich beobachte ihn genau, während ich Team Rocket erwähne, aber Dark verzieht keine Miene bei ihrer Erwähnung. Ob Jayden und Chris wissen, mit wem sie es zu tun haben? Vermutlich nicht. "Dein Igelavar ist sehr sensibel", sagt Dark, ohne auf meine Antwort einzugehen. "Reagiert er häufig so stark auf andere?" "Er ist sehr aggressiv", gebe ich zu. "Und er scheint die Absichten von Menschen spüren zu können." "Er hat sehr heftig auf Hundemon reagiert, deswegen habe ich so etwas vermutet", erklärt Dark und schweigt dann wieder. Die Stille droht, unangenehm zu werden, aber Chris, deren Gefühl für Situationen gleich null ist, steht auf, um sich neue Milch einzuschenken. Ihr Pikachu klettert auf ihre Schulter und scheint Spaß daran zu haben, ihr langes Haar zu elektrisieren, denn innerhalb weniger Sekunden steht es in alle Richtungen ab. Jayden lacht schallend und gibt dem gelben Mauspokémon eine High-Five, dann klettert er über die Sofalehne und plumpst neben Dark in die Polster. "Ich dachte, du kommst früher", erklärt er. "Ich habe mir die letzte Woche jeden Tag in diesem Pissloch von Spielhalle um die Ohren geschlagen, um dich abzuholen. Der Typ an der Theke ist ein echtes Ekel, aber du kamst nicht, also hab ich´s gelassen." "Wie habt ihr überhaupt den Zugang gefunden?", frage ich, während Chris ihre Haare entmagnetisiert und sich neben mir auf die Couch setzt. "Ich dachte, die alten Rocketquartiere wären zugeschüttet." "Ich wusste, dass es einen Schalter gibt", sagt Dark, als wäre es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt. "Wir mussten eine Weile suchen und die Angestellten bestechen, damit sie Besucher zu uns durchlassen. Jetzt ist es unsere Basis." "Wir bezahlen quasi Miete plus Geheimhaltungsgeld", sagt Jayden, als er meine hochgezogenen Augenbrauen bei dem Wort bestechen bemerkt. "Und dieser Laden muss wirklich mal aufgemotzt werden. Wenn wir neue Mitglieder bekommen, brauchen wir mehr Platz." "Ein Großteil der Räume im ersten und vierten Untergeschoss ist nur über Treppen erreichbar", sagt Dark. "Dafür müssten wir die beiden Stockwerke dazwischen sichern." "Das hat noch Zeit", sagt Chris. "Die einzigen anderen Trainer, die wir erreicht haben, sind Ronya und dieser Gerard, den Abby erwähnt hat. Bis Ronya Entei hat, kann es noch Wochen dauern, vorher wird sie nirgends hingehen. Und Gerard glaubt deiner Geschichte nicht, Dark." "Er muss meiner Geschichte nicht glauben, um sich uns anzuschließen", erwidert der und Hundemon grollt zustimmend. "Was ist mit Ryan?" "Er hat noch nicht geantwortet", meint Jayden und wirft sich ein Bonbon in den Mund, auf dem er knirschend kaut. "Ich weiß ohnehin nicht, ob er Bock auf sowas Organisiertes hat." "Wer ist Ryan?", frage ich. "Ryan Bittner", erklärt Jayden. "Technikfreak und passabler Trainer. Ich habe ihn in Hoenn kennen gelernt." "Wie findet ihr immer diese anderen Trainer?", frage ich, halb schockiert, halb begeistert. Jayden grinst wölfisch. "Wenn man dieselben Ziele verfolgt, läuft man sich zwangsweise irgendwann über den Weg. Und jeder von uns kennt wenigstens einen anderen Trainer, der so denkt, wie wir." "Es ist eine Art Netzwerk", fährt Chris fort. "Jayden kennt mich und Ryan. Ich kenne Ronya und dich. Du kennst Gerard. Gerard, Ryan und Ronya werden ebenfalls jemanden kennen." "Nicht alle werden sich uns anschließen wollen", sagt Dark. "Aber eine kleine elitäre Gruppe ist ohnehin besser zu organisieren. Viele große Organisationen verlassen sich auf ihre Quantität statt auf die Qualität der einzelnen Mitglieder." "So wie Team Rocket?", hake ich nach. "Ein gutes Beispiel", sagt er und fügt dann langsamer hinzu, "Es wundert mich, dass du so gut über diese Verbrecher Bescheid weißt." "Es wundert mich, dass du so gut über den Aufbau ihres verschüttet geglaubten Hauptquartiers Bescheid weißt", erwidere ich genauso unschuldig. Hundemon knurrt leise und ich meine, Darks Augenlider kurz zucken zu sehen, aber im nächsten Moment hätte ich es mir genauso gut eingebildet haben können. "Aber davon einmal abgesehen", fahre ich fort, "Was genau tut ihr überhaupt?" "Trainieren, hauptsächlich", erklärt Chris. "Es ist schwer, auf unserem Level Trainingspartner in der Wildnis zu finden, deshalb ist es gut, auf eine Gruppe zurückgreifen zu können." "Strategieaustausch ist auch ziemlich geil", fügt Jayden hinzu. "Und generell mit Leuten abzuhängen, die so denken, wie du. Wenn ich Chris nicht gehabt hätte, wäre ich wahnsinnig geworden." "Was ist mit dir, Dark?", frage ich. "Hattest du jemanden, mit dem du dich unterhalten konntest?" Hundemon hebt den Kopf und fletscht die Zähne. Allmählich frage ich mich, ob das Pokémon alle Emotionen seines Trainers abbildet oder ob Dark einfach ein verdammt gutes Pokerface hat. "Chris, ich weiß, dass du und Jayden seit letzter Woche euer Training vernachlässigt habt, um auf Abby zu warten", sagt er dann. "Warum geht ihr nicht trainieren und ich erkläre Abby, was unsere Pläne für die Zukunft sind." Jayden schaut flüchtig zwischen uns hin und her, zuckt dann mit den Schultern und zieht Chris auf die Füße. "Bis später dann. Ich bringe Essen mit." Die beiden verlassen uns und Dark entspannt sich erst wieder, als das Piepen des Aufzugs verklungen ist. Dann wendet er sich mir zu, breitet die Arme auf der Sofalehne aus und beobachtet mich sehr genau. Ich schrumpfe unter seinem intensiven Blick. "Wie viel weißt du?", fragt er dann und mir ist klar, dass meine subtilen Fragen ihren Job erledigt haben. Es kann beginnen. "Ich weiß, dass du ein Mitglied in Team Rocket warst", sage ich dann vorsichtig, nicht sicher, ob Hundemon mir an die Kehle springen wird oder nicht. Mein Instinkt will, dass ich Gott oder Sku rufe, aber keiner der beiden hätte auch nur den Hauch einer Chance. "Du bist der Sohn ihres Anführers, Atlas. Man hat dir nicht vertraut, weil du nicht reingepasst hast und undankbar warst. Du hast Atlas herausgefordert, gewonnen, die Organisation in Chaos zurückgelassen und Zapdos gefangen. Und jetzt gründest du dein eigenes Team, das aus den stärksten ordenlosen Trainern der Regionen besteht." Zum ersten Mal sehe ich so etwas wie echte Emotionen auf Darks Gesicht. Er hebt verblüfft die Augenbrauen, dann lacht er. "Du bist gut informiert", presst er schließlich hervor. "Wer hat mich verraten?" "Viele", erwidere ich grinsend, ermutigt durch seine Reaktion. "Nicht unbedingt in dem Wissen, dass sie einen Zuhörer haben." Dark nickt nachdenklich, die Reste seines Lachausbruchs noch an den leicht erhobenen Mundwinkeln zu erkennen. "Ich hatte mich gewundert, warum Jayden und Chris ein Mädchen ohne spezielle Stärken oder Merkmale als Team-Maskottchen vorgeschlagen haben", sagt er dann. "Aber du scheinst deine Ohren überall zu haben. Keine schlechte Fähigkeit." "Danke", erwidere ich selbstgefällig. "Aber du bist sehr naiv", fährt er fort. "Ich habe Pläne, mit Team Shadow an die Öffentlichkeit zu gehen. Es wäre katastrophal, sollte meine wahre Identität bekannt werden. Nichts hält mich davon ab, dich zu töten." Ich schaue ihm fest in die Augen, suche nach der Lüge darin. Ich sehe keine. Er meint es ernst. Mein Blick sinkt zu Hundemon, das die Lefzen hebt und die Reihen seiner messerscharfen Fänge entblößt. Die Glut in seinem Rachen lodert orangerot auf. "Das würdest du nicht", sage ich, aber selbst in meinen Ohren klingt meine Stimme schwach. Dark verzieht keine Miene. "Ich war ein Rocket. Ich bin unter Rockets aufgewachsen. Ich habe die Organisation nicht aus idealistischen oder moralischen Grundsätzen verlassen, oder weil mir ihre Methoden nicht gefallen. Ich habe sie verlassen, weil sie sich für stärker halten, als sie sind. Weil sie schwach sind. Und ich werde nicht Teil einer schwachen Gruppierung sein." Eine Gänsehaut bildet sich auf meinem ganzen Körper. Ich sehe den Jungen vor mir plötzlich mit anderen Augen. Ich sehe ihn, wie Gott ihn von Anfang an gesehen hat. Alles an ihm schreit Gefahr. Sein Pokémon. Seine ruhige, bedachte Art zu reden. Die stechenden Augen. Die schlanke Stärke seines Körpers. In all dieser Zeit war ich immer sicher, dass er nur missverstanden wird. Aber kann jemand seine gesamte Erziehung über Bord werfen, seinen Charakter völlig umkrempeln? Dark mag die Seiten gewechselt haben, aber er ist noch genauso gefährlich wie zuvor. "Keine Sorge", sagt Dark schließlich und seine Stimme durchbricht die Barriere aus Angst zwischen uns wie eine Faust, die einen Spiegel zerschlägt. "Ich werde dich nicht töten. Wenn du mein Geheimnis für dich behalten kannst, habe ich keinen Grund dazu." "Ich habe es seit Monaten geheim gehalten", flüstere ich atemlos. Ich denke flüchtig an Raphael und Louis, die ich beide eingeweiht habe, verdränge den Gedanken aber sofort. "Ich werde dich nicht verraten." "Gut." Er lächelt leicht und Hundemon senkt den Kopf wieder auf seine Pfoten. Ist es noch dasselbe Pokémon wie vorhin? Die beiden kommen mir mit einem Mal wieder ungefährlich vor, aber das Echo meiner Angst pocht weiterhin kraftvoll durch meinen Körper und ganz entspannen kann ich mich nicht. Kapitel 84: Fragen über Fragen (Spiel mit dem Feuer?) ----------------------------------------------------- "Wo werden Jayden und Chris trainieren?", frage ich nach einer Weile, in der ich mir und Dark eine weitere Tasse Kaffee gemacht habe. Es ist nicht unbedingt mein Lieblingsgetränk, aber hier unten ist wählerisch sein keine Option. "Auf dem Silberberg, unter normalen Umständen", sagt Dark. "Aber das sind einige Stunden Flug und sie wollen bis heute Abend zurück sein. Vermutlich suchen sie sich einen abgelegenen Ort und kämpfen gegeneinander." "Du hast mir noch nicht gesagt, was du mit Team Shadow erreichen möchtest", sage ich, als ich wieder gegenüber von ihm Platz genommen habe. "Oder warum genau du Team Rocket verlassen hast." "Bist du sicher, dass du mehr darüber erfahren möchtest?", fragt er mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen. "Du gibst mir mehr Gründe, dich zu eliminieren." "Wenn du das jetzt schon in Erwägung ziehst, werden ein paar mehr Informationen auch keinen Unterschied machen", erwidere ich und zwinge mich, nichts von meiner Angst durchscheinen zu lassen. Hundemon hechelt amüsiert. "Ich bin in Team Rocket geboren und aufgewachsen", beginnt Dark nach einer kurzen Pause. "Als einziger Sohn von Atlas wurde ich für viele Jahre im Hauptquartier fest gehalten. Ich durfte mir meinen Starter frei auswählen, gestohlene Pokémon gab es genug und da ich nichts anderes zu tun hatte, habe ich trainiert." "Hundemon ist ein gestohlenes Pokémon?", frage ich überrascht. "Ich dachte, er würde seinen alten Trainer vermissen." "Er wurde als Welpe gestohlen", sagt Dark und krault seinem Pokémon flüchtig den Kopf. "Er erinnert sich kaum noch an die Zeit, bevor er zu mir kam. Ich habe all meine Pokémon sehr jung in mein Team aufgenommen." "Also sind all deine Pokémon gestohlen?", frage ich geschockt. "Alle außer Zapdos?" "Was hast du erwartet?" Dark nimmt einen Schluck Kaffee. "Ich habe das Hauptquartier erst mit dreizehn eigenständig verlassen dürfen. Jeder wusste zu dem Zeitpunkt, dass ich stark genug war, um den Polizisten zu entkommen, sollte man mich entdecken. Ab meinem fünfzehnten Geburtstag wurde ich dann zu regulären Einsätzen mitgenommen. Ich bin nie in Rängen eingeteilt worden, deswegen haben die meisten allmählich verdrängt, wie stark ich bin. Man hat mir nicht vertraut, weil ich meist alleine war und Fragen gestellt habe." "Und dann?", frage ich leise. "Mir ist klar geworden, was für ein Haufen selbstgefälliger Schwächlinge in unserer Organisation vertreten sind", fährt Dark etwas energischer fort. "Ich habe meinem Vater gesagt, dass er die Zahl unserer Mitglieder reduzieren muss, damit wir nicht so viele Schwächen aufweisen. Die Polizei hat leichtes Spiel mit den niederen Rängen und auch wenn sie nicht viel wissen, wissen sie genug, um uns zu schaden. Er hat mich öffentlich herausgefordert. Bis dahin dachte ich immer, dass er stärker sein müsste als ich, weil er der Anführer ist. Ich habe mich getäuscht." Dark bleckt wütend die Zähne und es ist das zweite Mal, dass seine Emotionen glasklar auf seinem Gesicht erkennbar sind. Ich frage mich, ob nicht doch ein Teil seiner Mimik und Persönlichkeit mit seinem Pokémon in Verbindung steht. "Ich wollte nicht mehr dort bleiben. Team Rocket ist ein Haufen Schwächlinge, die sich für stärker halten, als sie eigentlich sind. Die wenigsten würden alleine etwas ausrichten können, aber gemeinsam fühlen sie sich stark. Sie sind nichts als eine Gruppe minderwertiger Tyrannen, die sich über die Schwachen hermachen, um sich besser zu fühlen. Und nicht nur sie. Es ist mir erst aufgefallen, als ich Team Rocket verließ, aber so viele Trainer schikanieren die Schwachen, weil das für sie die einzige Möglichkeit ist, sich stark zu fühlen. Sie verlassen sich auf Gruppen, auf Orden und andere externe Mittel zur Anerkennung, aber sie sind schwach. Ich hasse Schwäche." Hundemon knurrt zustimmend und spuckt einige Glutfunken auf die Fliesen. Ich sitze sehr aufrecht und bemühe mich, keine Miene zu verziehen. Schließlich gebe ich mir einen Ruck. "Ich denke, wir sollten Klartext miteinander reden", sage ich und setze meine Tasse auf dem Tisch ab. "Bist du noch ein Rocket-Sympathisant oder nicht?" "Ich will nichts mit ihnen zu tun haben", sagt Dark und seine ruhige Fassade ist wieder intakt. "Und ich weiß, was du als nächstes fragen wirst. Die Antwort ist nein." "Du wirst mir also keine Insider-Informationen geben?", frage ich vorsichtshalber. "Ich bin weder über die Pläne meines Vaters informiert, noch kann ich dir sagen, wer all unsere Mitglieder sind." "Was ist mit dem Eingang zu eurem HQ?", hake ich nach. "Wie ist er bewacht?" "Durch diverse Fallen", erwidert Dark. "Und durch Wachen und zwei Passwörter." "Passwörter, die du sicher kennst", sage ich breit grinsend, aber meine Miene fällt sofort, als Dark den Kopf schüttelt. "Die Passwörter ändern sich regelmäßig. Seit ich die Organisation verlassen habe, sind es schon mehrere Wochen. Ich habe keinen Zugang mehr zu den Passwortverteilern." "Verdammt!", fluche ich und stehe auf. "Was ist mit anderen Informationen? Du musst irgendetwas wissen, was hilfreich sein kann!" "Was lässt dich glauben, ich würde dir Team Rocket auf dem Silbertablett servieren wollen?", fragt Dark. "Ich habe sie verlassen, aber es ist immer noch mein Vater, der sie leitet. Ich habe kein unstillbares Bedürfnis, ihn hinter Gittern zu sehen." "Aber du würdest es auch nicht bedauern, oder?" Dark kneift die Augen zusammen. "Was möchtest du von mir, Abbygail?" Ich setze mich wieder und beuge mich vor. "Ich möchte, dass du Team Shadow leitest und tust, was du ohnehin tust. Aber Team Rocket ist, wie du sagst, ein Tyrann. Ein Tyrann, der schon viel Elend über uns alle gebracht hat. Und wenn ich eine Möglichkeit finde, deinen Vater davon abzuhalten, seine Ziele zu verfolgen, dann werde ich alles tun, um diese Möglichkeit zu ergreifen." "Und ich bin diese Möglichkeit?", fragt Dark. Hundemon schnaubt amüsiert. "Richtig." Wir beobachten uns einige Sekunden lang, dann seufzt Dark und lässt sich nach hinten in die Polster fallen. "In Ordnung. Frag mich etwas. Wenn ich antworten kann, werde ich das tun." Breit grinsend nehme ich einen weiteren Schluck Kaffee, der inzwischen lauwarm ist und lehne mich dann ebenfalls zurück. Ich denke über all die Dinge nach, die mir bisher unlogisch erschienen sind oder über die ich gerne Bescheid wissen würde. Als ich meine Gedanken sortiert habe, lege ich los. "Welchen Rang belegt Craig?", frage ich. "Ziemlich groß. Er hat ein Panferno." Dark lacht leise. "Der Name reicht mir. Craig ist einer der vier Vorstände. Er hat den Posten meines Vaters übernommen, nachdem der Giovanni ersetzt hat." "Welche Ränge belegen Mel und Teal?" "Ah, Mel." Dark denkt einen Moment nach. "Sie war Rang 3, bis vor kurzem. Aber seit einem gewissen Vorfall auf dem Indigo Plateau hat sie sich hochgearbeitet und ist jetzt wie Teal ein Rang 2." "Ja", stimme ich unschuldig zu. "Ein gewisser Vorfall." "Da du Craig kennst… warst du zufällig in Teak City dabei?" Ich grinse selbstgefällig. "Schon möglich. Auch wenn Chris die ganze Arbeit gemacht hat." "Ah." Dark nickt. "Das erklärt einiges. Hast du sonst noch Fragen?" Ich denke kurz nach. "Was ist Team Rockets Ziel?", frage ich schließlich. "Ich habe das Gefühl, dass sie sich überall eingeschlichen haben, aber ich komme nicht dahinter, wie alles zusammen hängt! Du warst bei den Lochbohrungen dabei, oder nicht? Du musst irgendetwas wissen." "Tut mir leid." Dark trinkt seinen Kaffee aus und steht dann auf, um die Tasse neben die Kaffeemaschine zu stellen. "Ich war bei den Missionen dabei, aber ich wurde nie eingeweiht, was damit beabsichtigt wird. Ich weiß, dass wir überall unsere Agenten haben, aber ich kann dir nicht sagen, wo genau. Wir haben viele Pokémonlieferanten, unter anderem die Biker, aber das weißt du natürlich." Er dreht sich um und wippt wieder auf seinen Hacken. Er pfeift leise und Hundemon erhebt sich. "Komm mit", sagt er dann und macht sich auf den Weg zur Tür. "Ich habe ebenfalls Fragen, aber die müssen wir nicht in dieser bedrückenden Atmosphäre klären." Ich erhebe mich. Gemeinsam nehmen wir den Aufzug und verlassen einige Minuten später die Spielhalle. Inzwischen ist es Mittag und die Sonne scheint matt zwischen weißgrauen Wolkenschleiern auf uns herab. Es ist eisig und ich ziehe meine frisch erworbenen Handschuhe und die Ohrenklappmütze an, die Dark kommentarlos mustert. Ich folge ihm die herunter gekommenen Straßen entlang weiter südlich, bis wir zu einem Maschendrahtzaun kommen, hinter dem sich ein breiter Wiesenstreifen mit vereinzelten Bäumen zu einem Laubwald verdichtet, dessen Äste wie knotige braune Finger in den Himmel ragen. Wir folgen dem Zaun eine Weile, bis wir ein Loch erreichen, das jemand in den Zaun gebrochen hat. Hundemon läuft mühelos hindurch und ich folge Dark, der sich hinter seinem Pokémon hindurch duckt, bis wir alle drei auf der anderen Seite stehen. "Hier sind wir ungestört", sagt Dark und atmet tief durch. "Ich bin ungerne in Gebäuden", erklärt er dann. "Ich habe in meinem Leben genug von Betonwänden und Untergeschossen gesehen." Gemeinsam schlendern wir den Drahtzaun entlang. "Du hast erstaunlich viel über Team Rocket in Erfahrung gebracht, wenn man bedenkt, dass du kein Polizist bist und kein herausragender Trainer", stellt Dark schließlich fest. "Das ist, wie ich bereits sagte, eine interessante Fähigkeit. Mich interessiert aber vor allem, warum du so versessen darauf bist, dich in die Angelegenheiten der Polizei einzumischen." "Weil ich helfen kann", sage ich automatisch. "Solange ich Möglichkeiten habe, die kein Polizist hat, werde ich sie unterstützen." "Und warum?" "Weil Team Rocket Pokémon stiehlt", erwidere ich. "Weil sie Menschen verletzen. Weil sie Verbrecher sind." "All das trifft auf mich zu", meint Dark, ohne mich anzusehen. "Und wie du siehst, enden nicht alle gestohlenen Pokémon in grausamen Umständen." Ich schaue Hundemon zu, das mit etwas Vorsprung über die Wiese prescht und einigen wilden Rattfratz hinterher jagt. In der Stadt ist es nicht von Darks Seite gewichen, aber hier draußen in der Natur wirkt es wie ein ganz normales, verspieltes Pokémon. Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken. "Macht es dir etwas aus, wenn ich meine Pokémon rufe?", frage ich. Dark hebt eine Augenbraue. "Warum sollte es mir etwas ausmachen?" Ich berühre die betreffenden Pokébälle und im nächsten Moment materialisieren sich Jayjay und Hunter vor uns, die bei dem weiten Anblick, der sich ihnen bietet, freudig wiehern und kreischen und davon schießen. Hundemon dreht überrascht den Kopf, tollt aber schon bald mit ihnen über die Wiese. "Lass dich nicht täuschen", sagt Dark nach einer Weile, in der wir die drei Pokémon still beobachten. "Er ist abgerichtet, auf ein Wort von mir zu töten. Wenn ich wollte, könnte ich dich und deine Pokémon genau hier umbringen und niemand würde es bemerken." Der Stahl ist zurück in seiner Stimme und ich bemühe mich, meine Atmung ruhig zu halten. "Wenn das dein Plan wäre, würdest du mir nicht davon erzählen, sondern es einfach machen", sage ich. "Falls du wirklich so ein emotionsloser Killer bist, wie du mir weismachen willst, versteht sich." "Vielleicht frustriert mich deine Naivität", erwidert Dark, macht aber keine Anstalten, meine Vermutung zu widerlegen. "Es wundert mich nicht, dass du überall in Schwierigkeiten gerätst. Du scheinst Spaß daran zu haben, dich in unmittelbare Gefahr zu begeben und alle Warnungen in den Wind zu schlagen." "Ich habe ein Ziel für das es wert ist, Risiken einzugehen", widerspreche ich. "Das ist ein Unterschied." Wir betrachten schweigend unsere Pokémon, bis Hunter davon fliegt, um sich Essen zu besorgen, Jayjay müde grast und Hundemon hechelnd und ausgelastet auf dem Bauch liegt und zu Dark schaut. "Ich glaube, wir können einander helfen", sage ich. "Wie das?" "Ich bin das Team Shadow Maskottchen", sage ich mit einem leicht amüsierten Unterton. "Du wirst mich also ohnehin nicht los. Du hast eine Gruppe sehr starker Trainer und Informationen über Team Rocket. Und ich habe Verbindungen zu den Medien und der Polizei." Dark hebt eine Augenbraue. "Und das heißt?" "Das heißt", sage ich grinsend, "dass du mir die Unterstützung Team Shadows im Kampf gegen Team Rocket und andere Ungerechtigkeiten zusicherst und ich dir im Gegenzug helfe, an die Öffentlichkeit zu gehen." "Wenn du denkst, ich würde das HQ stürmen und alle Rockets für dich besiegen, liegst du sehr falsch." Dark pfeift und Hundemon sprintet zu uns zurück, wo er sich mit aufmerksam gespitzten Ohren neben seinen Trainer setzt. "Ich werde ohnehin Hilfe von den anderen bekommen", sage ich. "Chris und Jayden haben mir bereits früher geholfen. Sie werden es wieder tun. Es wäre dumm von dir, meine Gegenleistung nicht anzunehmen." "So wie ich die Situation einschätze, profitierst du in beiden Fällen, Abby." Ich grinse. "Natürlich."   Nachdem Dark mir zugesichert hat, über mein Angebot nachzudenken und es mit den anderen Mitgliedern zu besprechen, gehen wir getrennte Wege. Auf Jayjays Rücken sitzend, mit Wind in den Haaren und Donner in den Ohren, denke ich über alles nach, was wir besprochen haben. Darks Motive sind für mich schwer nachzuvollziehen, aber natürlich bin ich nicht inmitten einer Verbrecherorganisation aufgewachsen. Ich werde vorsichtig mit meinem Wissen um seine Identität umgehen müssen. Jemanden wie ihn möchte ich nicht als Feind haben. Für´s erste kann ich aber nichts tun, außer den Abend abwarten, wenn Jayden und Chris zurückkommen. Ich hoffe, ihre Unterstützung in der Sache zu bekommen, denn auch wenn ich Dark versichert habe, dass die beiden mir auf jeden Fall helfen werden, bin ich nicht sicher. Chris hat mich einmal gerettet, aber abgesehen davon weiß ich nicht, wie offen die beiden für den Kampf gegen das Böse sind und überhaupt scheinen alle ordenlosen Trainer sehr selbstzentriert zu sein. Ich lenke Jayjay in eine scharfe Kurve, die er schlitternd nimmt und trabe dann mit ihm zurück in Richtung Stadt. Unsicher, wie ich die restlichen Stunden bis zum Treffen in der Spielhalle verbringen soll, reite ich im Schritt durch die Straßen des Südviertels und komme schließlich an einem schmalen, renovierten Gebäude vorbei, das mit orangegelben Markisen versehen ist und sich mit einem runden roten Schild als Imbiss- und Teestube ausweist. Ich steige ab, rufe Jayjay und Hunter zurück, der seit einigen Minuten über unseren Köpfen gekreist ist und trete ein. Eine Klingel kündigt meine Ankunft an und ich bin überrascht, so viele Besucher zu sehen. Bis auf zwei kleine Ecktische ist die Teestube voll besetzt und eine alte Dame hastet zwischen Küche, Kasse und Tischen hin und her, stets in Eile. Auf ihrem Tresen sitzt ein Flampion. "Cornelia?", frage ich perplex und Jaydens Großmutter hebt bei meiner Stimme unwirsch den Kopf. "Was stehst du da so rum?", fragt sie genervt, drückt mir ihre Schürze und einen kleinen Notizblock in die Hand und schiebt mich zu einem der Tische. "Mach dich nützlich!" Und so verbringe ich, mehr oder weniger freiwillig, den restlichen Nachmittag damit, Bestellungen aufzunehmen und für Cornelia die frisch gebrühten Tees und Sandwiches zu den Gästen zu tragen. Erst einige Stunden später, als meine Füße brennen und die letzten Gäste gegangen sind, erlaube ich mir, erschöpft auf einen Stuhl zu sinken. "Ich werde hoffentlich fest angestellt und bezahlt", meine ich und massiere meinen Rücken. "Ja, ja, Geld ist alles, wofür ihr Kinder euch noch interessiert", schimpft Cornelia und drückt mir einen tausend Pokédollarschein in die Hand. "Ich erwarte dich morgen pünktlich um zwei Uhr hier, verstanden?" Ich nicke und stecke das Geld zufrieden ein. Cornelia ist vielleicht nicht die freundlichste Chefin, aber immerhin hat sie mir die bevorstehende Jobsuche erspart. Sie hebt Flampion in ihre Arme und krault das kleine Feuerpokémon am Bauch. In dem Moment öffnet sich die Tür mit einem lauten Klingeln und ich seufze, bevor ich mich erschöpft aufrichte. "Oma, ich brauch Essen für vier… oh. Hallo, Abby." Jayden steht in der Eingangstür, dicht gefolgt von Chris. Die Wangen der beiden sind gerötet und ihr Haar steht in alle Richtungen ab. "Ich finde euch auch immer zusammen." "Scheint so", stimme ich zu. "Hm." Cornelia setzt ihr Pokémon wieder auf den Tresen und verschwindet in der Küche. "Leg das Geld in die Kasse!", ruft sie Jayden zu, der einige Geldscheine aus seiner Lederjacke zieht und sie in die Kasse einsortiert. Während er damit beschäftigt ist, ziehe ich die Schürze aus, lege sie auf den Tresen und gehe dann zu Chris hinüber. Ihre nackten Beine machen mich fertig, aber ich belasse es bei einem kurzen Blick. "Wie war das Training?", frage ich, aber sie zuckt nur mit den Schultern. "Zu kurz." "Wir fliegen bald zum Silberberg, keine Sorge", sagt Jayden und pikst Chris in die Wange. "Ich will nur erst die Sache mit Ryan unter Dach und Fach bringen." "Wie war dein Gespräch mit Dark?", fragt Chris. "Aufschlussreich", sage ich und sie nickt. Dann warten wir schweigend, bis Cornelia mit einem großen Paket aus der Küche kommt und es Jayden unsanft in die Hände drückt. "Braucht ihr sonst noch was?", fragt sie brüsk. "Nichts, was wir nicht im Kaufhaus kaufen können", meint Jayden und gibt Cornelia einen Kuss auf die faltige Wange, dann verlassen wir gemeinsam die Teestube, deren rotes Schild ich jetzt als stilisiertes Flampion identifiziere. Abends ist die Spielhalle sehr viel besser besucht als noch am Morgen. Die einarmigen Banditen sind fast ausnahmslos besetzt, Kartenspielgruppen haben sich gebildet und statt einem stehen nun gleich vier Verkäufer an der Theke. Jayden, Chris und ich werden ohne Fragen durch gewinkt und folgen dem schmalen Flur zu dem Plakat, von wo aus wir hinunter in das neue Team Shadow Hauptquartier steigen. Jayden tippt ein Passwort im Aufzug ein und keine Minuten später finden wir uns im vierten Untergeschoss wieder. Wir machen es uns in dem Launchraum gemütlich und warten geduldig, bis Dark einige Minuten später zu uns stößt, dann machen wir uns über die Sandwiches her, die Cornelia zubereitet hat. Nach dem langen Tag draußen und in der Teestube bin ich völlig ausgehungert und stürze mich regelrecht auf das Essen. Wir haben kaum geendet, da klingelt Jaydens Handy. Er nimmt ab, erst misstrauisch, dann mit einem breiten Grinsen. "Hey, Ryan. Dachte schon, du meldest dich nicht mehr. Chris und ich. Verdammt stark. Komm einfach, Mann! Prismania, Spielhalle. Frag nach uns. Bis dann." "Das klingt wie ein Erfolg", meine ich und Jayden nickt. "Yep. Er kommt im Laufe der Woche vorbei. Hoenn ist nicht direkt um die Ecke, aber er will sich unser Team mal anschauen." "Das ist gut", sagt Dark. "Wir brauchen dringend jemanden, der sich mit technischen Geräten auskennt." "Warum?", frage ich. "Wegen den Fallen", erklärt Chris an seiner Stelle. "Jemand muss die Auslöser entschärfen. Bevor wir neue Mitglieder bekommen, brauchen wir den Platz." "Apropos Platz", sage ich. "Kann ich für´s erste hier schlafen? Ich bin ziemlich knapp bei Kasse, deshalb…" "Wenn es dir nichts ausmacht, ein Bad mit uns allen zu teilen, kein Ding", sagt Jayden breit grinsend. "Wir schlafen alle hier." "Wo?" "Bisher haben die Sofas gereicht", sagt Chris. "Aber so wie sich die Dinge entwickeln, werden wir morgen einen Großeinkauf machen müssen."  Jayden grinst. "Oh yeah!" Kapitel 85: Zickenalarm (Leidenschaft aus Verzweiflung) ------------------------------------------------------- Meine erste Nacht in der Spielhalle ist nicht unangenehmer als einige Nächte, die ich draußen verbracht habe, trotzdem fühlt es sich merkwürdig an. Chris hat mir angeboten, statt ihr auf dem Sofa zu schlafen, aber ich habe dankend abgelehnt, schließlich scheine ich die einzige der Gruppe zu sein, die einen Schlafsack besitzt. Am nächsten Morgen mache ich mich früh auf den Weg zum Kaufhaus, um mir ein billiges Frühstück zu kaufen und die Stadt ein zu erkunden. Während ich durch den Zentralpark schlendere, wird meine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Menschenauflauf gelenkt, der sich am Springbrunnen gebildet hat. Unsicher nähere ich mich dem Trainergrüppchen, das sich bei genauerem Hinsehen als eine Mischung aus Trainern und KPA-Studenten entpuppt. Die Beleidigungen prasseln von allen Seiten auf die Jugendlichen herab und ich mache einen große Bogen um die Gruppe, auch wenn einige der Anschuldigungen ziemlich kreativ klingen. Im Kaufhaus schlendere ich durch die verschiedenen Stockwerke und schaue mir all die Dinge an, für die ich kein Geld habe, doch dann werde ich stutzig. Auf dem dritten Stockwerk werden, wie immer, die verschiedenen Evolutionssteine angeboten. Der Anblick der geschliffenen Steine weckt Erinnerungen an hochsommerliche Tage in Dukatia City. An meinen Ausflug zum Nationalpark mit Caro. Meine Besuche bei Karin. Karin… Das Evoli. Panisch reiße ich meinen Rucksack auf, ohne Rücksicht auf die anderen Kunden, die mich verstört oder misstrauisch beäugen. Er muss hier noch irgendwo sein… Da. Zerknittert, zusammen gedrückt, schmutzig und mit einigen Rissen, finde ich Karins Vollmacht in den tiefsten Tiefen meines Rucksacks. Den Wasserstein, den Caro mir gegeben hat, finde ich noch weiter unten in einer der Geheimtaschen, an die man sich später nicht mehr erinnert und dann wie verzweifelt nach seinen wichtigsten Gegenständen sucht. Erleichtert lasse ich mich auf den Boden sinken und starre beide Gegenstände an. Es ist so lange her, seit Karin mir das Evoli vermacht hat. Genug geshoppt. Es wird Zeit, das kleine Ding abzuholen. Ich laufe ins oberste Stockwerk, wo es neben den Getränkeautomaten auch eine kleine Backstation gibt, in der ich mir zwei Brezeln kaufe und damit zurück hinunter eile. Auf dem Weg nach draußen wird mir von einem Mann eine Handvoll Pokémonmasken in die Hand gedrückt, die wohl das Werbegeschenk von irgendeinen Arenaleiter sind, aber ich höre der Erklärung nur im Verbeilaufen zu und finde mich schon bald an der frischen Luft wieder. Ich stopfe die Masken, die in Form von Zwottronin-, Pikachu- und Chelastgesichtern sind, in meinen Rucksack und öffne die Wegbeschreibung, die Karin mir als zusätzlichen Zettel in dem Briefumschlag beigefügt hat. Das Wohnhaus, das Karin ausgeschildert hat, liegt eingequetscht zwischen einigen anderen Hochhäusern, nicht weit von dem Kaufhaus entfernt. Ich klingele und nach einigen Sekunden geht die Sprechanlage an. "Wer ist da?" "Entschuldigung für die Störung", beginne ich. "Mein Name ist-" Die Sprechanlage geht aus. Ich kneife die Augen zusammen, und klingele erneut. Wieder geht die Sprechanlage an. "Mein Name ist Abby und-" Aus. "Verfluchter...", murmele ich und drücke den Klingelknopf für fast eine Minute durch, bevor die Sprechanlage wieder angeht. "Was willst du von mir?", schreit der Mann und ich zucke zusammen. "Wenn sie mich ausreden lassen würden, wüssten sie das schon längst!", sage ich wütend. "Mein Name ist Abby und Karin hat mir ihre Adresse gegeben. Darf ich rein kommen oder sollen wir das so klären?" Schweigen. Dann geht die Sprechanlage aus und die Tür öffnet sich sirrend. Ich atme erleichtert aus und trete ein. Vor so einem Empfang hätte Karin mich ruhig warnen können. Mit dem Aufzug fahre ich ins siebte Stockwerk und suche nach der Tür mit dem richtigen Namen unter dem Klingelschild. Ich hätte mich nicht bemühen müssen. Ein kahlköpfiger Mann mit Krückstock und in Unterhemd, Jogginghose und Pantoffeln gekleidet wartet bereits auf mich. Kaum, dass ich mich genähert habe, schnappt er mir Karins Vollmacht aus der Hand und hält das zerknitterte Blatt Papier direkt vor sein Gesicht. Seufzend drückt er es mir wieder in die Hände und winkt mich unwirsch zu sich in die Wohnung. Der Mann, der laut Karins Adresse Günther Bröcklin heißt, wohnt in einer niedrigen Dachwohnung, die außer einem offenen Küchen- und Essbereich, einem winzigen Schlafzimmer und einem noch winzigerem Bad keine Räume aufweist und so aussieht, als wäre sie seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr renoviert worden. In einer Glasvitrine, die zwischen ausgebeultem Sofa und Esstisch Platz findet, entdecke ich einen einzelnen Pokéball. Genau dort steuert Günther hin, öffnet die Glastür und nimmt den Pokéball heraus. Er wiegt ihn lange nachdenklich in seinen Händen, dann dreht er sich abrupt um und reicht ihn mir. "Na nimm schon. Deswegen bist du schließlich hier." "Wollen sie nicht Tschüss sagen?", frage ich, aber er winkt ab. "Pah. Das Teufelsweib will ich nie wieder sehen. Jetzt nimm sie und raus mit dir." "Soll ich Karin Grüße ausrichten?", frage ich höflich, aber seine Miene verfinstert sich nur noch weiter. "Raus jetzt!", brüllt er und drängt mich aus der Tür. "Raus. Raus…" Müde schließt er die Tür hinter mir, kaum dass ich wieder im Flur stehe. Ein wenig unsicher, was der plötzliche Gefühlsausbruch zu bedeuten hatte, befestige ich den Pokéball an meinem Gürtel und mache mich dann auf den Weg zurück nach draußen in den kalten Vormittag. Als ich mich im Park eingefunden und sichergestellt habe, dass die KPA inzwischen wieder bei ihren Vorlesungen ist, nehme ich den Pokéball aus meinem Gürtel und öffne ihn. Der rote Lichtblitz verdichtet sich und im nächsten Moment sitzt ein sehr flauschig aussehendes Evoli vor mir. Große dunkle Augen schauen mich an und ich lächle. Na bitte. So schlimm ist die Kleine nicht. Das Evoli schnaubt und schaut pikiert zur Seite. "Hallo, Evoli", sage ich. "Ich bin deine neue Trainerin. Ist das okay für dich?" Evoli würdigt mich keines Blickes. Als ich erneut zum Reden ansetze, hebt sie ein Bein und beginnt, ihre Hinterläufe zu putzen. "Mich zu ignorieren, wird dich nicht weiter bringen", versuche ich es erneut. "Wollen wir ein Stück zusammen gehen?" Das Normalpokémon macht ein abfälliges Geräusch, setzt dann sein Bein wieder ab und begutachtet mich für einige Sekunden, bevor es aufsteht und davon stolziert. Mein Auge zuckt, aber ich zwinge mich zur Ruhe. Kein Problem, Abby. Alles unter Kontrolle. "Ich folge dir einfach unauffällig", meine ich und gehe Evoli hinterher, das kreuz und quer über den Zentralpark läuft und einige neidische Blicke auf sich zieht. Wenn die wüssten, worauf sie da neidisch sind. Eine halbe Stunde später, nachdem ihr klar wird, dass sie mich durch stures Umherlaufen nicht los wird, lässt Evoli sich auf einer Bank nieder und bedeckt mit ihrem buschigen braunen Schweif ihre Augen. "Eingebildetes, kleines Ding", murmele ich. "Weißt du, wie ich dich nennen werde?" Eins der langen Ohren zuckt. "Ich werde dich Priss nennen, weil du eine kleine Zicke bist", sage ich grinsend. Priss hebt empört den Kopf. "Gefällt dir der Name nicht?", frage ich. "Zu spät." Entrüstet setzt Evoli sich auf. "Jetzt schau mich nicht so an", sage ich. "Willst du noch hierbleiben oder soll ich dir unser vorläufiges Zuhause zeigen?" Priss schüttelt sich angewidert und springt von der Bank herab. Als ich jedoch Richtung Spielhalle losgehe, bleibt sie sitzen. Ich winke. Sie reagiert nicht. Ich rufe. Sie ignoriert mich. Frustriert gehe ich zurück. "Ich kann dich genauso gut in deinen Ball zurück rufen", warne ich sie. "Aber ich denke mir, dass du in letzter Zeit nicht viel Auslauf bekommen hast und da du mit mir viel unterwegs sein wirst, wollte ich dir ein bisschen die Stadt zeigen. Kommst du nun oder kommst du nicht?" Priss reckt mir ihr Köpfchen hochnäsig entgegen, dann setzt sie sich auf die Hinterbeine und macht sehr eindeutige Gesten mit ihren Vorderpfoten. "Ich soll dich tragen?", hake ich nach. "Nachdem du wer weiß wie lange in dem Pokéball festgesessen hast?" Sie gibt ein vorwurfsvolles Maunzen von sich und reckt sich ein wenig höher. "Fein…", murmele ich und hebe das kleine Fellknäuel in meine Arme, von wo aus Priss meine Schulter entlang klettert und sich unter meine Ohrenklappmütze quetscht, bis nur noch Kopf und Schwanz herausgucken. "Damit das klar ist", sage ich und schiele nach oben. "Das ist eine Ausnahme. Das nächste Mal läufst du." Priss gibt ein Geräusch von sich, das beinahe wie ein Kichern klingt. Ich seufze ergeben und mache mich auf den Rückweg.   Unser HQ finde ich verlassen vor. Chris und Jayden sind vermutlich inzwischen auf dem Weg zum Kaufhaus für ihren Großeinkauf und wo Dark sich rumtreibt, weiß ich nicht. Ich setze Priss in unserem Gemeinschaftsraum ab und lasse sie ein wenig die Räumlichkeiten erkunden, während ich es mir auf einem der Sofas gemütlich mache und Louis per SMS über meine bisherigen Erfahrungen in Prismania City berichte. Ich will gerade eine mehr oder weniger überzeugende Flickengeschichte über Dark zusammenbasteln, da rast Evoli unter einen Tisch und ich drehe erschrocken den Kopf zum Eingang. Dark steht an die offene Tür gelehnt und beobachtet mich aufmerksam. "Wem schreibst du?", fragt er und bringt Hundemon mit einem leisen Pfeifen zur Ruhe, als es die Zähne in Richtung Priss fletscht und bellt. "Meinem Freund", erwidere ich, gereizt. "Das wird wohl noch erlaubt sein." "Solange du mich außen vor lässt, ist es das auch", erwidert Dark gelassen und lässt sich dann gegenüber auf ein Sofa fallen. "Wo warst du?", frage ich nach einer kurzen Weile. "Das geht dich nichts an, oder?", fragt er. "Es geht dich auch nichts an, wem ich schreibe", sage ich leise. "Aber wenn wir ein Team bilden, wenn wir einen Deal machen wollen, dann müssen wir uns zumindest ein bisschen vertrauen, oder?" Dark dreht den Kopf und beobachtet mich einen Moment. Dann, ohne Vorwarnung, setzt er sich auf. "Zeig mir, was in deinem Rucksack ist." "Was?" Ich greife meinen Rucksack und halte ihn fest an mich gedrückt. "Warum?" "Vertraust du mir nicht?" "Ich vertraue dir… ein bisschen", sage ich langsam. "Das heißt nicht, dass ich dich in meinen Sachen rumschnüffeln lassen will." Dark schmunzelt. "Das hast du gut formuliert." Zu spät fällt mir auf, dass ich in seine Falle getappt bin. "Das ist etwas anderes", sage ich, aber Dark schüttelt den Kopf. "Für mich wäre es genau dasselbe." "Also gut", sage ich wütend, hieve meinen Rucksack auf den Tisch und beginne, ihn auszuräumen. Dark erstarrt. "Was machst du da?" "Ich zeige dir den Inhalt meines Rucksacks", erwidere ich und werfe die Masken nach ihm. "Was haben wir hier: Unterwäsche, Zahnbürste, ein Wasserstein, mein super geheimes Notizbuch, meine Geldbörse, oh, mein Empfehlungsschreiben! Noch mehr Unterwä-" "Du kannst aufhören", sagt Dark und fischt eine Unterhose von seiner Schulter. "Du hast deinen Standpunkt klar gemacht." "Schön." Darks Blick fällt auf die Masken, die in seinem Schoß gelandet sind. Er greift nach der mit dem Zwottroningesicht und kneift die Augen zusammen. Hundemon hechelt und Priss kommt langsam aus ihrem Versteck unter dem Tisch hervor, bevor sich auf die Sofalehne springt und dort wachsam ihre Pfoten unter ihren Körper faltet. "Woher hast du die?", fragt er und ich muss einen Moment nachdenken, bevor mir einfällt, dass ich heute Morgen vor meinem Besuch bei Günther noch etwas anderes gemacht habe. "Jemand hat die kostenlos im Kaufhaus verteilt", erkläre ich. "Warum?" "Brauchst du die hier?", fragt er und hält die Maske hoch. Ich zucke mit den Schultern. "Du kannst alle haben, wenn du willst. Ich werde sie ganz sicher nicht anziehen." "Ich schon", sagt Jayden grinsend, der genau in dem Moment vollbepackt mit Tüten und einer genauso behangenen Chris im Schlepptau den Gang entlang kommt. Schräg um seinen Kopf ist eine Glumandamaske gebunden. "Sie sind kitschig", sagt Chris und stellt ihre drei gigantischen Taschen auf dem Tisch neben der Kaffeemaschine ab. Jayden tut es ihr gleich. Dann bemerkt er Priss. "Ein Evoli?", fragt er überrascht. "Wo hast du das denn so plötzlich aufgetrieben?" "Ich sollte es schon vor Monaten hier abholen", meine ich und strecke versuchsweise eine Hand nach Priss aus. Sie faucht, beißt mich in den Finger und flieht zurück unter den Tisch. "Wo haben du und Chris eure Evolis her?" "In der Wildnis gibt es sie nicht mehr, aber genügend Sammler und Züchter spezialisieren sich auf Evoli", erklärt Chris. "Man meldet sich dort an und kann dann mit Wartezeit eines kaufen. Jayden und ich haben unsere bei der Pension südlich von Azuria City abgeholt." "Es hat keinen Respekt vor dir", stellt Dark fest, der die Maske in seinen Fingern dreht. "Du musst ihm zeigen, dass du der Trainer bist, sonst kannst du dich in einem Kampf nicht auf seinen Gehorsam verlassen." "Ich habe vier Pokémon, mit denen ich kämpfen kann", entgegne ich. "Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, noch eins aufziehen zu müssen." Chris kneift verwirrt die Augen zusammen und Jayden wirft Dark einen ratlosen Blick zu. "Du bist komisch, Abby", stellt er dann fest und macht sich daran, die Tüten auszuräumen.   Bevor ich zu meiner Nachmittagsschicht in Cornelias Teestube aufbreche, ist der Gemeinschaftsraum mit einem Vorrat Pappteller und -besteck ausgerüstet, so wie mit fünf Schlafsäcken, Mulltüten, einer Teekanne, anderen Küchenutensilien, Fertigessen und diversen anderen Gegenständen, die bei mehreren Leuten auf kleinem Raum wichtig werden könnten. Bis Ryan auftaucht, müssen wir weiterhin in einem Raum schlafen, aber das stört mich nicht weiter. Wer mit zwanzig Fremden unter einer Plane geschlafen hat, den kann so schnell nichts mehr schockieren. Die Arbeit bei Cornelia ist anstrengend und bei weitem nicht so lukrativ wie mein Job damals bei Ivy, aber ich will mich nicht beklagen und da ich davon ausgehe, mindestens noch bis zur Übergabe Anfang März in Prismania zu bleiben, habe ich keine Probleme mit dem geringeren Gehalt. Vor allem jetzt, da ich quasi umsonst unterkomme und zum größten Teil nicht mal mein eigenes Essen bezahlen muss. Als ich am Abend durch die Stadt wandere, beschließe ich, einen kleinen Abstecher zu Route 7 zu machen. Gott braucht die Bewegung und da er sich offenkundig weigert, sich in Hundemons Nähe aufzuhalten, bleibt mir nichts anderes übrig. Ich verbringe knapp zwei Stunden mit seinem Training, während derer ich seinen Spezialangriff so gut es geht fördere und als wir uns schließlich auf den Rückweg zum Pokécenter machen, bin ich sehr zufrieden, ihn auf Level 29 gebracht zu haben. Die Attacke Flammenwurf würde ihm einen  gewaltigen Kräfteschub geben, aber bevor ich Gott auf den erforderlichen Level 46 bringe, erhänge ich mich lieber gleich. Für die Art intensiven Trainings, die dafür nötig wäre, habe ich nun wirklich keine Zeit und, wenn ich ehrlich bin, auch keine Lust. Ich erreiche das Pokécenter mit Gott dicht neben mir und Sku auf der anderen Seite. Ich bin froh, dass die beiden sich inzwischen so gut verstehen, gerade jetzt, da Gott Skus Level näher kommt und ihr Alpharecht in Frage stellen könnte. Das Pokécenter ist hell erleuchtet und gut besetzt, als ich eintrete und zu Schwester Joy gehe. "Einmal durchchecken", sage ich, rufe Gott zurück und reiche ihr seinen Finsterball. Joy nickt und nimmt den Ball säuerlich entgegen. "Alles in Ordnung?", frage ich. Eine schlecht gelaunte Schwester Joy ist ein seltener und beunruhigender Anblick. Es braucht einiges, um diese Frauen aus der Fassung zu bringen. "Es sind diese Trainer", sagt sie leise, aber mit sehr wütendem Unterton. "Der Zwist mit den Studenten nimmt allmählich Überhand. Sie duellieren sich mitten in der Stadt, auf den Straßen, wo Passanten sind. Es ist gefährlich, die Stadt ist nicht dafür gemacht, dort Kämpfe auszutragen. Und es sind keine abgesprochenen Kämpfe. Von dem, was ich mitbekomme, fordern sie sich gegenseitig heraus, egal wie geschwächt die Pokémon des anderen schon sind. Das ist unverantwortlich." Sie holt tief Luft. "Ich hatte allein in den letzten zwei Tagen drei Pokémon mit ernsteren Verletzungen und einen Knochenbruch. Unverantwortlich. Und so etwas nennt sich Trainer." Ich drehe mich um und beobachte, wie einige der mithörenden Trainer beschämt den Kopf senken, andere hingegen angestachelt durch die Kritik leise untereinander diskutieren, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Joy reicht mir Gotts Finsterball und ich verabschiede mich von ihr. Dann kehre ich ins HQ zurück.   Es ist Donnerstag, als Ryan zu uns stößt. Ich bin gerade dabei, Priss davon zu überzeugen, nicht in meiner Hoodiekapuze zu schlafen, als eine schrille Klingel ertönt. Dark, der der Sprechanlage am nächsten ist, steht auf und hebt den Hörer ab, während Jayden, Chris und ich ihn gespannt beobachten. Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber mir klopft das Herz bis zum Hals. "Ja?", fragt Dark. Eine leicht verzerrte Stimme ertönt im Lautsprecher. "Jemand namens Ryan möchte Jayden sehen. Soll ich ihn durchlassen?" "Bitte. Wir holen ihn ab." "Soll ich ihm einen Gast- oder einen Mitgliedstatus geben?" "Vorerst Gast", sagt Dark mit einem kurzen Blick zu Jayden, der unbekümmert mit den Schultern zuckt und ein weiteres Bonbon zwischen seinen Zähnen zerkaut. "Eventuelle Upgrades werden wir melden." "Keine Sorge, du bist Mitglied", sagt Jayden zu mir und schluckt die letzten Reste seinen Bonbons hinunter. "Wir wollen nur sichergehen, dass nicht jeder hier reinplatzen kann, wie er will." "Macht Sinn", gestehe ich. "Was für ein Typ Trainer ist Ryan?" "Wirst du gleich sehen." Jayden grinst mich frech an, erhebt sich, schnappt sich seine Lederjacke von der Sofalehne und verschwindet zum Aufzug. "Warum holst du ihn nicht ab?", frage ich Dark, der sich wieder hinsetzt und abwesend pfeift. Hundemon, das bis dahin unter einem Tisch geschlafen hat, trabt an seine Seite und lässt sich so neben dem Sofa nieder, das Dark bequem eine Hand auf seiner Stirn ruhen lassen kann. Seine Hörner schimmern matt im Licht der neugekauften Lampen. "Er ist der Anführer", sagt Chris, ohne bei dem Titel mit der Wimper zu zucken. "Wenn wir möchten, dass Ryan sich uns anschließt, muss er einen guten ersten Eindruck machen." "Einen gefährlichen Eindruck", fügt Dark hinzu. "Wenn wir etwas erreichen wollen, brauchen wir eine Basis aus Respekt. In unserer Art von Gruppierung zählt für den Respekt vor allem Stärke." "Nun, du siehst in jedem Fall sehr eindrucksvoll aus", sage ich nach einer kurzen Pause. Dark trägt wie immer ausschließlich schwarz, sein Haar sieht weich aber durcheinander aus und Hundemons düstere Präsenz verstärkt jedes seiner Merkmale aufs Maximum. Wir warten einige Minuten, dann hören wir das Pling des Aufzugs und können schließlich durch die Tür Jayden und einen anderen Jungen erkennen, die in unsere Richtung kommen. "Willkommen in Team Shadows Hauptquartier", sagt Jayden und lässt Ryan hinein, der seinen Blick über uns gleiten lässt. "Ich darf vorstellen, unser Anführer Dark, Chris und Abby." Ryan rückt seine rechteckige Stahlbrille zu Recht und mustert uns eingehend, während die Finger seiner linken Hand unentwegt gegen seinen Oberschenkel trommeln. Er ist von unauffälliger Statur, mit kurz geschnittenem, braunen Haar und sehr aufrechter Haltung. "Was macht die bei euch?", fragt er und der Blick, den er mir zuwirft, lässt keinen Zweifel daran, wen er meint. "Sie ist unser Maskottchen, sozusagen", sagt Jayden und krault im Vorbeigehen kurz Priss´ Kopf, bevor er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht. "Willst du?" "Schwarz, bitte", sagt Ryan und lässt sich neben mir auf dem Sofa nieder. "Und du bist der Anführer?", fragt er dann an Dark gewandt. "Du siehst ziemlich… klein aus." Hundemon knurrt leise, verstummt aber sofort, als Dark die Stimme hebt. "Ich wusste nicht, dass Körpergröße etwas mit meinem Können als Trainer zu tun hat", sagt er gelassen. Chris schnaubt. "Ich dachte, du würdest die Meinung mit uns teilen, dass Orden und andere externe Mittel zur Stärkebestimmung Zeitverschwendung sind", sagt sie. "Es zählen nur zwei Dinge: Die Fähigkeit eines Trainers, seine Pokémon zu trainieren und seine Fähigkeiten als Stratege im Pokémonkampf. Dark ist stärker als Jayden und ich und damit als du, also blas dich nicht auf." "Easy, Chris", lacht Jayden und bringt Ryan eine Tasse Kaffee. "So hat er das hundert pro nicht gemeint." "Das sehe ich auch so", sagt Dark. "Ich danke dir für dein Erscheinen, Ryan. Du hast sicher Fragen an mich und den Rest des Teams. Bitte, nur zu." "Was zum Teufel wollt ihr erreichen?", fragt Ryan. Seine Finger trommeln unentwegt über seinen Oberschenkel. "Ich bin nur hier, weil Jayden mich darum gebeten hat und ich ihm einen Gefallen schuldig bin, aber ich will ehrlich mit dir sein. Ich habe kein großes Interesse daran, eurem Club beizutreten. Es gibt viele Projekte, die ich gerne verfolgen möchte und ich habe keine Zeit, mit euch die Welt zu retten." "Technische Projekte?", schalte ich mich ein und Ryan begutachtet mich mit einem Blick, der mir sagt, dass er mich nicht wirklich als vollwertiges Mitglied betrachtet. Das bin ich vielleicht auch nicht, aber so lange ich Maskottchen bin, werde ich mich nicht wie Luft behandeln lassen. "Und?", hake ich nach, als er nicht antwortet. Ryan seufzt. "Ja, technische Projekte." "Dann verfolge sie von hier", sage ich. "Du hast hier jede Menge Platz, dich auszubreiten. Wenn du uns hilfst, die Fallen auf den beiden Stockwerken über uns auszuschalten, kannst du dir alle Räumlichkeiten aussuchen, die du brauchst. Und wir freuen uns über technischen Schnickschnack, der unser Leben erleichtert, nicht wahr?" Dark beobachtet mich aufmerksam, Jayden grinst breit und sogar Chris nickt ihre Zustimmung. "Die Kleine hat euch ziemlich gut im Griff", kommentiert Ryan das Ganze, scheint sich die Idee aber durchaus durch den Kopf gehen zu lassen. So viel Platz zu seiner freien Verfügung, dann noch die alten Netzwerke, die hier von Team Rocket zurück gelassen wurden, müssen einen ziemlichen Reiz für ihn darstellen. "Sie hat Charisma", sagt Dark und Hundemon grollt zustimmend. "Sie ist nicht umsonst Teil des Teams, auch wenn ihre Fähigkeiten als Trainer zu wünschen übrig lassen." "Ich bin schon genügend Gefahren entkommen, um mich als passabler Trainer zu bezeichnen, danke auch", erwidere ich knapp. Jayden schnaubt amüsiert und Chris lächelt schwach. "Abby ist sozusagen unsere Informantin", erklärt Dark, ohne auf meine schnippische Antwort einzugehen. „Sie ist unsere Verbindung nach außen, ihr Kontaktenetzwerk reicht in alle Schichten." Na, wenn das mal kein Lob ist. Ich schmunzele versöhnt und schaue zurück zu Ryan, der mich nun mit mildem Interesse mustert. "Meinetwegen", sagt er. "Was ist mit Bezahlung?" Chris lacht auf. "Wenn du nur halb so gut wie wir bist, solltest du keine Geldprobleme haben, Ryan." "Wir können eine Spendenkiste für dich eröffnen", schlägt Jayden vor. "Almosen für armen Computerfreak." "Sehr witzig", murrt Ryan, aber die Stimmung hat sich ein wenig entspannt und ich genieße das Gefühl, Teil etwas Größeren geworden zu sein. Informantin der stärksten Trainergruppierung der Regionen? Es hätte mich schlimmer treffen können. "Wenn ich beitreten würde", fährt er fort, "was für Aufgaben hätte ich?" "Wie Abby bereits andeutete, sind die Stockwerke zwei und drei mit Sprengfallen und anderen Mechanismen versehen", erklärt Dark. "Wir möchten Zugang zu beiden Bereichen haben, sonst fehlen uns viele der Räume, die nur über die Treppen zugänglich sind. Zudem gibt es einige andere technische Problematiken, bei denen wir deine Hilfe gebrauchen können. Abgesehen davon kannst du deine Zeit wie wir anderen frei einteilen und dich dem Training deiner Pokémon widmen. Auf unserem Level ist das keine Arbeit, die nebenbei erledigt werden kann." Chris nickt zustimmend. "Jayden und ich werden am Wochenende zum Silberberg fliegen, um dort zu trainieren. Du kannst dich anschließen." "Oder hier bleiben", sagt Jayden. "Team Shadow soll dir neue Möglichkeiten eröffnen, nicht verschließen", fügt Dark hinzu. Ryan nickt. "Gut. Ich bin dabei." Dark nickt und Hundemon knurrt zufrieden. "Wunderbar", sage ich und sehe zu Dark. "Da das geklärt ist, würde ich ebenfalls gerne ein Thema ansprechen. Oder erledigst du das, Anführer?" Dark seufzt, dann beugt er sich ein wenig auf dem Sofa vor. "Abby hat Kontakte zu sowohl der Polizei als auch anderen Gruppierungen, die gegen Team Rocket und korrupte Trainer vorgehen", sagt er. "Sie möchte, dass wir ihr unsere Stärke in diesem Kampf gegen Ungerechtigkeit und Schwäche leihen. Im Gegenzug verspricht sie, uns dabei zu helfen, unser Team öffentlich zu vertreten." "Und wie will sie das anstellen?", fragt Ryan skeptisch. "Ich habe Kontakte", wiederhole ich. "Unterschätze niemanden, der die richtigen Freunde an den richtigen Orten hat." "Wir alle wissen, dass die Polizei heillos überfordert ist", sagt Chris nach einer Weile. "Und sie sind ein Haufen Schwächlinge", fügt Jayden hinzu. "Bis auf Gold und den Champ können die meisten von ihnen nichts." "Deshalb brauchen wir eure Hilfe", sage ich und bemühe mich, nicht zu verzweifelt zu klingen. Dark hasst Schwäche. Solange ich hier bin, muss ich die Kontrolle behalten, stark sein. "Team Rocket arbeitet nicht mehr wie früher. Ihr Bewegungsmuster ist schleichend, aufgefächert. Sie sind überall und arbeiten im Geheimen. Mit nur zwei sehr starken Trainern auf ihrer Seite ist die Polizei gegen so viele Verbrecher an so vielen verschiedenen Orten hilflos. Ihr gehört zu den stärksten Trainern, die ich kenne. Ihr habt Flugpokémon, mit denen ihr lange Distanzen in kurzer Zeit zurücklegen könnt. Ihr seid nicht an Regeln gebunden und flexibel in eurer Vorgehensweise. Wenn nur ein paar von euch zu jeder Zeit kampfbereit wären, könntet ihr wie eine Art Spezialeinheit auftreten. Trainer, die auftauchen, agieren und sofort wieder verschwinden. Ich kann euch zu Helden machen. Ihr müsst mir nur die Möglichkeit liefern." Dark sagt nichts, sondern wartet auf die Meinung der anderen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Je länger ich geredet habe, desto mehr bin ich in Rage geraten. Ich hoffe, das kam gut an. "Scheiß drauf", sagt Jayden. "Ich bin dabei. Team Rocket kann mich mal." "Ich helfe dir, Abby", sagt nun auch Chris. "Solange ich darüber nicht das Training meiner Pokémon vernachlässigen muss." "Danke", sage ich und atme erleichtert aus. "Vielen, vielen Dank." "Was sagst du, Ryan?", fragt Dark. Sein Gesichtsausdruck hat sich ein bisschen mehr verfinstert, aber ich weiß, dass er sich nicht gegen den Willen des restlichen Teams stellen wird. "Ich bin nicht direkt scharf darauf", sagt Ryan nach einer Weile. "Allerdings sind mir bei Abbys leidenschaftlicher Rede ein paar Ideen für den technischen Schnickschnack gekommen. Reicht euch meine Unterstützung, was das angeht?" "Auf jeden Fall", sage ich sofort. Dark seufzt. "Dann ist es beschlossen", sagt er und steht auf. "Team Shadow wird die Polizei unterstützen." Kapitel 86: Erste Eskalation (Nasse Pfoten) ------------------------------------------- Ryan beginnt seine Arbeit gleich am nächsten Morgen. Für die Nacht hat er sich einen unserer frisch erworbenen Schlafsäcke geliehen, den er jedoch erst spät in der Nacht in Anspruch nimmt, stattdessen hält das kontinuierliche Tippen auf seinem Laptop mich bis spät nach Mitternacht wach. Er schläft dementsprechend lange, aber als ich nach meinem morgendlichen Spaziergang mit Priss im Park zurückkehre, finde ich niemanden im Gemeinschaftsraum vor und nehme, trotz Darks Warnung, die Treppe ins zweite Untergeschoss. Das Kellergeschoss ist zum größten Teil ein einziger, gewaltiger Raum, dessen Fliesenboden gut in Schuss zu sein scheint, auch wenn er seit Jahren nicht geputzt wurde. Ryan hat sich mitsamt Laptop irgendwie in einen großen Kasten voller Kabel eingeschleust und steht regelmäßig auf, um diese zu überprüfen, Beschriftungen anzubringen oder seinen Laptop neu anzuschließen. Als ich ihn frage, ob ich helfen kann, wirft er mir nur einen ungläubigen Blick zu und macht eine wedelnde Handbewegung. Ich nehme den nicht ganz subtilen Hinweis zur Kenntnis und verschwinde zurück nach oben. Meine Schicht bei Cornelia ist anstrengender als gewöhnlich, die Kundschaft, die ohne Unterlass in ihre Teestube strömt, verlangt uns alles ab und als Cornelia um sieben Uhr endlich auch die hartnäckigsten Besucher abkassiert hat, ruhen wir über einer Tasse Tee unsere Füße aus. "Na, das war ein Andrang", kommentiert Cornelia das Ganze und krault Flampions kleine Füßchen, die es ihr von ihrem Schoß aus entgegen streckt. "Kannst du laut sagen", stimme ich zu. "Habe ich morgen frei?" "Ach, eine Woche und schon machst du schlapp?", fragt sie angriffslustig und schiebt mir meine Bezahlung zu. "Am Wochenende ist Schicht wie immer, du kannst am Montag faulenzen." Ich nehme die Information stumm hin und nippe an meinem Tee. "Übrigens", fährt Cornelia fort. "Ich hatte heute Morgen eine Kundin, die mich nach jemandem mit deiner Beschreibung und zufällig auch deinem Namen gefragt hat. Sie meinte, du trinkst gerne Tee und wärst vielleicht hier vorbei gekommen." "Wer?", frage ich. Alles in mir verkrampft sich. Meine Mutter weiß, wohin ich gegangen bin. Würde sie mir bis hierhin folgen? "Eine Frau, um die vierzig, deine Haarfarbe, schlank. Sie scheint Dozentin an der KPA zu sein." Ich entspanne mich augenblicklich. "Agnes", sage ich. "Meine Tante." "Warum sucht sie nach dir?", fragt Cornelia. "Du bist doch wohl nicht aus der Akademie geflogen?" "Nein, nein." Ich zögere, nicht sicher, ob ich ihr die Wahrheit erzählen soll oder nicht. Schließlich entscheide ich mich für das Risiko. "Ich bin von zu Hause abgehauen, sozusagen." Cornelia schüttelt den Kopf. "Ihr Kinder mit euren Flausen im Kopf", sagt sie und lässt das Thema damit auf sich beruhen. Als ich mich jedoch später verabschiede, legt sie unbeholfen eine Hand auf meine Schulter. "Ich war mit Sicherheit keine sehr sentimentale Mutter", beginnt sie, "aber selbst ich freue mich über Anrufe von meiner Tochter und einen Besuch von meinem Enkel." Auf meinem Weg zum abendlichen Training mit Gott hallen ihre Abschiedsworte in meinen Gedanken nach und kurz bevor ich die Stadt verlasse, drehe ich um und mache mich auf den Weg zu Agnes´ Wohnung. Sie wohnt nahe der KPA in einem von Prismanias zahlreichen Hochhauswohnungen, aber ich bin schon oft hier gewesen und finde ihr Klingelschild selbst in der Dunkelheit. Die Sprechanlage erwacht zum Leben und Agnes müde Stimme ertönt. "Wer ist da?" "Ich bin´s", sage ich. "Abby." Die Sprechanlage geht aus und die Eingangstür öffnet sich sirrend. Es sind nur zwei Treppen, die ich nehmen muss und Agnes wartet bereits an der Tür auf mich. Als sie mich sieht, kommen ihr die Tränen und sie nimmt mich fest in den Arm. "Oh Abby, komm rein, komm rein", sagt sie und schiebt mich in ihr Apartment. Keine zwei Minuten später sitzen wir über Salat und Saft an ihrem Esstisch. "Ich dachte, du bist dieses Mal wirklich verschwunden", gesteht sie nach einer Weile. "Nachdem du weg geflogen bist, hat Natalie mich völlig fertig angerufen. Bernhard hat dann irgendwann übernommen und was er mir berichtet hat, war wirklich furchtbar." "Ich konnte einfach nicht mehr da bleiben!", sage ich, verzweifelt, zumindest Agnes meinen Standpunkt verständlich zu machen. "Sie hat mich eingesperrt, sie wollte mich nicht gehen lassen und ich habe so viele Dinge, die ich noch erledigen muss. Wir haben nur gestritten! Sie hat nicht mal versucht, mich zu verstehen. Als sie dann gedroht hat, meine Pokémon wegzunehmen, sind meine Sicherungen durchgegangen!" "Ich kann dich ja verstehen, Abby", sagt Agnes, aber ich unterbreche sie sofort. "Nein, kannst du nicht", sage ich hitzig. "Ihr könnt mich alle nicht verstehen. Ich weiß, dass ihr es gut meint, sogar Mama meint es gut, aber ich kann das nicht mehr. Ich kann nicht mehr so leben wie früher, Agnes. Ich habe mir Feinde gemacht, meine Pokémon sind mehr als einmal von mir gestohlen worden und ich bin so oft entführt oder eingesperrt worden… Wenn meine Mutter dann genau das macht, um mich zu erziehen, dann drehe ich durch!" "Ich frage mich inzwischen, was du auf deiner Reise durchmachen musstest, um solche Ängste zu entwickeln", sagt Agnes, aber bei ihr klingt es mitfühlend, nicht anklagend. "Und auch, wenn du es nicht glaubst, ich verstehe, warum du so gehandelt hast. Aber als Natalies Schwester mache ich mir auch um sie Sorgen. Mayas Abreise kam für sie unerwartet und ihrer Meinung nach zu früh, aber Maya ruft jede Woche an, schickt regelmäßig Post und Natalie weiß, dass sie mit ihrer Ausbildung gut aufgehoben ist. Du meldest dich monatelang nicht und wenn, nur sporadisch, kommst zurück mit all diesen… Narben, physisch und psychisch, und rennst weg, sobald sie dich zu Hause halten will. Sie hat wahnsinnige Angst und glaub mir, dass in diesem Fall du das nicht verstehen kannst." "Du hast Recht", sage ich kleinlaut. "Aber ich werde nicht nach Hause zurück gehen, zumindest nicht, bevor Mama akzeptiert, dass ich gehen darf, wann immer ich will und ich keine Gefangene bin, die sie dort festhalten kann." "Ich werde mit Natalie darüber reden", stimmt Agnes zu. "Bleibst du für´s erste in der Stadt?" Ich nicke. "Ich habe einige Angelegenheiten zu erledigen. Ich bin mindestens bis März hier oder zumindest in Saffronia." "In Ordnung. Dann bitte, schreib Natalie zumindest eine Mail und ich kümmere mich um alles Weitere. Bist du gut unter? Hast du einen Ort zum Schlafen? Im Pokécenter habe ich schon nachgefragt, aber man sagte mir, du hast dort nur eine Nacht eingecheckt und kommst abends regelmäßig vorbei." Ich denke an das Versteck unter der Spielhalle, in dem früher Team Rocket gehaust hat und in dem ich jetzt mit drei Jungen und einem Mädchen, die alle nur spärlich kenne, in einem Raum schlafe. "Ich bin unter", sage ich grinsend. "Keine Sorge."   Ob Agnes meiner letzten Versicherung Glauben schenkt, weiß ich nicht, aber ich bin sicher, dass allein mein Besuch sie so erleichtert hat, dass ihr der Rest erstmal egal ist. Bevor ich ins Hauptquartier zurückkehre, lege ich einen Zwischenstopp auf Route 7 ein, um Gott und den anderen zumindest ein bisschen Auslauf zu geben und mache mich danach auf den Weg zum Pokécenter, wo ich die drei durchchecken lasse und Mama eine kurze aber meiner Meinung nach beruhigende Mail schreibe. Wie erwartet ist mein Postfach von ihren Nachrichten schon überfüllt, aber obwohl es so viele sind, nehme ich mir dieses Mal die Zeit, jede einzelne sorgsam zu lesen, um mich besser in ihre Ängste hinein zu versetzten. Denn in einem hatte Agnes Recht: Mama mag meinen Standpunkt nicht verstehen, aber ihren verstehe ich genauso wenig. Auf dem Weg zurück zur Spielhalle begegne ich einer ganzen Menge Betrunkener, die durch die Straßen torkeln und dasselbe Ziel wie ich zu haben scheinen. Nach der ersten merkwürdigen Bemerkung rufe ich Sku, die nur drohend ihren Schweif heben muss, um im Umkreis von zehn Metern einen Freiraum zu schaffen und als ich sicher bin, dass mir niemand zu nahe kommen wird, rufe ich auch Priss. Sie macht ein unglückliches Gesicht, als sie Sku sieht, ordnet sich aber automatisch unter. Ich habe ihren Level nicht überprüft, aber ich bezweifle, dass sie jemals einen Kampf bestritten hat oder einen höheren Level als 5 besitzt. Meine Erziehungstaktik scheint Früchte zu tragen, denn obwohl Priss mit Ekel über die nicht ganz sauberen Bordsteine des Südviertels tapst, versucht sie weder, in meine Kapuze zu fliehen, noch mich anzugiften. Ein einziges leises Fauchen von Sku hält sie ohne Probleme in Schach. Jetzt muss ich es nur noch schaffen, die gleiche Autorität auszustrahlen wie meine älteste Freundin.   Bis Montag verstreichen die Tage ohne weitere Zwischenfälle. Ryan arbeitet scheinbar unermüdlich an der Deaktivierung der Fallen und der Übernahme des gesamten Netzwerks, das die Rockets errichtet haben und ist zu allen anderen Zeitpunkten mit Instant-Nudelsuppen oder Dosenkaffee an seinem Laptop zu Gange, in dem er Programme laufen lässt und nebenbei an kleinen Geräten herumwerkelt, die ein wenig wie ein zusammengeschusterter Walkie-Talkie-Pokédex aussehen. Jede Frage zu seiner Arbeit ignoriert er, nur Dark unterhält sich manchmal leise mit ihm oder lässt sich die Fortschritte erklären. Jayden und Chris sind bereits Freitagmorgen abgereist und kommen mitten in der Nacht zum Montag heim, gerade rechtzeitig, um Ryans lauten Freudenschrei zu hören, der mich aus meinem Schlaf hochschrecken und in instinktiver Panik nach meinen Pokébällen greifen lässt. Selbst Dark wird so überrascht, dass Hundemon in Reaktion auf seinen Trainer eine Feuersbrunst in seinem Maul aufflammen lässt. Von deren Benutzung hält Dark es glücklicher Weise im letzten Moment ab, sonst wäre aus Team Shadow ganz schnell Team Kokel geworden. "Ich hab´s!", wiederholt Ryan, ungeachtet der Gefahr, in die er uns alle gebracht hat und dreht sich euphorisch auf seinem Stuhl zu uns um. Jayden und Chris, die mit frischen Kratzern, Brandblasen und Schürfwunden im Eingang stehen und so aussehen, als würden sie jeden Moment stehend einschlafen, starren ihn mit rot umrandeten und ausdruckslosen Augen an. "Was", fragt Jayden schließlich, ohne es wie eine Frage klingen zu lassen. Ich zwinge mich, meinen Pokémongürtel loszulassen, was mir mit meinen zittrigen Fingern nur schwer gelingt und auch Dark atmet einmal lang aus, bevor er wieder Herr über seine Mimik ist. "Was hast du geschafft?", fragt er Ryan. "Ich bin drin", erklärt er und rückt seine leicht verrutschte Brille gerade. "Ich habe mich in das Rocket Netzwerk der Spielhalle eingehackt, die Sicherheitsbarrieren umgangen, die Administratorrechte ausgehebelt und umgeleitet und die Passwörter geändert." "Und jetzt?", frage ich. Er sieht mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er ein Pokémon ist. "Tut mir leid, dass nicht jeder ein Computergenie ist", verteidige ich mich. "Ich habe außer der Registrierung meiner Trainer-ID noch nie etwas anderes gemacht, als Mails zu verschicken oder auf meine Items zuzugreifen und dabei hatte ich Hilfe." "Das heißt", sagt Ryan betont langsam, "dass ich die Fallen in Stockwerk zwei und drei über ein Passwort aktivieren und deaktivieren kann, dass ich die Tür oben in der Spielhalle von hier aus verriegeln und öffnen kann und dass ich Passwörter für den Aufzug generieren kann, die euch per Computer auf die S-Coms zugesendet werden, an denen ich seit Donnerstag arbeite. Sonst eigentlich nichts." "Danke für die Erklärung", erwidere ich mürrisch, aber meine schlechte Laune verfliegt sofort, als ich Hundemons freudestrahlende Gesichtszüge sehe, woraufhin ich sofort zu Dark schaue, um dessen Mundwinkel ein feines Lächeln spielt. "Sehr gut", sagt er. "Das wird uns vieles erleichtern." "Ja", sagt Jayden, tritt ein, rollt seinen Schlafsack aus und legt sich ohne einen weiteren Kommentar hinein. "Das klingt hilfreich", fügt Chris hinzu, bevor sie sich in ihrem eigenen Schlafsack verkriecht und auf einem Sofa hinlegt. Keine Minute später erfüllt das regelmäßige Atmen der beiden den Raum.   Nachdem wir alle ausgeschlafen haben, verbringt Team Shadow den gesamten Montag in heller Aufregung. Wir sind dabei, als Ryan die Stockwerke zwei und drei offiziell freigibt und die Fallen darin mit seinem Adminpasswort deaktiviert und machen uns danach auf, die zahlreichen Räume zu erkunden, die uns bisher verwehrt geblieben sind. Ryan sucht sich einen Raum als Schaltzentrale aus, in der schon früher alle technischen Dinge geregelt wurden und in die er nun mit neu gewonnenem Tatendrang sofort samt Laptop und Schlafsack umzieht. Als der Rest von uns ebenfalls Räumlichkeiten ausfindig gemacht hat, beschließen wir, dass Dark als Anführer ein eigenes Zimmer zusteht; der Rest von uns erklärt sich mit zwei oder drei Personen pro Schlafeinheit zufrieden und so verlassen wir alle den Gemeinschaftsraum, der nun ausschließlich für Besprechungen und gemeinsame Treffen zur Verfügung steht. Nachdem wir alle Schleichwege innerhalb des Kellers und die neuen Passwörter für den Aufzug verinnerlicht haben, machen Jayden, Chris und ich uns auf, neue Möbel, Heizplatten und andere Sachen im Kaufhaus zu kaufen. Das heißt, Jayden und Chris kaufen. Ich laufe nur mit und berate. Mit zahlreichen Tüten bepackt und den Lieferscheinen für zusätzliche Betten, die wir in den nächsten Tagen abholen müssen, machen wir uns auf den Rückweg durch den Park. "Warum wart ihr heute Nacht so fertig?", frage ich schnaufend und ändere meinen Griff um die Plastiktüten. Priss sitzt, leider, wieder in meiner Kapuze und beißt mich ins Ohr, wenn ich mich zu ruckartig bewege. "Da ist doch- au! Da ist doch ein Pokécenter am Fuß des Silberbergs, oder nicht?" "Klar ist da eins", meint Jayden. "Ist nur im Winter nicht besetzt." "Die wenigsten Trainer wagen den Aufstieg im Sommer, geschweige denn im Winter", fährt Chris mit einem Hauch Selbstzufriedenheit fort. "Außerdem wäre es Zeitverschwendung, jede Nacht wieder hinunter zu klettern." "Wir hatten nur ein Wochenende, also haben wir uns gedacht, Schlafen können wir später." "Ihr habt von Freitag bis Sonntag durchgemacht?", frage ich geschockt. "Mit Bergaufstieg und Training und allem?" "Wir haben in einigen der Höhlensystem geschlafen, wenn wir zu müde wurden", sagt Chris. "Aber es ist kalt und feucht und wir haben nicht besonders viel Erholung bekommen." "Und natürlich wimmelt es da drin von blutrünstigen Pokémon", sagt Jayden und grinst breit. "Aber die meiste Zeit haben wir trainiert." "Hat sich das wenigstens rentiert?", frage ich skeptisch. Einige Stunden mit meinen Pokémon zu trainieren finde ich schon anstrengend genug. Aber ohne Pause drei Tage durch zu machen, ohne Zufluchtsort, umringt von wilden Pokémon? Nein, danke. "Bei Glurak hat´s nicht zum nächsten Level gereicht, leider", sagt Jayden. "Aber Ho-Oh ist gut vorangekommen, oder?" Chris nickt und scheint von innen zu strahlen. "Ein ganzer Level", sagt sie. "Unfassbar", murmele ich. Raphael hatte mir gesagt, dass das Training auf den höheren Leveln schwerfälliger wird, aber so schwerfällig? Plötzlich gibt Priss ein angewidertes Maunzen von sich und verkriecht sich tiefer unter meiner Mütze. Dann fallen die ersten Schneeflocken. "Das hat ja gerade noch gefehlt", murmelt Jayden, aber Chris lächelt und schaut in den Himmel. "Ich mag Schnee", stellt sie sachlich fest und würde ich sie nicht schon eine Weile kennen, wäre mir über ihren Tonfall die eigentliche Bedeutung ihrer Worte entgangen. Plötzlich ertönen von weiter am Ende des Parks Schreie. Einige der Leute, die zu dieser Uhrzeit zu einem Spaziergang unterwegs sind, schauen sich um und ich muss nur einige Sekunden den Platz mit meinen Augen überprüfen, bevor ich eine kleine Gruppe auf der Brücke sehe, die den Zentralpark mit dem Südviertel verbindet. Der Schrei wiederholt sich nicht, aber rote Lichtblitze spiegeln sich in den weißen Schneeflocken wider und ich werfe nur einen kurzen Blick zu Jayden und Chris, bevor wir geschlossen loslaufen. Mit den Tüten, die uns von den Handgelenken baumeln und gegen unsere Beide schlagen, brauchen wir ein wenig länger, aber als wir näher kommen, bin ich die einzige, die außer Atem ist. Zu viel Zeit, die ich ohne Sprints durch unwegsames Gelände oder lange Schwimmeinheiten verbracht habe, scheint meine Ausdauer ruiniert zu haben. Und ich war so stolz. "Lasst mich!", ruft ein Junge, der rückwärts auf der Brücke gestürzt ist und sich ängstlich umsieht. Er trägt die dunkelblaue Uniform der KPA und wird von drei Trainern in Schach gehalten, deren Pokémon ihn umringen und bedrohlich mustern. Jaydens Gesichtsausdruck verfinstert sich schlagartig und ich erkenne in ihm wieder den unnahbaren Trainer, der damals Louis eine Lektion erteilt hat, als der einen jüngeren Trainer herausgefordert hat, um an ein bisschen schnelles Geld zu kommen. "Jetzt bist du nicht mehr so überheblich, was?", fragt einer der Trainer, ein groß gewachsener Typ mit roter Wollmütze und genauso roter Windjacke. Ein Blanas hopst angriffslustig vor seinen Füßen auf und ab. Das Mädchen neben ihm spuckt dem KPA-Studenten vor die Füße. "Das hast du jetzt von deinem großen Maul, Streber." Ihr Zurrokex gibt ein zustimmendes Keckern von sich. Der dritte Junge schweigt, aber sein Papinella schwirrt durch die Luft und schlägt zeitweise sehr aufgeregt mit den Flügeln. "Ich habe schon zwei Kämpfe hinter mir!", protestiert der Junge aus der KPA. "Meine Pokémon sind erledigt, ich muss in ein Pokécenter." "Nichts da." Das Mädchen stützt eine Hand in ihre Hüfte. "Du hast auch ein Pokémon, also kämpfst du. Oder hast du keinen Mumm, weil du außer Bücher wälzen noch nichts zu Stande gebracht hast?" Jayden bleckt die Zähne, dann lässt er seine Einkaufstüten fallen und murmelt ein abwesendes Ich regle das, bevor er einen seiner Pokébälle hervorzieht. Chris, die genauso wütend wie er aussieht, stellt ihre Taschen ebenfalls ab, macht aber keine Anstalten, in den Kampf eingreifen zu wollen. Priss setzt sich neugierig unter meiner Mütze auf, ihre kleinen Pfoten ziepen vor Aufregung an meinem Haar. "Hey, Kiddies", ruft Jayden und vier Augenpaare wenden sich ihm zu. "Darf ich mitspielen?" "Was willst du, Alter?", fragt der mittlere Junge, der sich als Anführer des Grüppchens zu fühlen scheint. "Verzieh dich." "Ihr seid Trainer, oder nicht?", fragt Jayden. "Kommt schon. Ich fordere euch heraus." "Fick dich, Junge!", faucht das Mädchen und ihr Zurrokex wendet sich von dem KPA-Jungen ab, der erleichtert ausatmet. Jayden aktiviert seinen Pokéball und wie damals taucht in gleißend rotem Licht Aquana vor seinen Füßen auf, den kräftigen, blau geschuppten Schwanz um ihre Pfoten geschlungen und einen gelangweilten Ausdruck im Gesicht. "Surfer", sagt Jayden ohne jede Intonation und Aquana erhebt sich mit einer fließenden Eleganz, bevor sie eine grazile, schwingende Bewegung mit ihrem Schweif durchführt. Die anderen Trainer rufen ihren Pokémon Befehle zu, offensichtlich der Meinung, es mit einem herkömmlichen Aquana zu tun zu haben, aber die Flutwelle, die sich zu beiden Seiten der Brücke erhebt und dann mit tosender Gewalt über Trainer und Pokémon herein bricht, überzeugt sie schnell vom Gegenteil. Als das Wasser zurückfließt, liegen alle Pokémon besiegt am Boden und die Trainer röcheln und husten und spucken Wasser auf das Holz der Treppe. Den KPA-Studenten hat es auch erwischt, aber er ist schon aufgesprungen und geflohen. Die Trainer rappeln sich nach dem anderen auf, werfen Jayden einen vernichtenden Blick zu und laufen davon. "Das ist unsere Stadt!", schreie ich ihnen hinterher. "Team Shadow ist überall, merkt euch das!" Das Gewicht auf meinem Kopf verstärkt sich und ist dann plötzlich weg, als Priss zu Boden springt und sich vorsichtig Aquana nähert. Sie streckt eine Pfote nach dem Pokémon aus, das seinen Kopf dreht und bei dem Anblick seiner früheren Entwicklungsstufe freundlich, wenn auch unnahbar, den Kragen spreizt. Priss schnurrt wohlig, macht einen weiteren Schritt nach vorne - und springt panisch davon, als ihre Pfote eine Wasserpfütze berührt. Sie faucht das Wasser an und flüchtet sich hinter mich. "Angst vor Wasser?", frage ich belustigt. Dann fällt mir der Wasserstein in meinem Rucksack ein und die Angelegenheit ist plötzlich gar nicht mehr so lustig. Kapitel 87: Schneegestöber (Ein echter Fan) ------------------------------------------- "Diese Scheißbälger", beschwert Jayden sich, als wir unsere Tüten abgestellt haben und alle, bis auf Ryan, im Gemeinschaftsraum versammelt sind. Dark nickt und streicht abwesend über Hundemons Kopf. Priss ist das einzige meiner Pokémon, das keine Probleme mit seiner Anwesenheit zu haben scheint, vermutlich, weil sie zu stolz und eingebildet ist. "Was macht Ryan überhaupt?", frage ich nach einer Weile. "Er hat sich doch ins Netzwerk eingeschleust, oder nicht?" "Ich will nicht behaupten, dass ich viel von seiner Arbeit verstehe", sagt Dark. "Aber er scheint Verteidigungsmaßnahmen gegen andere Hacker einrichten zu wollen. Und er möchte die S-Coms nächste Woche fertigstellen." "Wenn er meint, dass das nötig ist…", murmele ich. Dark legt den Kopf schief. "Es ist wichtig, Abby. Derzeit sind wir gezwungen, auf engem Raum miteinander auszukommen, um zu kommunizieren. Mit dem S-Com werden wir in der Lage sein, auch unterwegs in Kontakt zu stehen, ohne auf Handynetzwerke oder zeitraubendes SMS-Schreiben angewiesen zu sein." "Wie du meinst, Anführer", sage ich und mir entgeht Hundemons irritierter Gesichtsausdruck nicht. Priss krallt sich fester in meinem Haar fest und gibt ein gewaltiges Maunzen von sich. Dann beißt sie in mein Ohr. Da der Tag noch nicht weit fortgeschritten ist, mache ich einen Abstecher auf Route 7, um Gott zu trainieren. Der Schneefall ist stärker geworden und ich bin in alle Kleidungsschichten eingemummt, die ich besitze. Gott gefällt das Wetter überhaupt nicht, er tapst angewidert durch den Schnee und flammt sich bei Gelegenheit einen Weg frei, um nicht in eine tiefe Schneewehe treten zu müssen. Die wilden Pokémon, die sonst so zahlreich durch das hohe Gras huschen, haben sich bei dem Wetter zu großen Teilen verkrochen, aber als Gott am späteren Abend plötzlich einen messerscharfen, silbrigen Sternenschauer auf seine Gegner schleudert, hebe ich ihn begeistert in die Höhe. Level 31 ist damit abgehakt. Und die Stärkedifferenz zwischen ihm und Sku schmilzt weiter, wie der Schnee unter seinen Pfoten.   ooo   Einige Tage später ringe ich mich endlich zu dem Telefonat mit Holly durch. Ich sitze im Gemeinschaftsraum des Team Shadow Hauptquartiers, mit einem Becher heißen Tees vor mir und meinem Handy in der Hand. Ryan hat den Empfang in den unteren Stockwerken verstärkt und so habe ich keinen Grund, mit dem Anruf zu warten. Aber was mir bevor steht, macht mir große Angst. Holly hat mich immer unterstützt. Und ich habe sie hintergangen. "Wen willst du anrufen?" Ich hebe erschrocken den Kopf, dann verziehe ich das Gesicht. Dark hat eine furchtbar nervige Angewohnheit, immer genau dann aufzutauchen, wenn ich gerade mit jemandem in Kontakt treten möchte. Er scheint mir wirklich nicht zu vertrauen. "Die Polizei", sage ich knapp. "Private Angelegenheit." "Komme ich darin vor?" "Nicht alles dreht sich um dich, Dark", sage ich. "Und nein, du kommst nicht vor. Jedenfalls nicht namentlich." "Aber ich komme vor." Dark tritt ein, dicht gefolgt, wie immer, von Hundemon, das mich misstrauisch mustert und die Lefzen zeigt. "Bleib doch und hör mir zu", meine ich und suche Hollys Nummer in meiner Kontaktlinse. "Dann kannst du mich vor Ort umbringen, wenn dir nicht passt, was ich sage." "Die Art, wie du das sagst, verrät mir, dass du mir das nicht zutraust", sagt Dark, dann seufzt er, ein Geräusch, das ich bei ihm nur selten höre. "Vielleicht hast du Recht. Aber ich bin sehr neugierig, wie du dich als nächstes in Todesgefahr bringen willst." Ich grinse. "Schau zu und lerne", sage ich und drücke auf Anrufen. Es klingelt lange. Länger als gewöhnlich. Dann wiederum hat Holly unseren Pakt schließlich für beendet erklärt. Es würde mich nicht wundern, wenn sie nicht ran geht. Ich gehe schon in Gedanken einen Plan B durch, da nimmt sie ab. "Abby."Sie klingt müde. Resigniert. "Warum rufst du an?" "Ich möchte einen Handel vorschlagen", sage ich. Kein Grund, um den heißen Brei herum zu reden. Holly wird es mir sicher danken, wenn ich diesen Anruf nicht unnötig in die Länge ziehe. "Ich mache keine Deals mehr mit dir. Ich dachte, das hätte ich deutlich ausgedrückt." "Ich war bei der Festnahme auf der M.S. Aqua beteiligt", sage ich und höre, wie Holly nach Luft schnappt. "Und ich glaube, euch fehlt eine sehr wichtige Information." "Was hast du dieses Mal angestellt?", fragt sie gereizt. "Wenn du dich weiter in unseren Weg stellst, dann werde ich dafür sorgen, dass du in Haft wanderst! Wir haben keine Zeit für deine kleinen Spielchen." "Richtig", sage ich. "Der Termin der Übergabe rückt näher. Und ich bin die einzige, die weiß, wie nah." "Hast du Rita bestochen?", fragt Holly. "Oder willst du uns jetzt falsche Informationen zukommen lassen, damit die Polizei weiterhin wie die Vollidioten vom Dienst dasteht?" "Ich will helfen", sage ich. "Wirklich, Holly. Ich will Team Rocket genauso sehr dran kriegen wie ihr auch. Aber ich will auch etwas anderes." "Du bietest mir also die Informationen bezüglich des geplanten Austauschs mit dem Rocket Agenten an?", fragt Holly. "Und dafür willst du… was genau?" "Richard." Es endlich auszusprechen knotet meine Brust zusammen. "Ich möchte, dass Richard aus der Haft entlassen wird. Er ist nicht Zachs Komplize. Aber Zach ist sein Freund und er hat versucht, mit ihm in Kontakt zu kommen. Er wird ihn ewig decken, egal, womit ihr ihm droht." "Dann hat er die Haft verdient", zischt Holly. "Aber er weiß nicht, wo Zach ist!", erwidere ich wütend. "Keiner von uns weiß das!" "Von euch?" "Ich weiß, dass ihr Raphael verhört habt", sage ich. "Und mich hast du doch auch schon verdächtigt." "Zu Recht." "Es ist ein Unterschied, ob ich Zachs Verrat unterstütze oder ob ich mich um jemanden sorge", protestiere ich. "Und nur, weil ich Richard ein paar Mal getroffen habe, weiß ich noch lange nicht, wo Zach ist!" Holly schweigt. Dann ertönt ihre kontrollierte Stimme wieder. "Also schön. Ist das deine Forderung? Wir lassen Richard Lark frei und im Austausch nennst du uns den Austauschort und die Zeit, zu der er stattfindet?" "Ja." Ich zögere. Werfe einen Blick zu Dark, der aufmerksam auf der gegenüber liegenden Couch sitzt. "Und ich hätte noch etwas, was ich gerne anbieten möchte. Als Zeichen guten Willens. Und eventuell als Austausch gegen eine Erneuerung unseres Deals. Wenn du mir noch vertraust, versteht sich." "Ich glaube, bis dahin wird es noch eine ganze Weile dauern", sagt Holly knapp. "Speziell jetzt, wo du meine Gefallen mit Informationen köderst, die du in erster Linie vor uns versteckt hast. Was bildest du dir eigentlich ein, Abby? Wenn die Polizei nicht so wenige Optionen hätte, würdest du niemals damit durch kommen." "Ich weiß", sage ich. "Ich biete euch die Hilfe einiger Top-Trainer an. Ob du den Deal mit mir erneuerst oder nicht, wir werden in jedem Fall gegen Team Rocket vorgehen und die Polizei unterstützen. Aber wenn du unsere Bewegungen lenken willst, brauche ich die Informationen der Polizei. Sie werden nur durch mich Kontakt aufnehmen." "Woher weiß ich nicht, dass du dir gerade einen riesengroßen Bluff zusammen redest?", fragt Holly bitter. "Wenn du mir vertraust, erübrigt sich die Frage, oder nicht?", frage ich und versuche, wieder wie die Abby von früher zu klingen. Die Abby, die übereifrig Höhlen untersucht hat. Die unbedingt gefallen wollte, dazugehören wollte. Die Abby, die noch keine Geheimnisse hüten oder Identitäten verheimlichen musste. "Ich werde mit Rocky darüber reden müssen. Bleib bis dahin erreichbar." Eine kurze Pause. Dann, "Nur als Anhaltspunkt… auf welchem Trainerniveau bewegt sich deine sogenannte Spezialeinheit?" Ich stocke. Ich habe nie gefragt. Jayden und Chris sind unendlich stark, Dark ist noch stärker als sie, aber wie stark genau… "Jack sollte eines der Mitglieder kennen", sage ich. "Sie war die Trainerin, die uns in Teak City gegen die Biker unterstützt hat. Sie war stark genug, die Pokémon eines Rocket Vorstands mit einer Attacke K.O. zu schlagen und das legendäre Pokémon Ho-Oh zu fangen. Und sie ist nicht die stärkste hier." Schweigen. "Ich lüge nicht", sage ich. "Sie sind die stärksten Trainer, die mir je untergekommen sind, abgesehen von Gold und vielleicht Noah." "Ich werde das bei Jack überprüfen", sagt Holly, und dieses Mal klingt sie fast ein bisschen… aufgeregt? "Ich melde mich bald wieder. Die Übergabe ist hoffentlich eine Weile entfernt?" "Ist sie", versichere ich. "Noch einige Wochen." "Gut. Sehr gut. Bis dann." Sie legt auf. "Bis dann", murmele ich und lasse das Handy neben mir auf die Couch fallen. "Du scheinst gerne mit den Fähigkeiten anderer zu prahlen“, stellt Dark trocken fest. "Ich habe nur die Wahrheit gesagt." "Ich frage mich trotzdem, wie viele deiner Errungenschaften anderen geschuldet sind." Ich seufze. "Ich mich auch, Dark. Ich mich auch." Priss, die sich die ganze Zeit auf der anderen Seite des Sofas eingerollt hatte, erhebt sich gähnend, wirft mir einen herablassenden Blick zu und springt dann auf den Boden. Sie macht einige vorsichtige Schritte in Richtung Hundemon, das sie kaum beachtet. Dann peitscht es einmal mit seinem Schweif, Funken stieben auf und Priss flüchtet unter den Tisch.   "Ich glaube, wir können für heute Schluss machen", sage ich, als ich Sonntag zum dritten Mal von draußen zurückkehre, wo ich den Schnee weg geschippt habe und durchgefroren an den von mir beanspruchten Tisch sinke. Das Schneetreiben hat das letzte bisschen Kundschaft vertrieben und auch wenn es noch nicht sechs Uhr ist, bezweifle ich, heute noch gebraucht zu werden. "Dann hau schon ab", mault Cornelia und steckt mir mein Geld zu. Inzwischen sind es 12.000 PD, die ich verdient habe. Noch etwas mehr als eine Woche und ich kann endlich all meine restlichen Schulden begleichen. Ich stehe auf, schnappe mir meine Winterjacke, Handschuhe und Mütze vom Kleiderständer und gehe zur Tür. Dort bleibe ich kurz stehen. "Ich habe meine Mutter und Tante kontaktiert", sage ich und höre Cornelias Schnauben. "Und seit wann interessiert mich das?" Ich grinse ihr zu, dann verschwinde ich nach draußen in den Schneesturm. Es ist eiskalt und der Wind bläst mir ungebremst entgegen. Eigentlich würde ich jetzt am liebsten sofort ins Hauptquartier zurückkehren, aber ich habe Gott und die anderen heute kein einziges Mal raus gelassen und auch wenn das Wetter ihnen bestimmt nicht gefallen wird, kann ich ihnen vielleicht eine halbe Stunde zumuten. Dreißig Minuten waren sehr großzügig bemessen. Schon nach zehn Minuten schaut Gott mir flehend entgegen, Jayjay wiehert vorwurfsvoll und Hunter wird von heftigen Schneeböen hin und her geweht und kann kaum auf der Stelle bleiben. Sku habe ich nicht gerufen, ein solches Wetter hätte sie mir nie verziehen und von all meinen Pokémon traue ich ihr am ehesten zu, dass sie im HQ raus gelassen werden kann, von Priss einmal abgesehen. Mit den Zähnen klappernd rufe ich die drei zurück und mache mich auf den Rückweg, aber es ist so kalt und windig, dass ich kaum einen Schritt vor den anderen setzen kann und schließlich rette ich mich ins Pokécenter, um mich dort für die letzten fünfzehn Minuten Rückweg aufzuwärmen. Die Tische sind fast ausnahmslos besetzt. Von den KPA-Studenten ist niemand hier, aber die Trainer haben sich auf beide Seiten des großen Raumes aufgeteilt und sitzen vor dampfenden Tassen und Kartenspielen. Als sie mich sehen, kneifen einige von ihnen die Augen zusammen. Ich kann mir nur denken, dass meine Anwesenheit bei Jaydens Kampf sich herum gesprochen hat. Ich will mir gerade einen heißen Tamottee bestellen, da höre ich ein erschrockenes Einatmen und drehe den Kopf. Ein Junge, etwas älter als ich und mit kurzem, pechschwarzen Haar und braungebrannter Haut schaut mich ungläubig an. „Ich pack´s nicht.“ „Was?“, frage ich, leicht verwirrt. Statt meinen Tee zu bestellen, setze ich mich zu dem Jungen an den Tisch und seine Augen weiten sich immer weiter, bis sie ihm fast aus dem Kopf fallen. „Du bist es“, sagt er. „Du bist das Mädchen aus dem Fernsehen.“ „Du musst mich verwechseln“, sage ich. „Ich bin nicht im Fernsehen.“ „Doch, ich erkenne dich. Es ist schon ein paar Jahre her, aber du bist es eindeutig.“ Er hebt seine Stimme in heller Begeisterung. „Du bist das mysteriöse Mädchen, das mit Raphael Berni in der Orania City Arena war!“ Na super. Soweit zum Thema Geheimhaltung. „Ganz sicher nicht“, sage ich, kann ein Erröten aber nicht unterdrücken, als ich in die Augen des Jungen gucke, der kurz davor zu stehen scheint, vor mir auf die Knie zu gehen und mich anzubeten. „Ich muss gehen“, füge ich hinzu, bevor er auf die Idee kommt, ein Autogramm von mir oder Raphael zu verlangen. „Ich bin Raphaels größter Fan!“, beteuert der Junge und steht auf, um mir überschwänglich die Hand zu reichen. „Ich heiße Jonas.“ „Schön, dich kennen zu lernen“, sage ich, schnappe mir sein Handgelenk und ziehe ihn in Richtung Ausgang, bevor er meine Identität weiter an die große Glocke hängt. Als ich über meine Schulter schaue, folgen mir jedoch eine Menge verwirrter und teilweise interessierter Augenpaare. Kaum draußen bereue ich sofort meine Entscheidung, denn der Wind ist noch genauso schneidend kalt wie zuvor und weiße Flocken bleiben in meinen Wimpern und meinen losen Haarsträhnen hängen und verdecken mir zunehmend die Sicht. „Bist du wirklich seine Geliebte, wie die Leute im Fanclub vermuten?“, fragt er aufgeregt, den tosenden Schneesturm und mein erschrockenes Prusten ignorierend. „Oh Gott, du musst mir unbedingt einige Fragen beantworten! Wie lange kennt ihr euch schon? Siehst du ihn oft? Was ist sein Lieblingsessen?“ Sein Lieblingsessen? Ich habe keine Ahnung. „Hör mal“, sage ich und ziehe ihn weiter hinter das Pokécenter, bis wir in einer windgeschützten Ecke stehen. „Ich bin nicht seine Geliebte und ich werde keine Informationen über ihn weitergeben, wenn er das nicht selber tut. Und dass ich das Mädchen aus der Arena bin, muss auch nicht jeder wissen. Okay?“ Jonas nickt begeistert und hängt an jedem meiner Worte, aber ich bezweifle, dass er irgendetwas von dem mitbekommen hat, was ich gerade gesagt habe. Außer den Dingen, die er hören wollte, natürlich. „Das ist der Wahnsinn!“, fährt er fort. Dann runzelt er die Stirn. „Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, warst du nicht zusammen mit Raphael und den anderen Favoriten in der VIP-Box?“ „Du musst dich vertan haben“, sage ich und schiebe ihn davon und zurück in Richtung Pokécenter, wo ich hoffe, ihn loswerden zu können. „Ich habe kein Geld, um zu der Championship zu gehen, ganz sicher nicht genug, um in die Box zu kommen.“ „Aber du bist mit Raphael zusammen, sicher könntest du-“ „Wir sind nicht zusammen, verdammt nochmal!“, rufe ich wütend, schubse ihn ins Pokécenter und stapfe davon. Der Gedanke, dass ich mich manchmal ganz genauso vernarrt verhalte, kommt mir sehr ungelegen und ich schiebe ihn schnell zur Seite. Jetzt nur noch zurück ins HQ und ins Warme. Ich hoffe, Jayden und Chris haben es geschafft, die Heizkörper aufzutreiben, wie sie angekündigt haben. Ein gutes Heizsystem gibt es in den Kellerräumen nicht und mit den weiter sinkenden Temperaturen ist ein bisschen zusätzliche Wärme unverzichtbar. „Hey, warte!“ Der Ruf wird halb vom tosenden Wind verschluckt, aber ich drehe mich trotzdem um. Fünf Trainer sind aus dem Pokécenter gekommen und mir gefolgt, allen voran die drei, die Jayden an der Brücke besiegt hat. Ich schlucke. Das kann ja heiter werden. „Was?“, frage ich misstrauisch und lasse den Blick schnell über das versammelte Grüppchen schweifen. „Du warst bei diesem Typen dabei“, sagt der Anführer der Gruppe, der Junge mit der roten Windjacke und dem Blanas. Das Mädchen neben ihm durchbohrt mich mit ihrem Blick. „Du hast irgendwas geschrien. Was war das noch gleich, Annie?“ „Das ist unsere Stadt, hat sie gesagt“, sagt Annie und greift nach ihrem Pokéball. „Dann zeig mal, wie du deine Stadt verteidigst, Verräter.“ Verräter… Jetzt hört es aber auf. Ich mache einen Schritt zurück und erwäge meine Fluchtmöglichkeiten. Die Straßen sind eisig und voller Schnee, schnell werde ich nicht rennen können, die anderen Trainer aber auch nicht. Und auch wenn die Level ihrer Pokémon nicht weit über 30 liegen dürften, will ich mein Glück nicht auf die Probe stellen. Sku und Gott sind stark, aber ob sie gegen fünf Teams durchhalten, ist verdammt fraglich. „Ist das eure Art zu beweisen, dass ihr besser seid?“, frage ich, um etwas Zeit zu schinden. „Fünf gegen eins? Sieht für mich nach ziemlich geringem Selbstbewusstsein aus.“ „Ich kämpfe auch eins gegen eins“, schnauzt Annie und wirft dem Anführer einen Blick zu. „Lass mich sie fertig machen, Ralf.“ Der Wind heult um unsere Köpfe, als Annie und ich uns mit etwas Abstand voneinander aufstellen, während die restlichen vier sich in einem losen Kreis um uns aufbauen. Es gefällt mir ganz und gar nicht, mich bei diesem Wetter mitten in der Stadt duellieren zu müssen, aber lieber ein Kampf gegen Annie als gegen alle fünf gleichzeitig. Und bei meinem Glück würde ich mir auf meiner Flucht bestimmt irgendetwas brechen. „Dann mal los“, sagt Annie, als sie wie erwartet das Zurrokex ruft, das vor ihr im Schnee herum zappelt, schnieft und seine hosenartige Hauthülle hochrafft. Ich denke nur einen Moment nach, dann greife ich nach meinem eigenen Pokéball und Hunter materialisiert sich in einem Schauer rot angestrahlter Schneeflocken, die in unsere Gesichter geblasen werden. Er krächzt unglücklich und schlägt mühsam mit den Flügeln, um von dem Wind nicht davon gerissen zu werden. „Gib ein bisschen an, Zurro!“, ruft Annie gegen den Schneesturm an und Zurrokex macht sich bereit für seine Attacke. „Weich aus und kontere mit Fliegen“, befehle ich Hunter, der in die Höhe schießt, kaum dass die Worte meine Lippen verlassen haben und der Angeberei ohne Probleme ausweicht, im Schneegestöber verschwindet und dann in die Tiefe schießt, direkt auf Zurrokex zu. „Gegenstoß“, schreit Annie, dann prallt Hunter auf seinen Gegner und durchbricht dessen notdürftig errichtete Verteidigung aus überkreuzten Armen wie ein Hammerschlag. Zurrokex wird nach hinten geschleudert und bleibt einige Sekunden lang reglos im Schnee liegen, bevor es sich langsam aufrichtet und auf wackligen Beinen stehen bleibt. Schwarz violette Schemen umhüllen seinen Körper, bevor sie raketenartig in Richtung Hunter schnellen, der überrumpelt von der Unlichtattacke getroffen und zurück gedrängt wird. Er gibt ein schmerzerfülltes Krächzen von sich, bevor er sich wieder vorsichtig in die Höhe befördert, aber der Schneesturm hat jetzt leichtes Spiel mit ihm und er lässt sich wieder zu Boden sinken, bevor der Wind ihn davon treibt. Besorgt blicke ich zu Annie und ihrem Zurrokex, das trotz Typnachteil Hunters Attacke abgefangen hat. Sie ist gut. „Beende es mit Aero-Ass“, befehle ich und Annie greift bereits nach dem nächsten Pokéball, noch bevor Hunter in einem plötzlichen Geschwindigkeitsschub vor prescht und Zurrokex besiegt zu Boden fallen lässt. Es wird fast augenblicklich zurück gerufen. „Brauchst du Hilfe?“, fragt der Anführer. Annie reißt fauchend den Kopf herum. „Fick dich, Ralf! Das ist mein Kampf, halt dich raus.“ Dann dreht sie sich wieder zu mir und fletscht beinahe die Zähne. „Und du pass gut auf, was jetzt kommt. Los, Petznief!“ Das kleine Eisschollen-Pokémon materialisiert sich im tiefsten Schneesturm und ich könnte schwören, dass es noch einmal zehn Grad kälter wird. „Beende es mit Eissturm!“ „Muss das sein…“, murmele ich mit zitternden Lippen und sehe hilflos dabei zu, wie Hunter sich zwar um eine Verfolgung bemüht, von dem Schneesturm jedoch hin und her geworfen wird. Petzniefs Eissturm erledigt den Rest. Ich rufe ihn zurück und fahre mit den Fingern über Gotts Finsterball. Kurz überlege ich, ob es klug ist, ihn bei so vielen feindseligen Zuschauern auf einen Gegner loszulassen, aber dann denke ich daran, dass sie mich zu fünft bedrohen wollten und verliere jegliches Mitleid. Gott materialisiert sich mit auflodernder Rückenflamme auf der vereisten Straße, schnieft einmal und schmilzt langsam den Schnee um seine Pfoten. „Flammenrad, los“, befehle ich und Gott bäumt sich auf, um eine gewaltige Feuerattacke auf Annies kleines Eispokémon zu speien, aber Annie ruft ihr Pokémon im letzten Moment zurück und ersetzt es durch ein Woingenau, das mit dem schwarzen Schwanz auf den Boden schlägt, verdutzt den Kopf dreht und von Gotts Attacke kaum berührt zu sein scheint. „Ich kämpfe mit Köpfchen, Anfänger“, prahlt Annie und verschränkt ihre Arme. Gott schnaubt eine Rauchwolke aus und fletscht gedemütigt die Zähne. „Sternschauer“, rufe ich Gott zu, der sich für die Attacke bereit macht. „Kontere ihn“, befiehlt Annie und die silbrigen Lichtgeschosse prallen beinahe wirkungslos an Woingenaus blauem Bauch ab, bevor sie zurück geschleudert werden und Gott treffen, der winselnd zur Seite springt. Ich beiße mir auf die Lippen, als Annie mich zufrieden beobachtet. Sie glaubt, sie hat den Sieg schon in der Tasche. Aber nicht mit mir. „Gott, greif nicht an“, sage ich und ignoriere sein herablassendes Fauchen, das er mir unwirsch entgegen schleudert. „Konzentriere dich auf deine Verteidigung. Wenn du Woingenau nicht attackierst, kann es dich nicht auskontern.“ Gott schnaubt, kugelt sich aber gehorsam zu einem Einigler zusammen. Er mag stärker geworden sein, aber wir sind schon aus zu vielen Kämpfen siegreich hervor gegangen, als dass er sich mir jetzt wiedersetzen würde. „Gewinnen wirst du so aber auch nicht“, ködert Annie mich grinsend. „Und dein Igelavar sieht so aus, als wolle es sich nur ungern hinter Verteidigungsmaßnahmen verkriechen.“ Gott hebt grollend den Kopf und macht einen Schritt auf Annie zu, die mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck hinter ihrem Woingenau steht, das in der Zwischenzeit einen Bodyguard errichtet hat. „Gott, bleib bei Einigler“, ermahne ich ihn. „Du kommst schon noch zum Angriff, keine Sorge. Vertrau mir, okay?“ Gott speit eine Flammenwoge in die Luft und erneuert dann seinen Einigler, Woingenau führt kleine Tanzschritte durch und wackelt mit dem Hinterteil und Annie lässt eine Beleidigung nach der anderen über uns herab regnen. Nach seinem vierten Einigler ist auch meine Geduld am Ende. „Sternschauer, gib alles, was du hast!“, befehle ich und Gott, der schon in den Startlöchern steht, schleudert sich mitsamt der Normalattacke dem gelangweilten Woingenau entgegen, das erschrocken aufblickt, von der Attacke getroffen wird und diese auf Gott zurück schleudert. Gott schreit auf, als der Konter ihn trifft und wird zurück geworfen, sodass er durch den Schnee schlitternd vor meinen Füßen zum Stillstand kommt. Ich sinke neben ihm in die Knie. „Gleich hast du´s“, ermutige ich ihn, auch wenn ich ahne, dass Annies Woingenau noch nicht am Ende ist. „Einmal angreifen und dann du kannst dich ausruhen.“ Gott schaut mich an. Er weiß, dass es sein letzter Angriff sein wird. Er weiß, dass er Woingenau nicht schlagen wird. Wütend springt er auf, schüttelt sich, bis sein Rückenfeuer Funken sprüht und wirft sich in einer letzten, verzweifelten Attacke auf seinen Gegner. Woingenau kontert und obwohl es zumindest geschwächt wirkt, bleibt Gott besiegt im Schnee liegen. Ich rufe ihn zurück. „Dein Auftritt“, sage ich und rufe Sku, die sich zerknirscht im Schnee wiederfindet und mich vorwurfsvoll anmaunzt, bevor sie sich ihrem Gegner zuwendet. „Toxin“, befehle ich ihr und Annie verzieht genervt das Gesicht. Der Bodyguard ist erst gerade abgelaufen, was Woingenau für Statusattacken anfällig machen. Pech für sie. Sku spuckt eine Woge ihres Gifts auf Woingenau, das mit den Armen wackelt und sich windet, aber die violette Flüssigkeit hat bereits begonnen, sich in seinen Organismus zu fressen und wird es durchgängig schwächen. Annie macht einen Schritt nach vorne. „Lass dich davon nicht beeindrucken“, sagt sie und der Wind bläst ihr schneeverklebtes Haar in alle Richtungen. „Richtig“, sage ich grinsend und greife nach Jayjays Pokéball. „Das war erst der Anfang. Kapitel 88: In der Klemme (Rivalität um Lavandia) ------------------------------------------------- Woingenau windet sich, als die erste Giftwoge ihn verletzt. Das Toxin beginnt langsam, aber der Schaden, den es seinem Opfer zufügt, verdoppelt sich mit der Zeit. Zusammen mit den drei Attacken, die Woingenau bereits von Gott einstecken musste, wird es nicht lange durchhalten. Annie weiß es auch. Sie wiegt Petzniefs Pokéball nachdenklich in ihrer Hand, unsicher, ob sie auswechseln soll. Woingenau ist ihr Tank; ihr drittes und letztes Pokémon jetzt einzusetzen, gibt Sku und mir eine zusätzliche Gelegenheit, Schaden auszuteilen. Wenn sie jedoch nicht wechselt, wird Woingenau in den nächsten paar Minuten besiegt sein. „Verzweifelt?“, frage ich grinsend und tätschele Jayjays Pokéball. „So leicht bin ich nicht klein zu kriegen. Sku, Kreideschrei.“ „Lass sie kommen und benutz deinen Bodyguard“, befiehlt Annie zähneknirschend. „Sie verkriecht sich anscheinend lieber hinter Statusattacken, als anzugreifen.“ „Ich kämpfe bloß mit Köpfchen“, erwidere ich. Ein wütendes Grummeln wird von den umstehenden Trainern laut. Verdammt. Ich hatte ganz vergessen, dass wir Zuschauer haben. Sku wartet geduldig, bis Annie und ich uns ausgesprochen haben, dann kreischt sie laut und ohrenbetäubend und Woingenau zuckt hinter seinem neu errichteten Bodyguard zusammen. „So wirst du niemals gewinnen“, sagt Annie. „Du hast quasi schon verloren.“ „Wirklich?“, frage ich und rufe Sku zurück. „Das werden wir noch sehen.“ Jayjay materialisiert sich mit einem lauten Schnauben vor mir im Schneegestöber und wiehert angriffslustig, als er seinen vergifteten Gegner entdeckt. Er stampft mit seinen Hufen auf und kleine Blitze entladen sich an den Schneeflocken, die sich in seiner Mähne verfangen. Annie kneift die Augen zusammen, dann grinst sie. „Jayjay, Ladevorgang“, befehle ich. „Wir erledigen sie jetzt.“ „Warte noch…“, murmelt sie. „Funkensprung!“ Jayjay, der vor elektrischer Energie nur so knistert, bäumt sich auf seine Hinterbeine. Kleine Blitze schießen von seinen Hörnern in den Himmel, dann stampft er auf den Boden auf. Die Attacke, verstärkt durch den Ladevorgang, schießt auf Woingenau zu, das die Augen geschlossen hat. „Abgangsbund!“, schreit Annie, gerade rechtzeitig, bevor Jayjays Attacke Woingenau trifft. Die Blitze schlagen in das blaue Pokémon ein und bilden eine Art Brücke, die sich schwarz verfärbt, als Woingenau die Augen öffnet. Sein Körper beginnt, gespenstisch violett zu leuchten, dann explodiert die schwarze Verbindung zwischen den beiden, Woingenau kippt besiegt vornüber und Jayjay wankt für einige Sekunden, bevor auch er mit einem dumpfen Knall in den Schnee fällt. Ich starre Annie fassungslos an. Ich habe mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Attacke. Dann wiederum hätte ich es mir wohl denken können. Woingenau kann schließlich nur vier Attacken. Zähneknirschend rufe ich Sku, jetzt froh, zuvor eingewechselt zu haben. Wenn es ein Pokémon gibt, auf das ich mich in dieser Situation verlassen möchte, dann ist es mein Starter. Annie ruft ihr Petznief, das schnieft und mit den Tatzen im Schnee patscht. „Mach ihr Stinktier fertig“, befiehlt Annie. „Eissturm, los!“ „Bleib offensiv, Sku. Schlitzer!“ Petznief setzt sich auf und ein tosender Sturm aus Eissplittern bildet sich um das kleine Pokémon. Aber Sku ist schneller. Sie schießt vor, weicht den ersten Vorboten der gegnerischen Attacke mit einem abrupten Richtungswechsel aus und durchschlägt Petzniefs rudimentäre Verteidigung mit ihrer klauenbewährten Pranke. Dann wird sie von den ersten Eisbrocken getroffen und springt zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. „Weiter so, du schaffst das“, feuere ich sie an, während Annie dasselbe bei ihrem Partner macht, wenn auch ein wenig hektischer. Bei Skus höherer Initiative ist sie im Nachteil. Zwei Schlitzer noch, dann ist es vorbei. Sku pfeift aus dem letzten Loch, aber es ist Petznief, das zuerst bewusstlos wird und rückwärts in den Schnee kippt. Sku atmet erleichtert aus, schnaubt dann und tappt zu mir zurück. Ich streiche ihr über das verschneite Fell. „Das kann nicht sein!“, schreit Annie. „Ich hätte gewinnen müssen!“ „Du hast verloren“, stelle ich ungerührt fest und zupfe meine Mütze zu Recht. „Kann ich jetzt gehen?“ „Gehen?“, fragt Ralf und lacht. Dann ziehen er und die restlichen drei Trainer gleichzeitig ihre Pokébälle. „Ich glaube kaum.“ „Nein, warte, warte“, ruft Annie hysterisch. „Ich kann sie besiegen! Ich weiß es! Lass mich nur zum Pokécenter gehen, ich bin sofort wieder da, ich kann-“ „Du hast verloren, Annie, sieh´s endlich ein“, faucht ein anderer Trainer. „Danke für die Vorarbeit, aber jetzt sind wir dran.“ „Ihr wollt nicht ernsthaft jetzt gegen mich kämpfen?“, frage ich entsetzt. „Das ist nicht fair! Das war ein fairer Kampf und ich habe gewonnen. Lasst mich gehen.“ Ralf grinst. „Dieser Typ, mit dem du abhängst, hat uns alle zum Narren gehalten. Mal sehen, wie ihm das hier gefällt.“ Rote Lichtblitze erleuchten den Schnee und das Eis um uns herum und innerhalb von Sekunden finde ich mich von einem Blanas, einem Schneckmag, einem Knogga und einem Entoron umzingelt. Herzlichen Glückwunsch, Abby, denke ich. Mission verarscht werden erfolgreich. Ich mache auf dem Absatz kehrt und renne los, Sku dicht auf meinen Fersen. Sie ist zu geschwächt, um gegen vier Pokémon anzukommen, und diese Trainer haben mit Sicherheit mehr als ein Pokémon. Ich bin kaum fünf Schritte gelaufen, da stellt sich mir einer der Jungen in den Weg, aber er hat nicht damit gerechnet, dass Sku sich auf ihn stürzen könnte. Er springt erschrocken zurück, als sie ihre Krallen ausfährt und ich nutze die Gelegenheit, so schnell wie möglich durch den Schnee zu sprinten. „Smog!“ „Knochmerang!“ „Aussetzer!“ Beißender, schwarzer Rauch verdeckt meine Sicht, bevor mein Körper in der Bewegung erstarrt, ich das Gleichgewicht verliere, mit voller Wucht von einem harten Gegenstand ins Kreuz getroffen und nach vorne geschleudert werde. Ich überschlage mich mehrmals und schlittere das letzte Stück über eine raue Eisfläche. „Wir haben sie!“, schreit jemand, aber ich bin nur damit beschäftigt, nicht ohnmächtig zu werden. Alles tut weh und ich kann mich kaum bewegen. Skus Fauchen erfüllt die Luft hinter mir, wird aber schnell von einem erstickten Laut ersetzt, als sie besiegt zu Boden geht. Als der Aussetzer seine Wirkung verliert, rolle ich ächzend auf meinen Rücken. Mein linkes Handgelenk pocht höllisch, meine linke Gesichtshälfte brennt und mein Rücken, wo der Knochmerang mich getroffen hat, strahlt Schmerzen in den Rest meines Körpers aus. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so elend gefühlt habe. Auf meinem Rücken liegend bemerke ich zumindest zwei Dinge. Priss´ Pokéball muss sich bei meinem Aufprall geöffnet haben, denn sie sitzt verängstigt und mit weiten Augen einige Meter neben mir und schaut zitternd zu den vier Pokémon samt Trainern, die jetzt aus dem Smog heraus treten. Davon abgesehen habe ich meinen Rucksack irgendwo auf halbem Weg verloren. Eine Seite ist aufgerissen und meine gesamten Habseligkeiten liegen verstreut im Schnee. Ich versuche, mich aufzusetzen, scheitere aber kläglich. Stattdessen presse ich meine linke Hand gegen meinen Bauch und beiße meine Zähne zusammen. Was immer die vier vorhaben, ich habe keine Möglichkeit mehr, mich ihnen entgegen zu setzen. Darks Überzeugungen müssen auf mich abgefärbt haben, denn ich kann nur noch daran denken, zumindest keine Schwäche zu zeigen. Priss tippelt vorsichtig in meine Richtung, ihr Blick immer wieder zu den nahenden Pokémon huschend. Schließlich springt sie vor mich und fiept in hysterischer Stimmlage. „Geh da weg“, murmele ich. „Du bist nicht stark genug.“ Priss faucht mich an und wendet sich wieder ihren Gegnern zu. „Wie süß“, meint Ralf. „Was machst du denn hier?“ „Sowas Kleines wie du hat hier nichts verloren“, fährt ein anderer Junge fort. Ich stöhne und rolle mich etwas zur Seite, um das Geschehen besser sehen zu können. „Lasst die Finger von ihr“, presse ich hervor. „Ich glaube kaum“, meint Ralf. Einer der Trainer grinst. „Entoron, Aquawelle.“ Die Wasserattacke trifft mit voller Wucht auf Priss, die weiterhin mit eisernem Willen vor mir steht. Sie wird davon gerissen und landet weit hinter mir. Ich will nach ihr schreien, aber das Wasser hat mich ebenfalls erwischt und ich bekomme kaum genug Luft, pruste und spucke Wasser. Die Kälte des Schneesturms hat sich mit einem Mal vervielfältigt. Ich bin völlig durchgeweicht und meine Haut fühlt sich an, als hätte sich eine Eisschicht darauf gebildet. Vielleicht hat sie das. „Das… reicht, oder?“, fragt der Trainer mit dem Schneckmag. „Sie hat ihre Lektion gelernt.“ „Nein“, sagt Ralf und tritt vor, dicht gefolgt von seinem Blanas. „Hat sie nicht.“ „Hey. Hey!“ Schritte. Das Klappern meiner Zähne übertönt fast alles andere. „Was zum Teufel macht ihr da?!“ „Oh scheiße, das ist Joy, Ralf, das ist Joy!“  „Rückzug, verdammt!“ „Spoink, Schnarcher!“ Ich kann nichts mehr erkennen und lasse meinen Kopf nach hinten sacken. Panische Rufe. Ein freudiges Grunzen. Joys wütende Stimme. Dumpfe Schläge, als die Trainer einer nach dem anderen schlafend zu Boden fallen. Jemand geht neben mir auf die Knie. „Ganz ruhig, alles wird gut. Ich hab dich“, murmelt Schwester Joy mit der ruhigen Stimme einer Person, die genau weiß, was zu tun ist. Ihre Hände tasten über mein Handgelenk und ich zische, als der Schmerz sich mit einem Schlag vervielfacht. „Gebrochen… Ganz ruhig.“ Sie streicht über mein Gesicht, dann hilft sie mir auf. „Hey, hilf mir!“, ruft sie hinter sich und ein Junge taucht hinter ihr auf. Über den Rücken hat er meinen wieder zusammen gepackten Rucksack geschlungen und kommt Joy nun zu Hilfe, in dem er auf meine andere Seite geht und mich dort stützt. „Priss“, flüstere ich. „Mein Evoli.“ Joy nickt, nimmt den Pokéball und ruft Priss zurück. Dann befördern mich die beiden zum Pokécenter. Alles geht wie im Halbschlaf an mir vorbei. Ich merke, dass ich durch ein volles und tuschelndes Pokécenter kutschiert werde, wie mir jemand meine durchweichten Klamotten auszieht und mich in einen flauschigen Bademantel hüllt. Erst, als ich aufhöre, wie verrückt zu zittern, bin ich in der Lage, meine Situation genauer unter die Lupe zu nehmen. Prismania Citys Krankenstation ist größer als die vor der Safari Zone, allein das Behandlungszimmer muss doppelt so groß sein. Ich bemerke meinen jetzt kaputten Rucksack, der neben einem Gästestuhl steht, auf dem der Junge sitzt, dessen Gesicht mir noch von zuvor in Erinnerung geblieben ist. Er beobachtet mich besorgt und als er sieht, dass ich wieder halbwegs zu mir gekommen bin, lächelt er mich ermutigend an. „Ganz schön krasse Sache“, sagt er nach einer Weile. Aschblondes Haar fällt ihm über die Bügel seiner Hornbrille und eine kleine Narbe am Kinn zeugt davon, dass auch er schon Erfahrung mit unangenehmen Verletzungen gemacht hat. „Schwester Joy kommt gleich, um deinen Arm zu röntgen. Sie telefoniert noch mit Erika.“ „Wegen der Trainer?“ „Genau.“ Er runzelt die Stirn. „Die fünf haben schon seit einigen Tagen Ärger gemacht und sich regelmäßig mit der KPA angelegt. Jeder hier kennt sie. Joy hat sich bisher zurückgehalten, aber nach der Aktion eben können die drei ihrem vierten Orden vorerst Adieu sagen.“ Ich nicke und fasse abwesend nach meinem Pokéballgürtel. Er ist weg. Panisch betaste ich meine Hüfte, bis mir einfällt, dass ich einen Bademantel trage. „Wo sind meine Pokémon?“, frage ich, während ich aufspringe und halb vornüber kippe. Der Junge kommt mir gerade rechtzeitig entgegen, um mich aufzufangen und hievt mich ächzend über seine Schulter. Mein Arm protestiert und ich unterdrücke ein Stöhnen. „Du sollst dich nicht bewegen“, sagt der Junge und bringt mich zurück zu dem Krankenbett. „Dein Bruch könnte sich verschieben.“ „Wo sind meine Pokémon?“ „Sie sind bei Schwester Joy“, sagt er und lässt sich schwer atmend neben mir auf das Bett sinken. „Sie haben ziemlich was abbekommen, vor allem dein Evoli. Ich hätte dir gerne geholfen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, aber Spoink und ich kämpfen nicht und hätten wahrscheinlich nur im Weg gestanden. So konnte ich zumindest schnell Schwester Joy holen.“ „Bist du mir gefolgt?“, frage ich, unsicher, was ich von seiner Geschichte halten soll. „Eigentlich bin ich Ralf und den anderen gefolgt“, sagt er grinsend. „Sie sahen schon so aus, als hätten sie dieses Mal etwas richtig Übles vor, da bin ich ihnen lieber nach. Ich bin gerne dabei, wenn es heiß her geht. Oder kalt, in diesem Fall.“ Er lacht über seinen Witz und verstummt dann, als Joy ins Zimmer kommt, grimmige Zufriedenheit in ihren Zügen. „Die fünf werden mir in dieser Stadt keinen Ärger mehr machen“, verkündet sie und holt eine Bleiweste aus dem weißen Schrank, der an der Wand steht, mit der sie zu uns kommt. „Warte bitte draußen, Julius.“ Julius springt vom Bett, winkt mir zu und verschwindet dann nach draußen. „Geht es dir besser?“, fragt Joy und mustert mich kritisch, während sie mein Gesicht mit der freien Hand betastet. „Die Aquawelle hat zumindest die Schrammen in deinem Gesicht ausgewaschen, aber es würde mich nicht wundern, wenn du eine Gehirnerschütterung hast. Wenn dir schlecht wird, sag mir Bescheid. So, und jetzt ziehen wir dir die Weste an, damit wir loslegen können.“ Ich lasse mir von ihr in die schwere Weste helfen und beiße mir durchgängig auf die Lippen. Als ich durch die Gespräche abgelenkt war und meinen Arm nicht bewegen musste, ging es, aber jetzt möchte ich bei jeder Bewegung anfangen zu weinen. „So ist gut.“ Joy nickt, dann schiebt sie mich sanft in einen kleinen angrenzenden Raum, in dem ein Röntgengerät aufgebaut steht. „Leg deinen Arm hier ab, genau. In Ordnung. Nicht bewegen, bis ich wieder komme.“ Das Röntgen geht schnell. Als Joy zurückkommt, zieht sie mir die Bleiweste aus und setzt mich auf einen Stuhl, bevor sie beginnt, mein Handgelenk zaghaft zu betasten und mir einen Gips anzulegen. „Du hast nochmal Glück gehabt“, sagt sie, während sie die feucht-kühlen Streifen um mein Handgelenk, meine Hand und meinen Unterarm wickelt. „Ein glatter Radiusbruch, der verheilt in sechs Wochen, wenn du ein bisschen aufpasst. Solange trägst du bitte den Gips. Danach reicht ein einfacher Verband aus.“ Als sie fertig ist, tut mein Handgelenk immer noch weh, aber der Gips, der auf meiner Haut getrocknet und hart geworden ist, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. „So.“ Joy lächelt mir zu. „Jetzt fehlt nur noch dein Gesicht.“ Die Schürfwunden in meinem Gesicht und auf meinen Händen sind nur halb so schlimm, nachdem sie ordentlich gereinigt wurden. Ich werde die nächsten Tage zwar eine Menge Krusten im Gesicht haben, aber ich bin schon mit Schlimmerem fertig geworden. Was mich wirklich wurmt, ist dass ich mit nur einem Arm meinen Job bei Cornelia pausieren werden muss. Und das so kurz vor der Begleichung meiner Schulden! Joy hilft mir noch, meine Klamotten anzuziehen, dann gibt sie mir meine Pokébälle zurück. Sie zögert einen Moment. „Dein Evoli hat keinen großen Schaden davon getragen, wenn man bedenkt, dass sie fast 25 Level niedriger als ihr Gegner war. Damit hattet ihr verdammt Glück. Eine physische Attacke hätte sie schwer verletzen können. Ich hoffe, du hast sie nicht in den Kampf geschickt.“ „Ihr Pokéball hat sich bei meinem Fall geöffnet“, sage ich. „Dann hat sie sich vor mich gestellt.“ Joy nickt wissend. „Sie wirkte sehr verstört. Du solltest sie erst langsam wieder ans Kämpfen gewöhnen. Und gib ihr viel Zuneigung. Das ist das beste Heilmittel.“ „Werde ich.“ Ich schaue zu meinem Rucksack. „Muss ich die Nacht hier bleiben?“ Der Gedanke, hier auf der Krankenstation zu schlafen, mit dem Gepiepe und dem Wissen, dass all die anderen Trainer über mir schlafen, behagt mir gar nicht. „Ich habe alles getan, was ich konnte“, sagt Joy. „Wenn du irgendwo unter kommen kannst, bist du selbstverständlich frei, zu gehen. Ich würde dich aber bitten, dich von Julius begleiten zu lassen, für den Fall, dass dir doch noch schlecht wird oder ein verspäteter Schock einsetzt.“ „Muss das sein?“, frage ich und denke wehmütig an das HQ, das ich wohl kaum mit fremder Begleitung betreten kann, ohne unangenehme Fragen beantworten zu müssen. „Keine Wiederrede“, sagt Joy streng. „Das ist meine Bedingung oder mir fällt doch noch ein Grund ein, warum ich dich unter Beobachtung behalten sollte.“ „Okay, okay“, murmele ich. „Ich nehme den Bodyguard.“ Julius, der in dem Moment im Türrahmen auftaucht, verschränkt breit grinsend die Arme. „Schön zu hören.“   Meinen gegipsten Arm in einer Schlinge verstaut und mit einigen Pflastern im Gesicht, folgen Julius und ich der Hauptstraße in Richtung Kaufhaus und KPA. Eigentlich möchte ich in meinem jetzigen Zustand nicht von Agnes gesehen werden, aber wenn ich es nicht schaffe, Julius vorher abzuwimmeln, wird mir kaum etwas anderes übrig bleiben. Zumindest scheine ich keine Gehirnerschütterung davon getragen zu haben. Bei der beschissenen Art, wie mein Feierabend verlaufen ist, ist mir jedes bisschen Optimismus recht. „Was machst du in Prismania City?“, frage ich nach einer Weile, um das Schweigen zu brechen. Julius denkt einen Moment nach. „Ich bin auf dem Weg nach Lavandia, aber irgendwie werde ich immer auf der Durchreise aufgehalten“, sagt er lachend. „Was willst du in Lavandia?“ „Der Fernsehturm ist dort“, sagt Julius. „Ich will mit einer richtig guten Story aufkreuzen, aber bisher bin ich nicht fündig geworden. Es ist verdammt schwer, etwas Gutes aufzuschnappen.“ „Jetzt echt?“, frage ich begeistert. „Ich will freiberufliche Reporterin werden, aber mir kommt auch dauernd was dazwischen!“ „Es ist so schwer!“, stimmt Julius enthusiastisch zu. „Oh Mann, ich habe noch nie jemanden getroffen, der dasselbe Ziel hat.“ Dann grinst er schelmisch. „Dann sind wir wohl Rivalen, was?“ „Scheint so“, sage ich grinsend. „Keine Sorge, ich habe meine Story schon. Du kannst die Reste haben.“ „Großzügig“, meint Julius und beginnt zu pfeifen. Je näher wir Agnes´ Wohnung kommen, umso nervöser werde ich. Ich will, dass wenigstens sie sich keine unnötigen Sorgen um mich macht. In Gips und Pflastern verpackt bei ihr aufzutauchen, könnte selbst sie davon überzeugen, dass meine Reisen zu gefährlich sind. Aber ins HQ kann ich nicht und ich habe sonst niemanden, zu dem ich kann. Außer… Wir gehen an Agnes´ Wohnung vorbei. Julius gähnt und schaut auf seine Armbanduhr. „Mann, schon so spät… Wann sind wir da?“ „Gleich“, versichere ich ihm. „Es ist das Hochhaus da hinten.“ Julius reckt den Kopf. „Ah, das ist wirklich nicht mehr weit.“ Ich atme tief durch, bevor ich die Klingel drücke. Es ist ein ziemliches Risiko, aber was wäre das Leben ohne ein paar spontane Dummheiten? „Was denn?“, erschallt Günthers kratzige Stimme in der Leitung. „Opa, hier ist Abby“, plappere ich los. „Ich brauche dringend eine Schlafmöglichkeit, lässt du mich bitte rein?“ Stille. Julius hüpft von einem Fuß auf den anderen und atmet kleine weiße Wölkchen in die Luft. Als Günther nichts sagt, schaut er mich fragend an. Plötzlich erschallt ein Sirren, als die Tür sich entriegelt. Fassungslos schaue ich auf die Tür, drücke mich dann dagegen und zucke zusammen, als die Bewegung sich direkt auf meinen Arm auswirkt. Julius hilft schnell nach. „Dann gute Besserung“, verabschiedet er sich. „Vielleicht sehen wir uns ja in Lavandia oder sonst wo.“ „Das hoffe ich doch“, sage ich. Er verschwindet aus meinem Sichtfeld und ich atme erleichtert aus, bevor ich die Treppen hinauf zu Günthers Wohnung schlurfe. Theoretisch hätte ich jetzt die Möglichkeit, zum HQ zu gehen, aber mir ist nicht mehr nach Gehen zu Mute. Mein Arm pocht, mein Gesicht brennt und ich bin todmüde. Jetzt nochmal eine Stunde durch Schnee und Eis zu stapfen, will ich mir nicht antun. Günther wartet bereit im Türrahmen, einige fiese Worte auf den Lippen, aber als er mein Gesicht und meinen Arm sieht, schnaubt er nur und tritt zur Seite, um mich einzulassen. Nie bin ich jemandem dankbarer gewesen. Er verschwindet in der Küche und lässt mich alleine im Flur stehen. Müde und nun doch ein bisschen wacklig auf den Beinen, ziehe ich meine Jacke und meinen Rucksack aus, schleppe mich in sein Wohnzimmer und lasse mich vorsichtig in die tiefen Polster des Sofas sinken. Mein Arm pocht höllisch. Einige Minuten später kommt Günther zurück, ein Tablett mit Tee und Broten in den Händen, das er vor mir auf den Tisch stellt. Die Frage, warum er mich plötzlich so anders behandelt, liegt mir auf den Lippen, aber ich habe Angst, mein Glück zu überstrapazieren und beiße stattdessen in eins der Brote. Als ich fertig mit Essen bin, lehne ich mich nach hinten und schließe die Augen. „Du kannst das Sofa haben“, knurrt Günther und ich öffne die Augen, während er sich mit Hilfe seines Krückstocks erhebt. „Morgen bist du dann hoffentlich weg.“ „Vielen Dank, Günther“, sage ich. Dann, weil ich mich nicht mehr zurück halten kann, hake ich nach. „Aber warum hast du mich überhaupt rein gelassen?“ „Wenn ein junges Ding wie du mich mitten in der Nacht panisch Opa nennt und meine Hilfe anfordert, dann lasse ich sie nicht draußen stehen. Und so wie du aussiehst, hatte ich Recht.“ Er verlässt das Wohnzimmer und verschwindet in seinem Schlafzimmer. Ich seufze, suche mir eine Decke und mache es mir dann auf dem Sofa bequem, was mit einem zugegipsten Arm nicht ganz einfach ist. Ich rolle mich eine Weile, umher, dann greife ich nach Priss´ Pokéball und rufe sie. Sie materialisiert sich neben dem Sofa, sieht sich erschrocken um und schaut mit großen Augen zu mir auf. Sie zittert am ganzen Körper. Ich ziehe die Decke hoch und sie springt sofort zu mir aufs Sofa, wo sie sich in meine Armbeuge zwängt, den Kopf unter meinem Arm versteckt, und sich dort so klein wie möglich macht. „Danke, dass du mich beschützen wolltest“, flüstere ich und ziehe die Decke über uns. „Aber du musst dich nicht für mich in Gefahr bringen. Du hast Teammitglieder, die stark sind und uns beschützen werden. Zumindest das nächste Mal. Okay?“ Sie brummt leise. Dann schläft sie ein und ich mit ihr.  Kapitel 89: Der S-Com (Vertraust du mir?) ----------------------------------------- Am nächsten Morgen hat der Sturm nachgelassen. Eine weiße Schneedecke hat sich auf den Straßen gebildet, ist jedoch zu großen Teilen von Fußspuren durchzogen, einige von ihnen die meinen, als ich mich auf den Rückweg zum Hauptquartier mache. Vor meiner Abreise habe ich Günther einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen, mit einer Einladung zu Cornelias Teestube. Ihn zu wecken erschien mir eindeutig zu riskant. Priss hatte es sich in meinem Anorak gemütlich gemacht, aber nur ein Blick auf den Schnee hat sie panisch zurück in die Wohnung flüchten lassen. Jetzt ist sie wieder in ihrem Pokéball und ich trage meinen zerrissenen Rucksack über der rechten Schulter, um meinen Arm so wenig wie möglich zu belasten. Etwa zwanzig Minuten später erreiche ich die Spielhalle. Ich bringe meinen Rucksack in das Zimmer, das ich mir derzeit mit Chris und Jayden teile, entledige mich meiner Winterjacke und mache mich dann auf den Weg hinunter in den Gemeinschaftsraum. Außer Dark, der vor dem kleinen Fernseher sitzt, den wir uns angeschafft haben, ist niemand dort. Als Hundemon mich seht, spitzt es die Ohren und lenkt Darks Aufmerksamkeit auf mich, der seinen Blick kurz über mich gleiten lässt, den Fernseher stumm schaltet und mich fasziniert mustert. „Auf die Geschichte bin ich gespannt“, sagt er. „Ich dachte nicht, dass ich deine selbstzerstörerischen Fähigkeiten so früh zu Gesicht bekommen würde.“ Ich strecke ihm die Zunge heraus, bevor ich mich neben ihn auf das Sofa setze. „Was heißt hier früh“, meine ich und gähne. „Ich habe mir fast zwei Wochen Zeit gelassen. Mehr Zurückhaltung kannst du wirklich nicht von mir erwarten.“ Hundemon schnaubt und hebt den Kopf, damit Dark seine Stirn kraulen kann. „Scherz bei Seite“, sagt Dark etwas ernster. „Was ist passiert?“ Ich berichte ihm von meiner Begegnung mit den fünf Trainern und bin nicht überrascht, als Dark wütend auf den Fernseher starrt. Inzwischen kenne ich ihn gut genug, um zu wissen, was ihn wirklich auf die Palme bringt. „Es wird Zeit, dass wir schnelle Kommunikation bekommen“, sagt er schließlich. „So etwas wie gestern darf nicht nochmal passieren.“ „Wird es nicht“, sage ich. „Die wären schön doof, wenn sie in der Stadt bleiben. Joy hat Erika kontaktiert. Den Orden werden sie nicht so leicht bekommen.“ „Mir war der Sinn von Orden immer suspekt“, sagt Dark. „Wenn das die einzige Bestrafung ist, die sie bekommen, wundert es mich nicht, dass Trainer außer Kontrolle geraten.“ „Die fünf haben wohl schon früher Ärger gemacht“, erkläre ich und lehne den Kopf gegen die Sofalehne. „Aber jetzt werden sie aus Prismania verschwinden müssen. Ich musste mich schon früher mit solchen Unruhestiftern rumschlagen, das ist wirklich nichts Neues für mich.“ Dark seufzt. „Du bist mir ein Rätsel.“ Ich grinse. „Danke.“ „Das war kein Kompliment.“ Hundemon knurrt zustimmend und winselt, als Dark seine Hand vom Kopf des Pokémon nimmt und den Fernseher ausschaltet. „Du bringst dich willentlich in Gefahr. Und wofür?“ „Für Gerechtigkeit.“ Dark lacht humorlos auf. „Was?“, frage ich gereizt. „Das ist genau das, wofür Team Shadow steht, oder nicht? Ihr wollt die Schwachen beschützen. Diejenigen, die von Tyrannen unterdrückt werden. Von Leuten wie diesen Trainern! Das ist Gerechtigkeit, oder nicht?“ „Vielleicht. Aber Gerechtigkeit ist subjektiv. Deine Ansicht mag für dich gerecht sein, aber diese fünf Trainer, die wegen dir nun die Möglichkeit auf einen Orden verlieren, was ist mit ihnen? Glaubst du, sie denken, dass das Schicksal sie gerecht behandelt hat? Sie werden ihre eigene Gerechtigkeit suchen, und so wie die Dinge stehen, werden sie die ohne große Probleme finden.“ „Was meinst du?“ Dark wirft mir einen kurzen Blick zu. „Woher glaubst du, kommen Team Rocket oder die Biker? Sie sind nicht plötzlich da. Das sind Gruppen, die voll von selbstgerechten Verbrechern sind, die sich von der Gesellschaft ungerecht behandelt fühlen. Wieso dürfen sie die Schwachen nicht ausbeuten? Wieso dürfen sie nicht stehlen, was sie brauchen? Wie ungerecht von dir, sie daran hindern zu wollen.“ Er wippt mit den Beinen auf und ab und schaut an die Decke. „Die Biker walten, wie es ihnen gefällt, Trainer, die nicht diszipliniert werden, schließen sich ihnen an. Team Rockets Einfluss wächst täglich und niemand kann sie aufhalten.“ „Doch“, sage ich. „Wir.“ Dark schweigt. „Du weißt, dass es die richtige Entscheidung ist“, sage ich eindringlich. „Du tust vielleicht so, als wärst du gefährlich und unnahbar und all das, aber du willst das Richtige tun. Du sagst, dass du Schwäche hasst, aber das tust du überhaupt nicht. Du verachtest nur diejenigen, die Schwäche ausnutzen.“ „Und seit wann kennst du mich besser als ich mich selbst?“, fragt Dark mit hochgezogenen Augenbrauen. „Tu ich nicht“, sage ich grinsend. „Aber liege ich falsch?“   Als Jayden und Chris später am Abend von dem Vorfall erfahren, muss ich sie gewaltsam davon abhalten, die Trainer persönlich aus der Stadt zu jagen. So sehr mich ihre Entrüstung rührt, möchte ich den vorläufigen Frieden in Prismania doch nicht gefährden. Die größten Unruhestifter sind nun aus dem Weg geräumt und als Quasimitglied bringe ich Team Shadow zumindest eine Art Krüppelbonus bei den anderen Trainern ein. Dienstag mache ich mich etwas früher als gewöhnlich auf den Weg zu Cornelias Teestube, damit sie entscheiden kann, wie mit mir zu verfahren ist und bin nicht milde überrascht, Günther an einem der Tische vorzufinden, wo er in ein Gespräch mit Cornelia vertieft ist. Gut, ich hatte ihn eingeladen, aber ich habe nicht wirklich damit gerechnet, dass er das Angebot wahrnimmt. „Abby“, ruft Cornelia, als sie mich entdeckt. „Warum bist du so früh?“ Ich wedele mit meinem Gips und zucke leicht zusammen, als die Bewegung durch meinen gesamten Arm zieht. „Ich wollte dich vorwarnen, dass du ab jetzt wieder alleine bist.“ „Papperlapapp.“ Sie kommt zu mir, packt mein Kinn und begutachtet mein Gesicht von allen Seiten, schnaubt und wirft einen kurzen Blick auf meinen Arm. „So ein kleiner Rückschlag wird dich wohl nicht davon abhalten, mir zur Hand zu gehen. Du kannst Tee aufbrühen, wenn dir das Bedienen zu anstrengend ist.“ Ich nicke begeistert. Soweit habe ich gar nicht gedacht. „Und übrigens…“ Sie lehnt sich näher zu mir und schielt in Richtung Günther. „Wo hast du diesen ausdrucksstarken Herren aufgetrieben?“ Ich unterdrücke ein Prusten. Ausdrucksstark kann man es wohl auch nennen. „Er ist ja genau mein Typ“, fährt Cornelia ungerührt fort. „Eine schroffe Fassade mit einem weichen Kern, und schlecht sieht er auch nicht aus. Den Tee ziehe ich trotzdem von deinem Gehalt ab, du schuldest ihm etwas, nachdem er dich mitten in der Nacht aufgenommen hat.“ Sie lässt mich sprachlos an der Tür stehen und setzt sich zurück zu Günther an den Tisch.   Später am Abend kehre ich erschöpft ins Hauptquartier zurück, nur um schon im ersten Untergeschoss von Dark abgefangen zu werden, der neben Hundemon auf seinen Fußballen hockt und sein Pokémon an der Kehle krault. Als er mich sieht, erhebt er sich und nickt in Richtung eines leeren Raumes. Skeptisch folge ich und lasse mich dort auf einem Stuhl nieder, während Dark die Tür hinter uns schließt, auf den Fersen auf und ab wippt, seufzt und dann die Arme verschränkt. Ich hebe eine Augenbraue. „Und was ist dir über die Leber gelaufen?“, frage ich. „Die S-Coms sind fertig“, sagt Dark und Hundemon bellt einmal freudig, bevor es sich zu Füßen seines Trainers hinlegt und den Kopf auf seine Pfoten bettet. „Das heißt, dass wir ab jetzt getrennte Wege gehen können.“ „Ist doch super“, meine ich grinsend. „Darauf warten wir schließlich schon die ganze Zeit.“ „Richtig. Das gibt dir aber noch mehr Möglichkeiten, in Schwierigkeiten zu geraten.“ „Oh bitte.“ Ich lehne mich zurück. „Ich bin fünf Monate ohne euch zu Recht gekommen, also mach dir jetzt nicht plötzlich Sorgen um meine Sicherheit, wenn du mir vor einer Woche noch damit gedroht hast, mich umzubringen.“ „Genau darum geht es.“ Er wippt etwas heftiger auf seinen Fersen und hält dann inne. „Du bist die einzige, die meine Hintergründe kennt. Ich habe Skrupel, dich so frei agieren zu lassen.“ „Was soll das denn heißen?“, frage ich und lehne mich vor. „Ich habe deine Identität schon geheim gehalten, bevor ich überhaupt wusste, dass du dich auf unsere Seite schlagen würdest, ich habe engen Kontakt mit der Polizei und von denen hat auch noch keiner hier geklingelt, oder? Bisher habe ich niemandem von dir erzählt, warum sollte ich das gerade jetzt ändern, wo du mir deine Hilfe versprochen hast?“ „Du hast es niemandem gesagt?“, fragt Dark. „Auch nicht deinem Freund?“ „Ich…“ „Wenn du willst, dass ich dir vertraue, solltest du vielleicht aufhören, mir stetig ins Gesicht zu lügen.“ Ich verziehe das Gesicht. „Ich habe ihm und meinem besten Freund von dir erzählt. Aber sonst niemandem. Und sie werden nichts sagen.“ Hundemon grollt. „Werden sie nicht!“, rufe ich und springe auf. „Ich schwöre es dir, Dark. Wehe, du tust den beiden etwas!“ „Fang von vorne an, Abby. Wer sind sie, und wo kann ich sie finden.“ „Wenn du auch nur daran denkst, ihnen-“ „Vertraust du mir oder vertraust du mir nicht?“ Wütend mache ich einen Schritt auf ihn zu, was Hundemon aufspringen lässt, Zähne gebleckt. „Ich bedrohe deine Freunde ja auch nicht!“ „Du bedrohst mich.“ Wir starren einander an, bevor ich ihn zur Seite stoße und zur Tür gehe, aber Dark packt mein Handgelenk und hält mich fest. Ich werfe ihm einen herausfordernden Blick zu. „Lass. Mich. Los.“ „Wenn wir ein Team bilden, wenn wir einen Deal machen wollen, dann müssen wir uns zumindest ein bisschen vertrauen. Waren das nur leere Worte?“ Sein Blick hat etwas Flehendes. „Nein“, sage ich lese. „Waren es nicht. Aber du machst es mir verdammt schwer.“ „Du mir auch.“ Er lässt meine Hand los, aber ich mache keine Anstalten mehr, hinaus zugehen, sondern lasse die Schultern hängen und atme einmal tief durch, bevor ich mich zu ihm wende. „Raphael Berni ist mein bester Freund, einer der Favoriten. Er ist wahrscheinlich in Fuchsania City, um die Safari-Zone zu besuchen. Louis Kale ist mein Freund. Er ist… er ist in Anemonia City.“ Ich sehe ihn eindringlich ein. „Sie werden nichts sagen. Tu ihnen nichts. Bitte.“ Dark lacht leise. „Du bist so naiv.“ Mein Blut gefriert mir in den Adern und ich greife automatisch nach meinen Pokébällen. Ist mir egal, ob ich eine Chance habe, aber ich werde ihn notfalls mit meinem Gips bewusstlos prügeln, bevor er Louis oder Raphael etwas antun kann. Dark schaut mich einen Moment lang an, dann lächelt er schwach und sieht weg. „Aber vielleicht muss man naiv sein, um vertrauen zu können.“   Jayden, Chris und ein sehr hibbeliger Ryan warten bereits in der Schaltzentrale im dritten Untergeschoss, als Dark und ich auftauchen. „Wo wart ihr noch so lange?“, fragt Jayden und wirft sich ein Bonbon in den Mund, auf dem er augenblicklich zu kauen beginnt. „Ich will endlich dieses Wunderhandy kriegen.“ „Geschäftliches“, sagt Dark ausdruckslos und stellt sich zu den anderen beiden. Ich folge seinem Beispiel und lasse den Blick über die acht Geräte gleiten, die Ryan liebevoll auf dem Tisch vor uns angeordnet hat. Sie sehen ein bisschen aus wie ein schwarzer Pokédex, den jemand in ein Handy integriert hat. „Da wir nun vollzählig sind, kann ich ja beginnen“, sagt er, aber die typische Schärfe ist aus seinen Worten gewichen. Er rückt seine Stahlbrille zu Recht und hebt dann eins der schwarzen Telefone in die Höhe, um es uns zu präsentieren. „Ich darf vorstellen: Der S-Com, an dem ich seit zwei Wochen arbeite. Dark hat mir die Problematik von Handys dargelegt, weil wir als Elitetrainer oft an Orten sind, die weder Empfang noch ein Pokécenter in der Nähe haben. „Der S-Com ist wasserfest, besitzt eine schützende Außenhülle, damit er bei Stürzen nicht kaputt geht und ist bis zu Temperaturen von 200°C hitzeresistent. Er läuft mit Akku, den ihr im Notfall mit der Statik eurer eigenen Elektropokémon aufladen könnt, seid aber vorsichtig, dass ihr den Akku nicht überladet. Keine Elektroattacken, schon gar nicht von einem Zapdos.“ Er schaut Dark eindringlich ein, der nickt und ihm damit das Signal gibt, weiter zu reden. „Er besitzt seine eigene Netzabdeckung, in anderen Worten, selbst in Höhlen, auf Bergen oder an sonstigen abgelegenen Orten sollte er in der Lage sein, eine Verbindung zu unserem Computernetzwerk und den anderen S-Coms herzustellen. Solltest ihr wirklich einmal abgeschnitten sein, gibt es einen Notknopf, der sein internes Netz für einige Minuten drastisch verstärkt. Das kostet einen Großteil der Akkuenergie, benutzt ihn also nur in Notfällen.“ Ich betrachte den S-Com mit neugefundener Begeisterung. Dieses kleine Gerät hätte mir mein Leben in einigen Situationen ziemlich erleichtert. Auch als Nicht-Elitetrainer bin ich oft genug in Höhlen unterwegs. „Was ist mit Kommunikation?“, fragt Dark. „Dazu komme ich jetzt.“ Ryan reicht jedem von uns einen der S-Coms und zeigt uns, wie wir die Geräte anschalten können. „Wie ihr seht, erscheint jetzt eine Profileingabe. Gebt eure Trainer-ID und euren vollständigen Namen ein, danach seid ihr die authentifizierten Benutzer. Euer S-Com ist mit meinen Servern verbunden, jede Nachricht, die ihr verschickt, geht durch meine Schaltzentrale und kann zu euch zurückverfolgt werden.“ „Du kannst unsere Position sehen?“, fragt Jayden und mustert das Gerät. „Das kann ich, aber um ehrlich mit dir zu sein, Jayden: Außer in einem Ernstfall, interessiert es mich kein Stück, wo du dich gerade herumtreibst. Ich habe Besseres zu tun, als euch dabei zuzugucken, wie ihr durch die Weltgeschichte reist.“ Jayden zuckt mit den Achseln. „Weiter.“ Er rückt seine Brille zu Recht. „Dark hat vorgeschlagen, euch wöchentlich eure Aufgaben zu übermitteln. Ihr werdet daher jede Sonntagnacht eine Systemnachricht erhalten, die euren Kalender beinhaltet. Dazu kommen Eilnachrichten, sollte sich einer von euch in Schwierigkeiten befinden und Hilfe brauchen oder euer Zeitplan sich kurzfristig ändern. Gibt es bis hierhin Fragen?“ „Abgesehen von dem verbesserten Empfang“, beginne ich, „wie erleichtert uns der Com das Nachrichtenschreiben?“ „Das wäre mein nächster Punkt gewesen“, erklärt Ryan und deutet auf seinen eigenen S-Com. „Wie ihr sehen könnt, gibt es diverse Knöpfe in der oberen Hälfte, die es auf Telefonen nicht gibt. Das sind eure Kurzwahlen. Es gibt eine SOS-Taste, die automatisch eure Koordinaten als Eilnachricht an die Schaltzentrale und an alle anderen S-Coms sendet. Wer immer gerade in der Nähe ist, kann mit einer einzigen Tasteneingabe bestätigen, sich um den Notfall zu kümmern, was ebenfalls als Nachricht an alle Geräte geht, damit nicht alle Teammitglieder zu Hilfe kommen. „Weitere Kurzwahlen könnt ihr selbstständig einstellen, damit sie auf Druck automatisch einen vorgefertigten Text an einige bestimme oder alle S-Coms schicken. Eure Adminpasswörter für den Aufzug und den Eingang ins HQ werden euch ebenfalls wöchentlich als Systemnachricht zugesendet. Und natürlich gibt es Kurzwahltasten für das jeweils nächste Krankenhaus, Pokécenter und die Polizeistation. „Zum Schluss noch der rote Knopf hier am Rand: Die Rocket-Taste. Wenn ihr Team Rocket seht, könnt ihr diese Kurzwahl aktivieren, die sich automatisch in das Polizeisystem einhackt und dort einen automatisierten Anruf hinterlässt, der die Koordinaten von Team Rocket durchgibt. Zusätzlich werden wie bei der SOS-Taste alle anderen Mitglieder kontaktiert, die ihre Zusage für den Fall bestätigen können.“ Wir betrachten lange schweigend die technischen Wunder in unseren Händen. Ich habe fast Angst, meinen S-Com anzufassen, auch wenn ich weiß, dass er wahrscheinlich mehr aushält als ich. Schließlich hebt Jayden die Hand. „Bitte?“, fragt Ryan, sichtlich nervös. Er scheint keine weiteren Offenbarungen für uns zu haben. „Nur eine Frage noch.“ Jayden grinst. „Kann man mit diesen Dingern auch normal telefonieren?“   Mittwochmorgen stehe ich frierend auf der Wiese südlich von Prismania City. Das gefrorene Gras knirscht unter meinen Füßen, während ich vor und zurück tänzele, um mich warm zu halten. Jayden sitzt bereits auf Gluraks Rücken, während Chris und Dark gegenseitig ihre Legendären mustern. So ein Zusammenkommen erlebt man nicht alle Tage. Zapdos ist beträchtlich kleiner als Ho-Oh, strahlt aber eine Intensität aus, bei der ich automatisch einen Schritt zurück machen möchte. Kleine Blitze entladen sich stetig an seinen Flügeln und seine schiere Anwesenheit scheint die Luft um es herum schwerer zu machen. Ho-Ohs regenbogenfarbenes Gefieder leuchtet in der Dunkelheit und die Hitze seines Körpers hinterlässt einen wässrigen Flecken geschmolzenen Eises unter seinen Krallen. „W-wann kommt ihr wieder?“, bibbere ich und mache mich so klein wie möglich. Jayden und Chris und werfen einander unsichere Blicke zu. „Wir werden eine ganze Weile am Silberberg bleiben“, erklärt Jayden schließlich und tätschelt Gluraks Hals, als es ungeduldig einige Flammen auf den Boden spuckt. „Wir haben verdammt viel nachzuholen. Aber du kannst uns mit dem Superhandy kontaktieren, wenn du Sehnsucht kriegst.“ „Was ist mit dir?“, frage ich Dark. Er ist der Anführer. Wird er auch einfach verschwinden? „Ich habe einige Dinge zu erledigen“, sagt er und schwingt sich auf Zapdos´ Rücken. „Aber ich werde nächste Woche zurück sein.“ Ohne ein weiteres Wort katapultiert sich Zapdos in die Lüfte, während kleine Blitze über den Himmel zucken. „Klar, lasst mich mit dem Computerfreak alleine“, murmele ich. Chris, wie immer nur in Shorts, tätschelt abwesend meine Schulter und steigt dann auf ihr Pokémon. „Auf“, flüstert sie und Ho-Oh erhebt sich mit schweren Flügelschlägen, bis es hoch über unseren Köpfen ist. „Das war mein Startzeichen“, sagt Jayden grinsend, wirft sich ein Bonbon in den Moment und schießt im nächsten Moment mit Glurak in die Höhe. Beide Feuerpokémon erfüllen den Himmel mit orangerotem Leuchten, als sie in Richtung Westen davon rasen. Nur wenige Sekunden später sind sie nichts als kleine Lichtflecke am dämmernden Himmel. „Und weg sind sie“, sage ich und schaue zu Sku hinunter, deren Augen in der Dunkelheit aufleuchten. „Zurück ins Warme?“ Sie maunzt und läuft davon.   ooo                           Ende der Woche erreicht mich eine SMS von Valentin, in der er mir von seinem Training auf den Eilanden berichtet und dass er am 20. Februar zurückkommt. Ich versichere ihm, in Saffronia zu sein, wenn er dort ankommt, um ihm das Dojo zu zeigen. Sku brummt leise und ich mache mich wieder daran, ihren Bauch zu kraulen, den sie mir gierig darbietet. Priss hat sich auf Chris Bett an der gegenüberliegenden Wand zusammen gerollt und beobachtet misstrauisch Gott, dem sie nicht über den Weg traut und der auf meiner anderen Seite leise knurrt, wann immer sie den Blickkontakt zu lange hält. Es wundert mich, dass sie nicht mit ihm auskommt, schließlich ist Hundemon ebenfalls ein Feuerpokémon und weit stärker. Ich grinse. Liegt da Liebe in der Luft? Bei dem Gedanken wird mir mulmig zu Mute. Valentinstag ist nur noch eine Woche entfernt und ich habe mich seit Tagen nicht mehr bei Louis gemeldet. Mir schwirren so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich ihn nur vermissen kann, wenn ich gerade mal eine ruhige Minute habe und nicht mit dem Schicksal der Regionen jonglieren muss. Ich seufze und Sku krabbelt auf meinen Schoß, wo sie sich aufstellt und ihre Vorderpfoten gegen meine Schultern drückt. Sie reibt ihren Kopf an meinen und ich umarme sie fest. Wenn ihr etwas passieren würde, wenn irgendeinem von meinen Pokémon etwas passieren würde… Ich atme zittrig durch. Dann klingelt mein Handy. Ich zucke zusammen, taste, blind von violettem Fell, nach dem kleinen Gerät und nehme schließlich ab. „Hallo?“, frage ich und schiebe Sku zurück in meinen Schoß, wo sie sich zusammen rollt und Gott anschnurrt, der faucht und mit eingefahrenen Krallen nach ihr schlägt. „Abby, hier ist Holly“, erklingt es aus den Lautsprechern und ich bin mit einem Mal hellwach. „Ich habe mit Rocky gesprochen. Deine Forderungen haben uns allen großes Kopfzerbrechen bereitet, aber letztlich haben wir keine große Wahl. Wir werden Richard aber erst freilassen, nachdem die Übergabe stattgefunden hat und wenn wir erfolgreich waren. Wenn dort also niemand ist, kein Team Rocket oder nur ein sehr geringer Rang, ist der Deal geplatzt.“ Ich zögere. Es gefällt mir nicht, dass meine Forderungen so ausgehebelt werden, aber was soll ich schon machen. Das ist meine einzige und beste Chance, Richard freizubekommen. „In Ordnung“, stimme ich zu. „Was ist mit meinem anderen Vorschlag? „Wir sind geneigt, zuzustimmen“, fährt Holly fort. „Allerdings möchten wir ein repräsentatives Mitglied dieser Spezialeinheit gerne persönlich kennen lernen. Er oder sie soll zusammen mit dir zum Übergabeplatz kommen.“ „Kein Problem.“ „Und eins noch, Abby.“ Sie macht eine kurze Pause. „Wenn deine Informationen sich als falsch herausstellen, habe ich Befehl, dich festzunehmen. Also denk kurz darüber nach und dann gibst du mir deine Informationen.“ Ich schlucke, ermahne mich aber sofort zur Ruhe. Gott fängt bereits an, nervös zu werden. „Die Übergabe findet in der Unterführung zwischen Saffronia City und Prismania City statt, in der Nähe des Eingangs auf Route 8. Drei Uhr morgens, in der Nacht zum 1. März.“ „Endlich. Vielen Dank, Abby.“ „Oh, und eins noch“, sage ich und lehne mich an die Wand hinter mir. „Unsere Spezialeinheit hat einen Namen.“ Holly schnaubt. „Und welchen?“, fragt sie unbeeindruckt. Ich grinse. „Team Shadow.“ Kapitel 90: Wieder vereint (Katastrophe auf dem Vormarsch) ---------------------------------------------------------- „Es ist Valentinstag, liebe Zuhörer, und auch der anhaltende Winter kann die Wärme nicht aus unseren Herzen vertreiben!“ „Oh Alfred, ich kann kaum an mich halten, so viel Liebe ist in der Luft!“ „Die Umfragen bestätigen, dass auch unsere Zuhörer sich Gedanken um das Liebesleben der Favoriten und des Champs machen und heute werden wir endlich Klarheit schaffen! Wir von PCN haben einige der berühmtesten Trainer zu ihren Plänen für diesen aufregenden Tag interviewt. Jessy, wärst du so gut? Mit welchem Pärchen dürfen wir diesen verschneiten Morgen beginnen?“ „Gold hat sich endlich zu seiner Liebe bekannt und uns in einem vertrauten Gespräch gestanden, seine Kindheitsfreundin Lyra heute zu einem wundervollen Date ausführen zu wollen. Als Kämpfer gegen das Böse hat er wahrlich viel um die Ohren, aber für seine große Liebe nimmt Gold sich heute einen Tag frei.“ „Das ist so rührend! Und was ist mit Noah, unserem Champion? Wenn er sich nicht bald ein hübsches Mädchen schnappt, werde ich mir diesen Burschen persönlich vorknöpfen.“ „Noah gab in der Tat zu, keine Verabredung zu haben. Dieser Junge ist zu aufopferungsvoll für sein eigenes Wohl. Aber nicht verzagen, liebe Zuhörer, denn die größte Überraschung erwartet sie noch!“ „Unsere Umfragen zeigen, dass Raphael Berni und Genevieve Keller als Traumpaar gehandelt werden, und nicht ohne Grund. Die Neckerei der beiden kann wohl kaum nur Freundschaft sein!“ „Falsch gedacht!“ „Raphael teilte uns mit, den heutigen Tag mit einer ganz außergewöhnlichen jungen Frau verbringen zu wollen, die er vor einigen Wochen kennen gelernt hat. Und wenn ich mich nicht täusche, hat Amors Pfeil ihn direkt durchs Herz getroffen.“ „Das ist so romantisch Alfred, mir wird schon ganz warm ums Herz. Hat er auch verraten, um wen es sich handelt?“ „Sie ist in Kanto nicht ganz unbekannt, Jessy. Elisabeth O´Neil, die Erbin der Safari-Zone in Fuchsania City. Ob sie schon von ihrem Glück weiß?“ „Mit Sicherheit, Alfred. Raphael scheint mir die Art Mann zu sein, der sein Date perfekt durchplant, um seine Herzensdame zu beeindrucken.“ „Und wie könnte er auch nicht, mit all seinen-“   Ich ziehe die Kopfhörer aus meinen Ohren und starre an die Decke. Elisabeth. Liz. Die Freundin, zu der Rose zu Besuch ist und an die ich Raphael weitergeleitet habe, damit sie ihm die Safari zeigen kann. Auf der einen Seite bin ich froh, dass wenigstens einer von uns heute jemanden hat, mit dem er den Tag verbringen kann. Aber ein kleiner Teil von mir ist enttäuscht, dass er mir nichts gesagt hat. Ich bin seine beste Freundin. Warum hat er mir nichts gesagt? Und ja, ich gebe es zu. Ein Funke Eifersucht ist auch da. Cornelia hat mir für den Tag freigegeben, Jayden und Chris sind immer noch auf ihrem Trainingstrip, Ryan hockt Tag und Nacht in seiner Schaltzentrale und hackt sich in irgendwelche Systeme ein und selbst Dark, der sagte, er würde diese Woche wieder kommen, ist noch nicht zurück. Niemand meldet sich und ich sitze alleine in meinem Zimmer im HQ und blase Trübsal. Wütend auf alle und mich selbst setze ich mich ruckartig auf und erschrecke Priss, die auf Chris´ Bett geschlafen hat und mich nun kritisch mustert. Wann immer ich mit ihr in den Gemeinschaftsraum gegangen bin, hat sie sich auf den Platz gesetzt, an dem Hundemon normalerweise sitzt und mich vorwurfsvoll angesehen. Ich kann doch auch nichts dafür, dass sie sich ausgerechnet in dieses Pokémon vergucken musste. Ich seufze und ziehe die Beine an. „Hey, Priss“, sage ich und sie öffnet ein Auge. „Magst du Hundemon?“ Sie schnaubt und schaut zur Seite. Ich grinse nur. „Du magst ihn, oder?“ Sie faucht leise, setzt sich auf und beginnt, ihr Brustfell zu putzen. „Die Sache ist die“, fahre ich fort, „ich habe einen Wasserstein.“ Sie zuckt zusammen. „Ja, das dachte ich mir“, murmele ich. „Ich werde dich zu keiner Entwicklung zwingen, die du nicht möchtest“, sage ich schließlich. „Ich habe den Stein zwar, aber wenn du lieber einen anderen Typ haben möchtest, zum Beispiel, was weiß ich, Feuer, dann kann ich das einrichten. Ich habe eine ganz gute Einkommensquelle. Die Steine sind zwar nicht direkt billig, aber darüber musst du dir keine Gedanken machen, okay?“ Priss beobachtet mich nachdenklich, dann gibt sie ein zustimmendes Fiepen von sich. „Ein Feuerstein also?“, frage ich. „Um Hundemon zu beeindrucken?“ Sie setzt sich auf und nickt einmal deutlich mit dem Kopf. „Also gut“, meine ich. „Bevor wir Prismania verlassen, kaufe ich dir einen. Dann kannst du dich entwickeln, wann immer du bereit bist.“ Priss zögert, dann springt sie von Chris’ Bett, tapst über die Fliesen und springt neben mir auf die Matratze. Ich betrachte sie wachsam, wage kaum, mich zu bewegen, aus Angst, sie zu verscheuchen. Sie setzt eine Pfote auf mein Knie, springt dann auf meine Beine und rollt sich dort zusammen. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Plötzlich höre ich Schritte, gefolgt von Stimmen. Wütend, dass gerade jetzt jemand zurückkommen muss, wenn Priss sich endlich mal nicht wie eine hochnäsige Prinzessin aufführt, schaue ich zu unserer geschlossenen Tür. Die Schritte sind über uns. Dann, ein lautes Klackern. Wie von Krallen. Priss ist in Sekundenschnelle an der Tür, hängt sich an die Klinke und sprintet davon, kaum dass diese nach außen schwingt. Neugierig, wie Hundemon mit der neuen Anhänglichkeit seiner Verehrerin umgehen wird, folge ich Priss die Treppen hinauf ins erste Untergeschoss. Ich kann Darks Stimme hören. Er scheint sich mit jemandem zu unterhalten. Sind Chris und Jayden schon zurück? Ich nehme die letzten Stufen und entdecke zuerst Priss, die um Hundemons Beine schleicht und das Pokémon verdattert zurücklässt. Dann fällt mein Blick auf Dark und seinen Begleiter und mein Herz bleibt stehen. Babyblaue Augen treffen auf meine. Ein Zahnlückengrinsen strahlt mir entgegen. Bevor ich irgendeinen anderen Gedanken fassen kann, bin ich schon los gelaufen und in Louis´  Arme gesprungen. Ich kralle mich mit meiner gesunden Hand an seinem Rücken fest, presse mein Gesicht gegen seinen Hals und werfe ihn halb um. Seine Arme, muskulöser als noch im Dezember, halten mich fest umklammert und für einige Sekunden steht die Zeit still, bevor ich es nicht mehr aushalte und meine Lippen auf seine presse. Mein ganzer Körper bebt und Louis zieht mich instinktiv enger an sich. Schließlich jedoch drückt er mich ein Stück zurück und fährt mit den Daumen über meine glühenden Wangen. „Für den Empfang waren es mir die zehn Stunden Flug sogar wert“, flüstert er atemlos. „Ich kann nicht fassen, dass du hier bist!“, sage ich und drehe den Kopf, gerade noch rechtzeitig, um ein selbstzufriedenes Lächeln über Darks Gesicht huschen zu sehen, bevor er wieder seine emotionslosen Züge übernehmen lässt. Hundemon hingegen hechelt fröhlich und setzt sich auf seine Hinterbeine, eine zufrieden eingerollte Priss zwischen seinen Pfoten. "Waren das die Dinge, die du zu erledigen hattest?", frage ich. Er wippt einmal auf seinen Fersen vor und zurück, dann nickt er. "Unter anderem. Ursprünglich wollte ich nur sicherstellen, dass dein Vertrauen in deine Freunde nicht deplatziert ist, aber meine Befürchtungen haben sich schnell erübrigt." Er zieht einen zerknitterten Briefumschlag aus seiner Hosentasche und reicht ihn mir. "Raphael hat mir den hier für dich mitgegeben." Ich nehme den Umschlag entgegen und versuche, ihn aufzureißen, aber meine linke Hand hat kaum Kraft und schließlich nimmt Louis mir den Brief mit einem fragenden Blick auf meinen Gips ab und reißt ihn auf. Ich nicke ihm zu, damit er weiß, dass er eine Antwort auf seine Frage bekommen wird und ziehe das aufgerissene Papier auseinander. "Ein Foto?", fragt Louis überrascht. Ich nicke und betrachte das Bild. Es scheint in der Safari-Zone aufgenommen worden zu sein. Felsen und knorrige, vertrocknete Bäume füllen die karge Landschaft. In der Mitte des Fotos steht ein Rihorn, auf dessen Rücken Raphael sitzt. Sein rostbrauner Schal ist von seinem Gesicht gerutscht und er grinst breit in die Kamera, während seine roten Locken in alle Richtungen geblasen werden. Vor ihm sitzt, in der braungrünen Uniform der Safari-Ranger gekleidet, eine junge Frau. Kurzes, weißblondes Haar flattert wild um ihren Kopf und offenbart einige blaue Strähnen in ihrem Pony. Mit der einen Hand hält sie einen dicken Lederriemen fest, der wohl mit dem Sattel ihres Rihorns verbunden ist, die andere formt ein Peace-Zeichen, das sie der Kamera entgegenstreckt. Ich drehe das Foto um. Auf der Rückseite ist in Raphaels enger Schrift etwas geschrieben.   Hey Abby. Nach der ganzen Polizeisache habe ich es doch noch in die Safari-Zone geschafft. Liz hat sich als großartige Rangerin entpuppt und wir machen täglich gemeinsam die Areale unsicher. Obwohl sie keine professionelle Trainerin ist, hat sie es wirklich drauf. Mit ihrem Rihorn ist nicht zu spaßen und wir duellieren und regelmäßig. Ich weiß, dass ich bald wieder mit dem Training anfangen muss, um für die Championship im Oktober fit zu sein, aber um ehrlich zu sein, bin ich gerade einfach froh, alles hinter mir zu lassen und nicht an Team Rocket oder Zach denken zu müssen. Liz behandelt mich nicht wie einen berühmten Trainer und den Safaripokémon ist mein medialer Ruhm auch egal. Ich muss mich nicht mal verkleiden, auch wenn ich den Schal trotzdem trage. Ich weiß nicht Abby, irgendwie mag ich ihn inzwischen fast :/ Deine Freundin Rose habe ich auch getroffen, sie hat das Foto gemacht ;) Ich weiß, dass wir seit unserem letzten Telefonat keinen Kontakt mehr hatten, aber so wie ich dich kenne, steckst du schon wieder bis zum Hals in einem Abenteuer. Halt dich tapfer! Wir hören bald voneinander. Grüße an Sku und den ganzen Rest. Raphael. -22.1.   An den Rand ist eine zusätzliche Botschaft mit einem anderen Stift gekritzelt worden. Ich drehe das Foto quer.   ps. Ein Typ namens Dark ist hier aufgetaucht. Er scheint dich zu kennen und hat angeboten, dir das Foto zukommen zu lassen. Ich hatte es dir eigentlich selbst schicken wollen, aber ich weiß mal wieder nicht, wo du bist und bevor ich deinen Aufenthaltsort durch ausgefeilte Ninja-Methoden in Erfahrung bringe (aka, dich frage) und die Überraschung ruiniere, gebe ich es ihm. pps. Liz ist unglaublich. Ich bin seit über einem Monat hier und wir verstehen uns blendend. Ich glaube, ich werde mir für nächste Woche etwas mit ihr überlegen ;) Raphael. - 6.2.   "Damit meint er wohl heute", sagt Louis grinsend. "Danke, Dark", sage ich. "Wirklich, vielen Dank. Dass du Louis mitgebracht hast, und das hier…" Ich wedele hilflos mit dem Foto.  "Das bedeutet mir verdammt viel." Er lächelt. "Gern geschehen. Ich habe jetzt einiges mit Ryan zu besprechen, also macht euch einen schönen Tag." Hundemon bellt einmal fröhlich und legt den Kopf schief, als Priss wohlig brummt, sich aufsetzt und an seine Brust schmiegt. "Ich lasse Priss bei dir", meine ich schmunzelnd. Dark schielt zu seinem Pokémon, pfeift leise und macht sich dann auf den Weg nach unten. Hundemon und Priss folgen. "Das ist also eure Geheimbasis?", fragt Louis, als ich mit ihm hinunter zu meinem Zimmer gehe, um dort meine Jacke zu holen. "Die, in der früher Team Rocket gehaust hat?" "Genau die", stimme ich zu. "Ganz ehrlich, ich hatte richtig Schiss, als Dark plötzlich in Anemonia City aufgetaucht ist und mich gefragt hat, ob ich Louis heiße. Ich meine, er ist jetzt nicht gerade die Art von Typ, dem ich nachts begegnen möchte." "Ich weiß, was du meinst", sage ich lachend und mache die Tür zu meinem und Chris´ Zimmer auf. "Am Anfang hat er mir ständig damit gedroht, mich umzubringen, falls ich seine Identität verrate, aber eigentlich will er das Richtige tun. Ich denke, wenn du unter Mördern und Verbrechern aufwächst, musst du so ein Verhalten an den Tag legen, um nicht unterzugehen. Und jetzt merkt er, dass man sich Respekt auch anders verschaffen kann. Ich mache schon noch einen Helden aus ihm, pass nur auf." Ich betrete das Zimmer, werde aber sofort zurück in Louis Arme gezogen. Er hält mich lange einfach nur fest. "Ich hab dich vermisst", flüstert er schließlich. Ich drehe mich in seiner Umarmung um und schlinge meine Arme um seinen Hals. "Ich dich auch", sage ich. "Ich bin froh, dass du hier bist." Sein Blick wandert von meinen Augen zu meinem Mund und dieses Mal ist er es, der die Distanz zwischen uns überbrückt und mich küsst. Lange Zeit stehen wir einfach nur an die Wand gelehnt und in das Gefühl unserer Lippen versunken. Schließlich jedoch löse ich mich, mein Herz laut pochend und ein ungewohntes Gefühl in meiner Magengrube. Seine Finger streichen ein letztes Mal meinen Hals entlang, bevor ich einen Schritt zurück mache. "Wow. Ehm…" Ich breche ab und Louis beginnt, breit zu grinsen, als er mein glühendes Gesicht bemerkt. Bisher hat sich unsere Beziehung auf den ein oder anderen kurzen Kuss beschränkt, aber ich spüre, dass sich gerade etwas geändert hat. Es macht mich nervös. Und es gefällt mir. "Wow", stimmt er zu. Dann grinst er noch breiter. "Du bist knallrot." "Natürlich bin ich das!", sage ich und drehe mich weg. Ich höre sein Lachen hinter mir und atme einige Male tief durch, bevor ich mich ihm wieder zuwende. "Also, soll ich dir die Stadt zeigen? Wir können irgendwo essen gehen und… so?" Er kratzt sich verlegen an der Nase, dann nickt er. "Gerne. Und bei der Gelegenheit kannst du mir gleich erzählen, was du mit deinem Arm gemacht hast." Ich schnappe meine Jacke aus meinem Rucksack, ziehe sie über und lasse meine Ohrenklappmütze folgen, dann hake ich mich bei Louis unter und drücke mich eng an ihn, als wir gemeinsam das HQ verlassen. "Stimmt, da war ja was."   Obwohl es noch kalt ist, haben die Schneestürme der letzten Woche nachgelassen und der Schnee, der liegen geblieben ist, bedeckt als festgetretene Eisdecke die Straßen. Mein erstes Date an einem Valentinstag mit eingegipstem Arm und verheilenden Schürfwunden und Blutergüssen im Gesicht zu bestreiten, ist vielleicht nicht ideal, aber von solchen Kleinigkeiten werde ich mir ganz sicher nicht die Laune verderben lassen. Während wir durch die Stadt schlendern und nach einem kleinen Café oder Restaurant Ausschau halten, bringe ich Louis auf den neusten Stand. Jetzt, da Dark ihn offiziell als vertrauenswürdig abgestempelt hat, kann ich ihm endlich all die Dinge erklären, die ich zuvor verheimlichen musste. Na ja, bis auf die gesamte Zach-Affäre. Louis hört meinen Ausführungen aufmerksam zu, bis wir schließlich, unbewusst, vor Cornelias Teestube stehen bleiben. Meine Hände sind durchgefroren und wir treten hastig ein. Cornelia ist sehr beschäftigt damit, zwischen Küche und Tischen umher zu wuseln und als sie mich und Louis entdeckt, kneift sie misstrauisch die Augen zusammen und deutet dann an einen der freien Tische, der ein wenig abseits der anderen Besucher steht. Ich hebe meine Augenbrauen, als ich die einzelne Rose entdecke, die in einer schmalen Vase neben der Kasse steht, aber Cornelia wedelt nur mit einer Hand und kommt zu uns an den Tisch. "Und welchen hübschen jungen Mann hast du mir bisher vorenthalten?", fragt sie ruppig und mustert Louis von oben bis unten. "Das ist Louis", erkläre ich. "Er ist erst heute aus Anemonia City hergekommen." Cornelia schnaubt. "Und seit wann seid ihr zwei ein Paar? Ihr seid von viel zu jung für die feine Kunst der Romantik." "Seit…" Ich stocke. Schaue zu Louis. Er schaut ratlos zurück. "Irgendwann im… Dezember?" "Aber auch im September, irgendwie." Louis kratzt sich an der Nase. "Es war ein bisschen kompliziert." "Ist ja auch egal", sage ich hastig und unterbreche damit, was auch immer Cornelia uns an den Kopf schmeißen wollte. Ich bestelle Tee und Kuchen, da wird sie schon zu dem nächsten Tisch gewinkt. "Das ist sie also", sagt Louis und schaut ihr hinterher. "Und sie ist… wessen Oma?" "Jaydens." "Jayden ist der, der mich in Viola besiegt hat, oder? Oh Mann." Louis stützt sein Kinn auf eine Hand und schaut zur Seite. "Du steckst so tief in all diesem Zeug, Abby, das ist wirklich unfassbar." "Ich weiß." Schmunzelnd lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück. "Aber so gefällt es mir besser, als in meinem Zimmer festzusitzen." "Du bist einfach aus dem Fenster gesprungen, hast du gesagt?", fragt Louis zum gefühlt hundertsten Mal. "Wenn ich es doch sage, ich wusste, dass Hunter mich auffangen würde." "Trotzdem. Soweit zum Thema waghalsig." "Ich bin nicht waghalsig!" Er lacht und ich lenke ein. "Okay, ein bisschen. Aber es klingt riskanter, als es wirklich war. Ich wollte einfach nur noch dort weg, verstehst du?" "Ich will nicht sagen, dass ich es verstehe", sagt Louis nachdenklich. "Aber wenn du das Gefühl hattest, es dort nicht mehr auszuhalten, hast du denke ich die richtige Entscheidung getroffen. Auch wenn deine Mutter mir allmählich wirklich leid tut." "Sie macht es aber auch nicht besser", murre ich. "Ja, ich könnte mich öfter bei ihr melden. Aber sie könnte mir bei solchen Gelegenheiten ruhig entgegen kommen. Wenn ich bei ihr anrufe oder ihr eine Mail schreibe, wäre es mir sehr viel lieber, sie würde mich nach meinen Reisen fragen und wie es mir geht, statt immer gleich vom Schlimmsten auszugehen und mich zurück zu beordern. Dann würde ich mich vielleicht auch nicht so sehr darum drücken. Ein bisschen Unterstützung, ist das zu viel verlangt?" "Mütter sind so, glaube ich", sagt Lous. "Die können gar nicht anders, als sich Sorgen zu machen. All die Jahre, in denen du aufpassen musst, dass dein Kind nirgends runterfällt, sich nicht verbrennt, keine Putzmittel trinkt oder an Spielzeug erstickt und dann langsam lernen, dass sie auf sich selbst aufpassen können? Ich kann mir vorstellen, dass das ziemlich schwierig ist, vor allem weil es ein fließender Prozess ist. Du bist nicht plötzlich erwachsen oder in der Lage, schwierige Situation alleine zu meistern. Es passiert nach und nach." "Ich weiß nicht, ob ich beeindruckt sein soll, wie gut du dich in die Gedanken meiner Mutter hinein fühlen kannst, oder mir Sorgen machen", lache ich. Louis zieht eine Schnute. "Ich versuche nur, eure Beziehung zu retten", verteidigt er sich. "Wenn ihr so weiter macht, dann wird daraus noch eine richtige Mutter-Tochter-Fehde." "Dein Freund hat ganz Recht", sagt Cornelia, die genau in dem Moment an unserem Tisch auftaucht und uns Teekannen, Tassen und den Kuchen auf den Tisch stellt. "Ja ja, ich hab es verstanden", murmele ich und gieße mir eine Tasse Tamottee ein. "Ich werde mich bemühen, meine Mutter besser zu verstehen. Okay?" Cornelia nickt, dann macht sie sich wieder an die Arbeit. "Genug über meine Familienprobleme geredet", sage ich und stecke mir ein Stück Schokoladenkuchen in den Mund. "Du hast bei Hartwig aufgehört, oder? Was willst du jetzt tun?" "Ich bin noch nicht sicher." Louis beginnt mit seiner Früchtetorte und betrachtet nachdenklich seine Gabel. "Ich habe viel darüber nachgedacht, worin ich gut bin, was mir Spaß macht. Ich möchte auf jeden Fall weiterhin mit Pokémon arbeiten. Und ich kann klettern." Er verzieht das Gesicht. "Das ist so ziemlich alles. Aber dann habe ich darüber nachgedacht, was Holger gesagt hat, als wir mit ihm in der Safari waren. Er hat über all diese verschiedenen Ranger geredet, erinnerst du dich?" Mein Gesicht hellt sich auf. "Du meinst die S-Ranger! Ja, ich erinnere mich." "Ich habe mich also bei Rose gemeldet und sie gefragt, was man als S-Ranger so zu tun hat. Es sind Ranger, die in einem zusätzlichen Fachbereich ausgebildet sind und darin auch Kurse geben können und so weiter. Und, na ja, Gruppen in der Safari betreuen, Kletterkurse geben… das klingt nicht schlecht, finde ich." "Ich glaube, das würde super zu dir passen", stimme ich zu. "Du bist aufgeschlossen, freundlich, du weißt, wie man mit großen Pokémon umgeht und Klettern im offenen Gelände ist auch kein Problem für dich." "Meinst du wirklich? Ich war nicht sicher." Ich nicke. Lächle. "Es passt sehr gut zu dir." Er grinst verlegen. "Als Außenstehender kann ich die Ausbildung erst mit fünfzehn machen, aber Rose sagte, Level B lässt sich schon davor machen. Das dauert zwei Monate, also muss ich die absolviert haben, bevor im Sommer die Ausbildung losgeht." "So viel Planung", lache ich. "Aber bis du wieder weg musst, hast du noch etwas Zeit, oder?" "Ich habe sicher nicht zehn Stunden in tiefsten Schneestürmen und mit einem elektrischen Schlag nach dem anderen verbracht, nur um morgen wieder abzuhauen", sagt Louis. "Ich bleibe ein paar Wochen, keine Sorge."   Später am Abend, als wir ins Hauptquartier zurückkehrt sind und es uns mit einigen Snacks in meinem Zimmer auf dem Bett gemütlich gemacht haben, fällt mein Blick auf meinen Rucksack. "Ich habe ewig nicht mehr in mein Notizbuch geschrieben", stöhne ich plötzlich. Louis schielt zu mir hinunter. "Das mit den ganzen Team Rocket Sachen drin?" "Ja." Ich stehe auf und gehe zu dem Rucksack. "Ich wollte zumindest den Team Shadow Faden mit Dark aufklären. Willst du es sehen?" "Klar, zeig her." Neben dem Rucksack gehe ich in die Knie und krame einige Sekunden inmitten von Kleidung herum, bevor ich tiefer grabe, tiefer, tiefer… Verwirrt kippe ich den gesamten Rucksack aus und suche in meinen verstreuten Habseligkeiten nach dem Heft. Louis beobachtet mich amüsiert. "Was ist?" "Ich hatte es hier drin", sage ich und denke fieberhaft nach, ob ich es Dark oder jemand anderem gezeigt habe. Ob ich es irgendwann mal herausgenommen habe. Mein Blick wandert zu dem grob geflickten Riss in der Seite des Rucksacks und die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. "Alles okay, Abby?", fragt Louis, jetzt besorgt. "Du siehst bleich aus." "Das Notizbuch", flüstere ich. "Es ist weg." Kapitel 91: Schlechte Etikette (Pressefreiheit) ----------------------------------------------- „Was meinst du, Priss“, frage ich und schiele nach oben, wo ihre Schnauze unter meiner Kapuze hervorlugt. „Ist der hier schön?“ Ich halte den Feuerstein in die Höhe. Er funkelt leicht und bricht das Licht, wenn es in einem bestimmten Winkel auf seine geschliffene Oberfläche trifft. Priss schüttelt vehement den Kopf. Louis, der mich zu meinem letzten Einkauf in Prismania begleitet, gluckst und bemüht sich, nicht allzu breit zu grinsen. Er scheitert kläglich. „Dann eben nicht“, murmele ich, lege den Stein unter strenger Aufsicht einer Mitarbeiterin zurück in die Auslage und greife nach dem nächsten, einem kleineren und etwas ovaleren Exemplar, das rot in meinen Fingern schimmert. Priss gibt ein abfälliges Geräusch von sich und Louis bricht neben mir in einen heiseren Lachanfall aus. „Freut mich, dass wenigstens du dich amüsierst“, stelle ich säuerlich fest und trete leicht nach seinem Schienbein. Er weicht schnell aus und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „T-tut mir leid“, presst er hervor. „Aber es ist göttlich, wie du dich von ihr herumkommandieren lässt.“ „Ja, ich glaube, das werde ich jetzt lassen“, sage ich und hebe den kleinen Stein in die Höhe. „Siehst du ihn, Priss? Dieser Stein und kein anderer wird deine Entwicklung zu einem Flamara ermöglichen.“ Sie beißt empört in mein Ohr. „Was, bist du unzufrieden, Prinzessin?“, frage ich grinsend. „Zu schade, dass du mich nicht aufhalten kannst.“ „Nicht, Abby“, protestiert Louis und folgt mir zur Kasse. „Es war so lustig.“ Schweren Herzens trenne ich mich von den 2100 PD, die meine Unterstützung in Priss´ Liebesangelegenheiten mich kosten und verstaue den Feuerstein in der linken Seitentasche meines Rucksacks. Der Wasserstein, den ich Valentin für sein Quaputzi geben möchte, wenn wir ihn in Saffronia City wiedersehen, steckt in der rechen. „Brauchst du sonst noch was?“, fragt Louis, als wir uns gemeinsam Richtung Ausgang aufmachen. Priss hat sich beleidigt tiefer unter meiner Kapuze verkrochen und rächt sich nun, indem sie mein Haar mit ihren Krallen schmerzlich verknotet. „Nicht wirklich“, meine ich und hake mich bei Louis unter. Es ist nur vier Tage her, seit wir unseren ersten Valentinstag zusammen verbracht haben und trotzdem habe ich schon wieder das Gefühl, nie von ihm getrennt gewesen zu sein. So gerne ich reise und neuen Menschen begegne, ein paar Konstanten in meinem Leben sind gar nicht mal so schlecht. Am Ausgang werden uns eine Handvoll der Pokémonmasken in die Hände gedrückt, die inzwischen von allen Team Shadow Mitgliedern in einem Spint im Gemeinschaftsraum gelagert werden und jeden unter sich begraben, der das Fach ohne zuvor getroffene Sicherheitsvorkehrungen öffnet. Ich habe zwar keine Ahnung, wann wir die ganzen Masken jemals benutzen sollen, aber drollig sind sie schon irgendwie. „Dann sind wir so weit“, sagt Louis, als die automatischen Türen sich sirrend schließen und wir uns im nasskalten Februarwetter wiederfinden. „Hast du dich verabschiedet?“ „Schon geschehen.“ Ich denke an meine Verabschiedung von Cornelia und Günther zurück, den ich inzwischen verdächtig oft in ihrer Teestube antreffe. Jayden und Chris sind weiterhin auf ihrer Trainingsreise, auch wenn ich via S-Com einige Nachrichten mit ihnen ausgetauscht habe. Bis die Polizei offiziell mit uns zusammenarbeitet, bestehen ihre wöchentlichen Aufgaben aus kurzen Rundflügen, um eventuelle Team Rocket Mitglieder ausfindig zu machen, aber Ryan scheint verbissen an einem Weg zu arbeiten, sich zukünftig in die Datenbanken der Polizei einzuschleusen. Manchmal frage ich, ob er wirklich daran interessiert ist, Team Shadow zu unterstützen oder ob er einfach nur alle Netzwerke knacken will, die ihm zwischen die Finger kommen. Während wir uns auf den Weg zum Pokécenter gegen den Wind stemmen, um dort Louis´ Kramurx Joey für den Flug nach Saffronia abzuholen, denke ich an meine Verabschiedung von Dark zurück.   "Dark?" Ich stand in der Tür zu seinem Zimmer im HQ und klopfte an den Türrahmen. Hundemon, das auf dem Bett gedöst hatte, hob müde den Kopf und begann zu hecheln, als es mich entdeckte. Hinter ihm tauchte in den Decken Priss auf, die ich seit Stunden gesucht hatte. Ich schüttelte fassungslos den Kopf. "Was ist?", erklang Darks Stimme von weiter hinter im Raum. Vorsichtig trat ich ein und erkannte Dark, der über einen großen Bottich gebeugt seine Haare wusch und bis auf seine schwarze Hose unbekleidet war. "Was machst du da?", fragte ich und blieb argwöhnisch neben ihm stehen. Er tauchte seinen Kopf ein letztes Mal unter Wasser und schaute mit triefenden Haaren zu mir auf. Sein ehemals pechschwarzes Haar besaß nun die Farbe eines blassen Frühlingshimmels, ein mattes Hellblau, das seine Augen umso stärker in seinem Gesicht hervorstechen ließ. "Warum färbst du deine Haare?" "Wenn ich dich zu der Übergabe begleite, werde ich unweigerlich mit Team Rocket in Berührung kommen", erklärte er, stand auf und schnappte ein Handtuch vom Boden, mit dem er seine Haare trocken rubbelte. "Sobald sie erkennen, dass ich mich gegen sie gewendet habe, werden sie versuchen, mich zu enttarnen." Er ließ das Handtuch sinken und zog sich einen schwarzen Rollkragenpullover über. "Was kann ich für dich tun?" "Louis und ich wollen heute nach Saffronia aufbrechen", erklärte ich. Er nickte. "Und?" "Ich habe… ein kleines Problem." Darks Miene verfinsterte sich. "Hat es etwas damit zu tun, dass du seit einigen Tagen das ganze Hauptquartier absuchst?" Ich verzog das Gesicht. "War das so offensichtlich?" "Hast du etwas verloren?" Ich zögerte. Ich wollte ihm keine Sorgen bereiten, aber die Vertrauensbasis, die wir aufgebaut hatten, hing an seidenem Faden und ich glaubte nicht, dass weitere Lügen helfen würden. Ich holte tief Luft und sah ihm in die Augen. "Ich habe seit einiger Zeit eine Art Notizbuch geführt, in dem meine Entdeckungen über Team Rocket und über… dich stehen." Seine Miene verdüsterte sich schlagartig und Hundemon sprang knurrend vom Bett, um neben ihm Platz zu nehmen. "Das ist nicht dein Ernst." "Es tut mir leid!", rief ich, als Dark mich wütend zur Seite stieß und ans andere Ende des Zimmers stapfte. Er fuhr herum. "Es tut dir leid?!", fragte er und ich zuckte zusammen. "Was steht in diesem Notizbuch, dass du verloren hast? Meine Identität? Unsere Adresse mitsamt Passwörtern? Vielleicht auch unsere Verbindung mit der Polizei?" "Jetzt hör mir doch einfach zu", fluchte ich. "Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr hinein geschrieben. Du kommst darin vor, aber Team Shadow wird mit keinem Wort erwähnt. Im Grunde ist es bloß eine Ansammlung von Theorien, die ich während meiner Reisen hatte. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, damit du nicht denkst, ich verheimliche dir etwas." "Ich fühle mich gleich viel aufgeklärter ", erwiderte Dark trocken. "Wenn überhaupt jemand unter dem Verlust zu leiden hat, dann bin ich das!", fuhr ich ihn an. "Das Notizheft war Basis meiner gesamten Story, die ich seit Monaten zusammentrage und mit der ich an die Öffentlichkeit gehen wollte und jetzt ist es weg!" "Du hättest besser darauf aufpassen sollen, wenn es dir so wichtig war", sagte Dark. "Wie hast du es einfach verlieren können?" "Ich habe es nicht verloren", sagte ich leise und dachte an den Sonntagabend zurück, als mir die fünf Trainer gefolgt waren. Mein linker Arm, der immer noch in einem Gips steckte, pochte bei dem Gedanken an das schroffe Eis und meinen zerrissenen Rucksack. "Es wurde gestohlen."   Ich presse meine Lippen fest aufeinander und starre stur gerade aus. Julius. Er muss es gewesen sein. Die anderen Trainer hatten keine Zeit, vor ihrer Flucht meine Habseligkeiten zu durchsuchen, aber Julius… Er will freiberuflicher Reporter werden, genau wie ich. Auf der Suche nach einer Story stößt er auf mein Notizbuch, blättert es flüchtig durch und stiehlt es. Und dann tut er so, als wäre er mein Retter in der Not. Wütend beschleunige ich meine Schritte, was Louis unsanft mit mir zieht. Ich bin nicht allzu besorgt wegen der Informationen über Team Rocket, die in dem Notizbuch stehen. Dass sie zurückgekehrt sind und dass Atlas ihr Anführer ist, sind für die Polizei keine Neuigkeiten. Aber wenn Julius um die Ecke denkt, wenn er die Verbindung zwischen dem plötzlichen Auftauchen von Team Shadow in Prismania City, meiner Anwesenheit dort und dem mysteriösen Dark aus dem Buch zieht… Ich will nicht daran denken, wie er mit meiner Story in Lavandia auftaucht und all meine sorgsam gehüteten Geheimnisse ausplaudert. Und dann ist da natürlich noch die Sache mit Zach, die ich wie ein Volldepp lang und breit in dem Heft ausgeführt habe. Im Nachhinein könnte ich mich selbst ohrfeigen. Wenn Julius seine wahren Absichten an die Medien weitergibt, dann ist Zach in großer Gefahr. Ich bezweifle nicht, dass Team Rocket ihn vor Ort umbringen wird, sollte er sich als Verräter herausstellen. Seufzend lehne ich mich etwas enger an Louis. Ich habe eine ganze Menge Fehler auszubügeln, wenn wir in Saffronia City ankommen. Im Pokécenter ist es warm und Schwester Joy verwickelt mich in ein Gespräch über meinen gebrochenen Arm, während Louis sich an dem Computer zu schaffen macht und sein störrisches Girafarig Gina gegen Kramurx austauscht. Bevor wir uns auf den Weg machen, schreibe ich Erhard meinen letzten Check über 20.000 PD aus, den Joy an das lokale Pokécenter überweist. Und wieder pleite. Langsam glaube ich, das Universum möchte mir etwas sagen.   "Du siehst… sehr süß aus", stelle ich breit grinsend fest, als wir etwas später auf der kleinen Hügelkuppe vor Prismania City stehen. Louis errötet und kratzt sich verlegen an der Nase. "Ich kann nichts dafür", sagt er. Gemeinsam senken wir den Blick auf den Klettergurt, der Louis´ Hüfte und Oberschenkel umschließt und mit Seilen an den Füßen des verdrießlich dreinschauenden Kramurx befestigt ist, das auf seiner Schulter sitzt. "Er ist zu klein, um auf ihm zu reiten, deswegen habe ich mir in der Safari-Zone eine Kletterausrüstung ausgeliehen." "Wenn es dich tröstet, Raphael sah mit Skallyk noch bescheuerter aus", meine ich. "Ich dachte, ich sehe süß aus?", fragt Louis mit hochgezogenen Augenbrauen. "Süß", stimme ich zu. "Und bescheuert." "Warte, bis wir in der Luft sind", sagt er und schnürt seinen Rucksack fester. "Es kann nicht jeder so ein cooles Ibitak wie du haben." Hunter krächzt zustimmend und reibt seinen fedrigen Kopf liebevoll an meine Wange. Mit den milderen Temperaturen ist meine Abneigung vor weiteren Flügen gewichen, auch wenn Louis allen Schneestürmen getrotzt hat, um mich wiederzusehen. Der Gedanke lässt mein Herz ein bisschen schneller schlagen und ich wende mich rasch ab, damit er nichts bemerkt und tue so, als würde ich meinen Rucksack überprüfen. "Bist du sicher, dass du mit deinem Arm schon fliegen kannst?", fragt Louis nach einer Weile. "Es wird schon gehen", sage ich achselzuckend. "Bis nach Saffronia ist es nicht weit, und Hunter fliegt vorsichtig. Nicht wahr?" Er nickt einmal energisch und senkt seine Brust zu Boden, damit ich besser aufsteigen kann. Ich schwinge mich auf seinen Rücken und schaue Louis belustigt dabei zu, wie er Joey von seiner Schulter hebt und zum Anflug anspornt. Das schwarze Vogelpokémon gackert einige Male genervt, schlägt dann aber mit den Flügeln und steigt in die Höhe, erst schnell, dann langsam, als die Seile sich straffen und Louis´ ganzes Gewicht samt Rucksack an seinen Füßen hängt. "Auf", flüstere ich Hunter zu, der freudig krächzt und sich mit einem kräftigen Flügelschlag in die Lüfte katapultiert. Die Grasflächen und angrenzenden Wälder von Route 7 rasen unter uns dahin. Hunter nutzt die Gelegenheit, die Tatenlosigkeit der letzten Wochen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit abzuschütteln und Joey legt trotz geringer Größe und einem heftig schaukelnden Louis ein ordentliches Tempo vor. Kantos Hauptstadt erreichen wir in einer knappen halben Stunde. Wir landen etwas abseits des Durchgangshäuschens hinter einem kleinen Hügel, damit Louis sich ungeniert von seinem Fluggerät trennen kann. Ich rufe Hunter zurück und warte geduldig an einen Baum gelehnt, bis Louis sich von den zahlreichen Gurten, Haken und Seilen befreit hat und gemeinsam machen wir uns auf den Weg in Richtung Saffronia City. Während der Jahre, in denen ich regelmäßig mit Tarik zu Agnes in die Vorlesungen gefahren bin, ist Saffronia mir sehr vertraut geworden, aber Louis, der in Johto aufgewachsen ist, kann sich nicht satt sehen. "Schon eine Idee, wo wir unterkommen?", fragt er schließlich, als ein Schild für das Pokécenter an der nächsten Kreuzung in Sicht kommt. "Das war ziemlich viel Geld, was du überwiesen hast." "Ein bisschen habe ich noch", beruhige ich ihn. "Wenn wir uns ein Doppelzimmer teilen, sollte ich ein paar Tage durchhalten, bis dahin habe ich hoffentlich etwas Neues gefunden." Louis öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn dann wieder und schaut verlegen zur Seite. Meine eigenen Wangen färben sich unterdessen knallrot. Ich räuspere mich, packe seine Hand und ziehe ihn wortlos mit mir zum Pokécenter.   "Mann, war das peinlich", murmelt Louis und lässt sich rückwärts auf unser frisch gemietetes Bett fallen. "Und sie schien dich sogar zu kennen! In Azalea war das noch nicht so unangenehm." "Vielleicht für dich nicht", erwidere ich grinsend und stelle meinen Rucksack neben dem Schrank ab. "Ich fand es verdammt peinlich." "Gut, okay, ich gebe zu, ich habe die Gelegenheit damals nicht direkt abgewiesen", sagt Louis. Lachend lasse ich mich neben ihm ins Bett fallen. "Machst du Witze? Du hast dich regelrecht darauf gestürzt." Er grinst. "Aber dieses Mal ist es anders", fahre ich fort. "Was meinst du?" Er stützt sich auf seinen Ellenbogen und schaut mich mit unschuldigen Augen an. "Na ja, erstmal sind wir inzwischen… zusammen." Louis Grinsen wird breiter, als er die Worte aus meinem Mund hört. "Und weiter?" "Du siehst älter aus. Finde ich. Größer. Und muskulöser?" Seine Augen leuchten auf. "Meinst du? Mir ist keine große Veränderung aufgefallen, aber ich habe schließlich ziemlich viel bei Hartwig trainiert." "Ich habe es bemerkt, als ich dich umarmt habe", erkläre ich. "Aber wer weiß, wahrscheinlich habe ich mich getäuscht." Er streckt mir die Zunge raus. "Du bist gemein." Dann schleicht sich ein breites Lächeln auf seine Lippen, er rollt blitzschnell über mich und grinst mich von oben herab an. "Könnte ich das hier, wenn ich nicht trainiert hätte?" "Ich weiß ja nicht, was du trainiert hast", sage ich atemlos. Louis schmunzelt, dann gibt er mir einen schnellen Kuss auf die Nase und steht auf. "Ich gehe jetzt duschen", sagt er und wirft mir einen letzten glücklichen Blick zu, bevor er im Bad verschwindet. Seufzend lasse ich mich tiefer in die Kissen sinken, einen Arm über meine Augen gelegt. Was passiert mit mir?   Den gesamten nächsten Tag über klappere ich alle Geschäfte in Saffronia City ab, werde aber zu meinem großen Bedauern nicht fündig. Es war wohl zu viel verlangt, nach dem Job bei Cornelia, der mir quasi in den Schoß gefallen ist, jetzt sofort eine andere Anstellung zu finden, aber ich hatte auf das zusätzliche Geld gehofft. Wie die Dinge stehen, werden Louis und ich Ende der Woche unsere Zimmer räumen müssen, denn obwohl er während seiner Protrainerkarriere sein Geldpolster aufgestockt hat, ist er seit Monaten in keinen richtigen Pokémonkampf mehr verwickelt gewesen und wird bald genauso pleite sein, wie ich. Seufzend lasse ich mich auf einer Parkbank nieder und schaue in den langsam dunkler werdenden Himmel. Louis wollte sich in Ruhe die Stadt ansehen und die Pokémonpsychatrie besuchen, um sich dort Tipps für seinen Umgang mit Gina zu holen. Morgen werden wir Valentin wiedersehen. Er war eine ganze Weile auf den Eilanden. Ob er Bruno gefunden und mit ihm trainiert hat? „Abby?“ Erschrocken drehe ich den Kopf und entdecke Julius, der auf der anderen Straßenseite stehen geblieben ist und jetzt lächelnd in meine Richtung kommt. Sein aschblondes Haar ist windzerzaust. Alles in mir versteift sich. „Julius“, begrüße ich ihn knapp. Er bleibt unschlüssig vor mir stehen. „Wie geht es deinem Arm?“ „Ich werde es überleben“, sage ich, während ich mich erhebe. „Sag mal, hast du vielleicht vergessen, mir etwas zurückzugeben?“ Er stutzt. „Wovon redest du?“ „Als ich von den Trainern angegriffen wurde und du meinen Rucksack zusammengesucht hast. Gibt es da etwas, das du behalten hast?“ „Warum hätte ich das tun sollen?“, fragt Julius, sichtlich verwirrt. „Hast du etwas verloren?“ Seine Augen weiten sich. „Denkst du, ich hätte dich bestohlen? Als du mit gebrochenem Arm und halb bewusstlos auf der Straße lagst? Wofür hältst du mich?“ Verunsichert denke ich zurück an den Tag. Hatte er genug Zeit, das Notizbuch einzustecken, vorher vielleicht durchzublättern? Ich bin plötzlich nicht mehr sicher. Meine Zeitwahrnehmung war damals ziemlich im Eimer. Aber ich habe das Buch nicht einfach verloren, da bin ich sicher. „Du bist der einzige, der die Möglichkeit hatte, es zu stehlen und der etwas damit anfangen kann“, sage ich leise. Ein Wind kommt auf und fährt mir durch die Haare. „Mein Notizbuch. Du hast es gestohlen, oder nicht? Julius schaut mich einen Moment länger verwirrt an, dann legen sich seine Gesichtszüge und er legt den Kopf schief. „Hah, du hast mich erwischt“, sagt er dann und mir stellen sich die Nackenhaare auf. „Wenn ich gewusst hätte, dass du es erst jetzt bemerkst, hätte ich mich mit der Kopie nicht so beeilt.“ „Du Bastard!“, schreie ich und mache einen Schritt auf ihn zu, was die Passanten um uns herum stehen bleiben und zu uns schauen lässt. „Das sind geheime Informationen, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen!“ „Umso besser, dass ich sie gefunden habe“, erwidert Julius und packt mein Handgelenk, als ich nach ihm schlage. Sein Griff ist wie ein Schraubstock. „Wenn du mit dieser Einstellung Reporterin werden möchtest, hast du noch einen weiten Weg vor dir. Die Wahrheit gehört an die Öffentlichkeit, wie schmerzlich sie auch ist.“ „Es geht um Menschenleben!“, erwidere ich hitzig. „Du kennst den Kontext nicht, also tu nicht so, als wüsstest du, was du da öffentlich machen willst!“ „Ich glaube, ich habe ein ziemlich gutes Bild darüber, was genau los ist“, sagt Julius lächelnd, unbeeindruckt von meinem Versuch, seinem Griff zu entkommen. „Du hast die ganze Geschichte ja ziemlich ausführlich niedergeschrieben. Ein wenig durcheinander für meinen Geschmack, aber deine Diagramme haben sehr geholfen. Du solltest vielleicht eine Karriere als Zeichnerin in Erwägung ziehen.“ „Lass mich-“ Er lässt meine Hand abrupt los und ich stolpere einige Schritte zurück, bevor ich meine Balance wiederfinde. „Wir sind doch Rivalen, Abby“, sagt Julius, etwas leiser, bis die Menschen um uns herum sich langsam wieder in Bewegung setzen. „Warum regeln wir das nicht wie Erwachsene. Derjenige, der die Story zuerst verkauft, gewinnt den Ruhm.“ „Ich will die Story nicht verkaufen!“, sage ich wütend. „Du hast keine Ahnung, wie viel Schaden du anrichten wirst, wenn du die Informationen unzensiert an die Presse weitergibst.“ „Zensur ist der Feind der Pressefreiheit“, entgegnet Julius eisern. „Es ist traurig, dass du anderer Meinung bist. Gerade du solltest das verstehen.“ „Es gibt Ausnahmen“, verteidige ich mich. Julius Gedankengang ist nicht weit von meinem entfernt, als ich gerade erst von zu Hause ausgerissen bin. Aber in der Zwischenzeit habe ich gelernt, wie zerstörerisch Informationen in den falschen Händen sein können. Wie furchtbar sich ein enthülltest Geheimnis auswirken kann. Julius fährt sich durch sein Haar. „Es tut mir leid, dass ich deine Geschichte geklaut habe. Wirklich, ich habe mich ziemlich schlecht gefühlt. Aber so wie die Dinge stehen, bin ich froh, es getan zu haben. Einer von uns muss die Wahrheit ans Licht bringen. Zacharias Stray… Das ist wirklich mal eine Enthüllung wert.“ „Ich will es zurück“, sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Was?“ Julius schaut mich verwirrt an. „Ach, dein Notizbuch? Was, wenn ich mich weigere?“ Ich greife nach meinen Pokébällen. Kämpfe sind in der Stadt verboten, aber Regeln sind mir in diesem Moment herzlich egal. „Zwing mich nicht, es dir gewaltsam abzunehmen“, flüstere ich drohend. Meine Finger schweben über Gotts Finsterball. Julius lacht, dann greift er in seinen Rucksack und zieht das Notizbuch hervor. Provozierend wedelt er damit vor meinem Gesicht herum und ich widerstehe dem Drang, danach zu greifen. „Gib. Es. Mir.“ „Warum?“ Rotes Licht explodiert von meiner Hüfte und im nächsten Moment steht ein geifernder Gott vor mir, Zähne gefletscht, die Lefzen zurückgezogen und das Rückenfeuer voll aufgedreht. Julius macht einen Schritt zurück. „Ich habe deine Pokémon ja schon in Aktion gesehen, aber selbst Ziel zu sein, ist nochmal etwas anderes“, stellt er schluckend fest. Er wirft mir das Notizbuch zu und ich fange es ungeschickt mit meinem gesunden Arm auf. „Du kannst es haben. Ich hatte ohnehin nicht vor, es zu behalten. In einem Pokémonkampf bist du mir weit überlegen, Abbygail. Aber denk dran, ich habe schon längst eine Kopie angefertigt. Ich werde vor dir Lavandia erreichen und dann werden all deine wohl gehüteten -“ Gott hechtet in die Höhe und vergräbt seine Fänge tief in Julius´ Schulter, der aufschreit und nach Gott schlägt, sich dabei seine Hand verbrennt, zurück taumelt und ungelenk zu Boden fällt. Gott, der auf seiner Brust sitzt, löst seinen Biss und knurrt einmal direkt in sein Gesicht, dann spuckt er eine Stichflamme direkt neben Julius´ Kopf, wendet sich feixend ab und trottet zurück an meine Seite. Julius packt seine verwundete Schulter, stöhnt, rollt sich zur Seite und läuft dann zwischen den angesammelten Menschenmassen davon. Ich gehe in die Hocke und kraule Gotts Kopf. „Ich hätte dich wahrscheinlich davon abhalten sollen“, meine ich und werfe ihm einen schrägen Blick zu, den er mit glühenden Augen erwidert. „Aber ganz ehrlich… mir war nicht danach.“ Kapitel 92: Aufgeflogen (Absols Gesetz) --------------------------------------- Am Morgen des 20. Februars warten Louis und ich südlich von Saffronia City auf Valentin, der uns auf Route 6 entgegen kommen wird. Louis hat eine Tüte Muffins zum Aktionspreis ersteigert und auf zwei ausgebreiteten Handtüchern genießen wir die Aussicht auf die Felder und Wiesen zu unseren Füßen, das weit entfernte Meer und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des nahenden Frühlings. Den Wetterberichten zufolge wird das gute Wetter nicht lange anhalten und Kanto stattdessen von einer weiteren Kältefront heimgesucht werden, aber bisher ist davon nichts in Sicht. „Ich werde in nächster Zeit viel pendeln müssen“, sage ich mit vollem Mund und schlucke, bevor ich fortfahre. „Wenn Julius vor mir in Lavandia ist, habe ich schlechte Karten, ihn aufzuhalten. Und wenn ich hier keinen Job finde, wird Cornelia herhalten müssen.“ Louis schaut nachdenklich in den Himmel. „Du bist zwar kein Protrainer, aber warum duellierst du dich nicht um Geld?“, schlägt er dann vor. „Die Trainer können nicht allzu schwach sein, wenn sie vorhaben, gegen die Arenaleiter hier anzutreten.“ „Sabrina ist offiziell die sechste Arenaleiterin in Kanto“, stimme ich zu. „Der sechste… Dann ist sie so stark wie Jasmin?“ „Wahrscheinlich.“ Er denkt kurz nach, dann grinst er breit und beißt in seinen Muffin. „Das trifft sich doch super. Du kannst deine Pokémon trainieren und gleichzeitig Geld verdienen.“ „Ich weiß nicht, Louis“, erwidere ich zögernd. „Das ist verdammt riskant. Wenn ich nur einen Kampf verliere, bin ich auf einen Schlag mein gesamtes restliches Geld los. Auf dem Niveau hier kämpft man wahrscheinlich um 1000 PD.“ Er zupft eine Ecke von seinem Muffin und wirft sie nach mir. Er lacht, als mein Ausweichversuch fehlschlägt und das Stück Muffin gegen meine Wange prallt. „Dann darfst du eben nicht verlieren.“ Ich hebe den Muffinkrümel auf und werfe ihn zurück, ein Lächeln auf den Lippen. „Scherzkeks.“ Diesen mehr oder weniger durchdachten Plan im Hinterkopf, unterhalten wir uns weiter, bis Louis mich eine knappe Stunde später auf jemanden aufmerksam macht, der in unsere Richtung kommt. Aus dieser Entfernung kann ich es nicht genau sagen, aber auch so bin ich ziemlich sicher, dass es sich um Valentin handelt. Seine Bewegungen haben etwas fließendes, wie ein Fischpokémon im Wasser. Wir packen die Reste unseres Frühstücks zusammen, stopfen die Handtücher zurück in unsere Rucksäcke und rufen unsere Pokémon zurück, die bis dahin alleine über die angrenzenden Wiesen gestromert sind. Dann laufen wir Valentin entgegen. Kaum sind wir in Hörweite, winke ich und rufe seinen Namen. Als er den Kopf hebt und zurückwinkt, lege ich überrascht den Kopf schief. Er kommt näher und mein Eindruck verstärkt sich. Sein Kreuz, das vom Schwimmen ohnehin schon sehr breit war, ist nun noch auffälliger und auch seine Arme und Beine scheinen an Muskelmasse gewonnen zu haben. Ich zucke zusammen, als Louis mich amüsiert in die Wange pikst. „Hey, Valentin!“, begrüßt er ihn dann. Val überbrückt die letzten Meter in einem lockeren Jogg und bleibt schließlich vor uns stehen. „Hallo Louis“, begrüßt er ihn nickend, bevor er sich an mich wendet. „Hey, Abby. Lange nicht gesehen.“ „Gleichfalls“, erwidere ich und gemeinsam machen wir uns auf den Rückweg nach Saffronia City. „Wie war dein Training?“ „Es hat über eine Woche gedauert, bis ich Bruno gefunden habe“, erklärt Valentin stirnrunzelnd. „Ich bin mindestens zweimal zwischen allen Eilanden umhergependelt, bis ich ihn auf Eiland Eins erwischt habe. Er trainiert auf dem Glühweg mit seinen Kampfpokémon und ich bin ihm so lange gefolgt, bis er mich unterrichtet hat.“ Er schmunzelt. „Es gibt dort eine natürliche Therme. Nach dem Training war das sehr erfrischend, nachdem ich nicht mehr befürchten musste, dass er währenddessen abhaut.“ „Klingt, als hättest du Spaß gehabt“, meine ich grinsend. „Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte“, sagt Val achselzuckend. „Teil des Trainingsprogramms war, jeden Morgen um die Insel zu schwimmen, deswegen bin ich nicht aus der Übung. Ich werde wahrscheinlich nicht lange hier bleiben, sondern bald zurück nach Anemonia City reisen. Ich fühle mich in Großstädten nicht besonders wohl.“ „Ah, da fällt mir ein…“ Ich bleibe stehen und angele den Wasserstein aus meinem Rucksack. „Möchtest du den hier vielleicht haben?“ Valentin nimmt den blau melierten Kristall in seine Hand und betrachtet ihn eine Weile nachdenklich, dann schüttelt er den Kopf und gibt ihn mir zurück. „Ich würde die Entwicklung gerne noch eine Weile vor mir herschieben.“ „Du kannst ihn trotzdem schon mitnehmen“, entgegne ich. „Behalte ihn lieber“, sagt Val und strafft seinen Rucksackträger. „Ich habe noch genug Geld, mir in Prismania City einen eigenen zu kaufen und so wie ich dich kenne, kann es nicht schaden, wenn du einen Gegenstand hast, der etwas Geld wert ist. Du wirst ihn bestimmt noch brauchen.“ Nachdenklich betrachte ich den Stein. Zum Verkaufen ist er mir eigentlich zu schade, schließlich war er damals ein Geschenk von Caro. Aber vielleicht hat Val Recht. Ich darf nicht wählerisch sein, und wenn mein Plan, bei den Duellen außerhalb der Stadt Geld zu verdienen, fehlschlägt, kann ich ihn für etwa 1000 PD im nächsten Markt eintauschen. „Du wirst also nicht im Dojo trainieren?“, hakt Louis nach. „Ich hatte gehofft, mir ein paar Tricks bei dir abzugucken.“ „Doch, ich werde auf jeden Fall dort trainieren“, sagt Valentin. „Aber nicht ewig. Ein oder zwei Wochen reichen mir.“ Auf dem Weg zum Pokécenter erkläre ich Valentin auf dessen Frage, wie es zu meinem gebrochenen Arm gekommen ist und dass ich inzwischen ein neues Team Mitglied habe. Als wir das Center erreichen, mietet Val gleich für die nächsten zwei Wochen sein Zimmer auf unserem Stockwerk und lässt unser Doppelzimmer zu meiner Erleichterung unkommentiert. Er weiß zwar, dass Louis und ich ein Paar sind, aber trotzdem ist mir das Doppelzimmer noch ein wenig unangenehm. Während wir mit Valentin durch die Stadt stromern und ihm am Ende des Tages das Dojo zeigen, wird mir plötzlich bewusst, dass Louis nicht eifersüchtig zu sein scheint. Bisher hat ihn jeder falsche Blick in meine Richtung auf die Palme gebracht, aber seit wir uns in Anemonia City getrennt haben und es im Hauptquartier zu unserem Wiedersehen kam, scheint er solche Dinge entspannter zu sehen. Vielleicht fühlt er sich nicht mehr bedroht. Oder er ist erwachsener geworden, als ich dachte.   Am nächsten Morgen verabschiede ich Valentin und Louis, die sich im Dojo vorstellen wollen, bestelle mir bei Joy ein einfaches Frühstück und mache mich dann auf den Weg nach Osten zu Route 8. Nach Norden hin begrenzt eine Gebirgskette den Streckenabschnitt, im Süden sind die Felsklüfte weniger hoch, aber von dichtem Wald umgeben, der ein Vorankommen unmöglich macht. Die Route selbst liegt zwischen beiden Steinmassiven, ein Wechsel aus feinem Geröll und Grasabschnitten, durchzogen von einigen Baumgruppen und ziemlich mittig einem abgezäunten Pokémonschutzgebiet, in dem das Gras höher ist und das viele verschiedene Arten beherbergt. Ich folge zunächst einem platt getretenen Pfad, an dessen Ende der Eingang zur Unterführung nach Prismania City liegt, die Trainer mit Fahrrädern oder zu Fuß durchqueren können, wenn sie sich nicht durch die bevölkerten Straßen Saffronia Citys schlagen möchten. Als ich an dem kleinen Häuschen vorbei gehe, muss ich schlucken. Hier wird in einer Woche die Übergabe stattfinden. Zweifel überkommen mich zum wiederholten Mal, seit ich mein letztes Telefonat mit Holly geführt habe. Wenn Team Rocket weiß, dass wir sie dort erwarten, wenn sie nicht dort sind… Ich habe keine Zweifel, dass Holly ihre Drohung wahrmachen und mich festnehmen wird, sollten meine Informationen sich als falsch erweisen. Ich habe es vermutlich nicht anders verdient, schließlich war ich mir von Anfang an des Risikos bewusst, dass die Hypnose von Rita bedeutete. Aber es ist meine einzige Chance, Richard aus der Haft zu holen. Der lose Weg weicht einer breiten, fest angelegten Asphaltstraße, die sich durch die ganze Route schlängelt und von Trainern bevölkert ist, die sich hier treffen, um Duelle auszufechten. Wer für seinen Kampf mit Sabrina trainieren möchte, hat nicht viele Optionen, denn die Wildwiesen um die Hauptstadt herum sind nur spärlich vorhanden und Reisende von Lavandia müssen hier durch, wenn sie keinen Umweg über Orania City machen wollen. Viele Kämpfe sind schon in vollem Gange, bei anderen werden noch die Siegbedingungen und Einsätze diskutiert. Ich ziehe den Reisverschluss meiner Jacke höher, zurre meine Mütze zu Recht und mache mich auf ins Getümmel.   Zwei Duelle später finde ich mich wieder im Pokécenter vor, wo ich meine Pokémon heilen lasse. Gott hat beide Kämpfe so gut wie alleine bestritten und sich gar nicht schlecht geschlagen. Mit Level 31 ist er zwar schwächer als einige der anderen Pokémon, aber sein Potential, dass mir schon in Viola City aufgefallen ist, zeigt sich immer mehr. Ich lächle zufrieden, während ich daran denke, wie stark er als Tornupto wäre. Natürlich ist das Wunschdenken. Gönnen würde ich ihm den Kräfteschub natürlich, aber mit seinem steigenden Level sinkt auch mein Einfluss über ihn und seine ohnehin aggressive Art möchte ich mir nicht bei einem achtzig Kilogramm schweren, mannsgroßen und feuerspeienden Pokémon vorstellen. Er greift nicht wahllos an, das ist mir inzwischen klar, aber seine Kriterien sind trotzdem sehr vage und wenn ich es jetzt schon nicht schaffe, ihn vollends unter Kontrolle zu halten, kann ich das nach seiner Entwicklung vergessen. Trotzdem. Ein Trainer darf träumen. Auf meinem Rückweg zu Route 8 klingelt plötzlich mein Handy. Verwirrt ziehe ich es aus meinem Rucksack und lehne mich an eine Hausmauer, um den anderen Passanten nicht im Weg zu stehen. Ich lese den Namen auf dem Display und bin gleich noch verwirrter. „Hallo, Agnes“, begrüße ich sie. „Abby, schön, deine Stimme wieder zu hören“, erklingt ihre Stimme in meinem Ohr. „Störe ich dich oder hast du ein paar Minuten Zeit?“ „Du störst nicht“, versichere ich. „Was gibt es?“ „Ich wollte mich erkundigen, wie es dir geht“, sagt Agnes und ich kann ihr Schmunzeln förmlich hören. „Ich habe seit unserem letzten Treffen nichts mehr von dir gehört und deine E-Mails hast du scheinbar auch vernachlässigt.“ „Ach, verdammt, da war ja was“, lache ich. „Tut mir leid, ich bin vor ein paar Tagen nach Saffronia geflogen und hatte davor einiges um die Ohren. Ich bin auf dem Eis ausgerutscht und habe mir den Arm gebrochen, aber sonst geht es mir super.“ „Ach du lieber Himmel“, murmelt Agnes und seufzt. „Wenn du mal nicht mit Verbrechern kämpfst, stolperst du also. Aber du bist in Saffronia, das trifft sich gut. Ich wollte dir ohnehin etwas vorschlagen, aber das macht es leichter.“ „Was?“, frage ich, neugierig geworden. „Natalie hat einen Termin im Fanclub in Saffronia City und wird den ganzen Tag dort sein. Warum nutzt du die Gelegenheit nicht und unternimmst etwas mit ihr? Vielleicht fällt es dir leichter, wenn ihr auf neutralem Boden miteinander redet.“ Ich beiße mir auf die Lippen. Selbst Louis hat mir dazu geraten, mich wieder mit meiner Mutter zu versöhnen, aber sie jetzt sofort treffen… Ich fühle mich sehr unvorbereitet. Und natürlich wird sie mich mit Gips sehen. Agnes versteht mein Schweigen als die Unentschlossenheit, die es ist und seufzt erneut. „Bitte, Abby“, sagt sie. „Es muss nicht lange sein. Nur ein kurzes Gespräch würde sie glücklicher machen, als du dir vorstellen kannst. Und vielleicht hilft es ihr, wenn sie dich an einem öffentlichen Ort trifft und nicht zu Hause.“ Ich reibe mir die Schläfe und nicke schließlich, obwohl Agnes das natürlich nicht sieht. „In Ordnung“, gebe ich mich geschlagen. „Ich werde mal bei ihr vorbeischauen. Weiß sie davon, dass du mich angerufen hast?“ „…Ehrlich gesagt, hat sie mich darum gebeten, es dir vorzuschlagen. Sie vermisst dich, Abby, und sie macht sich Sorgen. Dein Verschwinden hat sie sehr tief getroffen. Inzwischen hat sie Skrupel, dich erneut zu kontaktieren, aus Angst, sie könnte dich weiter vergraulen.“ „Ich gehe sie besuchen“, sage ich. „Danke für den Anruf, Agnes.“ „Kein Problem, Abby. Grüß deine Pokémon von mir.“ Wir legen auf und ich bleibe eine Weile unschlüssig stehen, bevor ich auf dem Absatz kehrt mache und statt dem Durchgangshäuschen den nördlich gelegenen Fanclub ansteuere.   Saffronias Trainerfanclub hat sich erst vor einigen Jahren etabliert, nachdem klar wurde, dass Trainer wie Red und Gold von den Medien genutzt werden können, um Geld zu verdienen. Er beansprucht die untersten drei Stockwerke in einem der Hochhäuser und schon von weitem kann ich die zahlreichen Plakate ausmachen, die von innen gegen die Fenster geklebt wurden und diverse Clubtreffen, Autogrammstunden und Lotterien für PCS-Tickets ankündigen. Vor dem Eingang bleibe ich einige Sekunden unschlüssig stehen. Ich war ein paarmal mit Mama in dem Fanclub in Orania City, wenn sie mich während der Arbeit nicht alleine zu Hause lassen konnte, aber dort ist der Fokus auf die Pokémon gelegt, nicht auf die Trainer. Ich denke an Jonas zurück, einen von Raphaels Fans, der mich sofort aus seinem ersten ausgestrahlten Arenakampf erkannt hat. Er wird nicht der einzige sein. Meine Mütze tiefer ins Gesicht ziehend, hole ich tief Luft und trete ein. Ein Schwall Gesprächsfetzen kommt mir entgegen, kaum dass ich durch die Tür gegangen bin. Fans unterschiedlichsten Alters sitzen verteilt in dem großen Erdgeschoss, das mit Sofas, Sitzecken, Vitrinen, Regalen voller Bücher und Autogrammkarten und einem großen Fernsehgerät ausgestattet ist. Überwältigt bleibe ich stehen und schaue mich suchend um, aber von Mama ist wie erwartet nichts zu sehen. „Willkommen im Trainerfanclub!“, erschallt eine weibliche Stimme neben meinem Ohr und ich mache einen Satz zur Seite. Vor mir steht ein Mädchen in meinem Alter, mit bunt gefärbtem Regenbogenhaar, das sie zu zwei kleinen Dutts an den Seiten ihres Kopfes hochgesteckt hat und mich in einem T-Shirt begrüßt, auf dessen Vorderseite Noahs dunkles Gesicht mit den schwarzen Korkenzieherlocken gedruckt ist. Ungeachtet meiner Reaktion nimmt sie meine Hand und zieht mich zu einer der Sitzecken, die unbesetzt ist. „Das ist dein erstes Mal hier, nicht wahr?“, fragt sie freundlich und lässt sich mir gegenüber auf einem Sofa nieder. „Möchtest du dich alleine umsehen oder soll ich dich den anderen Mitgliedern vorstellen? Zugang zu den Clubräumen im obersten Stockwerk erhältst du erst, wenn du Mitglied bist, aber bis dahin kannst du dich hier gerne aufhalten und mit uns über deine Lieblingstrainer diskutieren!“ „Ich-“ „Entschuldige, dass ich dich das so direkt frage, aber wer ist dein PF?“ „PF? Was?“ „Dein persönlicher Favorit.“ Sie zwinkert. „Welcher Trainer ist deiner Meinung nach der beste von allen? Aussehen, Kampfstil, Vergangenheit, Charakter, wen würdest du am liebsten in deine Tasche stecken und überall hin mitnehmen?“ „Eh. Raphael ist cool. Und Gold und Red.“, sage ich. Der Redeschwall des Mädchens hat mich völlig aus der Bahn geworfen. „Aber ich würde sie nicht-“ „Mein Liebling ist Noah Reynes, aber das ist ziemlich offensichtlich“, lacht sie und deutet auf ihr T-Shirt. „Ich habe ihn erst einmal persönlich getroffen, aber er hat auf meinem Rücken unterschrieben! Das war der beste Tag meines Lebens. Er ist so süß! Ein bisschen verlegen, obwohl er schon so lange im Rampenlicht steht, und so natürlich und unschuldig! Wenn ich nur an sein Lächeln denke…“ Sie legt die Hände an ihre Wangen und schließt gedankenverloren ihre Augen, bevor sie sie schlagartig wieder öffnet und erneut meine Hand nimmt. „Mein Name ist übrigens Jeanne, aber jeder hier nennt mich Jee. Was kann ich für dich tun?“ „Eigentlich bin ich nur hier, um meine Mutter zu besuchen“, sage ich. „Sie arbeitet für den Pokémonfanclub in Orania City und ist heute für ein Meeting hier.“ „Oh.“ Enttäuscht zieht Jee eine Schnute. „Na gut, da kann man nichts machen. Unterhalte dich doch mit den anderen hier, während du wartest, der erste Teil des Meetings sollte bald vorüber sein, dann schicke ich deine Mutter runter. Deine Garderobe kannst du dort hinten aufhängen.“ Ich zupfe an meiner Mütze. „Kann ich die anlassen?“ Sie sieht mich überrascht an. „Wenn du das möchtest, darfst du das natürlich. Aber ist dir nicht viel zu warm? Und du hast so eine schöne Haarfarbe! Zeig mal her.“ Bevor ich reagieren kann, ist sie schon näher gekommen und betrachtet meine Haare und mein Gesicht von nahem. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen und sie nimmt einen Schritt Abstand. „Jetzt, wo ich dich so ansehe, kommst du mir sehr bekannt vor. Warst du sicher noch nie hier?“ „Vielleicht sind wir uns mal auf der Straße begegnet“, lenke ich schnell ein, auch wenn ich sicher bin, dass mir ihre Haare in Erinnerung geblieben wären. „Nein, nein, ich kenne dich von irgendwo anders… Ach Mann, woher denn nur?“ Verzweifelt trommelt sie mit ihren Fingerknöcheln gegen ihre Schläfen, bevor sie seufzt und sich abwendet. „Es fällt mir bestimmt später ein. Mach es dir bequem!“ Erleichtert atme ich aus, bringe meine Jacke zur Garderobe und kehre unschlüssig in den Hauptraum zurück. Unter normalen Umständen würde ich mich zu einer bestehenden Gruppe setzen und ein bisschen tratschen, aber ich habe das ungute Gefühl, dass einer von den anderen mich auf jeden Fall erkennen wird, selbst wenn Jeanne vorerst auf dem Schlauch zu stehen scheint. Stattdessen laufe ich die Regale voller Fanartikel und unterschriebener Bücher und Plakate ab und bewundere die Autogrammkarten, die aus Nahaufnahmen von Turnierkämpfen der Favoriten und anderer Trainer bestehen und zum Teil so aussehen, als hätte der Fotograf sein Leben für den Schnappschuss riskiert. Vertieft in meine Recherche bemerke ich Jee erst, als sie mich von hinten anspringt und mir ein Amateurfoto vor die Nase hält. „Ich hab´s!“, verkündet sie begeistert und deutet mit dem Zeigfinger auf das Bild. „Eins unserer Mitglieder hatte Plätze auf Höhe der VIP-Box bei der letzten PCS und ein paar Fotos von den Favoriten ergattert. Und das hier…“ Sie tippt mit ihrem pink lackierten Fingernagel auf ein leicht verschwommenes Gesicht, „…bist du.“ Sie hat Recht. Leider. Die Bildqualität ist nicht gerade herausragend, aber meine Gesichtszüge sind trotzdem erkennbar und wahrscheinlich gibt es von dem Tag auch Kameraaufnahmen. Ich seufze. „Ja, das bin ich“, sage ich leise und ziehe sie mit mir zu der Sitzecke, in der wir eben erst zusammen gesessen haben. „Und es wäre mir wirklich, wirklich lieb, wenn du diese Erkenntnis nicht an die große Glocke hängst.“ „Was? Warum?“ Sie runzelt die Stirn, dann hellt sich ihr Gesicht auf. „Ahh, ich verstehe. Du bist seine Ex-Freundin. Mein Beileid, dass Raphael dich für diese Elizabeth sitzen gelassen hat. Er war ein wirklich guter Fang.“ „Wir waren nie zusammen!“, entgegne ich wütend und eindeutig zu laut, denn die Konversationen, die bis dahin im Hintergrund vor sich in geplätschert sind, verstummen schlagartig. „Ich meine… ich bin nicht seine Ex-Freundin“, fahre ich etwas leiser fort. „Tut mir leid, dass ich geschrien habe, aber du bist nicht die erste, die das vermutet und langsam regt es mich ziemlich auf.“ „Oh, das tut mir leid.“ Sie legt den Kopf schief und einen Finger an ihre geschminkten Lippen. „Aber wenn du nicht seine feste Freundin bist, warum warst du dann mit ihm auf der PCS?“ Ich lehne mich in den Kissen zurück. „Wir sind Freunde. Ich habe ihn kennen gelernt, danach wurde er berühmt, das ist alles.“ „Hmm…“ Sie denkt nach, dann hellt sich ihr Gesicht auf. Verdammt. Ich hätte einfach nichts sagen sollen. Gar nichts. „Wenn das so ist, dann… bist du das Mädchen aus seinem Arenakampf in Orania City? Ja, das muss es sein! Deine Mutter arbeitet dort, also musst du dort aufgewachsen sein. Wie heißt deine Mutter noch?“ „Habe ich nie erwähnt“, sage ich kurz angebunden. „Ach was, das finde ich schnell heraus. Moment.“ Sie springt auf, rennt nach oben und taucht nur eine Minute später schwer atmend wieder auf. Sie grinst bis über beide Ohren. „Die einzige Frau, die heute aus Orania angereist ist, um an dem Meeting teilzunehmen, ist Natalie Hampton. Also bist du auch eine Hampton. Ahh, wenn ich jetzt noch deinen Vornamen wüsste, dann-“ „Abby? Bist du das?“ Ich lasse meinen Kopf nach hinten sacken und verfluche das Universum. Warum bin ich hergekommen? Wenn auch nur die kleinste Möglichkeit besteht, wird es in einem Desaster enden. Wie nennt man das noch gleich? Absols Gesetz? Ich öffne wieder die Augen und entdecke Mama, die am Fuß der Treppe steht und mit Tränen in den Augen auf mich zukommt, wenn auch zögerlich. „Hallo, Mama“, sage ich und mir entgeht Jees siegessicheres Grinsen nicht, als sie mir beide Daumen hoch gibt und sich dann zurückzieht, die Worte Bis dann, Abby auf ihren grellpinken Lippen. „Abby, du bist gekommen“, sagt Mama und lässt sich mir gegenüber auf dem Sofa nieder. „Ich hatte nicht mehr daran geglaubt. Nachdem du gegangen bist, war ich… ich wusste nicht…“ Sie schluchzt auf und ich muss nicht lange nachdenken, bevor ich das Sofa wechsle, mich neben sie setze und sie umarme. Ich will mich entschuldigen, aber mir kommt kein Wort über die Lippen. Was soll ich auch sagen? Tut mir leid? Tut es nicht. „Ich dachte, dieses Mal hätte ich dich für immer verloren“, flüstert Mama hilflos und krallt sich an meinem Rücken fest. „Bitte, tu mir das nie wieder an.“ Schweigend halte ich sie fest. Sie weiß genauso gut wie ich, dass ich es wieder tun würde. Sie seufzt und als sie sich beruhigt hat, löst sie sich von mir und nimmt mich in Augenschein. „Hast du dir den Arm gebrochen?“, fragt sie mit erstickter Stimme. „Ich bin auf Eis ausgerutscht“, sage ich. „Der Gips kann in drei Wochen wieder ab.“ Sie zögert. „Abby, ich habe nachgedacht“, sagt sie dann. „Ich weiß, das hätte ich schon früher tun sollen, aber dein letzter Besuch hat mir klar gemacht, dass du nicht mehr mein kleines Mädchen bist. Du bist eine junge Frau, die ihren eigenen Weg in dieser Welt sucht und auch wenn ich täglich krank vor Sorge bin und mir wirklich wünschen würde, dass du zu Hause bleibst,… bin ich mit Bernhard und Agnes zu dem Schluss gekommen, dass ich deine Reisen unterstützen werde.“ „Das bedeutet mir sehr viel“, sage ich wahrheitsgemäß. „Aber im Gegenzug wünsche ich mir, dass du dich öfter bei uns meldest“, fährt Mama ernst fort. „Wenn du nicht bei Agnes gewesen wärst, wüsste ich wieder nicht, wo du bist. Zumindest eine kurze Mail jede Woche oder ein Anruf ist machbar, oder nicht?“ „Wenn du mich nicht bei jeder Gelegenheit zurück beordern würdest, hätte ich das schon früher getan“, sage ich und umarme sie noch einmal fest. „Ich werde mich regelmäßiger melden, versprochen.“ „Danke.“ Mama reibt sich die Augen. „Übrigens habe ich einen Freund von dir auf der Arbeit getroffen.“ „Einen Freund?“, frage ich. „Meinst du Valentin? Er ist vor kurzem durch Orania City gekommen.“ „Nein, an Valentin hätte ich mich erinnert“, sagt Mama und denkt kurz nach. „Er trug eine Brille und er hat sehr viele Fragen gestellt.“ Meine Nackenhaare stellen sich auf. Er wird doch nicht… „Was wollte er wissen?“ „Oh, er hat glaube ich nach dir gesucht, er hat in der ganzen Stadt nach dir gefragt, bis ihn jemand zu mir in den Fanclub geschickt hat. Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen. Er war sehr nett.“ „Nein…“, murmele ich und balle meine gesunde Faust. Mein linker Arm beginnt, heftig zu pochen. „Also weiß er, wo ich wohne?“ „Weißt du, von wem ich rede?“, fragt Mama. „Hätte ich ihn nicht einladen sollen?“ „Nein, hättest du nicht“, presse ich hervor, ermahne mich aber zur Ruhe. Mama kann nichts dafür. Sie weiß nicht, was sie getan hat. „Egal, reden wir nicht darüber. Ich muss jetzt zurück, ich habe noch etwas zu erledigen.“ Mama nickt matt und erhebt sich. „Wir hören voneinander. Viel Spaß. Und pass auf dich auf.“ „Werde ich“, sage ich, recke mich, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, sammle meine Jacke ein und gehe schnellen Schrittes nach draußen. Fast automatisch tragen meine Beine mich Richtung Osten, denn mein Kopf ist mit ganz anderen Dingen beschäftigt. „Du bist zu gut in diesem Spiel, Julius“, flüstere ich tonlos und stapfe zerknirscht über die Straße. „Viel zu gut.“ Kapitel 93: Wettlauf gegen die Zeit (Es beginnt hier) ----------------------------------------------------- Auf dem Weg kaufe ich mir von meinem gewonnenen Geld einen kleinen Vorrat an Sandwiches und eine Wasserflasche, die ich in meinem Rucksack verstaue, bevor ich mein Handy zücke und zur Stadt hinauseile. Ein Blick auf das Display bestätigt meine Vermutung. Die Kämpfe am Morgen und der Besuch im Fanclub haben mich eine ganze Weile aufgehalten und inzwischen ist es Nachmittag. Wenn ich noch vor Nachteinbruch in Lavandia ankommen möchte, muss ich mich beeilen. Der Radiourm ist nur bis etwa 18:00 Uhr für die Öffentlichkeit zugänglich und Julius hat einen Vorsprung. Wenn Mama ihn in Orania City getroffen hat, muss es gestern noch dort gewesen sein, also hatte er anderthalb Tage, um nach Lavandia zu kommen. Es wird knapp werden. Aber ich muss es versuchen. Ich habe kaum einen Fuß vor die Stadt gesetzt, da rufe ich Hunter, schwinge mich auf seinen Rücken und gebe ihm mit meinen Beinen das Signal, Richtung Lavandia zu fliegen, während ich Louis eine SMS schreibe, damit er mich heute Abend nicht im Pokécenter erwartet. Hunter schießt in die Lüfte, kalter Wind schlägt mir entgegen und ich festige meinen Griff um seinen Körper. Dann rasen wir über die Straße davon. Zunächst legt Hunter ein solides Tempo vor, aber es dauert nicht lange, bis er langsamer wird und sich auf ein etwas gemäßigteres Tempo einpendelt. Er ist nicht so ausdauernd wie Golds Lugia, das wahrscheinlich tagelang auf Höchstgeschwindigkeit durch die Lüfte schießen könnte und der Winter ohne lange Flüge hat nicht dazu beigetragen, seine Flugdauer zu verlängern. Wir sind kaum zwei Stunden unterwegs, da krächzt er und verliert an Höhe. „Müde?“, frage ich und tätschele seinen langen braunen Hals. „Keine Sorge, Jayjay kann übernehmen. Ruh dich aus.“ Hunter nickt dankbar und kommt ein kleines Stück hinter dem umzäunten Grasabschnitt zum Stillstand.  „Zeit für deinen Auftritt“, sage ich und rufe Jayjay, der sich schnaubend auf der Straße materialisiert und bei Hunters Anblick freudig wiehert und auf ihn zu läuft, um mit ihm zu kuscheln. „Später, ihr zwei“, meine ich, bevor ich meine isolierenden Handschuhe anziehe und auf Jayjays Rücken klettere. „Hunter, schaffst du mein Gepäck?“ Er nickt und ich ziehe ihm mit etwas Mühe den Rucksack an, bevor er sich erneut in die Lüfte katapultiert, wesentlich leichter dieses Mal. Jayjay prustet und folgt automatisch in donnerndem Galopp. Es ist das erste Mal, dass ich Jayjay über Distanz reite und ich bin bereits nach wenigen Minuten froh, in den Sattel investiert zu haben. Ich weiß nicht, wie ich mich sonst auf seinem Rücken hätte halten sollen, speziell mit nur einem gesunden Arm und in Angesicht der Tatsache, dass meine Beine und mein Po sich schmerzlich bemerkbar machen, kaum dass wir etwa zwanzig Minuten Strecke hinter uns gebracht haben. Auch Jayjay merkt, dass dies keiner seiner üblichen Sprints sein wird und drosselt sein Tempo nach einer Weile, sehr zu Hunters Erleichterung, der so seine Flügel im Gleitflug ausruhen kann, ohne eine Niederlage gegen seinen besten Freund befürchten zu müssen. Mit dem Einbruch der Dunkelheit lassen sich bereits aus der Ferne die Lichter des Radioturms ausmachen. Das Observationsdeck ragt zwischen den Bergmassiven hervor, die Lavandia wie in einer festen Umarmung umschließen und die Baumgruppen, die im letzten Streckenabschnitt der Route 8 dichter geworden sind, verengen die Straße nun zu einem schmalen Streifen Asphalt. Jayjay galoppiert müde weiter, seine Hufe trommeln in rhythmischen, aber immer länger werdenden Abständen über den Boden und Hunter hat begonnen, an seiner Seite zu fliegen, um ihn mit liebevollem Krächzen anzuspornen. Auch ich wünsche mir eine Pause, obwohl ich von allen Beteiligten wohl am wenigsten zur Distanzbewältigung beigetragen habe, aber der lange Flug auf Hunters Rücken und das kontinuierliche Ruckeln in Jayjays Sattel haben meine Oberschenkel steif und wund werden lassen. Dazu kommt, dass ich mich nur mit meiner rechten Hand an dem Sattelriemen festkrallen kann. Meine Finger sind vom Gegenwind durchgefroren und die Haut an den Knöcheln aufgerissen. „Gleich sind wir da“, rufe ich Jayjay zu. Wir alle wollen eine Pause. Aber leider fehlt dafür die Zeit. Es ist schon halb sechs und Lavandia noch gute zwanzig Minuten entfernt. Ich weiß nicht mal, ob es noch etwas bringen wird, heute dort anzukommen, aber wenn es sein muss, werde ich vor dem Eingang zum Radioturm übernachten, um Julius abzufangen. Jayjay scheint meine Ungeduld zu spüren, denn er schnaubt und legt nochmal einen Zahn zu. Auf seinem Rücken fliege ich nur so über den Asphalt dahin, Wind im Haar und den Geruch von nahendem Frühling in der Nase. Eine Viertelstunde später kommen wir schlitternd auf Lavandias Backsteinstraßen zum Halt. Jayjay schnaubt, halb erschöpft, halb selbstgefällig und wird gleich von Hunters liebevollen Neckereien in Beschlag genommen, kaum dass ich von seinem Rücken gesprungen bin. Ich rufe die beiden schweren Herzens in ihre Pokébälle zurück und humpele in Richtung Radioturm, der nordöstlich in der ehemaligen Totenstadt liegt. Lavandia ist nicht groß und Jayjay hat bereits ein gutes Stück des Weges für mich zurückgelegt, und so komme ich nur eine Minute nach sechs Uhr vor der Eingangstür an, schnaufend und mit Seitenstichen, die von innen gegen meine Rippen pochen. Ich schiebe die Glastür auf und trete in das Foyer. Der Turm ist ähnlich strukturiert wie in Dukatia City und so finde ich mich schnell an der richtigen Rezeption ein. „Tut mir leid“, presse ich hervor und lehne mich schwer atmend an die Theke. „Ich muss… mit Alfred sprechen. Es ist wichtig.“ Der Mann an der Rezeption, der in einem roten Anzug gekleidet ist und einen dazu völlig unpassenden Ohrring trägt, mustert mich eingehend. „So leid es mir tut, die Empfangszeit für Besucher ist vorbei“, sagt er. „Wenn Sie möchten, können Sie morgen wiederkommen.“ „Es muss heute sein“, widerspreche ich. „Außerdem ist die Besuchszeit erst seit zwei Minuten um. Können Sie keine Ausnahme machen?“ „Das ist nicht so einfach“, sagt er und schaut an mir vorbei zu den Treppen, die hinauf führen. Ich folge seinem Blick und entdecke einen Türsteher, der schwarz gekleidet und mit kleinem Headset an die Wand gelehnt steht und uns misstrauisch zusieht. „Ich bin nicht hier, um Ausnahmen zu machen. Außerdem bezieht sich die Zeitangabe auf das Verlassen der Besucher. Der Einlass ist bereits vor einer Stunde abgelaufen.“ „Ach verdammt…“ Ich schaue zurück zu dem Türsteher, der die Augen zusammenkneift und mit dem Kopf schüttelt. Mach keinen Unsinn. Plötzlich hellt sich mein Gesicht auf. Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden und beginne, darin zu wühlen. Der Rezeptionist lehnt sich interessiert über die Theke und schaut mir dabei zu, wie ich zwischen alten T-Shirts und Unterwäsche umhergreife und schließlich triumphierend einen zerknitterten Brief zu Tage fördere und auf die Rezeption lege. „Da“, sage ich zufrieden. Der Mann zieht eine Augenbraue hoch, nimmt den Umschlag aber in seine behandschuhten Hände und öffnet ihn vorsichtig. Er zieht Alfreds Empfehlungsschreiben hervor und liest es aufmerksam durch. Mein breites Grinsen verfliegt, als er den Kopf schüttelt. „Es freut mich zwar, dass Sie Mr. Phirello beeindruckt haben, aber ein Empfehlungsschreiben für ihr Potential als Reporterin ist nicht gleichzusetzen mit einem Freibrief, zu jeder Tag- und Nachtzeit im Radioturm einherzugehen.“ Der Türsteher schnaubt amüsiert. Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, bevor ich mich wieder dem Mann zuwende. Sein Namensschild weist ihn als Henry Lewis aus. „Es ist wirklich, wirklich dringend“, wiederhole ich. „Ich möchte nicht dramatisch klingen, aber es geht um Leben und Tod.“ „Oh bitte“, mischt sich nun doch der Türsteher von seinem Platz an der Treppe ein. „Das musst du dir nicht antun, Henry. Soll ich die Göre rauswerfen?“ „Sie ist immer noch eine Bekannte von Mr. Phirello“, widerspricht Henry und befühlt nervös seinen Ohrring, der im Licht golden blinkt. „Und unsere Besucherin als Göre zu bezeichnen, ist selbst unter deinem Niveau, Axel.“ „Pff. War nur ein Vorschlag, nimm´s nicht gleich so ernst“, murrt Axel und ich beobachte, wie er beleidigt die muskulösen Arme verschränkt und zur Seite schaut. „Es tut mir wirklich leid, aber ich kann Sie nicht durchlassen“, fährt Henry an mich gewandt fort. „Die Liveaufnahme für die heutige Abendshow wird in zwanzig Minuten starten und ich bin sicher, Mr. Phirello möchte sich darauf vorbereiten. Wenn es so dringend ist, wie Sie sagen, kommen Sie doch morgen zum frühestmöglichen Termin zurück, dann werde ich Mr. Phirello eine Nachricht hinterlassen und Sie können ihn vor der Morgenshow treffen.“ Ich beiße mir auf die Lippen. „Erinnern Sie sich zufällig, ob heute jemand herkam, der ebenfalls mit Alfred oder einem der anderen Moderatoren reden wollte?“, frage ich in einem Anflug letzter Hoffnung. Wenn Julius noch nicht hier war, sollte es reichen, wenn ich morgen früh zu Alfred gehe und ihn vorwarne. „Er trägt eine Brille und hat sehr blondes Haar.“ „Ach, der“, sagt Axel und dreht seinen Kopf ein Stück in unsere Richtung. „Der hat sich kurz nach fünf noch rein geschmuggelt. War aber immerhin höflich. Wahrscheinlich ist er deshalb noch nicht raus geschickt worden.“ Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Verzweifelt presse ich meine gesunde Hand auf die Theke. „Bitte“, sage ich eindringlich. „Wenn er schon hier ist, reicht morgen nicht. Ich muss sofort zu Alfred!“ „Selbst, wenn Sie das sagen…“ Henry schaut unschlüssig zu Axel zurück. „Was guckst du jetzt mich an? Ich bin immer noch dafür, dass wir sie rausschmeißen.“ „Können Sie Alfred nicht irgendwie kontaktieren?“ „Es tut mir wirklich leid, aber ich muss Sie jetzt bitten, zu gehen“, sagt Henry. Axel grinst breit. „Fein“, sage ich wütend. „Darf ich hier im Foyer sitzen bleiben oder ist das auch verboten?“ „Sie können sich hier bis Schließung des Gebäudes aufhalten“, erklärt Henry. „Okay. Gut.“ Ich packe das Schreiben wieder in meinen Rucksack, stapfe zu einem der Sofas, das mitsamt Kaffeetisch und Zeitschriften an die Wand gelehnt steht und ziehe mein Handy aus meiner Tasche. Von weiter neben mir kann ich ein Glucksen hören. Ich drehe den Kopf und entdecke Axel, der sich eine Hand vor den Mund hält und sich bemüht, bei meinem griesgrämigen Ausdruck nicht in tosendes Lachen auszubrechen. Wir werden ja noch sehen, wer zuletzt lacht. Ich wähle Raphaels Handynummer und warte geduldig, bis er abhebt. „Abby, schön, dass du anrufst! Hast du meine Karte bekommen?“ „Ja, sie ist pünktlich an Valentinstag angekommen“, sage ich breit grinsend. „Tut mir leid, dass ich dich so überfalle, aber wir müssen später quatschen. Kannst du mir einen Gefallen tun?“   Keine fünf Minuten später stürmt ein sehr gehetzter Alfred die Treppen hinunter, schaut sich im Foyer um, entdeckt mich und kommt mit offenen Armen in meine Richtung. „Abby, du bist tatsächlich hier! Raphael rief mich an und sagte, du würdest nicht durchgelassen. Ist es dringend? Möchtest du mit nach oben kommen? Die Live-Show wird gleich aufgenommen und wir haben dieses Mal einige sehr interessante Enthüllungen.“ Es läuft mir kalt den Rücken herunter. „Besprechen wir das privat“, sage ich schnell und lasse mich von Alfred die Treppen hinauf geleiten. Als ich mich ein letztes Mal umdrehe, starren Axel und Henry mir fassungslos hinterher. Auch wenn ich mich bemühe, ein breites Grinsen kann ich mir nicht verkneifen. Im zweiten Obergeschoss bringt Alfred mich in sein Büro, das wie erwartet sehr geschmackvoll eingerichtet ist und auf dem Schreibtisch sogar ein eingerahmtes Bild der vier Favoriten mit Alfred und Erik in der Mitte aufweist. Trotz der Dringlichkeit der Lage muss ich schmunzeln. Sie sind weit gekommen. Aber das Bild zeigt auch, wie schlimm es um die sechs steht. Zach gilt als Verräter, Richard ist im Gefängnis und Alfreds Image hat unter all dem stark gelitten. Ich balle meine Faust. Es wird Zeit, dass ich dem Spuk ein Ende setze. Und mit Julias fange ich an. „Abbygail, es ist wundervoll, dich nach all der Zeit wieder zu sehen“, sagt Alfred und nimmt mich väterlich bei den Schultern. „Aber die Aufnahmen für die Live-Show beginnen in wenigen Minuten. Raphael sagte mir, es sei sehr wichtig, was du mir sagen möchtest. Was liegt dir auf dem Herzen?“ „Die Enthüllungen, die euch versprochen wurden, gehören eigentlich mir“, beginne ich hastig. Alfred kneift die Augen zusammen. „Wurden sie dir gestohlen? Das ist sehr betrüblich, aber wer sie zuerst herbringt, dem gehören sie.“ „Darum geht es auch nicht“, fahre ich fort. „Habt ihr schon erfahren, was für Enthüllungen Julius euch anbietet?“ „Nein, es wird eine Live-Diskussion“, sagt Alfred. „Julius spricht gerade mit Verantwortlichen der PCN-Webpage. Er wird als zusätzlicher Gast am Ende auftreten.“ „Er will aufdecken, dass Zach Team Rocket von innen ausspioniert!“, sage ich laut. Alfreds Miene erstarrt. „Woher weißt du davon?“, fragt er tonlos. „Raphael hat es mir erzählt, als ich im Krankenhaus war“, erkläre ich. „Ich hatte es schon vorher mehr oder weniger herausgefunden, er hat mir nur seine Motive erklärt. Seit er als Verräter enttarnt wurde, habe ich sein Geheimnis gehütet, aber ich war dumm und habe es aufgeschrieben und Julius hat es gestohlen und jetzt will er damit an die Öffentlichkeit! Sie werden Zach umbringen, Alfred, wenn es live geht, wird Team Rocket-“ „Beruhige dich, Abby, ganz ruhig.“ Er legt seine Hände auf meine Wangen und geht in die Hocke. „Ich danke dir, dass du hergekommen bist. Ich werde nicht zulassen, dass er Zach ans Messer liefert. Was möchte er noch enthüllen?“ Ich schüttele den Kopf, versuche, meine Gedanken zu sammeln. Alles wird gut, Abby, denke ich eisern und atme einmal tief durch. Alles wird gut. „Er verhökert wahrscheinlich in diesem Moment meine Identität und Adresse an die PCN-Webpage, aber inzwischen haben auch die Fanclubs davon Wind bekommen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es jeder weiß. Vielleicht wird er von Dark sprechen.“ „Dark?“ „Er ist Atlas´ Sohn, der Jugendliche, der bei Team Rocket mitgemacht hat und plötzlich verschwunden ist. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn er über Team Shadow anfängt… Stell ihm Fragen.“ „Fragen? Warum?“ Ich grinse. „Weil sie mein Fachgebiet sind. Ich habe den Kontakt zu ihnen und wenn die Zeit kommt, sie öffentlich zu vertreten, werde ich das tun. Außer der Tatsache, dass es sie gibt, hat Julius keinen blassen Schimmer von ihnen. Wenn Sie es schaffen, ihn wie einen Idioten dastehen zu lassen, umso besser.“ „Oh bitte, Abby“, sagt Alfred und richtet sich wieder auf. Er lächelt. „Ich glaube, über das Siezen sind wir schon eine ganze Weile hinaus, nicht wahr?“   Alfred nimmt mich mit in Richtung Aufnahmestudio, allerdings darf ich nicht mit hinein kommen, da wir beide befürchten, Julius könnte seine Pläne ändern, wenn er erfährt, dass ich hier bin. Stattdessen mache ich es mir vor dem Flachbildschirm bequem, der im Raum nebenan an der Wand hängt. Außer mir ist niemand hier, auch wenn auf den Fluren trotz der spät werdenden Uhrzeit noch viel Betrieb ist. Ich rufe Sku, Gott und Priss und schalte den PCN-Sender ein. Priss rollt sich gleich auf der Rückenlehne ein, buschigen Schweif über ihren Kopf geschlungen, während Sku ohne Umschweife meinem Schoß aufsucht und sich vorsorglich für eine Bauchmassage positioniert. Gott legt in der ihm unbekannten Umgebung die kurzen Ohren an, faucht leise und legt sich dann an meine Seite. Den Kopf bettet er auf seine Pfoten, aber mit den Augen behält er die Tür im Auge. Der Werbespot für ein neues Waschmittel läuft, was ich zum Anlass nehme, Handy und S-Com zu überprüfen. Louis´ erwartete SMS ist da, in der er mir Viel Glück bei was auch immer wünscht und dass er Angst vor Valentin hat, der wohl einiges von Bruno gelernt hat. Auf dem Com finde ich eine Systemnachricht mit den Passwörtern, die ich diese Woche kaum benutzt habe und eine Rundmail von Jayden. Normalerweise entfernen er und Chris sich nie weit vom Silberberg, weil sie dort wie die Wahnsinnigen trainieren, aber wenn Vorräte zu Neige gehen, die sie nur in abgelegenen Städten kaufen können, gibt es schon mal einen längeren Report.   Von: Jayden_Williams_03 An: Team_Shadow_00 »Team Rocket Mitglied in Marmoria City Markt enttarnt und ausgeschaltet. »Team Rocket Mitglied auf Route 3 gesichtet und ausgeschaltet. »Große Ansammlungen von Bikern auf dem Radweg zwischen Prismania und Fuchsania City. »Bisher kein Grund zum Eingreifen.   Ich scrolle weiter.   Von: Chris_Rowland_02 An: Dark_01   Weitergeleitet an: Team_Shadow_00 »Mail von Ronya erhalten. »Entei gefangen. »Wird bald nach Kanto aufbrechen. »Beitritt unsicher.   Ein kurzes Pling ertönt, als eine dritte Nachricht eingeht. Ich werfe einen schnellen Blick hinauf zum Fernsehbildschirm, auf dem schon die Anfangssequenz für die heutige Abendshow beginnt. Ich öffne die Mail.   Von: Dark_01 An: Abbygail_Hampton_04 »Ich hoffe, die Enthüllungen, die PCN heute angekündigt hat, sind unter Kontrolle?   Pff. Was denkt er wohl? Ich beginne zu tippen.   Von: Abbygail_Hampton_04 An: Dark_01 »Nicht die Nerven verlieren, auch wenn dein Name fällt. »Ich habe alles im Griff.   Na ja. Mehr oder weniger. Ich drücke auf Senden, lege den S-Com neben mich auf die Polster und beginne mit der Massage, die Sku schon schnurrend erwartet. Irgendwie muss ich meine Hände beschäftigen. Ich sollte mir meinen eigenen Rat zu Herzen nehmen. Schließlich habe ich getan, was ich konnte, wenn man mal von Mord absieht. Ab jetzt hängt alles von Alfred ab.   „Liebe Zuschauer, auch heute Abend möchten wir von PCN Ihnen etwas ganz Besonderes bieten! Mein Name ist Alfred Phirello…“ „…und ich bin Jessy Hawk!“ „Heute haben wir einen jungen Herren eingeladen, der seine Enthüllungen mit uns teilen möchte, doch bevor wir mit dem Interview beginnen, machen sie sich auf die Nachrichten gefasst. George, was tut sich in Kanto? Macht Rocky Forstschritte?“   „Die macht sie, Alfred, und nicht zu knapp. Mit den vereinzelten Verhaftungen der letzten Monate ist die Kompetenz der Polizei in vielen unserer Umfragen angezweifelt worden, aber mit dem Beginn des neuen Jahres hat sich das Blatt gewendet! Seit zwei Wochen erreichen die Polizei regelmäßig Meldungen von Trainern, die Team Rocket Mitglieder in öffentlichen Einrichtungen entdeckt haben und die Polizei kommt vor lauter Verhaftungen kaum hinterher.“   Während George über die weiteren Entwicklungen in Kanto und Johto berichtet, kraule ich zufrieden grinsend Skus Bauch und nach einem kurzen Blick von Gott mit der anderen Hand seinen Kopf. Obwohl Team Shadows Existenz noch unbekannt ist, sind ihre Erfolge schon in den Nachrichten. Das gibt mir die perfekte Grundlage, das Team später als den Retter in der Not darzustellen, was es schließlich auch ist. Aber vorher muss Julius´ Bedrohung ausgestanden werden. Ich hoffe wirklich, dass Alfred einen Plan hat, denn so wie es scheint, wird er Julius trotz des Risikos interviewen. Nervös versinke ich tiefer in den Polstern. Es muss funktionieren!   „Und hier ist er, unser heutiger Ehrengast! Begrüßen sie mit mir... Julius Wagner!“ Alfred erhebt sich, entgegen seiner Gewohnheit, bei solchen Anmoderationen auf der PCN-Couch sitzen zu bleiben und breitet die Arme in Richtung Julius aus, der in dem Moment ordentlich frisiert und in sauberer Kleidung auf die kleine Plattform tritt. Er lächelt auf diese gewinnende Weise, die mich früher davon überzeugt hat, dass er ein guter Kerl ist, inzwischen jedoch einen Würgereiz bei mir auslöst. Ich beobachte genau, wie er siegessicher die zwei Treppenstufen hinauf steigt und sich von einem überschwänglichen Alfred in Empfang nehmen lässt, der zur Begrüßung seine Wangen küsst und dann leise mit ihm redet, bevor er ihn zu der Couch geleitet. Julius lächelt unentwegt, aber ich habe seinen Gesichtsausdruck genau verfolgt. Alfred hat etwas gesagt. Und es hat das Selbstbewusstsein aus seinen Zügen gesogen. Ein wenig blass sitzt er auf der Couch, wird auch von Jessy begrüßt und scheint bemüht, seine Fassung wiederzuerlangen. Der ganze Austausch dauert kaum eine Minute und ich bin sicher, dass die Zuschauer seine plötzliche Unsicherheit als Nervosität oder Lampenfieber abtun werden. Aber ich weiß es besser. Alfred hat etwas gesagt. Und was immer es war, es hat Julius ziemlich aus der Bahn geworfen. Kapitel 94: Imagewechsel (Letzte Warnung) ----------------------------------------- „Julius“, beginnt Alfred und überschlägt seine Beine. „Erzähl uns von dir! Wie alt bist du und woher kommst du?“ „Ich bin sechzehn Jahre alt", beginnt Julius. "Meine Familie wohnt in Azuria City, aber ich bin schon  seit zwei Jahren auf Reisen.“ „Die Stadt der blühenden Blumen, fabelhaft!. Misty ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Wasserpokémon. Was hat dich dazu veranlasst, loszuziehen, wenn ich fragen darf?“ „Schon als ich klein war, wollte ich reisen.“ Julius taut langsam auf, seine Hände, die bisher steif in seinem Schoß gelegen haben, erwachen mit seiner Erzählung zum Leben. „Ich war von den Nachrichten fasziniert und habe es geliebt, mir die Orte vorzustellen, an denen außergewöhnliche Dinge geschehen. Mit vierzehn habe ich den Beschluss gefasst, Reporter zu werden und bin seitdem unterwegs.“ „Großartig! Jessy, was hältst du davon?“ „Ein junger Mann, der die Welt bereist, um seinem Traum näher zu kommen? Ich bin entzückt.“ „Julius, du bist natürlich nicht einfach so hier. Du hast uns etwas zu berichten.“ Alfreds Worte lassen Julius wieder erbleichen. Gott brummt zufrieden und reibt sich etwas fester gegen meine Hand. „Ich… ich habe herausgefunden, wer das Mädchen ist, das in Raphael Bernis dritten Arenakampf zu sehen war.“ Ergeben lächle ich. Jetzt wird meine Identität also publik. Helfen wird mir das nicht gerade dabei, von Team Rocket unerkannt zu bleiben, aber solange Julius dafür Zach außen vor lässt, nehme ich dieses Opfer in Kauf. Sku schnurrt und streckt eine Pfote aus, die sie in mein Bein krallt. Sie blinzelt mich träge an. Lass dich nicht unterkriegen. „Werde ich nicht, keine Sorge“, murmele ich und widme meine Aufmerksamkeit wieder dem Fernsehgeschehen. „Das sind in der Tat Neuigkeiten!“, stimmt Alfred begeistert zu. „Und wir dachten schon, sie würde ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen.“ „Ihr Name ist Abbygail Hampton“, fährt Julius fort, wenn auch etwas stockend. „Sie hat bis vor einiger Zeit mit ihrer Familie in Orania City gelebt, ist inzwischen aber selbst auf Reisen, um Reporterin zu werden.“ „Wirklich?“, fragt Jessy und lehnt sich vor. „Wie aufregend! Alfred, stell dir nur vor, zwei neue Talente am Medienhimmel.“ Alfred schafft es tatsächlich, sich eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. „Es rührt mich zutiefst, dass die junge Generation in unsere Fußstapfen treten möchte.“ Während er und Jessy das Gespräch weiter vorantreiben und Julius mit Details meiner damals beginnenden Freundschaft mit Raphael aufwartet, die er nur aus Mama herausgequetscht haben kann, beobachte ich seine Mimik genau. Je länger das Interview geht, desto frustrierter wird er, auch wenn das selbstbewusste Lächeln seine Lippen nicht verlässt. Einmal öffnet er den Mund, fast so, als wolle er sich zwingen, Zachs Namen auszusprechen, aber ein kurzer, scharfer Blick von Alfred, der selbst mir fast entgeht, lässt ihn erstarren. Stattdessen holt er tief Luft und wartet mit der nächsten Enthüllung auf. "Abbygail war außerdem zuletzt an einer Gruppierung namens Team Shadow beteiligt, die sich in Prismania City gebildet hat." Alfred nickt andächtig. "Was kannst du uns über Team Shadow sagen?", fragt er. "Haben sie einen Anführer? Sind sie ein neue kriminelle Organisation, so wie Team Rocket?" Julius stockt. "Ich bin mir über die Details noch unklar." "Aber sicher weißt du, warum Abbygail ihnen beigetreten ist?", hakt Alfred nach. "Was ihr Ziel ist?" Ertappt schüttelt Julius den Kopf und ich beobachte mit Genugtun, wie Jessy die Stirn runzelt. Du hättest besser nachforschen sollen, denke ich grimmig. Gott grollt und faucht die Nahaufnahme von Julius Gesicht an, als er mit hochrotem Kopf um Worte ringt und sie nicht findet. Es soll sich nicht bessern. Alfred macht noch einige halbherzige Versuche, mehr Informationen aus Julius herauszubekommen, aber natürlich weiß er nichts zu berichten, außer dass ein paar Trainer in Prismania City sich als Team Shadow betitelt haben und ich angeblich mit von der Partie war. Und die Fakten, die er nennt, klingen nicht wie die Enthüllungen eines Reporters, sondern wie das Gefasel eines Kleinkinds. Als das Interview endlich vorbei ist, atme ich erleichtert aus und lasse mich tiefer in die Polster sinken. Selbst für mich waren die letzen zehn Minuten der gequälten Unterhaltung unangenehm, und ich hatte schließlich genau auf diesen Ausgang spekuliert. Julius verabschiedet sich steif und verlässt das Podium. Das Pling meines S-Coms ertönt neben mir, aber ich schnappe ihn nur schnell, rufe meine Pokémon zurück und laufe hinaus ins Foyer, gerade rechtzeitig, um Julius abzufangen, der mit Tränen in den Augen den Gang entlang auf mich zustürmt. Als er mich sieht, wischt er sich schnell über die Augen und kommt in meine Richtung. Ich erwarte ihn geduldig. „Zufrieden?“, fragt er und bleibt vor mir stehen. „Sehr“, sage ich. „Hast du erwartet, dass ich dich einfach das Leben meiner Freunde ruinieren lasse? Das hast du jetzt davon. Immerhin hast du mich berühmt gemacht, danke also dafür.“ „Ich habe mich noch nie so sehr blamiert!“, fährt Julius mich an und stößt mich brutal gegen die Wand. „Bei PCN eingeladen zu werden, von Alfred persönlich interviewt zu werden und ich darf der Welt nur ein bisschen Tratsch auftischen, der bei den Fans schon bekannt war? Und dann hat er mich in die Ecke gedrängt, obwohl ich nichts zu Team Shadow sagen wollte. Selbst wenn ich meine eigene Story rausbringe, wird mich niemand mehr ernst nehmen. Du hast meine Zukunft zerstört, du und Alfred! Ihr habt euch alle verschworen!“ „Reg dich ab“, zische ich. „Jetzt sind wir auf einmal die Bösen? Hast du sie noch alle? Du bist derjenige, der meine Story geklaut hat und ohne Rücksicht auf Verluste hier hereinmarschiert ist, um ein Leben zu zerstören und seine Karriere anzukurbeln. Du widerst mich an!“ Er schaut mich einen Moment länger an, dann flucht er und wendet sich ab. „Ich werde Zachs Geheimnis aufdecken“, sagt er und dreht ein letztes Mal den Kopf in meine Richtung. „Und wenn es das letzte ist, was ich tue.“ Dann verschwindet er um die nächste Ecke und lässt mich mit ernsten Kopfschmerzen zurück. Seufzend lasse ich mich an der Wand zu Boden sinken und ziehe meinen S-Com hervor, auf dem die neue Nachricht auf mich wartet.   Von: Dark_01 An: Abbygail_Hampton_04 »Alles im Griff haben sieht anders aus. »Sie haben ihre Augen und Ohren überall, Abby. »Du bist nicht mehr sicher.   „Abby?“ Ich stecke schnell den S-Com in meine Jackentasche und hebe den Kopf. Alfred steht mit besorgtem Gesichtsausdruck über mir, Augenbrauen zusammengezogen. „Ist alles in Ordnung? Hat Julius dir etwas getan?“ Ich lasse mir von ihm hochhelfen und schüttele den Kopf. „Nur geschubst, aber halb so wild. Was hast du gesagt, damit er ruhig blieb? Er sah so aus, als würde er sich jeden Moment die Zunge abbeißen.“ „Ich habe ihm lediglich von Enthüllungen abgeraten, die seine Langzeitkarriere in der Medienbranche gefährden könnten“, sagt Alfred zwinkernd. „Nichts weiter.“ „Ich dachte, wir müssen ihn fesseln und knebeln, damit er dicht hält“, murmele ich. „Dafür, dass ich so einen Aufstand veranstaltet habe, ging es ziemlich glatt über die Bühne.“ „Wir werden sehen“, sagt Alfred und schaut an mir vorbei in den Gang, in dem Julius verschwunden ist. „PCN ist Kantos und Johtos Sender Nummer Eins, aber er ist nicht der einzige. Wir haben genug Widersacher, an die er sich nun wenden kann. Was wir heute getan haben, wird Zach nicht ewig schützen.“ „Nein, vermutlich nicht“, seufze ich. Alfred tupft sich mit seinem grünen Taschentuch etwas Schweiß von der Stirn, der sich dort während der Aufnahmen gesammelt hat und nimmt mich dann fest in den Arm. „Ich danke dir vielmals, dass du dich so sehr beeilt hast, um rechtzeitig hierher zu kommen“, sagt er und löst sich von mir, Tränen der Rührung in seinen Augen. „Sie mögen schon auf eigenen Beinen stehen, aber diese Kinder bedeuten mir allesamt sehr viel. Mit Richard im Gefängnis und Zach umringt von Feinden… es bricht mir das Herz.“ Er schnieft, atmet einmal tief durch und zwingt sich zu einem Lächeln. „Also, Abby, damit du nicht noch einmal Himmel und Hölle in Bewegung setzen musst, um mich zu erreichen, hier ist meine Handynummer und meine Mailadresse.“ Er zieht eine violette Visitenkarte mit Golddruck aus seinem Jackett und reicht sie mir. „Melde dich, wann immer du möchtest.“ Ich stecke das Kärtchen in meine Hosentasche. Alfred wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. „Unfassbar, so spät schon. Abby, hast du eine Bleibe? Übernachtest du im Pokécenter?“ Ein Blick auf mein Handy bestätigt meine Vermutung. Inzwischen ist es schon nach acht Uhr.  Eigentlich hatte ich vor, noch heute zurück zu fliegen, aber bis ich in Saffronia City ankomme, wird es nach Mitternacht sein. Und das nur, wenn Jayjay und Hunter schon wieder fit für eine weitere Langstrecke sind, was ich stark bezweifle. „Noch habe ich kein Zimmer reserviert“, gestehe ich. „Fabelhaft.“ Alfred klatscht in die Hände. „Wenn du dich noch zwei Stunden alleine beschäftigen kannst, nehme ich dich danach zu mir nach Hause. Wir haben ein wundervolles Gästezimmer mit Terrasse und Doppelbett, das dir sehr gefallen wird.“ „Da sage ich nicht nein“, sage ich und trenne mich von Alfred, der zurück ins Studio muss. Zwei Stunden im Radioturm von Lavandia herumkriegen? Ich würde mich auch zwei Tage nicht langweilen.   Erschöpft lasse ich mich auf das frisch bezogene Bett fallen, das mir für die Nacht vermacht wurde und starre an die Decke. Ich habe es geschafft. Julius ist zwar weiterhin eine Bedrohung, aber für´s erste habe ich getan, was ich konnte und fühle mich, als wäre eine schwere Last von meinen Schultern gefallen. Zusammen mit Alfred und Erik, der zu meiner Überraschung ebenfalls hier lebt, habe ich in der offenen Küche noch etwas zu Abend gegessen und mich dann gleich ins Gästezimmer verabschiedet. Auf unseren Nachtspaziergang wird Sku heute verzichten müssen, denn die Muskelschmerzen des vierstündigen Ritts holen mich jetzt, da die Anspannung von mir abfällt, wieder ein. Stöhnend rolle ich auf die Seite und krame nach meinen Pokébällen. Keine fünf Sekunden später ist Sku schon aufs Bett gesprungen und kugelt sich wohlig in meine Bauchkuhle. Gott beobachtet den Raum kritisch, wirft mir einen kurzen Blick zu und springt dann zur Terrassentür, vor der er es sich bequem macht. Ich habe Darks Warnung nicht vergessen und bin froh, jemanden wie Gott an meiner Seite zu haben, der bei dem kleinsten Verdacht Alarm schlagen wird. Priss hat sich unterdessen ebenfalls auf das Bett bequemt und scheint kein Problem damit zu haben, die gesamte rechte Betthälfte für sich zu beanspruchen, aber ich bin zu müde, um mit ihr um den Platz zu streiten und das Bett ist ohnehin groß genug für drei.   Am nächsten Morgen verlasse ich Alfreds Haus ausgeschlafen, mit Proviant, den er und Erik mir aufgedrängt haben und sehr versteiften Beinen. Flüge auf Hunters Rücken bin ich inzwischen gewohnt, aber der lange Galopp auf Jayjay hat mir den Rest gegeben. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Pokécenter, stehe ich am frühen Vormittag außerhalb von Lavandia und bemühe mich, bei dem Gedanken an den Rückritt nicht umzudrehen und mich noch ein paar Tage bei Alfred zu verkriechen. Aber nein. Ich habe zu tun, bevor die Übergabe bevorsteht. Gotts Training darf nicht vernachlässigt werden, wenn ich bei meiner nächsten Begegnung mit Team Rocket nicht den Kürzeren ziehen will und mein Geld reicht ebenfalls kaum noch für die nächsten Pokécenterkosten. Schließlich komme ich zu dem Schluss, dass ich mir heute kein Reiten mehr antun werde, rufe aber trotzdem Hunter und Jayjay, die fast augenblicklich über die Straße jagen und sich liebevoll zwicken und beißen. Während ich die Straße entlang wandere, entspannen meine verkrampften Beinmuskeln sich allmählich und als ich nach etwa einer Stunde Fußmarsch dem ersten Trainer begegne, der auf dem Weg Richtung Lavandia ist, liefere ich mir einen kurzen Kampf gegen ihn. Ich mache mir keine Illusionen. Route 8 ist zu Fuß, mit Kampfunterbrechungen, nicht in einem Tag zu bewältigen. Spätestens gegen Nachmittag werde ich auf Hunters Rücken müssen, damit wir rechtzeitig wieder in der Stadt sind, aber bis dahin genieße ich die frische Luft, die Sonnenstrahlen in meinem Gesicht und lasse mir von Jayjay eine Blume schenken, die er am Wegesrand abpflückt und halb zerbissen in meine Handfläche fallen lässt. Gegen Mittag begegne ich immer öfter anderen Trainern, die auf dem Weg nach Lavandia oder wie ich auf der Suche nach Gegnern sind, um ihr Team zu stärken und deshalb in mitgebrachten Zelten am Straßenrand campen. Nach dem dritten Kampf gönne ich Gott einen Supertrank, damit er nicht schlapp macht. Hunter kreist stetig über unseren Köpfen und landet gelegentlich auf Jayjays Rücken. Die beiden scheinen ihre gemeinsame Zeit sehr zu genießen und ich denke mit Schuldgefühlen an all die Tage, in denen ich die beiden nur eine halbe Stunde pro Tag aus ihren Bällen lassen konnte. Sie scheinen es mir nicht übel zu nehmen, ganz im Gegensatz zu Priss, deren Pokéball schon nach wenigen Stunden zu vibrieren beginnt und mich empört daran erinnert, sie auf der Stelle rauszulassen. Jetzt sitzt sie wie immer auf meinem Kopf und beißt gelegentlich in mein Ohr, um die Machtverhältnisse klar zu stellen.   „Gute Arbeit, Gott“, sage ich und tätschele seinen Kopf, als er seinen siebten Kampf für diesen Tag beendet und sich ausgelaugt zu Bodensinken lässt. Er gibt ein zustimmendes Grummeln von sich und ich rufe ihn zurück. Mit einer Hand schirme ich meine Augen gegen die tiefstehende Sonne ab. Zeit, das letzte Stück  nach Saffronia City zu fliegen. Ich habe nicht ganz die Hälfte der Route hinter mich gebracht, aber auf Hunters Rücken sollte die restliche Strecke in zwei Stunden zu bewältigen sein. Ich rufe Jayjay und Priss in ihre Pokébälle zurück, bevor ich auf Hunters Rücken klettere und mit ihm in den Sonnenuntergang davon schieße. Als wir vor dem Pokécenter landen, ist es schon stockduster. Die Straßenlaternen geben ein schummrig gelbes Licht ab und das rote Neonschild über dem Center leuchtet so grell, dass meine Augen tränen. Ich trete schnell ein, begrüße Joy, die mir zunickt und verschwinde die Treppen hinauf. Ich habe kaum an der Holztür geklopft, da wird sie schon von Louis aufgerissen, dessen hoffungsvoller Gesichtsausdruck einem breiten Grinsen weicht, kaum dass er mich sieht. Ohne ein Wort zieht er mich ins Zimmer und schließt mich in eine feste Umarmung. Erleichtert atme ich den Geruch seiner Haare ein, die nach dem Pokécenter Shampoo duften und presse mein Gesicht in seine Halskuhle. Schließlich löse ich mich jedoch von ihm und gehe zum Bett, um meinen Rucksack dort abzustellen und stöhnend meinen Rücken zu strecken. Ein kurzer Geruchcheck an meinen Achseln bestätigt, dass ich dringend eine Dusche brauche. „Warst du erfolgreich?“, fragt Louis, der mir gefolgt ist und mich an die Wand gelehnt beobachtet. Ich nicke, zurre ein Handtuch aus meinem Rucksack und drehe mich zu ihm. „Gerade so, aber es hat gereicht“, stimme ich zu. Louis schaut mich einen Moment länger an, so als warte er auf eine Ausführung der Ereignisse. Ich blinzele. Verdammt. Er wartet auf eine Ausführung! „Ich musste dringend mit Alfred sprechen“, sage ich und denke fieberhaft über etwas nach, dass ich sagen kann, ohne Zach zu erwähnen. Louis scheint meinen inneren Konflikt zu erkennen, denn er seufzt und ringt sich ein Lächeln ab. „Ist es diese Sache, die du mir nicht erzählen kannst, weil sie nicht nur dich betrifft?“ „Tut mir leid“, sage ich und meine es auch so. Ich will es ihm erzählen. Louis weiß schließlich auch von Dark. Ich öffne den Mund, entschlossen, ihn einzuweihen. Ich vertraue Louis, mehr als jedem anderen. Warum bringe ich dann kein einziges Wort heraus? Louis kratzt sich an der Nase, seufzt und legt sich ohne ein weiteres Wort ins Bett. Die Gelegenheit, mein Vertrauen zu beweisen, ist vergangen und Louis enttäuschtes Schweigen verpasst mir einen Stich. Als ich ein paar Minuten später unter dem heißen Wasserstrahl stehe und auf die Fliesen vor mir starre, ist das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, immer noch da. Es tut weh und es lässt mich nicht in Ruhe. Aber Zachs Geheimnis ist mir schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass der Gedanke, es jemandem anzuvertrauen, selbst wenn es Louis ist, sich genauso falsch anfühlt. Warum muss diese ganze Sache nur so verzwickt sein? Entschlossen, Team Rockets Terror zu beenden, und wenn es nur ist, um endlich alle Geheimnisse lüften zu können, rubbele ich das Shampoo in mein Haar, das inzwischen unangenehm lang ist. Ich halte die rotblonden Strähnen in die Höhe. Warum eigentlich nicht… Das Handtuch um meinen Körper geschlungen, trete ich etwas später aus dem Bad. Louis dreht sich auf dem Bett um, entdeckt mich und gibt einen Laut des Entsetzens von sich. „A-abby! Deine Haare!“ Ich grinse und fahre mir durch die kurzen Strähnen, die noch feucht vom Duschen sind und inzwischen nur noch bis knapp über meine Ohren reichen, dafür aber tief in meine Augen fallen. „Wie findest du sie?“, frage ich und werfe ihm die kleine Schere zu, mit der ich mir die neue Frisur verpasst habe. „Ich bin hinten nicht gut dran gekommen, kannst du vielleicht nochmal drüber schneiden?“ „Ist alles okay?“, fragt Louis, ohne nach der Schere zu greifen. „Ist das so ein Mädchending? Machst du Schluss mit mir?“ „Komm her und schneid meine Haare“, lache ich. Endlich folgt er meiner Aufforderung und geht mit mir ins Bad, wo er sich mit etwas zittrigen Fingern an meinem Hinterkopf zu schaffen macht. „Ich habe sowas noch nie gemacht“, warnt er mich und fährt nervös mit den Fingern durch mein Haar. „Denkst du, ich?“, frage ich zurück und beobachte ihn vergnügt durch den Spiegel. „Na komm, es muss nicht schön aussehen. Im Notfall trage ich ab jetzt immer meine Mütze.“ Zögerlich macht Louis sich an meinen Haaren zu schaffen, während ich ihn aufmerksam beobachte. War er schon immer größer als ich? Ich warte, bis er die Schere sinken lässt, dann drehe ich mich und betrachte meinen neuen Haarschnitt im Spiegel. „Perfekt“, sage ich und drehe mich schwungvoll wieder zurück, nur um mich keine zwei Zentimeter von Louis Gesicht wiederzufinden, der sich leicht vorgebeugt hat. Ein Grinsen zuckt um seine Mundwinkel, als meine Wangen heiß werden. Ich öffne meinen Mund, will mich für all die Geheimnisse entschuldigen, die ich ihm nicht sagen kann. Für die Distanz, die bald wieder zwischen uns sein wird. Dafür, dass ich mich immer wieder in Gefahr bringe und ihn mit mir. Stattdessen lege ich beide Handflächen an seine Wangen, ziehe ihn das letzte Stück zu mir hinunter und küsse ihn auf den Mund, Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffne und mich vorsichtig löse, atme ich zittrig aus und schaue ihn hilflos an. Louis fährt mit dem Daumen über die einzelne Träne, von der ich nicht mal gemerkt habe, dass sie da ist. Er lächelt, Zahnlücke gerade so sichtbar und nimmt mich in den Arm. „Schon okay. Entschuldigung angenommen.“   Der neue Haarschnitt macht sich bezahlt. Die langen Haarsträhnen waren ein wenig nervig, das stimmt, aber mit einem Zopf gut unter Kontrolle zu halten. Der wahre Grund für meinen Imagewechsel ist Darks Warnung. Ich weiß aus erster Hand, dass Team Rocket seine Spitzel und Agenten überall hat und Mels Wunsch nach Rache ist nicht zu unterschätzen. Mit der Enthüllung meiner Identität als Raphaels gute Freundin kursiert mein Foto und leider auch mein Name und meine Adresse durch die Medien, eine Tatsache, die das Verstecken vor Team Rocket nicht gerade erleichtert. Mit meiner neuen Kurzhaarfrisur hoffe ich, zumindest auf den ersten Blick nicht viel mit meinem dreizehnjährigen Abbild gemeinsam zu haben, auch wenn ich bezweifle, dass es bei genauem Hinschauen viel nutzen wird. Deswegen sind die ersten Käufe, die ich mit dem Siegesgeld aus Gotts Trainingskämpfen im Markt ergattere, ein große Sonnenbrille und eine gelbe Cappi. So verkleidet entgehe ich selbst den Fanclubmitgliedern, die ohne Zweifel von Jeanne erfahren haben, dass ich derzeit in Saffronia City bin und deren wenig subtile Fanartikel mich regelmäßig auf der Straße vorwarnen. Nicht, dass ich viel Zeit in der Stadt verbringe. Ich hatte zu Anfang gehofft, mehr mit Valentin und Louis unternehmen zu können, aber die beiden trainieren verbissen im Dojo und ich selbst habe mit Gotts Training alle Hände voll zu tun. Skus dreißiger Level sind damals sehr schleichend vorangeschritten, schließlich hatte ich weder die Möglichkeit noch die Lust, den ganzen Tag mit ihr gegen wilde Pokémon zu kämpfen, aber mit Team Rocket im Nacken fällt es mir plötzlich viel leichter, mich zu motivieren. Leider macht es das Training umso frustrierender, denn auch mit über sechs Stunden intensivem Training pro Tag, gelingt es mir nur, Gott in der folgenden Woche auf Level 33 zu bringen.   Seufzend lasse ich mich am Straßenrand zu Boden sinken und vergrabe mich tiefer in meiner Verkleidung. Gott hat sich erschöpft neben mir eingerollt. Sein Rückenfeuer flackert und züngelt in die kalte Abendluft, heißer als noch vor einigen Tagen und wärmt meine Hände, die im eisigen Wind trotz Handschuhen steifgefroren sind. In dieser Position sieht er aus wie immer, aber ich weiß es besser. Das wochenlange Training, dem ich ihn seit meiner Ankunft in Kanto unterzogen habe, hat nicht nur seine Flammen verstärkt. Er ist gewachsen, nicht viel, aber genug, um ihn in Skus Größenordnung zu katapultieren, auch wenn er weiterhin weniger wiegt, trotz gewonnener Muskelmasse, die unter seinen türkisgrauen und beigen Schuppen gut erkennbar ist. Seit seinem Angriff auf Julius gab es keine Zwischenfälle, aber das liegt nur daran, dass er dank des Trainings so ausgelastet ist. Ich hoffe, in Zukunft andere Möglichkeiten zu finden, denn ich bezweifle, dass ich unser Trainingsprogramm für sehr viel länger durchhalte. Derzeit ist es eine Notwendigkeit, speziell wegen der Übergabe morgen Nacht, aber mir fallen zahlreiche Beschäftigungen ein, denen ich lieber nachgehen würde und auch wenn Gott jetzt erschöpft wirkt, weiß ich genau, dass er der nächstbesten Person an die Kehle springen würde, die mich nur schief ansieht. In befreie ihn grundsätzlich nur noch aus seinem Pokéball, wenn er kämpft oder wir alleine sind. Alles andere ist zu riskant. Leider. Ich seufze erneut und ziehe meine Knie eng an meinen Körper. "Was mache ich nur mit dir?", murmele ich leise. Gott streckt seinen Kopf nach hinten und schaut mich unschuldig an. "Schau nicht so", sage ich. "Du weißt genau, wo das Problem liegt." Er zuckt leicht zusammen, entrollt sich und setzt sich auf seine Hinterbeine, Kopf schiefgelegt. Er gibt ein zaghaftes Knurren von sich. "Ich weiß, dass du dich um mich sorgst", fahre ich ungerührt fort. "Aber ich habe Angst, dich noch stärker zu machen, wenn ich nicht weiß, dass du dich zurückhalten kannst. Und wie du dich verhalten wirst, wenn du dich entwickelst." Ein verletzter Schatten huscht über Gotts Züge. Er lässt sich auf alle Viere sinken, Rückenfeuer erloschen. "Tut mir leid", sage ich leise. "Bis ich dir auch unter Fremden vertrauen kann, ist Level 35 die Grenze. Ich werde dich nicht weiter trainieren. Du solltest auf dem Level stark genug sein, um mit den meisten Rockets fertig zu werden." Ich zwinge mich zu einem breiten Grinsen. "Du packst das schon, auch ohne Entwicklung." Meine Hand ist schon auf halbem Wege nach ihm ausgestreckt, als ich zurückschrecke. Gott zischt. Es ist kein Knurren, nicht ganz. Aber es genügt, um mir zu sagen, dass er mir die Entscheidung übel nimmt. Vorsichtig ziehe ich die Hand zurück. "Willst du so sehr stärker werden?", frage ich tonlos. "Reicht dir mein Training nicht?" Gott reißt den Kopf in meine Richtung, während ein hilfloses Fauchen seine Kehle verlässt. Ich will dich beschützen! Einige Sekunden lang starren wir einander an, dann wendet Gott sich ab und läuft voran Richtung Stadt.   Im Pokécenter verfasse ich eine kurze Mail an Mama, damit sie sich keine Sorgen macht oder denkt, ich hätte unsere Abmachung vergessen. Es ist noch nicht mal eine Woche her, seit ich sie zuletzt gesehen habe, aber ich möchte die Nachricht lieber jetzt aus dem Weg geschafft haben, bevor ich nach der Übergabe wieder einmal im Krankenhaus lande. Ich scheine ein Talent für solche Aktionen zu haben.  Ich logge mich aus und reibe mir missmutig über die Augen. Gotts Reaktion liegt mir schwer im Magen, nicht nur, weil ich nicht sicher bin, wie gut ich ihn unter Kontrolle habe, wenn er wütend auf mich ist, sondern weil es das erste Mal ist, dass er sich mir gegenüber aggressiv verhält. Frustriert mache ich mich auf den Weg nach oben, werde aber von Schwester Joy zurückgehalten, die meinen Namen ruft. "Was ist?", frage ich und bleibe vor ihrer Theke stehen. Sie ringt ihre Hände und schaut unwohl die Treppe hinauf, bevor sie sich wieder mir zuwendet. "Jemand hat heute Mittag nach dir gefragt", sagt sie. "Ich dachte, es ist ein Freund von dir, deswegen sagte ich ihm, dass du und Louis noch nicht zurück seid und dass er später wiederkommen soll. Er hat nach eurer Raumnummer gefragt und versichert, dass er auf dich warten würde." "Und?", hake ich nach. "Das war vor über fünf Stunden", sagt sie leise. "Er ist seitdem nicht herunter gekommen." Ratlos schweige ich einen Moment, schüttele jedoch den Kopf und verbanne die ungemütlichen Gedanken aus meinem Kopf. Es könnten eine ganze Menge Leute sein, die mich dort oben erwarten. Jeanne, zum Beispiel. Sie kennt schließlich meinen Namen und weiß, dass ich in der Stadt bin. Aber Schwester Joy hat von einem männlichen Freund gesprochen. Ich unterdrücke die Angst, die sich langsam in mir ausbreitet. Nicht zu wissen, wer mich dort oben erwartet, lässt meinen Mund trocken werden. Vielleicht sollte ich auf Louis und Valentin warten. Joy scheint meine Furcht zu erahnen, denn sie kommt hinter dem Tresen vor und nickt mir zu. "Ich begleite dich nach oben", sagt sie ernst. "Wenn es kein Freund von dir ist, sorge ich dafür, dass er dich nicht belästigen kann." Dankbar nicke ich und steige die Treppenstufen hinauf, die sich um eine Ecke winden und schließlich die Sicht auf den Flur des ersten Stockwerks freigeben. Er ist leer. "Merkwürdig", murmelt Joy und geht voran. Ich folge dicht hinter ihr. "Ich bin sicher, dass er nicht durch den Vordereingang hinausgegangen ist. Seit er hier war, habe ich meinen Posten nicht verlassen." "Vielleicht ist er über die Feuerleitern geflohen", meine ich und bleibe vor meinem eigenen Zimmer stehen. "Dort sind Kameras installiert", erwidert Joy. "Ich hätte ihn gesehen." "Na ja, vielleicht hat er sich im Raum vertan oder Sie haben ihn einfach nicht bemerkt", sage ich und schaue über die Schulter zu Joy, die mit zusammengekniffenen Augen den Gang mustert. "Sie haben schließlich viel zu tun, da kann Ihnen ein einzelner Trainer schon mal entgehen." "Du hast Recht", seufzt sie. "Ich bin unten, wenn du Hilfe brauchst." Kaum dass sie die Treppenstufen hinunter verschwunden ist, hole ich tief Luft und öffne mein Zimmer. Kalte Nachtluft strömt mir entgegen, während ich nach dem Lichtschalter taste. Das erste, was ich erkenne, ist das weit geöffnete Fenster. Das zweite ist Hundemon, das mit gefletschten Zähnen auf mich zuspringt und mich zu Boden reißt. Ich schreie nicht. Atme nicht. Hundemons Knurren vibriert bis tief in meinen Brustkorb, seine Kehle und sein Bauch pulsieren in einem dumpfen Rot, als es sich für eine Feuerattacke bereit macht. Es reißt das Maul auf und ich schließe die Augen. Das Gewicht verschwindet von meinem Brustkorb und als ich weder Zähne spüre, die sich in meinen Hals graben, noch Feuer, das mir ins Gesicht gespien wird, öffne ich zaghaft ein Auge. Hundemon sitzt vor mir und hechelt mich entschuldigend an. Um seinen Hals ist ein kleiner Brief gebunden. Es dauert einige Minuten, bis ich mein Zittern unter Kontrolle gebracht habe, meine Atmung sich beruhigt hat und mein Herz nicht mehr so heftig schlägt, dass es meinen Brustkorb jeden Moment zu zersprengen droht. Die Panik, die bei der Attacke in mir aufgekommen ist, schwindet langsam und schließlich schaffe ich es, mich aufzusetzen und den Brief von Hundemons Hals zu entfernen.   Wäre ich Melanie oder ein anderer Rocket, der dir Schaden zufügen möchte, wärst du jetzt tot. Ich hoffe, du nimmst dir meine Warnung jetzt zu Herzen, nachdem du weißt, dass Türen und Fenster keine Barrieren für uns darstellen. Wenn sie erfahren, wo du bist, ist es aus. Ich habe dir ein Souvenir dagelassen. Es liegt auf dem Bett. Ich möchte, dass du es bei unserem Termin morgen trägst.    Ich zerknülle den Brief in meiner Hand und lasse kraftlos meinen Rucksack zu Boden sinken. Hundemon nickt mir einmal zu, läuft zum Fenster und springt hinaus in die Nacht. Als erstes schließe ich das Fenster, dann kontrolliere ich das Bad und kehre anschließend ins Zimmer zurück. Dark ist nicht hier. Ich weiß nicht genau, wie ich mich bei dem Gedanken fühle, dass er in unser Zimmer eingebrochen ist, Hundemon hiergelassen hat, um mir eine Lektion zu erteilen und dann durch das Fenster aus dem Pokécenter geflohen ist. Da ist Wut. Aber ich komme nicht umhin, die Geste dankbar anzunehmen. Er hat Recht. Ich habe die Gefahr, die von Team Rocket ausgeht, unterschätzt. Auch wenn ich mich fühle, als wäre ich gerade zehn Jahre gealtert, hat die Aktion ihren Zweck erfüllt. Ich werde Saffronia City verlassen, sobald die Übergabe abgeschlossen ist. Jeanne weiß, dass ich hier bin. Und Joy hat meine Zimmernummer einfach an einen Fremden weitergegeben, nur weil der sich als ein Freund von mir ausgegeben hat. Ich bin nicht mehr sicher. Und schon gar nicht hier. Tief durchatmend gehe ich zum Bett. Zeit, herauszufinden, was Dark mit dem Souvenir meint. Ich muss nicht lange suchen. Auf meinem Kissen liegt, angelehnt an das Kopfende des Betts, eine Feurigelmaske. Kapitel 95: Maskenball (Die Übergabe) ------------------------------------- Louis kommt gerade zurück, als ich damit beschäftigt bin, die Augenlöcher in der Maske zu vergrößern. Wenn Dark mich schon dazu verdonnert, mich lächerlich zu machen, will ich wenigstens etwas sehen können. Sein ratloses Blinzeln weicht einem ungläubigen Grinsen, als er sich neben mir aufs Bett sinken lässt und die Maske begutachtet. Sie ist groß genug, um mein gesamtes Gesicht zu verdecken, von den Augenhöhlen und den Atemlöchern einmal abgesehen, und ein Gummiband ist an beiden Seiten befestigt. Zufrieden mit meiner Arbeit lasse ich die Schere sinken. "Ich wusste gar nicht, dass du eine mitgenommen hast", sagt Louis, nimmt die Maske und dreht sie in seinen Händen. "Habe ich auch nicht", seufze ich und reiche ihm den Brief, den Hundemon dabei hatte. "Dark hat sie mir hier gelassen." Er überfliegt die Nachricht und flucht wütend. "Er war hier drin? Was hat er mit dir gemacht, Abby?" "Hundemon darauf angesetzt, mir einen Schreck einzujagen", sage ich und schlage ihm sanft gegen die Schulter, als sein Gesichtsausdruck unverändert bleibt. "Mir ist nichts passiert, keine Sorge. Aber es hat mir einige Dinge vor Augen geführt." "Dass du hier nicht mehr sicher bist?", rät Louis und ich nicke. "Unter anderem. Sobald die Übergabe vorbei ist, werde ich weiterziehen." Ich lächle ihn an. "Kommst du mit?" "Das fragst du noch?", fragt Louis und legt einen Arm um meine Schultern, um mich fester an seine Seite zu ziehen. "Aber wohin willst du? Zu deinen Eltern?" Ich schüttele vehement den Kopf. "Nur, weil ich mich mit Mama vertragen habe, will ich noch lange nicht mit ihr in einem Haus wohnen", sage ich. "Außerdem kenne ich Orania City in und auswendig. Vielleicht werde ich Dark fragen, ob er einen Auftrag in den anderen Städten für mich hat." "Mir ist egal, wohin wir gehen", meint Louis, während seine Finger beruhigend über meinen Rücken und meine Schulter streichen. "Wir bringen morgen diese Übergabe hinter uns und dann kann es losgehen." Ich schiele zu ihm hoch. "Louis", beginne ich sanft, "du weiß, dass du nicht mitkannst, oder?" Seine Hand hält unwirklich inne. "Bitte was?" "Du kommst nicht mit", wiederhole ich. "Die Polizei wird da sein, zusammen mit mir und Dark wird es ohnehin schon schwierig sein, unsere Anwesenheit zu verstecken. Und du hast keine Maske." "Seit wann braucht man so eine verflixte Maske?", fragt Louis hitzig. "Du wärst morgen auch ohne hingegangen." "Jetzt nicht mehr", widerspreche ich. "Abgesehen davon wollen Dark und ich verhindern, erkannt zu werden. Wir haben beide unser Aussehen verändert, du nicht. Und wenn du unverkleidet mitkommst, werden einige Rockets von dir auf mich schließen.“ "Abby", sagt Louis ernst und schaut mir in die Augen, "du redest totalen Unsinn." "Tue ich nicht." "Doch." "Nein." "Doch!" Er hebt die Maske in die Höhe und wedelt damit vor meinem Gesicht, als würde es mir seine Argumente unmissverständlich klar machen. "Ich habe ein Flugpokémon, meinetwegen fliege ich morgen zurück ins Hauptquartier, du gibst mir die Passwörter und ich besorge mir auch so eine Maske, wenn es dich glücklich macht. Wenn du denkst, ich lasse dich mit Team Rocket, Holly und Dark alleine, hast du dich geschnitten. Ich traue keinem von ihnen, nicht nachdem, was du mir über deine Telefonate mit Holly erzählt hast. Oder über deine ersten Gespräche mit Dark, wo wir schon mal bei der Sache sind." "Du hast ihn kennengelernt!", protestiere ich sofort. "Er ist gruselig, aber du weißt, dass er nichts Böses will." "Ich denke, dass er derzeit keinen Sinn darin sieht, dir etwas anzutun", entgegnet Louis. "Aber das bedeutet nicht, dass ich ihm vertraue, dafür kenne ich ihn nicht gut genug. Und Holly wird dich festnehmen, wenn etwas schief läuft. Denkst du, das lasse ich zu?" "Wenn Dark dabei ist, wird nichts schiefgehen können", flüstere ich. "Er ist stark." "Na und?" Louis nimmt mein Gesicht in seine Hände und zwingt mich, ihm in die Augen zu schauen. "Es kann immer irgendetwas passieren. Er könnte stolpern und bewusstlos werden, oder… oder angeschossen werden. Du weißt nicht, wie die Übergabe verlaufen wird. Ich will dich unterstützen. Wir sind jetzt zusammen, also sei auch richtig mit mir zusammen und nicht nur, wenn es dir in den Kram passt!" Seine Worte erzielen ihre Wirkung. Meine Kehle wird trocken und ich entreiße mich seinem Griff, schaue zur Seite, damit er die Tränen nicht sieht, die plötzlich und ohne Vorwarnung über meine Wangen laufen. "Es tut mir leid", flüstere ich heiser. "Ich habe all diese Geheimnisse vor dir und du bist trotzdem bei mir und ich-" "Abby", sagt Louis leise. "Ich werde nicht lügen und sagen, dass mir das nichts ausmacht. Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du bist nur ein Sturkopf, der alles immer alleine machen will, das ist alles." Ich gebe ein Glucksen von mir, das sich gemeinsam mit meinem Tränen zu einem merkwürdigen Geräusch vermengt. "Du bist nicht für mich verantwortlich", fährt er fort und nimmt meine Hand. "Auch nicht für Winry." Ich nicke und lasse mich von ihm in eine Umarmung ziehen. Einige Minuten sitzen wir schweigend auf dem Bett und lauschen unserem Atem und dem sanften Knarzen des Bettes. Schließlich jedoch greife ich nach einem Stift und dem Brief, den Dark mit hinterlassen hat, drehe ihn um und kritzele etwas auf die Rückseite. Louis schaut mir misstrauisch zu. "Was wird das, wenn´s fertig ist?" Ich reiche ihm den Zettel. "Das sind die Passwörter", sage ich und lächele ihn schwach an. "Wir treffen uns um zwei Uhr am Durchgangshäuschen zu Route 8. Sei pünktlich."   Ich überprüfe zum fünften Mal in genauso vielen Minuten die Uhrzeit auf meinem Handy. Es ist fast zwei Uhr nachts und weder Dark noch Louis sind zu mir gestoßen. Nervös überprüfe ich, ob die Cappi meine Haare auch wirklich verdeckt und dass die Maske nicht verrutscht ist. Obwohl ich mich eine geschlagene halbe Stunde im Spiegel begutachtet habe, um mich an meine heute Aufmachung zu gewöhnen, fühle ich mich immer noch unwohl. Der beige Grundton der Maske imitiert meine Hautfarbe, wird aber von dem türkisfarbenen Streifen unterbrochen, der von meiner Stirn hinunter reicht und die lange Schnauze des Feurigels darstellt. Statt meinen eigenen Klamotten habe ich mir einen von Louis´ Pullovern geliehen, der ein bisschen groß, aber zumindest warm ist und meinen Pokémongürtel vor neugierigen Blicken verbirgt. Kurz um, ich komme mir vor wie eine andere Person, aber vielleicht ist das heute Abend mein Vorteil. Ich will nicht mehr als die überstürzt und alleine handelnde Abby gesehen werden, sondern als Managerin von Team Shadow. Darks Präsenz sollte mir helfen, diesen Eindruck zu verstärken. Wenn er nur endlich auftauchen würde! Der Klang von Schritten auf dem Asphalt durchbricht meine Gedanken und ich versinke tiefer in den Schatten neben dem Durchgangshäuschen, ein kleiner Fleck zwischen zwei Straßenlaternen, der im Dunkeln liegt. Im nächsten Moment entdecke ich Holly, die sich suchend umsieht. Vorsichtig trete ich vor. Das Rascheln der Büsche, die ich im Vorbeigehen streife, erweckt ihre Aufmerksamkeit und sie dreht sich um, nicht hektisch oder nervös, aber entschieden. Als sie mich erblickt und ich endlich ins Licht trete, dauert es einige Sekunden, bevor sie das Wort ergreift. „Abbygail?“ Ich hebe kurz die Maske an, ziehe sie aber genauso schnell wieder hinunter. Es gibt einen Grund, warum ich heute inkognito unterwegs bin. „Bist du alleine?“, fragt sie schneidend. Ich ziehe eine Grimasse, bis mir einfällt, dass sie meine Mimik nicht sehen kann, also schüttele ich den Kopf und setze zu einer Antwort an. Genau in dem Augenblick lösen sich zwei weitere Schatten aus den Straßen Saffronias. „Ist sie nicht“, sagt Dark seelenruhig und kommt näher. Er trägt schwarz, wie immer, aber sein Gesicht ist von der Zwottroninmaske verdeckt, die er damals aus meinem Rucksack gefischt hat. Sein blassblaues Haar steht in Kontrast zu dem dunkleren Blau des Plastiks, das nur von den weißen Linien auf der Wangenpartie unterbrochen ist, die wohl die Schnurrbarthaare des Wasserpokémons darstellen sollen. Louis taucht nur einige Momente nach ihm auf und gesellt sich rasch zu mir. Er scheint sich für eine Wiesormaske  und Kleider entschieden zu haben, die er sich von Valentin geliehen hat. Ich wende meinen Blick ab und schaue zurück zu Holly, die unsere Gruppe misstrauisch mustert. „Du bist also der Trainer, den Abby so angepriesen hat“, sagt sie schließlich, auch wenn ihr ein Kommentar über unsere Verkleidung auf der Zunge zu liegen scheint. „Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit. Mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Ich würde bevorzugen, meinen Name vorerst geheimzuhalten“, sagt Dark. „Zumindest für den heutigen Abend.“ Holly zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts. Schließlich wendet sie sich mir zu. „Folgt mir. Ich erkläre unser Vorgehen unterwegs.“ Gemeinsam durchqueren wir das Durchgangshäuschen und lauschen ihrer gedämpften Stimme. „Rocky hat uns in zwei Gruppen eingeteilt“, beginnt sie. „Jack, Luke und Regina bewachen den Ausgang der Unterführung vor Prismania City, während Rocky, George, Martin und ich hier stationiert sind. Wir werden warten, bis die Rockets in die Unterführung gegangen sind, dann kesseln wir sie im Untergrund ein. Sie werden keine Möglichkeit haben, zu fliehen. Sollte es sich nur um niedere Ränge handeln, bleiben wir versteckt und folgen ihnen zu ihrem Hauptquartier.“ „Wissen wir, wie viele dort sein werden?“, frage ich. „Schwer zu sagen“, erwidert Holly. „Rocky hat einige der erfahrensten Polizisten aus unserer Einheit mitgebracht. Dieses Mal werden sie nicht entkommen.“ Ihre Augen flackern leidenschaftlich auf und ich schlucke bei dem Gedanken daran, dass niedere Ränge für mich bedeuten, von Rocky eingesackt zu werden. Ich will gar nicht daran denken. Route 8 erstreckt sich vor uns in absoluter Dunkelheit. Einzig das fahle Mondlicht reflektiert von einigen der glatteren Felsbrocken und dem Asphalt der Straße, die am Horizont beginnt. Aufkommender Wind murmelt durch die Baumgruppen, die verteilt auf der Route liegen und noch mehr Schatten beherbergen, wenn das überhaupt möglich ist. Ich lasse mich etwas zurückfallen, während wir Holly folgen, die durch einen abgelegenen Weg zwischen Felsen und Bäumen schleicht und die Unterführung ansteuert. Darks Hand findet meine Schulter und ich werfe ihm einen kurzen Blick zu. Außer seinen Augen, die stechend aus der Maske hervorblitzen, kann ich seine Mimik nur erahnen. „Wen werden sie schicken, was denkst du?“, murmele ich. Louis kommt etwas näher. „Für eine einfache Übergabe würde Atlas nur eine kleine Gruppe schicken“, sagt er leise. „Aber er wird sicher gehen, dass sie kompetent sind. Nicht mal er wäre unbedacht genug, einen niederen Rang zu schicken, der die Beute verlieren könnte.“ „Mel wird also nicht kommen?“, frage ich vorsichtshalber nach. Dark schüttelt den Kopf und fährt mit einem halb amüsierten Unterton fort. „Ich halte es für unwahrscheinlich. Sie ist von Rache an dir besessen, aber– “ „Shh!“ Dark verstummt und ich zucke zusammen. Louis nimmt meine Hand und zieht mich nach vorne zu Holly, die uns wütend ansieht und einige Handbewegungen macht, die wohl irgendeine Bedeutung für andere Polizisten haben, sich mir jedoch gänzlich entziehen. Ich vertraue eher auf ihre mündliche Warnung und bleibe stumm, bis wir zu ihr aufschließen. Die Baumgruppe, hinter der wir uns bisher fortbewegt haben, stoppt abrupt. Etwa zehn Meter von uns entfernt entdecke ich, hinter einigen großen Felsen versteckt, drei Gestalten. Holly schaut sich vorsichtig um, dann winkt sie uns durch und wir laufen in den Schutz der Dunkelheit, der bereits von den anderen Polizisten beherbergt wird. Rocky hat sich seit meinem letzten Treffen mit ihr nicht verändert. Ihre Haltung zeugt von der leitenden Position, die sie innehat und ich bezweifle keine Sekunde, dass sie sich ihres Einflusses genau bewusst ist. Ihr Blick schweift flüchtig aber effizient über uns, bevor sie eine einzelne Augenbraue hebt. „Habe ich die Einladung zum Maskenball verpasst?“, fragt sie spöttisch. Einer ihrer beiden Begleiter, den ich flüchtig als entweder George oder Martin in Erinnerung habe, die gemeinsam mit ihr das Pokécenter auf dem Indigo Plateau gestürmt haben, gibt ein leises Glucksen von sich, verstummt aber augenblicklich, als Rocky ihm einen schneidenden Blick zuwirft. „Holly hat euch hoffentlich über das grobe Vorgehen informiert“, fährt sie fort. „Ich muss euch bitten, uns nicht in in Weg zu kommen. Ihr seid Kinder, und unerfahren-“ Sie ignoriert mein Schnauben, „-und ich möchte diese Gelegenheit nicht vorbeiziehen lassen. Also, wer von euch ist Team Shadows Vertreter?“ Dark tritt vor. „Ich bin der Anführer. Abby hat uns überzeugt, unsere Kompetenz zu nutzen, um die Polizei zu unterstützen. Ich hoffe, wir können Ihre Einheit davon überzeugen, in Zukunft mit uns zu kooperieren.“ Rocky wirkt überrascht, aber nur kurz. Sie hat sich schnell wieder unter Kontrolle, lächelt grimmig und reicht Dark eine Hand. „Auf gute Zusammenarbeit.“ Die beiden schütteln ihre Hände, dann winkt Rocky einen ihrer Partner zu sich. „George, die Plane.“ George, der Polizist, der sich sein Lachen eben nicht verkneifen konnte, fördert einen Armvoll dunklen Stoffs zu Tage, den er vor der Brust festhält. Er schmunzelt und lässt den Blick ein weiteres Mal über unsere verdeckten Gesichter gleiten. Kaum verhüllter Humor umspielt seine Züge, aber er wirkt auch wie die Art von Person, die einen Witz zu weit treibt, bis er sticht. Als er spricht, ist seine Stimme tief und eindringlich. „Wir planen einen Hinterhalt und dürfen nicht entdeckt werden, bevor die Rockets in der Unterführung sind. Falls ihr eure Pokémon rufen wollt, tut es hier drunter, damit das Licht uns nicht verrät.“ Ich denke kurz nach. Gott ist mein offensivster Kämpfer, aber ich traue ihm nicht, sich ruhig zu halten, wenn Feinde in der Nähe sind und sein Feuer wird uns in jedem Fall verraten. Das ist sicher auch der Grund, warum Rocky ihre Fukano in ihren Pokébälle gelassen hat und ich Dark das erste Mal nicht in Begleitung von Hundemon sehe. Stattdessen greife ich nach Skus Pokéball, lasse mich von der schwarzen Plane verhüllen und rufe sie. Als das gleißend rote Licht verblasst, leuchten mir nur ihre blutroten Augen aus der Dunkelheit entgegen. Ein wohliges Brummen tönt aus den Tiefen ihres Brustkorbs, bevor sie eng an meine Seite tapst und wir uns gemeinsam unter der Plane hervorkämpfen. Holly nickt mir widerwillig zu, offensichtlich zufrieden mit der Wahl meines Pokémons. Louis tritt als nächstes unter die Folie und taucht einige Sekunden später mit einem großen Steinbrocken im Schlepptau auf, der sich auf den zweiten Blick als Glen entpuppt. „Ich wusste nicht, dass er sich entwickelt hat“, flüstere ich. Glen schaut stolz zu Louis auf und reckt eine steinerne Faust in die Höhe, in die Louis breit grinsend einschlägt. „Ein bisschen musste ich trainieren“, sagt er. „Und Glen hat keine Ruhe gegeben, bis er sich entwickelt hat. Jetzt kann er sich nicht mehr an mir herumhangeln, aber er mag die Beine.“ Wir schielen zu Glen herunter, der alle vier Fäuste in die Luft reckt und von einem Bein aufs andere hüpft. Holly räuspert sich. „Was ist mit dir?“, fragt Rocky. Dark schüttelt den Kopf. „Ich möchte einen Kampf vermeiden. Solange meine Hilfe nicht benötigt wird, bevorzuge ich es, unbeteiligt zu bleiben.“ Holly hebt eine Augenbraue, aber Martin kommt ihr zuvor. „Wie sollen wir dann wissen, ob du wirklich so gut bist, wie das Mädchen beteuert?“, fragt er gereizt und tritt neben Rocky einen Schritt vor. „Wenn du-“ „Es reicht“, unterbricht Rocky ihn scharf. „Die Zeit für die Übergabe rückt näher und ich möchte keine unnötig lauten Unterhaltungen führen. Abby mag nicht immer bedacht sein-“, Louis und Holly schnauben gleichzeitig auf, „-aber von dem, was man mir über sie berichtet hat, ist sie keine Lügnerin.“ Ein zweites Schnauben, dieses Mal nur von Holly. Sie funkelt mich an und ihr Gesicht sagt eindeutig, dass sie mir immer noch nicht über den Weg traut. „Es wäre unklug von Abby, falsche Versprechungen zu machen, die leicht widerlegt werden können“, sagt Dark gelassen. „Wenn die Übergabe abgeschlossen ist, bin ich bereit, den Level meiner Pokémon mit einem Pokédex zu beweisen. Aber Team Rocket ist nicht so stark, dass meine Hilfe gebraucht werden wird, zumindest nicht, wenn alles wie geplant abläuft.“ Rocky nickt nachdenklich. „George, Martin, Holly, ruft eure Pokémon. Jetzt heißt es warten.“   Ein Heulen durchbricht die Stille. Ich erkenne die Gänsehaut, die meinen ganzen Körper in Sekundenschnelle überrollt und mich von meinem Halbschlaf aufschrecken lässt. Verderben. Tod. Chaos. Unheil. Verrat. Schicksal. Opfer. Ein zweiter Schauer übermannt mich und setze mich hinter dem Felsen auf, der uns vor Blicken schützt. Rocky und die anderen schaudern und drehen verwirrt die Köpfe. Sie wissen nicht, was das Heulen bedeutet, das jetzt ein zweites Mal echoend von den nördlichen Felsklüften ertönt. Ich schon. Absols Warnung hat sich auf dem Indigo Plateau in mein Gedächtnis gebrannt. Und wenn Absol hier ist, bedeutet das… Ich springe auf, ohne meine Deckung zu verlassen und luge im Schutz der Dunkelheit über den Felsen auf Route 8, die sich vor uns im Schatten verliert. Die Straße ist leer, aber das Heulen ist unmissverständlich. Er wird kommen. Ein weißes Schemen durchbricht den schwarzen Himmel und ich schaue hinauf. Zachs Swaroness segelt in eleganten Kreisen in die Tiefe, bevor es lautlos landet und seinen Trainer absteigen lässt. Er ruft sein Pokémon zurück, zieht die Kapuze seines bodenlangen, schwarzen Mantels tief in sein Gesicht, sieht sich einmal um und lenkt seine Schritte schließlich Richtung Unterführung. „Abby, bist du okay?“, haucht Louis dicht neben mir. Ich schrecke zurück, bevor ich merke, dass meine Lippen so fest aufeinander gepresst waren, dass sie nun taub sind. Ich nicke stumm und wende den Blick zurück zu Zach, der ungeahnt der Gefahr, in der er sich befindet, zum Übergabeort geht. Aber wie kann er Absols Warnung nicht gehört haben? Das Heulen schwillt ein drittes Mal an. Wehmütig. Resigniert. Es verklingt in der Stille der Nacht und lässt mich mit Gänsehaut zurück. Ich werfe einen Blick nach links, wo Dark und die Polizisten Zachs Bewegungen mit den Augen folgen.  Unsicher, ob sie ihn erkannt haben oder nicht, warte ich gespannt auf eine Reaktion. Vielleicht wissen sie nicht, dass Absol sein Pokémon ist, oder dass er ein Swaroness hat. „Zacharias Stray“, flüstert Rocky und zerstört meine letzte Hoffnung. Ihre Augen leuchten triumphierend und sie wirft uns ein Grinsen zu, das mich an ihre Fukano erinnert. Holly schaut kurz zu mir und ich meine, eine Mischung aus Mitgefühl und Überheblichkeit in ihrem Gesicht zu erkennen, aber sie wendet sich an Dark, bevor ich reagieren kann. „Ich bin froh, dich hier zu haben“, sagt sie und tätschelt ihrem eigenen Pokémon, einem senil aber trotzdem fit wirkenden Bissbark, den Kopf. „Wir werden deine Unterstützung brauchen, um einen Favoriten zu überwältigen.“ Dark nickt ergeben. Wir warten, bis Zach in der Unterführung verschwunden ist, dann erheben wir uns, vorsichtig. Rocky und Holly gehen vor, während Dark einen Moment zögert und sich umsieht. Er lehnt sich zu mir und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber er kommt nicht dazu. Lichtblitze explodieren von allen Seiten und färben die Nacht rot. Kapitel 96: Hinterhalt (Diebische Ranken) ----------------------------------------- Ich weiß nicht, was uns verraten hat. Noch während ich abschätze, ob der Hinterhalt von Anfang an geplant war oder nur meiner Entdeckung geschuldet ist, stelle ich mich instinktiv Rücken an Rücken mit Louis. Neben mir greift Dark nach seinem Pokéball. Pokémon materialisieren sich in kleinen Scharen zwischen Baumgruppen, auf Felsen und auf der Straße. Es müssen zwei Dutzend Pokémon sein, die sich langsam in unsere Richtung bewegen, gefolgt von schwarz gekleideten Gestalten. Hundemons lautes Knurren reißt mich aus meiner Starre und ich drehe den Kopf. Darks Gesicht ist hinter seiner Maske verborgen, aber Hundemons glühende Kehle und sein mörderischer Blick sagen mir alles, was ich über seinen Gemütszustand wissen muss. Fluchen wird hinter uns laut, als Martin und George hinter dem Stein hervorspringen und sich neben uns aufbauen. Unsere Gegner kommen näher. Zwei Arbok schlängeln sich in unsere Richtung, während von der anderen Richtung ein Vipitis die Luft züngelt und sich zischend aufbäumt.  Weitere Pokémon, Gift- und Unlichttypen, aber auch andere Pokémon folgen ihren Partnern. Wir haben nur noch wenige Sekunden, bevor sie in Reichweite sind. „Schnapp sie dir“, zischt Dark. Hundemon bellt und sprintet vor. Ich habe noch nie ein Pokémon so schnell laufen sehen. Es schlägt Haken, rast schnell wie ein Pfeil auf seine Gegner zu, all das, während sein Brustkorb sich wie ein Blasebalg aufbläht und in der Farbe von flüssigem Eisen glüht. Was folgt, ist ein Flammenwurf, der mich nur in meiner Ansicht verstärkt, Gott niemals diesen Level an Feuerkraft erreichen zu lassen. Eine gewaltige Feuerbrunst schießt aus Hundemons Kehle und trifft das erste Pokémon, das ihm in die Quere kommt, umhüllt es in gleißend hellen Flammen, die aufzüngeln und das hilflose Wehklagen des Sleimoks in Rauschen und Knistern ersticken. Hundemon ist fast fünfzig Meter von seinem Gegner entfernt und das ist, wie mir mit einem Schaudern bewusst wird, der einzige Grund, warum die Attacke nicht tödlich endet. Das Feuer verebbt nach wenigen Sekunden, in denen Hundemon schon auf seinen nächsten Gegner zuspringt. Ich fluche. „Sku, hilf ihm, los!“, befehle ich, endlich aus meiner Starre erwacht. George, Martin und Louis geben ähnliche Befehle und ich nutze den Moment, um meine Aufmerksamkeit Dark zu widmen. „Bring sie nicht um!“, schreie ich ihn wütend an. „Es sind immer noch Pokémon!“ Er reagiert nicht. Tatsächlich bewegt er sich keinen Zentimeter, schaut nicht mal in meine Richtung. Irritiert wende ich den Blick ab – und entdecke das Vipitis, das starr in seine Richtung blickt. Ein gelber Schimmer scheint die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Panik steigt in mir auf. Sie müssen Dark erkannt haben, was bedeutet, dass sie alles tun werden, um ihn außer Gefecht zu setzen. „Hundemon!“, schreie ich. „Das Vipitis!“ Hundemon macht auf dem Absatz kehrt, wirbelt in der scharfen Kurve Staub und Steinbrocken auf, die als Wolke hinter ihm aufsteigen und sprintet auf das Pokémon zu, das Dark mit seinem Giftblick paralysiert hat und an jeglicher Bewegung hindert. Aber es ist nicht das einzige Pokémon, das ihn mit der Attacke festhält. Das Arbokpärchen verfolgt die gleiche Strategie. Ich habe keine Zeit für Skrupel. Ich greife nach Gotts Finsterball.   Plötzlich sickert jegliche Kraft aus meinen Armen und im nächsten Moment sacken sie wie leblose Gummischläuche zu beiden Seiten meines Körpers herab. Orangegelbe Sporen füllen die Luft, so dicht, dass ich innerhalb von Sekunden keinen Meter weit sehen kann. Die Maske hält größtenteils meine Atemwege frei, aber ich bin blind. Meine Beine knicken ohne jegliche Vorwarnung ein und ich falle in einer wenig würdevollen Art zu Boden. Der Aufprall presst die Luft aus meiner Lunge und ich rolle stöhnend ein Stück zur Seite, die einzige Bewegung, die ich paralysiert zustande bringe. Ich kann nur dankbar sein, dass ich nicht auf meinen linken Arm gefallen bin, denn trotz Gips glaube ich nicht, dass mein Knochen die Erschütterung problemlos überstanden hätte. Der Sporenregen sinkt herab und bildet eine dichte orangefarbene Schicht auf dem Boden. Aus meiner jetzigen Position kann ich zumindest das Kampfgeschehen gut erkennen, wenn auch mit etwas Halsverrenken. George und Martin hat die Stachelspore am meisten zugesetzt. Sie liegen völlig gelähmt am Boden, während ihre Pokémon, ein Rasaff und ein Pantimos, sich mit vier gegnerischen Pokémon duellieren, zwei von ihnen Käfertypen, die wohl für die Stachelspore verantwortlich waren und sich jetzt in das Kampfgeschehen einmischen. Louis liegt nicht weit entfernt mit dem Rücken zu mir, aber Glen hat sich längst mit einem Einigler zusammengerollt und nimmt jetzt Schwung, um alle Gegner mit Walzer zu attackieren, die seinem Trainer zu nahe kommen. Und Dark… Gleich vier Pokémon haben sich auf ihn gestürzt. Vipitis ist von Hundemon besiegt worden, aber die beiden Arbok sind näher gekommen und halten ihn mit ihrem Giftblick gefangen, der von der Stachelspore in seiner Wirkung nur verstärkt wird. Zusammen mit dem doppelten Horrorblick, der von einem Golbat und einem Makabaja ausgeht, ist er bewegungsunfähig. Ich renke meinen Kopf etwas weiter nach hinten und entdecke Hundemon, das wie ein Berserker durch die Reihen seiner Feinde stürmt, Zurückhaltung vergessen. Brennende Bäume erhellen die Nacht wie gigantische Fackeln, rot flackerndes Licht formt zittrige, schwarze Schatten und inmitten der Verwüstung tobt Hundemon, dessen Flammenwürfe kaum auf Widerstand treffen. Einen Moment lang glaube ich, dass wir nicht verlieren können. Markerschütternde Schreie, Staubwolken, Hitze auf meiner Haut, trotz der Entfernung und Skus aufgeregtes Fauchen, als sie die Klauen in die Seite eines Gegners gräbt, der sich von hinten angeschlichen hat, geben mir das Gefühl, dass wir trotz allen Widrigkeiten die Oberhand behalten haben. Aber letztlich muss ich einsehen, dass pure Masse manchmal ausreicht, auch wenn Dark oft von Qualität über Quantität spricht. Vielleicht hat er Recht. Vielleicht hätte er, wenn er nicht von den Attacken der anderen Pokémon festgehalten würde, die Situation unter Kontrolle bringen können, so wie Chris damals, die mit ihrem gesamten Team alle Gegner auf einen Schlag eliminiert hat. Chris´ Pokémon hatten allerdings einen klaren Vorteil. Sie besaßen Flächenattacken. Wo immer Hundemon ein Pokémon besiegt, stürzen sich drei weitere auf seine Schwachpunkte. Die Attacken selbst machen kaum Schaden, aber das müssen sie nicht. Langsam aber sicher übermannen Verwirrung, Vergiftung und schwächende Statusattacken Hundemon, das langsamer wird, stolpert, sich selbst attackiert, Gift würgt und verwirrt von einer Seite zur anderen taumelt. Hilflosigkeit lässt meinen Mund trocken werden. Nicht mal ein Pokémon jenseits des Achtzigerlevels ist diesem Attackenregen gewachsen und ich muss hilflos mit ansehen, wie Hundemon ein letztes, verzweifeltes Heulen von sich gibt, kehrt macht und zu Dark zurückläuft, nur um auf halber Strecke zusammenzubrechen und reglos liegen zu bleiben. Sku wird unterdessen von ihrem Gegner an mir vorbei geschleudert, rollt durch den Staub und kommt fauchend wieder auf die Beine. Ich kann den Stolz nicht unterdrücken, der mich bei ihrem furchtlosen Anblick erfüllt und beginne, gegen die Paralyse anzukämpfen. Meine Arme und Beine fühlen sich taub und gelähmt an, aber ich beiße auf meine Lippen, drücke, ziehe, stelle mir vor, wie ich meine Gliedmaßen wieder unter Kontrolle bringe. Langsam, ganz langsam, bewegen meine Finger sich und ich schaffe es, statt vereinzelten Lauten ein Wort hervorzubringen. „Hun…ter…“, presse ich hervor. Es ist nicht laut, aber er hört mich trotzdem. Rotes Licht explodiert hinter mir und im nächsten Moment schießt Hunters Silhouette durch die Nacht, empört krächzend und bereit für einen Kampf. Sku wirft sich mit einem Schlitzer an mir vorbei auf ihren Gegner zu, ein Rattikarl, Zähne gebleckt und Schweif hoch erhoben. Innerhalb von Sekunden werden alle anderen Geräusche von dem Fauchen und Spucken hinter mir übertönt. Hunter zieht seine Kreise und schießt gelegentlich mit einem Fliegen auf Pokémon herab, die ihn nicht bemerkt haben oder in einen Kampf verwickelt sind. Mit jedem Atemzug frischer Luft unter meiner Maske löst sich die Paralyse weiter und plötzlich kann ich meine Hände wieder fühlen. Ein Blick zu Dark bestätigt, dass er weiterhin festgehalten wird und seine Pokémon nicht befreien kann, aber Louis und die Polizisten erholen sich genau wie ich. In einem Anflug purer Willenskraft bäume ich mich gegen die letzten Reste der Paralyse auf und zwinge meinen Arm, nach hinten zu fallen, um meinen Pokégürtel zu fassen zu kriegen. Unsere Gegner sind zu zahlreich. Ich brauche meinen besten Kämpfer, Streitereien hin oder her. „Stiehl ihre Bälle!“, erschallt eine Stimme über dem Chaos der laufenden Kämpfe und dem Knistern und Zischen der brennenden Bäume. Ich drehe den Kopf, kann in den Rauchschwaden aber nur einen dunklen Schatten entdecken. Dann schießen grüne Ranken aus dem Rauch, peitschen über meine Arme, Beine, meinen Bauch und haken sich schließlich unter meinem Gürtel fest, bevor sie den festen Stoff entlang tasten, um den Verschluss zu finden. Schreiend wälze ich mich umher, um den Ranken keinen Halt zu geben, aber sie haben sich längst um den Gürtel gewickelt und lassen nicht los. Verzweifelt greife ich nach der anderen Ranke, die weiterhin fest an meinem Gürtel geklammert ist und ziehe daran, aber sie ist so unbeweglich wie ein Stahlseil und wickelt sich in Sekundenschnelle auch um meine Handgelenke, damit ich nicht nach meinen Pokébällen greifen kann. „Abby!“, ruft Louis von weiter entfernt. „Was ist los?!“ Ich will antworten, aber in dem Moment öffnet sich mein Gürtelverschluss und die beiden Ranken entreißen mir meine Partner mit einer Schnelligkeit, die blutige Striemen auf meinen Handgelenken zurücklässt, als sie sich von mir lösen. Dann schießen sie auch schon wieder vor, dieses Mal in Richtung Dark, dessen Pokébälle wie meine eigenen innerhalb weniger Momente im Rauch verschwinden. „Nein, verdammt!“, fluche ich und zwinge mich dazu, meinen Oberkörper anzuheben, gegen die Reste der Taubheit anzukämpfen und aufzustehen. Einige Sekunden ringe ich mit dem Bedürfnis, mich wieder hinzulegen, so wacklig fühlen sich meine Beine an und das Dröhnen in meinem Kopf hilft nicht gerade dabei, mich zu motivieren. Die schwarzen Silhouetten, die gemeinsam mit ihren Pokémon durch den orange leuchtenden Rauch auf mich zukommen, genügen aber. Ich schlucke und bin froh, als Sku an meine Seite eilt. Außer einem leichten Hinken scheint sie unversehrt aus den Kämpfen hervorgegangen zu sein und schmiegt sich nun an mein Bein. „Jemand, der dir bekannt vorkommt?“, fragt Louis, der plötzlich neben mir steht. Er muss sich aufgerappelt haben, als ich mit den Ranken beschäftigt war. Glen stützt zwei steinerne Fäuste auf dem Boden ab und schlägt seine beiden anderen aufgeregt gegeneinander. „Nein“, antworte ich, während das Chaos um uns herum weitertobt. „Hast du deine Pokémon noch?“ Louis nickt. Als ich genauer hinschaue, bemerke ich, dass er seinen Gürtel schon die ganze Zeit fest umklammert hat. Ich bezweifle, dass er stärker als die Ranken des Pflanzenpokémon wäre, aber verübeln kann ich es ihm nicht. Allein bei dem Gedanken an Gott, Jayjay und Priss, die in ihren Pokébällen gefangen in den Händen meiner Feinde sind, steigt mir Wut wie Säure in meiner Kehle auf. Niemand nimmt mir meine Pokémon weg. Niemand. Ich beobachte aus dem Augenwinkel, wie Hunter sich das Smettbo und das Pudox stürzt, die Pantimos und Rasaff dank ihres Typs sehr zusetzen, sie schwächt und Kurs auf die Pokémon nimmt, die Dark am Boden festhalten. Der Rauch lichtet sich und gibt den Blick auf den Rest unserer Gegner frei. Einige Rockets sind zurückgeblieben und dirigieren die Kämpfe aus sicherer Entfernung, andere haben sich mit ihren Pokémon ins Getümmel gestürzt. Ich lasse meinen Blick zurück zu den Gestalten wandern, die gemächlich auf uns zukommen. Dieses Mal kann ich sie erkennen. Ein Venuflibis, mindestens so groß wie ich, schwebt einige Handbreit über dem Boden. Sein breites Maul ist zu einem freudigen Grinsen verzogen und die Ranken, die unsere Gürtel weiterhin umklammern, peitschen träge um seinen Körper. Sein Trainer ist ein Rocket von normaler Statur, der mir noch nie begegnet ist, aber allein die Tatsache, dass Sku seinem Pokémon nichts anhaben konnte, spricht dafür, dass er mindestens 2. Oder 1. Rang ist. Einige violett gefärbte Haarsträhnen schauen unter seiner schwarzen Wollmütze hervor und seine blasse, unreine Haut flimmert rot im Feuerschein. Als er vortritt, kippt hinter ihm ein schwelender Baum langsam aber sicher zur Seite, bevor er splitternd und Funken stiebend zu Boden kracht. An seiner Seite läuft, zu meiner Überraschung, Cory. Wäre es nicht der Tag gewesen, an dem ich Zachs Agenda unwissentlich zerstört habe und von Mel ins Krankenhaus geschickt wurde, hätte ich mich vielleicht nicht an den unscheinbaren, jungen Rocket erinnert. So wie die Dinge stehen, erinnere ich mich ziemlich gut an ihn. „Hör zu“, murmele ich eindringlich, damit Louis mich trotz der Schreie und anderen Kampfgeräusche verstehen kann. „Du nimmst dir Cory vor, den rechten. Ruf all deine Pokémon, wenn es sein muss, bevor Venuflibis sie stehlen kann.“ „Und du?“, fragt Louis, noch während er einen Schritt nach vorne macht und nach seinen Pokébällen greift. Ein verbissenes Grinsen schleicht sich auf meine Züge. „Ich hole meine Pokémon zurück.“ Louis wirft mir einen kurzen Blick zu. Er öffnet den Mund, als wolle er protestieren, schüttelt dann aber nur den Kopf und reicht mir einen der Safaribälle, die zwischen den Pokébällen an seinem Gürtel hängen. „Du kannst Gina als Unterstützung haben“, sagt er leise und wendet sich Cory zu. „Sie ist nicht besonders stark, aber du wirst ihre Statusattacken gebrauchen können.“ Nachdem er mir ihre Attacken gesagt hat, läuft er los, Glen dicht an seiner Seite. Das Steinpokémon läuft voller Tatendrang auf seinen kurzen Beinchen und scheint das Gefühl vollends auszukosten. Cory hält inne, als er seinen Gegner sieht, greift aber wie Louis nach seinen Pokébällen und nur wenige Sekunden später hallt Ethans Brüllen über das gesamte Kampffeld. Sku stellt ihren Schweif auf und faucht herausfordernd, als Venuflibis verträumt grinsend in unsere Richtung schwebt. Ginas Safariball in den Händen wiegend, wage ich einen letzten Blick Richtung Dark. Die Pokémon, die ihn umringt haben, sind inzwischen ihren eigenen Trainern zu Hilfe gekommen, eindeutig von Hunters unablässigen Angriffen geschwächt. Er fliegt in rasanten Kreisen über unseren Köpfen und hält nach einer Gelegenheit Ausschau, sich wieder ins Geschehen einzumischen. Und mir fällt die perfekte Beschäftigung für ihn ein. Ich pfeife einmal scharf und rufe Gina, während ich darauf warte, dass Hunter landet. Es dauert nicht lange, bis Wind um meinen Kopf peitscht und sein Gewicht sich in meine Schultern gräbt. Aus den Augenwinkeln kann ich die braunen Spitzen seiner ausgebreiteten Flügel erkennen und weiß intuitiv, dass von seiner sonst so verspielten Art in diesem Moment nichts zu sehen sein wird.  Gina, die sich neben mir materialisiert hat, wirft mir einen verwirrten Blick zu, stampft aber zufrieden auf, als sie Louis weit entfernt entdeckt. Ihr schwarzes Hinterteil schnappt nach meiner Hand und ich mache einen unauffälligen Schritt zur Seite. „Folgender Plan…“, beginne ich. Ich lasse den Rocket und sein Pokémon nicht aus den Augen, während ich Hunter seine Aufgabe erkläre. Als ich geendet habe, stößt er sich von meinen Schultern ab, segelt in die Höhe und auf Venuflibis zu. „Sku, wir legen los“, rufe ich. „Kreideschrei, danach Toxin. Lass dich nicht von den Ranken erwischen. Gina, Psystrahl, lenk es ab.“ Hinkend, aber entschlossen, springt Sku vor, öffnet das Maul und entsendet einen markerschütternden Schrei Richtung Venuflibis, das einen Moment lang in der Luft taumelt, bevor es seine Balance zurückgewinnt und empört mit den Ranken schlackert. Ginas Psystrahl trifft nur wenige Sekunden später, aber die psychischen Wellen prallen beinahe wirkungslos an der hellgrünen Haut des Pokémons ab. Sein Trainer lacht laut und deutet in meine Richtung. „Das ist doch wohl ein Scherz“, sagt er, gerade laut genug, dass ich ihn über Skus Fauchen hören kann, als sie versucht, eine Schwachstelle in Venuflibis´ Verteidigung zu finden, um Toxin zu verwenden. „Du willst dich Team Rocket in den Weg stellen?“ Sku scheint die Lücke gefunden zu haben, denn sie macht eine scharfe Linkskurve, schlittert den Boden entlang und speit eine Woge Toxin auf ihren Gegner, der sich dank ihres Manövers in seinen eigenen Ranken verheddert und von der Giftattacke getroffen wird. „Ein Skuntank, heh?“, fragt der Rocket, sichtlich unberührt davon, dass sein Pokémon vergiftet wurde. „Das kommt mir bekannt vor. Zeig mir doch mal dein Gesicht, damit ich sicher gehen kann. Blattgeißel!“ Venuflibis schüttelt sich einmal, dann rasen die Ranken auch schon mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf Sku zu. Und auf mich. Sku wird von der Ranke in den Magen getroffen und gute zwanzig Meter in die Höhe geschleudert. Ihr Schrei hallt in meinen Ohren wieder, genauso wie das Knirschen, als sie auf den Boden kracht und ein einzelnes, verzweifeltes Winseln von sich gibt, bevor sie das Bewusstsein verliert. Dann erreicht mich die zweite Ranke. Nur meinen über Monate entwickelten Instinkten ist es zu verdanken, dass ich es überhaupt schaffe, rechtzeitig meinen rechten Arm zu heben. Ich hätte es genauso gut lassen können. Als die Ranke auf meinen Arm trifft und in mein Gesicht schlägt, heule ich auf. Die Maske wird von meinem Gesicht gerissen und zerschellt am Boden, während ich auf die Knie sinke und mit meinem eingegipsten Arm meinen rechten stütze. Die Ranke hat einen großen Fetzen Haut abgerissen und Blut tropft zwischen meinen Fingern zu Boden. Venuflibis reißt seine Ranken zurück und beobachtet mich schadenfroh, während der Rocket lauthals lacht. „Du bist es tatsächlich. Abby, richtig?“, fragt er, ohne auf eine Antwort zu warten. Ich bin ohnehin mehr damit beschäftigt, meine Tränen herunterzuschlucken. Diese Genugtuung werde ich ihm nicht gönnen. Er lächelt. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Mel hat schon-“ Hunter nutzt diesen Moment, um unserem Plan nachzukommen. Er schießt aus dem Himmel auf Venuflibis herab, das an den Worten ihres Trainers hängt und gebannt lauscht, packt mit seinen Krallen meinen Gürtel und zieht. Venuflibis gibt ein schrilles Quietschen von sich und reißt seine Ranke ruckartig zurück, was Hunter durch die Luft wirbelt, aber er lässt nicht los, krächzt nur und nutzt den Schwung, um Venuflibis mit seinem Aero-Ass zu treffen. Die Attacke ist nicht stark genug, um dem Pflanzenpokémon Schaden zuzufügen, aber sie gibt Hunter einen wertvollen Moment, in dem er seinen Griff um den Gürtel festigt, den Schnabel senkt und auf den Finsterball presst. Rotes Licht schießt in meine Richtung und im nächsten Moment steht Gott vor mir. Er knurrt und die Flammen auf seinem Rücken lodern so gleißend hell und heiß auf, dass ich unwillkürlich zurückweichen will. Stattdessen zwinge ich mich auf meine Füße und pfeife Hunter zurück, der von Venuflibis´ Ranken ablässt und zurück an meine Seite fliegt. Ich hatte gehofft, meine Pokémon auf einen Schlag zurückzuholen, aber für´s erste werde ich mich mit meinen offensivsten Teammitglied begnügen müssen. Gott scheint meine Absichten zu spüren, denn er dreht den Kopf in meine Richtung und nickt einmal energisch und mehr als ein bisschen aufgeregt. Er muss auf eine Gelegenheit gewartet haben, mir seine Stärke beweisen zu können, ohne dass ich ihn zurückhalte. Kopfschüttelnd verbanne ich die Gedanken aus meinem Kopf. Ich kann mir später Sorgen machen. Jetzt muss ich kämpfen. Der Rocket legt den Kopf schief und beobachtet mich mit zusammengekniffenen Augen, als sie sich plötzlich weiten und er an mir vorbeischaut. Ich drehe den Kopf und entdecke Dark, der schwankend in meine Richtung kommt. Die Paralyse muss abgeklungen sein, aber er sieht trotzdem so aus, als würde er jeden Moment umkippen.   Als er mich erreicht, legt er eine Hand auf meine Schulter, als wolle er mich beruhigen, aber es fühlt sich eher so an, als müsse er sich irgendwo abstützen. Ich lasse ihn gewähren. „Lambda“, sagt er heiser und nickt in Richtung unseres Gegners. „Dark“, erwidert Lambda langsam und grinst dann breit. „Noch kannst du zurückkehren. Ich bin sicher, dein Vater würde dir eine zweite Chance geben.“ „Ich habe kein Bedürfnis nach einer zweiten Chance“, antwortet Dark. „Ich verfolge meine eigenen Ziele.“ „Das sehe ich.“ Lambda breitet einen Arm aus und deutet auf die Kämpfe, die überall um uns herum toben. „Aber was immer du hier vorhattest, es ist fehlgeschlagen. Rita hat nie den Anruf getätigt, den sie uns nach ihrer Ankunft in Kanto versprochen hatte. Natürlich sind wir stutzig geworden. Ein Einschreiten der Polizei war abzusehen, aber dass du dich ihnen anschließen würdest…“ Er schüttelt lachend den Kopf. „Ich sollte wohl nicht überrascht sein. Du bist stark, aber ohne deine Pokémon bist du genauso nutzlos wie der Rest der Polizei. Team Rocket wird euch zerstören.“ Weder Dark noch ich antworten. Gott macht einen Schritt nach vorne und spuckt kleine Glutfunken auf den Boden, was Venuflibis mit einem amüsierten Grummeln kommentiert. Ich hole tief Luft und bereite mich auf das einzige Manöver vor, dass uns jetzt noch bleibt. Die Zeit für Smalltalk ist vorbei. Kapitel 97: Überlebensstrategien (Alles umsonst?) ------------------------------------------------- Gott und Venuflibis beginnen, sich langsam zu umkreisen und ich nutze die Gelegenheit, meine Taktik zu durchdenken. Hunter hat Venuflibis schon einmal ausgetrickst, es wird ihm kein zweites Mal gelingen, zumindest nicht auf dem herkömmlichen Weg. Wenn ich unsere Pokébälle wieder haben möchte, brauche ich eine Ablenkung. Gotts Fauchen ist laut, durchdringend, als er einen Angriff antäuscht, aber Venuflibis grinst nur unentwegt und an der Art, wie Gotts Schultern sich anspannen, weiß ich, dass er kurz vor der Explosion steht. „Starte mit Rauchwolke", befehle ich. „Wenn die Ranken dich erwischen, ist es aus. Hunter, Areo-Ass, wann immer du eine Möglichkeit siehst, aber geh kein Risiko ein. Ich brauche dich noch." „Du denkst wirklich, du hättest eine Chance, oder?", fragt Lambda, halb amüsiert, halb gereizt. „Nur der Typenvorteil wird nicht ausreichen", murmelt Dark mit flacher Stimme. „Lambda ist Teil des Vorstands. Seine Pokémon sind im Level sechziger Bereich." Ich lächle eisern. „Dann dürfen wir uns eben nicht erwischen lassen." Ein zustimmendes Grollen ertönt aus Gotts Kehle, dicht gefolgt von einem freudigen Zischen, als der erste halbherzige Rankenangriff auf ihn zuschießt. Er wirft sich zur Seite, um auszuweichen und füllt die Luft noch im Sprung mit dichten, schwarzen Rauchschwaden. Hunter verschwindet mit einigen kräftigen Flügelschlägen und ein empörtes Kreischen bestätigt meine Vermutung, dass er mit einem Aero-Ass begonnen hat. „Blattgeißel!", ertönt Lambdas Befehl aus dem Rauch. Ranken durchschneiden die Luft mit lautem Zischen und einem gelegentlichen Knall, wenn sie auf Hindernisse stoßen. Ohne seinen Gegner sehen zu können, ist Venuflibis´ Treffsicherheit drastisch eingeschränkt. Trotzdem erklingt kurze Zeit später Gotts schmerzliches Zischen und das Geräusch lässt mein Herz einen Moment stillstehen, doch dann taucht er aus dem Rauch auf und kommt schlitternd neben mir zum Stehen. Ein Streifen abgerissener Schuppen an seiner rechten Flanke gibt den Blick auf Blut frei, das aus dem freigelegten Fleisch an die Oberfläche sickert und im Feuerschein tiefrot glänzt. Die Ranken können ihn nur gestreift haben, trotzdem haben sie eine solche Wunde gerissen. Ich will gar nicht daran denken, wie es Sku geht, aber ich habe ihren Pokéball nicht bei mir und keine Gelegenheit, zu ihr zu gehen. Ich kann nur darauf hoffen, dass sie die Attacke unbeschadet überstanden hat. „Nochmal Rauchwolke", befehle ich Gott, woraufhin dieser frustriert winselt. Ich nehme Augenkontakt zu ihm auf. "Ich halte dich nicht zurück", sage ich eindringlich. „Aber Venuflibis ist stärker als du." Ich ignoriere sein wütendes Zischen und das Peitschen der Blattgeißel, die auf der Suche nach Gott durch den Rauch tobt und kreischend unterbrochen wird, als Skus Toxin und Hunters Luftangriffe Venuflibis weiter schwächen. „Es ist stärker", beteuere ich. „Und deshalb bist du der einzige, dem ich diesen Kampf anvertraue. Sorg für Rauch, wo immer du bist, frustriere Venuflibis, bis es unachtsam wird. Greif mit Flammenrad an, wann immer du kannst. Und bitte, lass dich nicht treffen. Ich kümmere mich um den Rest." Gott beobachtet mich mit wachsamen, roten Augen, dann gibt er ein zustimmendes Knurren von sich. Ich nicke und richte mich wieder auf. „Los jetzt!" Er setzt er sich auf, leckt mit seiner rauen Zunge über meinen Handrücken und stürzt sich zurück in den Rauch, der einige Sekunden später so dicht und schwarz wird, dass ich husten muss. Darks Finger krallen sich in meine Schulter, als er mit seiner Atmung kämpft. Auch mir ist inzwischen schwindelig, aber solange Gott und Hunter dort draußen sind und alles für mich riskieren, werde ich mich davon nicht beirren lassen. Gina tänzelt nervös an meiner Seite. Selbst ihr beißfreudiges Hinterteil hat seine Lieblingsbeschäftigung für den Moment vergessen. „Ich hoffe, du weißt, was du tust", murmelt Dark. Seine heisere Stimme wird begleitet von dem roten Aufleuchten, das regelmäßig in den Tiefen des Rauchs zu erkennen ist, wenn Gott mit seinem Flammenrad attackiert, bevor er davonflitzt und den immer wahlloser um sich schlagenden Blattgeißeln ausweicht. „Venuflibis ist über 25 Level stärker als Igelavar. Seine Attacken können ihm massiven Schaden zufügen.“ „Ich weiß“, sage ich leise. „Aber ich vertraue ihm. Und ich werde dafür sorgen, dass wir diesen Kampf gewinnen.“ Gotts Schemen rast wie ein flammender Blitz durch die Rauchschwaden. Mal nimmt er eine schlitternde Kurve nach links, springt hektisch nach rechts, hechtet vor oder presst sich flach gegen den Boden, um einer Ranke auszuweichen, die dicht über seinem Kopf entlangschießt. Ich beiße mir auf die Lippen, folge dem Schauspiel seines Feuers und zucke jedes Mal zusammen, wenn ein kurzer Aufschrei bestätigt, dass eine der Blattgeißeln ihn gestreift hat. Ich weiß nicht, wie lange er dieses Tempo noch durchhält. Hunters Krächzen wird laut, gefolgt von Zischen, als er mit seinem Aero-Ass auf seinen Gegner herabstürzt und zufrieden wieder in die Lüfte aufsteigt, während eine der Ranken ihm hinterherjagt, nur um kurz vor ihrem Ziel zurückgerissen zu werden. Ich grinse. Sie sind eben nicht unendlich lang. „Heh“, ertönt Lambdas Stimme hinter der Rauchwand. „Du bist gar nicht so schlecht, wie ich dachte, Abby. Ich kann verstehen, wie du Mel so oft entwischt bist. Aber du glaubst hoffentlich nicht, dass das schon alles war. Venus, Verwurzler! Hol dir deine Energie zurück.“ Ich kann nicht sehen, wie Venuflibis zu Boden sinkt und ihren Unterleib im Boden vergräbt, um Nährstoffe aus der Erde zu ziehen, aber das Beben der Erde unter mir spricht für sich. Wurzeln brechen den Untergrund auf, lassen mich taumeln und Dark halb zu Boden stürzen und ich kann aus dem Augenwinkel erkennen, wie Gina in eine der frischen Spalten tritt und sich um Haaresbreite den Knöchel bricht. Nur Gott, der ohnehin im Ausweichfieber ist, scheint von der Änderung des Schlachtfelds unbeeindruckt. Langsam lichtet sich der Rauch und ich ahne, dass Gott sein Limit erreicht hat. Mit etwas Glück sollten die Restschwaden in der Luft ausreichen, um Venuflibis´ Sicht zu verdecken und von der Asche, die den grünen Körper dicht bedeckt, ist klar, dass seine Genauigkeit für den Rest des Kampfes eingeschränkt bleiben wird. Das ändert leider nichts daran, dass Verwurzler ihm neue Energie beschafft und auch wenn es wenig ist, gefällt mir diese neue Wendung ganz und gar nicht. Hunter bemüht sich um einen weiteren Angriff, dieses Mal Fliegen, wenn ich seine Bewegungen richtig deute, aber Venuflibis bemerkt ihn und reißt schützend seine Ranken in die Höhe, sodass Hunter frustriert krächzend abschwenken muss, um nicht getroffen zu werden. „Sehr gut“, ruft Lambda, sichtlich erheitert. „Und jetzt legen wir richtig los. Schwerttanz, Venus, dann schnapp ihn dir mit Klammergriff.“ Gott kommt hechelnd zum Stillstand, um nach Atem zu schnappen. Die Ausweichjagd hat ihn erschöpft, aber ohne den Rauch, der meine Sicht verdeckt, erkenne ich ebenfalls Anzeichen der Müdigkeit in Venuflibis. Der Kampf kann kaum fünf Minuten gedauert haben, auch wenn mir jede Sekunde wie eine Ewigkeit vorkommt, aber Skus Toxin entfacht allmählich seine verheerende Wirkung. Venuflibis hebt seine Ranken und beginnt, von innen heraus zu leuchten, bis es den Eindruck macht, als wäre es gewachsen und ich fühle mich an Teals Sengo zurück erinnert, das mit drei Schwertänzen die Alph-Ruinen zum Einsturz gebracht hat. Es ist eine der Statusattacken, mit denen nicht zu spaßen ist. Ich kann nicht anders. Ein lautes Lachen bricht aus meiner Kehle. Venuflibis hat sich gerade sein eigenes Grab geschaufelt. Ich ignoriere Dark, der verwirrt zischt, Lambda, der überrascht in meine Richtung schaut, sogar Gott, der zustimmend faucht und sich zu mir umdreht, seine Augen trotz Gefahr leuchtend wie sonst nie. Venuflibis nutzt die Gelegenheit für ihren Klammergriff und obwohl ich eine Warnung rufe, wickeln sich die biegsamen Ranken fest um Gotts Körper und beginnen, ihn zu zerquetschen. Gotts Schrei verklingt zu einem tonlosen Fiepen, als seine Rippen zusammengedrückt werden und die Luft aus seinen Lungen weicht. Ich habe keine Zeit mehr. „Letzter Angriff, Hunter!“, schreie ich zu ihm in die Lüfte, bevor mein Blick zu Gina wandert. Ich lächle. Zeit, Gotts Vertrauen in mich zu bestätigen. „Kräftetausch.“ Gina galoppiert vor, bis sie gerade weit genug entfernt ist, um nicht von den Ranken erwischt zu werden. Die Luft um ihren Kopf kräuselt sich, rast auf Venuflibis zu, entzieht ihm den Angriffsboost, den Schwerttanz ihm verliehen hat und überträgt ihn auf Gott. Hunter schießt aus dem Himmel herab und sein Aero-Ass trifft das Pflanzenpokémon mitten in den Rücken, was dieses violettes Gift spucken lässt, das seit Skus Angriff ungehindert durch den Pflanzenkörper gewandert ist und für einen kurzen, wertvollen Moment, lockert sich der Klammergriff um Gott. Ich öffne meinen Mund, um sein Kommando zu rufen, aber er weiß, was ich sagen will, holt einmal so tief Luft, dass sein Brustkorb zu platzen scheint, und speit ein gewaltiges, von dem gestohlenen Schwerttanz unterstütztes Flammenrad auf Venuflibis, das dank des Klammergriffs keine Zeit mehr hat, auszuweichen. Ein gequältes Winseln ertönt, als das Feuer die Ranken entlang rast, das Pokémon frontal trifft und mit der Macht einer verzweifelten Feuerattacke durch die Verteidigung der Pflanzenhaut brennt. Einige Sekunden lang ist nur das Knistern und Zischen und Kreischen zu hören, dann fallen die Ranken, die Gott umklammert halten, verkohlt und kraftlos von ihm ab und Venuflibis sackt bewusstlos in sich zusammen. Die Pokégürtel, die bis dahin fest von den Ranken umklammert waren, liegen unbewacht im aufgerissenen Erdboden, zumindest, bis Hunter herabschnellt, beide mit seinen Krallen aufklaubt und über uns fallen lässt. Ich packe Skus Pokéball und rufe sie sofort zurück, bevor ich erleichtert schwanke und mich bei der hastigen Bewegung zischend daran erinnere, dass mein rechter Arm auch einiges abbekommen hat. Aber als Gott schwer atmend den Kopf dreht, zu mir schaut und mit tiefster Zufriedenheit in seinem Blick in meine Richtung springt, trotz diverser Wunden an Beinen, Rücken und Flanke, fange ich ihn ohne Murren auf und presse ihn fest an mich, ungeachtet der Hitze, die weiterhin von seinem Schuppenpanzer abstrahlt. „Du warst unglaublich“, flüstere ich. Er schmiegt seinen Kopf gegen meine Halskuhle und gibt ein zustimmendes Grollen von sich. „Ruh dich jetzt aus“, sage ich leise und rufe ihn in seinen Finsterball zurück, bevor er die Gelegenheit hat, zu protestieren. Dann schaue ich zu Lambda auf, der auf sein besiegtes Pokémon starrt. Langsam, ganz langsam, hebt er den Kopf und lässt den Blick über das Schlachtfeld gleiten. Ich folge seinem Beispiel und nehme die Verwüstung in mich auf, die wir in unserem Kampf gegen Team Rocket verursacht haben. Der gesamte Boden ist aufgebrochen, verkohlt, aufgeweicht oder von Rissen durchzogen und die schwelenden und teilweise noch brennenden Bäume ragen wie Mahnmale in die Höhe, während die  Flammen dem rauchverhangenen Himmel entgegen lecken. George und Martin sind Richtung Unterführung zurückgewichen, Hände über dem Kopf erhoben, während zwei der Rockets mit Pistolen auf sie zukommen. Rechts von mir gibt Ethan ein siegreiches Brüllen von sich und ich bin sicher, dass zumindest Louis seinen Kampf gewonnen hat, aber es sind noch zu viele Rockets kampffähig. Dark greift, endlich, nach seinen Pokébällen. Ein weiteres Mal in dieser Nacht füllt gleißend rotes Licht mein Sichtfeld. Dann wird es kalt. Hagelkörner, dick wie Murmeln, prasseln mit ohrenbetäubendem Klackern zu Boden, dicht gefolgt von einem Blizzard, der sich um uns herum aufbaut und Eisplitter mit sich trägt, die um unsere Köpfe rasen, begleitet von noch mehr Hagel und dichtem, weißem Schnee. Das Unwetter zentriert sich um Darks Frosdedje, die mit irrem Blick und ausgebreiteten Armen inmitten des tosenden Schneesturms schwebt, ihr Lachen so melodisch wie klirrendes Glas. Dark schnalzt mit der Zunge. Frosdedje lacht lauter und der Blizzard breitet sich lawinenartig in Richtung unserer Gegner aus. Meine emporgerissenen Arme schützen mich vor der Pulverschneewolke, die uns nun entgegengedrückt wird, während die Wand aus Eis und Hagel vorwärts rast und alles, was sie trifft, in heulenden Wind und unerbittlichem Frost hüllt. Ich kann mein Zähneklappern kaum über dem tosenden Blizzard hören, oder den erstickten Schreien, die von allen Seiten erschallen. Lambda scheint sich gerade rechtzeitig zu Boden geworfen zu haben, denn obwohl eine dicke Schicht aus Schnee und Eis seinen Rücken bedeckt, hebt er den Kopf, kaum dass der Schneesturm an ihm vorbeigerast ist und auf den Rest der Rockets zurollt. Frosdedjes Lachen klingt klar über das Dröhnen und Tosen hinweg und von der Art, wie sie ihren Blizzard anfeuert, scheint sie eine neue Eiszeit einleiten zu wollen. Ihr Lachen erinnert mich an Mel in den Tiefen ihres Wahnsinns und eine Gänsehaut, die nicht von der Attacke des Eispokémons stammt, läuft über meinen Rücken. Einige der Rockets schaffen es gerade noch, ihre Pokémon zurückzurufen, bevor der Blizzard sie erreicht, aber der Großteil erstarrt in Momenten zu Eis oder wird von den Eiswinden, Hagelkörnern und dem dichten Schnee zurückgedrängt und darunter begraben. Zwei weitere rote Lichtblitze explodieren von Darks Gürtel und im nächsten Moment materialisieren sich ein Kapilz und ein Lucario neben ihm, die einander abschätzige Blicke zuwerfen und stur die Arme verschränken. „Räumt hier auf“, befiehlt Dark den beiden. „Wer die meisten Siege hat, bevor ich fertig bin, gewinnt.“ Die Kampfpokémon nicken, strafen sich gegenseitig mit angewiderten Blicken und sprinten davon über das Schlachtfeld, das inzwischen einer Eiswüste gleicht, wären da nicht die eindeutig verkohlten Bäume, deren angeschwärzte Äste unter Schnee und Eis begraben liegen. Dark schnalzt ein zweites Mal mit der Zunge und Frosdedje, die bis dahin ihren Blizzard unentwegt kichernd beobachtet hat, verstummt, Augen auf ihren Trainer gerichtet. Ein raues Gurren ertönt aus den Tiefen ihrer Kehle, sie wird für einen Moment unsichtbar und erscheint im nächsten direkt über Darks linker Schulter, ein freudiges Glimmen in ihrem Blick. Was immer er ihr mitgeteilt hat, sie scheint mehr als nur zufrieden mit ihrer neuen Aufgabe. Lambda befreit sich fluchend aus dem Schnee und kommt langsam auf die Füße. Er dreht den Kopf und schaut zu seinen Mitstreitern, die zusammen mit ihren Pokémon von Darks Rivalenduo auseinandergenommen werden. Frosdedje gibt ein zweites, eisiges Lachen von. Lambda stolpert einen Schritt zurück. Dann macht er auf dem Absatz kehrt, ruft seine beiden übrigen Pokémon und sprintet davon. Dark und ich nehmen augenblicklich die Verfolgung auf, während Lambda sich auf den Rücken seines Staraptors zieht, ein Smogmog dicht hinter ihm, und mit seinem Flugpokémon in die Höhe schießt. Ich pfeife, Dark aktiviert seinen Tempoball und im nächsten Moment fliegen Hunter und Zapdos an unserer Seite. Die Luft knistert von Zapdos´ Entladungen und Hunter gibt ein ermutigendes Krächzen von sich. Dark springt auf den Rücken seines Legendären, ohne seinen Blick von Lambda zu nehmen, der in Smogmogs Dunkelnebel verschwindet und nur noch als formloses Schemen zu erkennen ist. Ich sprinte weiter. Bisher hat Hunter sich immer stillgehalten, wenn ich aufsteigen wollte, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich hole tief Luft und strecke eine Hand nach Hunter aus, der schräg vor mir fliegt und seine Geschwindigkeit einige Sekunden lang drosselt. Mit einem gewaltigen Satz stoße ich mich aus dem Sprint ab und lande mehr oder weniger sicher auf seinem Rücken. Es fühlt sich an, als würden meine Organe durch meine Kniekehlen sacken, so plötzlich und steil fliegt er in die Höhe, um Zapdos und Dark nicht zu verlieren, die der grauen Nebelwand folgen. Trotz des Windes, der mir die Tränen aus den Augenwinkeln treibt, zwinge ich mich, meine Augen offen zu halten und klammere mich verzweifelt mit meinem rechten Arm an Hunters Brustkorb fest, bevor er den Steilflug abbricht und sich Zapdos in der Waagerechten anschließt, was mir die Möglichkeit gibt, meine Position zu korrigieren. Als ich sicher sitze, lässt Hunter sich in einen tieferen Luftstrom fallen und fliegt geradewegs unter Zapdos hindurch. Wir tauchen auf der anderen Seite wieder auf und ich spüre augenblicklich die Kälte, die mir in die Kleider kriecht und meine kurzen Haarsträhnen gefrieren lässt. Frosdedje wird in dem Eiswind sichtbar und kichert klirrend, bevor sie einmal um Dark herum schwirrt und im Wind verschwindet. „Macht sie das öfters?“, schreie ich zu Dark empor, dessen Oberkörper flach an das knisternde Gefieder seines Pokémons gepresst ist. Er antwortet, ohne den Blick von der Nebelbank zu nehmen, in der ich jetzt Lambdas Umriss erkennen kann. „Wann immer sie kann.“ Ich nicke, obwohl er das nicht sieht. Der Dunkelnebel zieht leicht nach rechts und ohne sich absprechen zu müssen, lassen Zapdos und Hunter sich in die Schräglage kippen, fliegen über- und untereinander her und kommen wieder auf perfekt korrigiertem Flugkurs aus. „Schneller?“, rufe ich, dieses Mal nach links unten, wo Dark nach dem kleinen Flugmanöver mit Zapdos ausgekommen ist. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber das Bild von Hundemons entschlossenem Knurren kommt mir sofort in den Sinn, als seine Stimme ertönt.  „Schneller.“  „Dann los…“, murmele ich und presse meine Oberschenkel fest gegen Hunters Flanken. Er gibt ein freudiges Krächzen von sich und wir preschen davon, dicht gefolgt von Zapdos und Dark, die uns nach einigen Sekunden mit lautem Knistern überholen und der eiskalte Rückenwind, der uns voran treibt und Lambda immer näher bringt, war vor wenigen Momenten noch nicht da. Ich kann nicht anders. Ich muss grinsen, als der Wind in meinen Ohren rauscht und alle anderen Geräusche ausblendet, als meine Finger steif und meine Lippen spröde werden. In meinem Hinterkopf weiß ich, dass Sku und Gott möglichst schnell in ein Pokécenter müssen, dass Zach gerade mit Rocky, Holly und Jack kämpft und dass wir Lambda möglicherweise nicht rechtzeitig einholen werden, aber das Gefühl, über der Welt zu schweben, in die Freiheit zu fliegen, vertreibt alle negativen Gedanken. Dann schließt sich schon der aschgraue Dunkelnebel um uns und ich entdecke Lambda, der sein Staraptor verzweifelt antreibt, während Smogmog von ihm mitgezogen wird und den Nebel aufrecht hält. Je tiefer wir vordringen, desto dunkler wird es, bis ich zu der Erkenntnis komme, dass Smogmog den Dunkelnebel wohl mit einer Rauchwolke unterfüttert haben muss. Ich atme flacher, versuche, nicht zu viel von den giftigen Ausdünstungen abzubekommen, die ohne Zweifel in dem Rauch vorhanden sind. Als es jedoch immer dunkler wird, schaue ich nach links zu Dark und dann hinauf in den Himmel. Zapdos´ schiere Anwesenheit hat Gewitterwolken aufziehen lassen, die sich dunkelviolett über unseren Köpfen zusammenbrauen und knisternd entladen. Staraptor, aufgeschreckt von dem aufkommenden Donnergrollen und dem Regen, der mit einem Schlag einsetzt und auf uns niederprasselt, wirft einen kurzen Blick in unsere Richtung, schlägt panisch mit den Flügeln und wird schneller. Ich gebe Hunter das Signal, ebenfalls einen Zahn zuzulegen. Neben mir tut Dark das gleiche. Während Hunter sich an Zapdos´ Flugmanöver anpasst, nach unten sacken lässt, gegen den Regen in die Höhe drückt oder zur Seite abkippt, verlasse ich mich ganz auf meine Instinkte, um nicht von seinem Rücken zu fallen. Es ist nicht mein erster Flug und auch, wenn ich noch nie so mit Hunter geflogen bin, weiß mein Körper doch, was er tun muss, wenn Hunter sich spiralförmig in den Himmel katapultiert, einen Looping macht, oder einfach für mehrere Sekunden so weit in Schräglage fliegt, dass mir das Blut in den Kopf steigt. Der rationale Teil meines Gehirns verfällt trotzdem in Panik – und nicht zu knapp. Staraptor, das genau wie wir eine unmögliche Flugfigur nach der anderen vollführt, um uns abzuhängen, verliert in den diversen Richtungswechseln fast Smogmog, das noch immer für schlechte Sicht sorgt. Aber das Vogelpokémon merkt, dass es uns so nicht abschütteln kann. Es wird schneller, schneller, und dieses Mal fällt Smogmog zurück, dreht sich in unsere Richtung und sieht uns mit resignierten Augen an. Ich jauchze, sicher, dass wir Lambda jetzt kriegen werden und ziehe mit Hunter an Zapdos vorbei, das unter uns fliegt. Wir schießen auf Smogmog zu. Seine kraterförmigen Poren schließen sich und es bläht sich auf. „Abby!“ Zu spät bringe ich den Warnschrei hinter mir mit dem Bild vor mir in Verbindung. Es wird kälter. Dann rasen wir schon über Smogmog davon und werden von der Explosion getroffen, die aus dem angestauten Druck und den brennbaren Gasen in Smogmogs Körper resultiert. Der Knall ist ohrenbetäubend, aber nicht zu vergleichen mit der Schockwelle, die uns steil nach oben katapultiert und so wehtut, dass ich nicht mal mehr schreien kann, auch nicht, als Hunter und ich in der Luft zum Stillstand kommen und dann wie Steine zurück Richtung Boden stürzen. Mit einem lauten Piepen in den Ohren und halbblind von der Schnelligkeit unseres Falls und den Tränen, die der Wind mir in die Augen bläst, ruht mein Blick auf Hunter, dessen Brustkorb, samt den Unterseiten seiner Flügel, halb zerfetzt ist. Blut durchsickert das zerzauste, angekohlte Federkleid und seine Augen sind fest zusammengekniffen. Zwei Dinge haben uns gerettet, denke ich, als ich mich im Fall mehrfach überschlage, blind nach Hunters Pokéball taste und ihn zurückrufe. Wir waren zu schnell, deswegen konnte Smogmog nicht den perfekten Moment abpassen. Und der Wind hat uns in letzter Sekunde nach oben abgetrieben, sodass unsere Distanz zu der Explosion größer wurde. Schnelligkeit und Frosdedjes Eingreifen haben Hunter und mir das Leben gerettet. Der Eiswind zieht plötzlich an mir, verlangsamt meinen Sturz, der nur ein paar Sekunden gedauert haben kann, dann packt Zapdos mich mit seinen Krallen aus der Luft, schleudert mich in die Höhe und taucht unter mir entlang, sodass ich vor Dark auf den elektrisch geladenen Federn lande. „Geht es dir gut?“, fragt Dark, von dessen Kontrolle über seine Emotionen dieses Mal nichts zu spüren ist. „Kannst du mich hören? Hast du Schmerzen?“ Mein Kopf und meine Ohren dröhnen, aber immerhin ist das Piepen etwas leiser geworden, sodass ich Darks Stimme ausmachen kann, auch wenn es klingt, als wäre eine dicke Glaswand zwischen uns. Ich nicke und lasse meinen Kopf zur Seite sacken, um einen Blick an Zapdos vorbei in die Tiefe zu werfen. Während unserer Verfolgungsjagd habe ich die Orientierung verloren, aber dem dichten Wald nach zu urteilen, müssen wir südöstlich von Route 8 ausgekommen sein. Wir sind dem Boden näher als zuvor, aber Zapdos schlägt bereits kräftiger mit den Flügeln, um zu Staraptor und Lambda aufzuschließen, die dank der Explosion einen Vorsprung gewonnen haben. Allerdings fehlt ihnen der Dunkelnebel und selbst in dem Regenschauer, den Zapdos hervorgerufen hat, kann ich sie im Nachthimmel gut erkennen. Das Wetterleuchten in den Wolken hilft nicht unwesentlich, denn Staraptor ist eine pechschwarze Silhouette vor der violetten Wolkenfront. „Du hast wirklich ein Talent darin, dein Leben zu riskieren“, murmelt Dark unwirsch, atmet tief durch und spricht dann in gewohnt kühler Manier weiter. „Halt dich gut fest. Lambda ist Teil des Vorstands. Wenn die Polizei ihn festnehmen kann, wird das meinem Vater sehr schwächen.“ „Was ist mit Zach?“, frage ich und drehe den Kopf, um zu Dark hinaufzuschauen, aber sein Gesicht ist weiterhin hinter der Zwottroninmaske verborgen. Mein Magen überschlägt sich, als Zapdos weiter Geschwindigkeit aufnimmt und Staraptor wie ein Blitz hinterherjagt. „Wenn Lambda wusste, dass es eine Falle ist, warum haben sie Zach dann in den Untergrund geschickt?“ Dark schweigt. „Zacharias war bei seinem Eintritt allen ein Rätsel“, sagt er schließlich. „Er war stark genug, um schnell zu Rang 1 aufzusteigen, aber er kam aus dem Nichts. Er hatte keine Gründe, seinen Ruf zu riskieren und das hat viele misstrauisch gemacht, aber letztlich hat er sich nie etwas zu Schulden kommen lassen.“ Ich denke an Mels Zweifel auf dem Indigo Plateau zurück und nicke. „Ich habe Team Rocket verlassen, bevor sich daran etwas änderte“, fährt Dark fort und lehnt sich etwas nach rechts, um Zapdos in eine sanfte Kurve zu leiten, die uns Staraptor ein kleines bisschen näher bringt. „Aber wenn Atlas Zacharias als eine Bedrohung wahrgenommen hat, würde er ihn als Lockvogel vorschicken. Wäre alles nach Plan gelaufen, hätte er die Polizei in einem Hinterhalt beseitigt und Zacharias zurückgelassen.“ „Aber er hat nicht mit uns gerechnet“, sage ich leise und setze mich, mit Darks Hilfe, etwas aufrechter hin. Mein Blick folgt Lambda, der durch die Dunkelheit jagt und noch immer glaubt, er könne uns entkommen. Mein Lächeln wird grimmig. Sku, Gott, Hunter… Sie alle haben für mich gekämpft und Verletzungen davongetragen. Jetzt werden Dark und ich diese Nacht zu Ende bringen. Und zwar siegreich. „Gut festhalten“, murmelt Dark und schlingt einen Arm um meine Taille. Seine Flugerfahrung übersteigt meine bei weitem und als Zapdos noch eine Spur schneller wird und der Wind um uns herum kälter, bin ich dankbar, mich nicht selbst festhalten zu müssen. Meine Beine fühlen sich an wie Gummi. Dark schnalzt mit der Zunge und Frosdedje wird auf sein Kommando hin neben uns sichtbar. Ich dachte nicht, dass sie mit Zapdos´ derzeitiger Geschwindigkeit mithalten könnte, aber sie scheint sich seit Beginn unseres Fluges in einen kleinen Blizzard gehüllt und von dem eisigen Wind mitgetragen lassen zu haben. Ihr klirrendes Lachen ertönt zwischen zwei Donnergrollen, als sie neben uns entlang schwirrt und den niederprasselnden Regen zu Hagel gefriert. Ich weiß nicht, ob ich das Signal zum Angriff verpasst habe oder ob die Kommunikation zwischen Dark und seinen Pokémon so perfekt ist, dass sie nicht miteinander reden müssen. Tatsache ist, dass Zapdos plötzlich einem letzten Spurt startet, kleine Zickzack-Manöver fliegt und einen Donnerblitz auf Staraptor niederfahren lässt, dem das Vogelpokémon nur durch einen scharfen Schwenk zur Seite ausweicht. Dort wartet bereits Frosdedje. Ihr Eisstrahl schießt knackend auf Staraptor zu und verfehlt es um wenige Zentimeter. Lambda schreit seinem Pokémon etwas zu, aber ich kann die Worte nicht verstehen. Staraptor schlägt wie wild mit den Flügeln, dreht sich halb in der Luft und schraubt sich über uns empor. Plötzlich wird der Wind stärker, reißt Frosdedje von ihrer Position und zieht sie mit sich und zwingt Zapdos, seinen zweiten Donnerblitz zu unterbrechen, um nicht selbst vom Kurs geblasen zu werden. Der Wirbelwind bombardiert uns mit Hagel, Regen und nimmt mir die Luft. Darks Griff um meinen Bauch festigt sich und wir klammern unsere Beine enger um Zapdos Körper, als das Legendäre von dem immer stärker werdenden Wind erfasst wird und in Schräglage gerät. „Plan B?“, presse ich hervor und kralle meine Finger dabei so tief in Zapdos´ Gefieder, dass sie zu kribbeln beginnen. Dark antwortet nicht. Stattdessen lässt er sich seitlich kippen, während er Zapdos weiterhin mit seinen Beinen umklammert. Zapdos widersteht nur einen Sekundenbruchteil, dann legt es die Flügel an und lässt sich fallen. Zunächst reißt der Wirbelwind uns im freien Fall mit sich und wir drehen uns so rasant um die eigene Achse, dass ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Kurz bevor ich das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen, verlieren die Winde jedoch an Kraft und wir fallen nur noch in die Tiefe, was mir bewusst macht, dass Dark und ich kopfüber hängen. „Toller Plan!“, schreie ich und versuche dabei nicht mal, die Angst aus meiner Stimme zu halten. „Wirklich wahnsinnig toll!“ Zapdos gibt ein Geräusch von sich, dass ich mit viel Fantasie als Zustimmung deute, dann breitet es die Flügel aus, dreht sich ein paar Mal in der Luft und kommt schließlich wieder in Normallage aus, von wo es Geschwindigkeit aufnimmt und senkrecht in den Himmel schießt. Erst jetzt sehe ich, dass wir unter dem Wirbelwind hindurchgefallen sind und nun im windstillen Auge wieder auftauchen – direkt unter Staraptor. „Nochmal Donnerblitz“, befiehlt Dark und aus dem Himmel schießt ein Blitz herab, der wenige Zentimeter neben Staraptor niedergeht. Der Vogel gibt ein erschrockenes Kreischen von sich und schaut zu uns herab, während wir weiter in seine Richtung rasen. Der Wirbelwind legt sich und an der Art, wie es die Flügel zu einem Sturzflug anlegt, bin ich sicher, dass es jetzt in die Offensive gehen wird. Frosdedjes Eisstrahl trifft es genau in diesem Moment in den Rücken. Eine Eisschicht breitet sich über dem Flugpokémon aus und immobilisiert Lambda, dessen Mund mitten in seinem Schrei gefriert. Sie stürzen herab und geradewegs an uns vorbei in die Tiefe. Zapdos legt die Flügel an und rast hinterher, greift Lambda von Staraptors Rücken und schleudert ihn, wie zuvor mich, auf seinen Rücken. Drei Personen sollten auch für ein Legendäres problematisch sein, aber dann erklingt Frosdedjes Lachen hinter uns und ich meine, den kühlen Aufwind zu spüren, der Zapdos in seinem Flug unterstützt. Ich schnappe mir den einzig unbesetzten Pokéball an Lambdas Gürtel und rufe Staraptor zurück, bevor es in seinen Tod stürzen kann, dann atme ich erleichtert aus und lehne mich nach hinten gegen Dark. „Wir sollten schnell zurück“, murmele ich erschöpft, obwohl Zapdos schon längst die Richtung geändert und Kurs auf Route 8 genommen hat. „Er wird nicht ewig bewusstlos bleiben.“ „Lange genug, um ihn an Rocky übergeben zu können“, erwidert Dark, gerade laut genug, dass ich ihn trotz Windrauschen verstehen kann. „Wir müssen dich und deine Pokémon in ein Pokécenter bringen. Die Explosion und Venuflibis´ Angriffe haben euch viel Schaden zugefügt.“ Ich nicke nur, zwinge mich, die Augen offen zu halten. Der Wind, Darks Oberkörper, das sanfte Knistern unter meinen Fingern… Plötzlich kann ich mir keinen besseren Ort für ein Nickerchen vorstellen. „Nicht schlafen“, sagt Dark leise. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber ich könnte wetten, dass er sich ein Lächeln verkneift. Am Einschlafen hindert mich diese Erkenntnis jedoch nicht.   Wir landen etwa fünfzehn Minuten später vor der Unterführung, zumindest laut Dark. Ich war zwischenzeitlich im Land der Träume und steige jetzt mit wackligen Beinen von Zapdos´ Rücken. Louis´ Arme, die mich umschließen, kaum dass ich einen Fuß auf den verwüsteten Untergrund setze, kommen mir gerade recht und ich lasse mich in seine Umarmung sinken. Mein aufgerissener Arm, den ich während des Gefechts fast vergessen habe, pocht und brennt nun wieder schmerzlich, aber ich besitze trotzdem noch die Geistesgegenwart, Louis zu mustern. Außer einem Schnitt an der Wange und einer kleinen Verätzung an seinem Unterarm scheint er unversehrt. „Du siehst halbtot aus“, murmelt er in mein Ohr und ich gluckse, bevor ich mich schweren Herzens von ihm löse, um Dark dabei zu beobachten, wie er Frosdedje zurückruft und einen Streit zwischen seinen beiden Kampfpokémon schlichtet, bevor er Lambda in Lucarios Obhut gibt, der das langsam erwachende Vorstandsmitglied mit stählernem Griff festhält. Kapilz schmollt und wird zusammen mit Zapdos zurückgerufen. „Habt ihr die Rockets schon festgenommen?“, frage ich, während ich mich an Louis lehne, der die Nähe sehr zu genießen scheint. „Darks Pokémon haben ganze Arbeit geleistet“, erklärt Louis grinsend. „George und Martin mussten sie davon abhalten, jeden Rocket doppelt KO zu schlagen.“ Ich schlucke. „Was ist mit Rocky?“ Louis schüttelt den Kopf. „Noch nicht aus der Unterführung raus. Wir wollten eben runter, um ihr und Holly zu helfen, aber die Tür ist blockiert und an den Rändern mit der Wand verschmolzen. Wir sind nicht reingekommen. Aber wenn sie gegen Zach kämpfen, wird die Unterführung das natürlich nicht einfach so wegstecken. Die Tunnelgänge sind nicht für solche Kämpfe gemacht.“ Ich will zu einer Antwort ansetzen, da ertönt ein lautes Klong aus Richtung der Unterführung. Louis legt einen Arm um meine Taille und hilft mir, dem Geräusch entgegenzugehen. Als wir näher kommen, entdecke ich das gute Dutzend Rockets, das mit Handschellen versehen bewusstlos neben einem großen Felsen liegt. George und Martin stehen selbstgefällig daneben, heben aber nun die Köpfe. Holly tritt hinaus ins Freie und atmet einmal tief ein und aus, dann tritt sie zur Seite und macht Platz für den Rest. Ein sehr mitgenommen aussehendes Arkani kommt durch die Tür, schüttelt sich Staub und Sand aus dem getigerten Fell und dreht den Kopf nach hinten. Dann folgen Rocky, Jack, zwei Polizisten, die ich nicht kenne – und Zach. Mein Herz zieht sich bei seinem Anblick schmerzhaft zusammen. Der schwarze Mantel ist zerrissen und angesengt, sein Haar hängt ihm tief ins Gesicht und seine Hände sind hinter seinem Rücken zusammengekettet. Sein Gürtel mit den Pokébällen liegt sicher in Jacks Händen, der sich sein siegreiches Grinsen nicht verkneifen kann. Als er mich entdeckt, zwinkert er mir zu. Dann entgleist sein Gesichtsausdruck. „Abby?“, fragt Louis besorgt und streicht eine Träne von meiner Wange. „Alles in Ordnung? Sie haben ihn. Alles ist gut.“ Ich schüttele den Kopf, schließe die Augen. Sie haben Zach. Und es ist meine Schuld. Meine Schuld, dass er als Verräter gebrandmarkt wurde. Meine Schuld, dass er von der Polizei festgenommen wurde. Meine Schuld. „Abby-“ „Später“, flüstere ich und öffne meine Augen. Zach hebt den Kopf, als er meine Stimme hört und schaut mich an. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Wut, vielleicht. Enttäuschung. Nicht Müdigkeit. Nicht Leere. Ich wende den Blick ab und vergrabe mein Gesicht in Louis Schulter. Mein frustrierter Schrei verklingt im Stoff seiner Jacke. Aus den Bergen erschallt Absols Wehklagen.  Kapitel 98: Ein neues Ziel (Bitterkeit und Schlaftabletten) ----------------------------------------------------------- Schwester Joy lässt erschöpft das Verbandszeug sinken und dreht sich zu mir und Louis um. Wir sitzen an die Wand gelehnt auf einem der leeren Behandlungsbetten und erwarten schweigend ihr Urteil. Hunter ist noch immer bewusstlos, wurde aber zwischenzeitlich wach, als Joy sich an seinem versengten Brustkorb zu schaffen gemacht hat. Nun verdecken dicke, weiße Mullbinden den größten Teil seines Gefieders. "Er wird es überstehen", sagt sie und ich atme erleichtert aus. Sku hat ihre Begegnung mit Venuflibis bis auf zwei angeknackste Rippen gut überstanden und Gott musste nicht mal in Joys Extrabehandlung. Die Heilmaschine hat ihn wieder auf Vordermann gebracht, auch wenn die abgerissenen Schuppen nicht wieder nachwachsen werden und sein Körper nun an diversen Stellen schlitzförmige Narben aufweist. „Du solltest ihn für die Nachsorge in einem Pokécenter lassen“, fährt sie fort. „Er braucht absolute Ruhe, um sich von den Verbrennungen und dem Schock zu erholen. Keine Kämpfe, kein Fliegen. Du kannst ihn in drei oder vier Wochen in einem Pokécenter deiner Wahl abholen. Wir schicken ihn dann dorthin.“ Ich nicke und rufe Hunter in seinen Pokéball zurück. Joy kommt mit den Mullbinden zu mir und beginnt, wortlos meinen Arm zu verbinden. "Das war kein normaler Kampf", sagt sie nach einer Weile, ohne von meinem Arm aufzusehen. "Solche Verletzungen zieht sich kein Pokémon in einem geregelten Kampf zwischen zwei Trainern oder mit einem wilden Pokémon zu." Ich unterdrücke ein schlecht getimtes Gähnen. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfährt. "Schon gar nicht um vier Uhr nachts", fügt sie hinzu. Sie schweigt wieder, öffnet ihren Mund jedoch einige Male, als wolle sie etwas sagen. Ich zwinge meine Augen, offen zu bleiben. "Sie können mich jetzt zurechtweisen", sage ich leise. Meine Stimme klingt vor Müdigkeit und innerer Taubheit beinahe desinteressiert, und dieser Unterton ist es wohl, der Joy den Mut gibt, mit einer Schimpftirade zu beginnen, die ich von ihr nicht erwartet hätte. Die Worte schlechter Trainer, unverantwortlich und entzogene Trainerlizenz fallen mehr als einmal. Ich bringe es nicht fertig, ihr genau zuzuhören. Louis drückt sanft die Finger meiner linken Hand. Ich nicke ihm dankbar zu und gähne erneut. Ich bin müde. Mein gesamter Körper tut weh, speziell mein Arm, trotz der Heilsalbe und des Verbands, den Joy nun fertig angelegt hat. Aber meine Gedanken drehen sich wie ein Karussell, immer weiter, bis mir in meinem eigenen Kopf schwindelig wird. Es fühlt sich ähnlich an wie unser Sturz durch den Wirbelwind. Zach ist von Rocky und den anderen Polizisten festgenommen worden und sitzt wahrscheinlich in diesem Moment im Gefängnis, oder im Polizeipräsidium, um befragt zu werden. Seine Pokémon werden von ihm ferngehalten. Richard wird in den nächsten Tagen neu verhört werden, bevor Rocky ihr Versprechen wahrmachen und ihn freilassen wird. Und Caro. Ich muss Caro anrufen. Und Alfred. Und Raphael. Ich schließe meine Augen. Mir fehlt die Kraft, mich jetzt damit auseinanderzusetzen. Irgendwo in meinem Hinterkopf weiß ich, dass ich, sollte ich jetzt zu lange über alles nachdenken, zusammenbrechen werde. Louis´ Druck um meine Finger wird fester und ich öffne meine Augen. Joy schaut mich lange an. "Dir geht es nicht gut", sagt sie schließlich. Fast fühle ich mich schlecht, dass ihre Zurechtweisung völlig an mir vorbeigegangen ist. "Was ist passiert?" Ein humorloses Lachen entweicht meinem Mund, bevor ich es zurückhalten kann. "Viel", sage ich. "Zu viel." Louis schaut besorgt zwischen mir und Schwester Joy hin und her. "Haben sie vielleicht ein Schlafmittel, oder so etwas? Ich glaube, sie steht noch unter Schock." "Mir geht´s super", entgegne ich automatisch. "Nein, wirklich. Alles bestens. Ich habe nur das Leben eines Freundes ruiniert, aber das ist ja nichts Neues." Ich kann die Bitterkeit nicht aus den letzten Worten heraushalten. "Abby…" "Es ist okay!", fahre ich ihn an, ohne nachzudenken. "Als wenn du verstehen könntest, wie ich mich gerade fühle. Zach wurde verhaftet und das ist alles meine Schuld und du weißt nichts -" "Wie soll ich wissen, was passiert ist, wenn du es mir nie erzählt hast?", entgegnet Louis frustriert und bringt mich mit seinen Worten zum verstummen. Joy rollt auf ihrem Stuhl etwas zurück. "Das ist diese Sache, die du mir nie erzählen konntest, oder nicht? Die andere Leute betrifft. Ich hab´s kapiert. Irgendwas ist zwischen Zach und dir und dafür gibst du dir jetzt die Schuld. Ich sage dir jetzt mal was. Nicht alles, was schief geht, ist auf deinem Mist gewachsen, also erspar mir dein Gejammer darüber, dass du verantwortlich bist. Was soll deine Schuld sein? Dass sie Zach gefangen nehmen konnten? Die Polizei hätte so oder so von der Übergabe erfahren und Zach wäre so oder so da gewesen. Du hattest damit nichts zu tun. Das einzige, was du beeinflusst hast, war Richards Freilassung, also hör auf, dich unter Schuldgefühlen zu begraben! Es hat Winry nicht geholfen und Zach wird es auch nicht retten!" Schweratmend kommt er zum Ende. Ich starre ihn an. Joy räuspert sich. Immer noch unter Schock wende ich den Blick von Louis´ Gesicht ab, auf dessen Wangen sich rote Flecken gebildet haben. Sie reicht mir ein kleines Päckchen. "Schlaftabletten", sagt sie und drückt sie mir in die Hand. Dann geleitet sie uns nach draußen, wo Dark bereits an die Wand gelehnt auf uns wartet. Hundemon hat sich von dem Kampf ohne Probleme erholt und sitzt mit gespitzten Ohren neben ihm, auch wenn ich an seinem Ausdruck erkennen kann, dass es sich diese Nacht deutlich anders vorgestellt hat. Bevor ich Louis folgen kann, legt Joy eine Hand auf meine Schulter und mustert mich einen Moment, bevor sie leise spricht. "Ich verstehe, dass ihr drei heute Nacht einiges durchgemacht habt und von den Polizisten, die ihre Pokémon hier geheilt haben, glaube ich zu wissen, gegen wen ihr kämpfen musstet." Sie zieht die Stirn kraus. "Die Polizei hätte niemals so tief sinken dürfen, dass sie Kinder für sich kämpfen lässt, aber darauf habe ich keinen Einfluss. Ich bitte dich nur, dir was immer passiert ist, nicht so sehr zu Herzen zu nehmen. Nimm die Tabletten, wenn du das Gefühl hast, nicht einschlafen zu können und hör auf deinen Freund. Ich weiß zwar noch weniger über diese Situation als er, aber ich glaube, er hat Recht." Sie drückt meine Schulter zum Abschied und kehrt ins Pokécenter zurück. Einen Moment lang bleibe ich vor dem Eingang stehen und schaue ihr hinterher. Dann schüttele ich meinen Kopf und gehe zu Louis und Dark.   Als ich am nächsten Morgen in meinem Zimmer im HQ erwache, fühle ich mich so erholt wie schon lange nicht mehr. Gut, mein Kopf fühlt sich ein bisschen schwammig an und mein Mund ist trocken, aber ich weiß mit ziemlicher Klarheit, dass ich noch nie so tief geschlafen habe. Nicht ganz so klar ist mir, warum ich im HQ bin. Oder wie ich hergekommen bin. Oder was gestern… Die Erinnerung fallen an ihren rechtmäßigen Platz und das gute Gefühl, mit dem ich diesen Tag begonnen habe, verflüchtigt sich augenblicklich. Zachs Festnahme, Hunters Verletzungen und schließlich mein Streit mit Louis bringen mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Mir wird bewusst, dass wir seit dem Vorfall im Pokécenter kein Wort miteinander gesprochen haben, hauptsächlich deshalb, weil ich mit Dark auf Zapdos zurück nach Prismania City geflogen bin, während Louis uns mit Joey gefolgt ist. Danach habe ich eine der Schlaftabletten genommen und mich unter meiner Decke verkrochen. Vorsichtig drehe ich mich um. Es ist zu dunkel, um etwas erkennen zu können, aber ein leises Schnarchen ist von Chris´ Bett zu hören und ich weiß mit ziemlicher Sicherheit, dass Chris noch immer mit Jayden am Silberberg trainiert. Wären sie zum HQ zurückgekommen, und sei es nur kurz, hätten sie dem restlichen Team per S-Com Bescheid gegeben. Ich warte in der Dunkelheit, bis Louis´ Schnarchen abbricht und er sich unter seiner Decke rührt. "Es tut mir leid", flüstere ich in die Stille. Die Bewegung im anderen Bett stoppt. "Ich war ein Idiot und du hattest Recht. Es tut mir leid." Die Decke wird zur Seite gezogen und Louis tapst barfuß zu mir hinüber. Ich habe kaum Zeit, zu protestieren, als er meine Decke zur Seite zieht und zu mir ins Bett schlüpft. Meine Überraschung hält nur wenige Sekunden an, dann lächle ich und lasse mich von ihm in eine enge Umarmung ziehen. "Du warst aufgebracht und emotional total durch den Wind", murmelt er in mein Ohr. "Ich habe mich auch schon oft wie ein Idiot benommen." Er zögert, spricht dann aber weiter. "Du hast mir immer noch nicht gesagt, was genau mit Zach und dir passiert ist." Ich seufze und lehne mich enger an ihn. Dann beginne ich, zu erzählen.   "Kommst du rein?", frage ich über Ryans Schulter hinweg, der falschherum auf seinem Schreibtischstuhl sitzt und zwischen drei Computerbildschirmen hin und her rollt, die Tastaturen malträtiert und schwungvoll einen Schluck Dosenkaffee trinkt, bevor er sich wieder an Bildschirm Nummer Eins zu schaffen macht. Louis steht ehrfürchtig neben mir. In Sachen Computer sind wir an Unfähigkeit gleichauf, allerdings scheint Ryan ihn mit seinem Getippe sehr viel mehr zu beeindrucken, als  mich. "Ich werde dir den Gefallen tun und deine Zweifel an meinen Fähigkeiten darauf zurückführen, dass du von Computern weniger verstehst als ein debiles Dummisel", sagt Ryan und wechselt den Computer, ohne zu mir aufzuschauen. "Allein die Tatsache, dass der S-Com sich auf Tastendruck selbstständig in die Polizeiserver einschleust und von mir dazu programmiert wurde, sollte deine Frage beantworten. Aber um es für dein begrenztes Auffassungsvermögen verständlich auszudrücken: Ja, Abbygail, ich bin in der Lage, mich in den Zentralcomputer des Gefängnisses einzuhacken und wie du siehst, ist mir das schon längst gelungen." Er drückt demonstrativ eine Taste, die ich mit ein wenig Stolz als Enter identifiziere, und der mittlere der drei Bildschirme wird schwarz, bevor das Bild zurückkehrt und uns Aufnahmen zeigt, die von Überwachsungskameras kommen müssen. "Der Hammer!", ruft Louis begeistert. Ryan dreht sich auf seinem Stuhl herum, schaut zu Louis und dann zu mir. "Ich mag deinen Freund. Nicht besonders eloquent, aber er erkennt ein Genie, wenn er es sieht. Bring ihn öfter her." Ich ignoriere ihn und beuge mich zu dem Bildschirm vor. "Da!", sage ich und deute auf ein kleines Quadrat am linken Rand. "Kannst du ranzoomen?" Ryan seufzt und gibt ein paar kurze Tastenkommandos ein. Im nächsten Moment erfüllt das Quadrat den gesamten Bildschirm.   Zach sitzt alleine in einer kleinen Zelle, die außer einem schmalen Bett, einem Klo und einem spärlich bestückten Regal unmöbliert ist. Sein Kopf ist an die graue Wand hinter ihm gelehnt, seine Augen von den schwarzen Haarsträhnen verdeckt. Gerade, als ich Ryan sagen will, dass ich genug gesehen habe, hebt er den Kopf und die Tür öffnet sich. Zwei Polizisten treten ein, legen ihm wieder die Handschellen an und führen ihn hinaus. "Kannst du ihm folgen?", frage ich. Ryan murmelt etwas Unverständliches, beginnt aber auf der Tastatur zu tippen und nach einigen Bildwechseln entdecke ich Zach, wie er von den Polizisten einen langen Gang entlang geführt wird. Einige Male verschwindet er aus dem Kamerabild, aber Ryan braucht nie lange, um ihn wieder ausfindig zu machen und schließlich wird er in einen Befragungsraum geleitet. Ryan macht sich wieder an der Tastatur zu schaffen, aber keine der Kameraeinstellungen filmt, wo sie Zach nun festhalten und er gibt ein frustriertes Grummeln von sich. "Die Kameras dort sind mit einem anderen Server verbunden, den ich noch nicht geknackt habe." Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "Oh bitte, Abby, es wird kein Problem sein, mich dort einzuschleusen. Aber ich kann nicht-" Der rechte Bildschirm, über den bisher nur grüne Schrift gerast ist, beginnt plötzlich, Warnmeldungen zu öffnen und rot zu blinken. Der linke folgt innerhalb weniger Sekunden. "Was ist?", frage ich panisch und mache einen hastigen Schritt zur Seite, als Ryan fluchend nach rechts rutscht und auf die Tasten hämmert. "Sie haben mich entdeckt", sagt er und rollt zu dem anderen Bildschirm. "Ich muss raus, bevor sie meine Verbindung zurückverfolgen." Ich werfe einen letzten Blick auf den mittleren Bildschirm, dessen Aufnahmen hektisch flimmern und unkontrolliert wechseln. Im letzten Bild, bevor die Verbindung von Ryan gekappt wird, entdecke ich Richard, der in seiner eigenen Zelle auf dem Bett liegt und mit hassverzerrtem Gesicht an die Decke starrt. Galle steigt in meiner Kehle auf, als ich daran denke, dass dieser Blick bald mir gelten könnte.   Wir haben die Schaltzentrale kaum verlassen, da ertönt das charakteristische Pling des S-Coms in meiner Hosentasche. Ich ziehe das Gerät hervor und entdecke die Nachricht, die gerade eingetroffen ist.   Von: Dark_01 An: Abbygail_Hampton_04 »Meeting im Gemeinschaftsraum. »Jetzt.   "Nett", murmelt Louis. Ich schmunzele, hake mich bei ihm unter und ziehe ihn in Richtung Aufzug. "Er ist immerhin mein Anführer", sage ich und pieke Louis gleichzeitig mit meinem Ellenbogen in die Rippen. "Er befiehlt, ich gehorche." "Das will ich sehen, wie du jemandem gehorchst", meint Louis grinsend und folgt mir in den Aufzug. Wir betreten den Gemeinschaftsraum nur wenige Minuten später. Dark sitzt wie so oft auf der gegenüberliegenden Couch, nahe der Lehne, sodass er Hundemons Kopf kraulen kann, ohne seinen Arm zu sehr strecken zu müssen. Das Feuerpokémon sitzt hechelnd an seiner Seite und schaut mich mit großen Augen an. Der fünfte Pokéball in meinem Gürtel beginnt heftig zu vibrieren. Ergeben befreie ich Priss, die mich wütend anfaucht und sich zwischen Hundemons Vorderpfoten flüchtet, wo sie ihren Kopf an seine Beine reibt und sich unter seinem warmen Bauch zusammenrollt. "Was gibt´s, Anführer?", frage ich und lasse mich wenig elegant auf eins der freien Sofas plumpsen. Louis folgt. Er nimmt seinen Blick nicht von Dark und ich rolle die Augen. Inzwischen sollte er begriffen haben, dass Dark mir nichts Böses will. Während der Übergabe hat er mir immerhin das Leben gerettet. Dark ignoriert meinen spöttischen Unterton gekonnt. "Du hast sicher Chris´ Nachricht erhalten, dass Ronya Entei gefangen und sich auf den Weg nach Kanto gemacht hat." Ich nicke. An dem Abend hatte ich mit Julius und dem PCN-Interview zwar andere Sachen im Kopf, aber ich erinnere mich vage. "Ich möchte, dass du sie triffst und mit ihr über ihren Eintritt in Team Shadow verhandelst." "Bitte was?" Mein Mund steht einen Moment lang offen, bevor ich ihn abrupt schließe. "Du willst mich zu ihr schicken?" Dark nickt. Ein Lächeln zurrt an seinen Mundwinkeln, aber er lässt es nicht ganz zu. Hundemon hechelt dafür umso fröhlicher und senkt sogar den Kopf, um Priss´ über den Kopf zu lecken. Sie gibt ein tiefes Schnurren von sich. "Team Rocket weiß spätestens ab heute, dass Lambda, Zach und ihre anderen Mitglieder von der Polizei festgenommen wurden. Die Nachrichten werden schon bald in den Medien verbreitet werden. Sie wissen möglicherweise auch, dass du und ich zu diesem Rückschlag beigetragen haben. Es würde mich nicht wundern, wenn einige der Rockets als Spione im Hintergrund geblieben sind, um den Verlauf des Kampfes an Atlas weiterzuleiten." "Ich hatte ohnehin vor, nach der Übergabe Saffronia zu verlassen", gebe ich nach einem Moment des Nachdenkens zu. "Aber ich dachte, du würdest mich hier behalten wollen, damit Mel mich nicht finden kann." "Es stimmt, dass du hier im Hauptquartier am sichersten wärst", stimmt Dark zu. "Andererseits habe ich lange genug mit dir zusammengearbeitet, um zu wissen, dass Untätigkeit sich nicht gut mit deinem Charakter verträgt. Ich würde dich selbst beschützen, aber die Polizei hat sich dank deines Einsatzes interessiert an meinen Fähigkeiten gezeigt und außerdem werde ich mein Training wieder aufnehmen. Hätte Zapdos den nötigen Level besessen, alleine gegen Lambda und Staraptor vorzugehen, hätte ich seine Geschwindigkeit nicht durch Frosdedje limitieren müssen und wir hätten Lambda schneller zur Strecke gebracht." Ich schweige einen Moment lang. Es klingt verlockend. Ich kann nur noch nicht ganz fassen, dass gerade Dark mir anbietet, wieder loszuziehen und in potentielle Gefahren zu geraten, wo er mir vor meiner Abreise nach Saffronia so deutlich klar gemacht hat, dass er mich nicht von der Leine lassen möchte. "Und warum soll ich Ronya überreden?", frage ich daher. "Sicher hast du schon Kontakt mit ihr aufgenommen." Er nickt. "Aber ich bin am Ende mit meinen Möglichkeiten der Überzeugungskraft. Und da du es geschafft hast, jemanden wie Ryan auf unsere Seite zu bringen, bin ich gewillt, dir das Kommando über die zukünftige Rekrutierung zu geben." "Ich bin ziemlich gut im Überreden", stimme ich nach einer Weile zu. Louis zwickt mich in die Wange und der selbstgefällige Ausdruck verschwindet von meinem Gesicht. Er dreht den Kopf zu Dark. "Du hattest Angst, dass Abby wieder von Team Rocket attackiert wird", sagt er ernst. "Warum denkst du, dass sie jetzt in Sicherheit ist?" "Wenn es eine Welt gibt, in der Abby einmal nicht in Gefahr gerät, möchte ich sie sehen", sagt Dark mit einem düsteren Humor. Entgegen meiner Erwartung, dass Louis wütend wird, lacht er laut auf. "Du hast Recht", stimmt er grinsend zu. "Das war zu viel verlangt. Ich glaube, sie ist nicht in der Lage, nicht in Schwierigkeiten zu geraten." "Meine Rede." "Jungs, Jungs", unterbreche ich sie stirnrunzelnd. Es gefällt mir gar nicht, in welche Richtung sich die Unterhaltung hier entwickelt. "Ich bin noch hier. Zurück zum Thema, bitte?" Hundemon kläfft fröhlich und Dark lehnt sich auf dem Sofa etwas zurück, dann fährt er fort. "Wie ich schon sagte, haben meine Argumente Ronya nicht überzeugt. Natürlich haben wir uns nur über SMS und einen kurzen Anruf verständigt, daher kann es sein, dass ein persönliches Gespräch sich als effizienter erweist. Aber ich habe zu viele Verpflichtungen, denen ich in naher Zukunft nachkommen muss. Chris und Jayden sind in ihr Training vertieft und haben keine Zeit, sich neben ihren Patrouillen in Kanto und Johto auch noch um Ronya zu kümmern und Ryan wird seine Schaltzentrale nicht verlassen. Abgesehen davon nützt er uns hier sehr viel mehr. Seine Hacker-Fähigkeiten werden für unsere zukünftigen Kämpfe benötigt und als Ansprechpartner muss immer jemand im HQ sein." "Damit bleibe dann wohl nur ich", gestehe ich und lehne mich etwas enger an Louis. "Und da Ronya wahrscheinlich so stark wie ihr alle ist, werde ich genug Schutz haben, sollte Team Rocket angreifen." Ich zögere. "Aber ich werde eine Weile weg sein, oder? Zumindest getrennt von dem Rest von Team Shadow." Dark nickt.   Mein Blick fällt zu Priss, die mich mit großen, vorwurfsvollen Augen ansieht. Selbst Hundemon unterdrückt ein Winseln. Ich presse meine Lippen aufeinander. Schließlich jedoch seufze ich, nehme Priss´ Pokéball von meinem Gürtel und werfe ihn zu Dark, der den Plastikball überrascht fängt. Dass es ihm trotzdem mit einer einzigen Hand gelingt, irritiert mich mehr, als es sollte. Angeber, denke ich missmutig und erhebe mich. Louis wirft mir einen unsicheren Blick zu. "Pass solange auf sie auf", sage ich an Dark gewandt und zwinge mich zu einem Lächeln. Ich habe kein Recht, eifersüchtig zu sein. Priss kann nichts dafür, dass sie sich in dieses Überpokémon verliebt hat, also sollte ich mich nicht enttäuscht oder verraten fühlen. "Ich will unsere Prinzessin hier schließlich nicht wochenlang von ihrem Prinzen fernhalten." Dark hält den Pokéball unschlüssig in seinen Händen. "Bist du sicher?" "Ich habe sie dir nicht geschenkt", entgegne ich unwirsch. "Sie ist immer noch mein Pokémon. Aber wenn sie lieber bei Hundemon bleibt, habe ich kein Recht, sie mit mir mitzuschleifen." Eigentlich will ich weiterreden, aber ich merke, wie meine Stimme den bitteren Ton annimmt, den ich gestern bei Louis verwendet habe und nichts Gutes kommt jemals aus meinem Mund, wenn ich diesen Ton benutze, also schließe ich ihn entschlossen. Dark schaut hinab zu Hundemon und Priss, die verwirrt zwischen dem Pokéball und mir hin und her sieht. Dann faucht sie, springt in Darks Schoß und schlägt den Pokéball aus seinem losen Griff, zurück in meine Richtung. Ein letzter, sehnsüchtiger Blick zu Hundemon, bevor sie über die Sofalehnen zu mir läuft und auf meinen Kopf klettert. "Die Prinzessin hat wohl ihre Wahl getroffen", meint Louis breit grinsend und hebt den Pokéball für mich auf. "Nimm´s nicht so schwer Dark, du findest schon noch ein Mädchen, dass deine Nähe erträgt." "Louis!", rufe ich entsetzt und schlage nach seiner Schulter. Er weicht geschickt aus, vermutlich mit den Reflexen, die er in Hartwigs Dojo gelernt hat. Dark schüttelt nur amüsiert den Kopf und krault Hundemons Schnauze. "Ihr solltet bald abreisen", rät er mir. "Ich kenne Ronyas Koordinaten nur von unserem letzten Gespräch und das ist schon einige Tage her." "Und die wären?", frage ich und ignoriere Priss, die mir neckisch in mein Ohr beißt. Er lächelt. "Fuchsania City." Kapitel 99: Kampf um Dominanz (Konfrontation) --------------------------------------------- Nach einem letzten Gesundheitscheck im Pokécenter, bei dem Sku als reisefähig erklärt und der Verband an meinem Arm gewechselt wird, machen Louis und ich uns gegen Mittag des 3. März auf den Weg in Richtung Route 16, die westlich von Prismania abgeht und später zu dem Radweg auf Route 17 führt, der die Meerenge zwischen Prismania und Fuchsania City überbrückt. Natürlich bedeutet das auch, dass Louis und ich uns schon bald in dem kleinen Fahrradverleih wiederfinden, der sich dort vor einigen Jahren etabliert hat. „Haben sie kein billigeres Modell?“, frage ich zum dritten Mal und betrachte das zerkratzte Fahrrad, das der Verleiher mir nach meinen ersten beiden Bitten vor die Nase gestellt hat. Er schnauft und nickt in die hinterste Ecke seines Schuppens, in der ich zwei sehr klapprige Exemplare entdecke. Ich kneife die Augen zusammen. Gut, der Lack ist abgeblättert und gibt den Blick auf starken Rostbefall frei und die Reifen sehen auch etwas abgenutzt aus, aber… „Wir nehmen die hier, danke sehr“, kommt Louis mir dazwischen. Der Verleiher, dessen sonnengegerbte Haut ihm in tiefen Furchen halb vom Gesicht zu fallen scheint, schnauft nur und kehrt zur Kasse zurück, um uns dort die Rechnung auszustellen. Ich werfe Louis einen missbilligenden Blick zu, doch der kommentiert meinen Einwand lediglich mit einer erhobenen Augenbraue. „Hast du dir die Schrotthaufen mal angesehen?“, fragt er ungläubig. „Die brechen doch zusammen, bevor wir aus der Tür sind. Ich will lebendig in Fuchsania ankommen, auch wenn das nicht zu deinen höchsten Prioritäten gehört.“ „Sie kosten aber weniger“, murmele ich und zucke zusammen, als der Verleiher uns den Preis von insgesamt 11.200 PD für unsere beantragten zwei Wochen zuruft. „Und wenn ich den Preis unter 4.000 PD pro Rad handeln kann, reicht mein Geld aus Saffronia sogar noch.“ „Du bist aber nicht darauf angewiesen, es selbst bezahlen zu müssen“, entgegnet Louis unwirsch und wedelt mit dem Stück Papier in seiner Hand herum, auf dem Dark uns einen Check für alle anfallenden Transportationskosten ausgestellt hat. „Wir könnten uns die teuersten Räder hier im Laden ausleihen und es wäre egal.“ „Ich mag es aber nicht, anderen Leuten auf der Tasche zu liegen“, sage ich wütend und ignoriere den genervten Blick, den sowohl Louis als auch der Verleiher mir zuwerfen. „Abby“, sagt Louis und legt ernst seine Hände auf meine Schultern. „Das ist alles sehr nobel und normalerweise würde ich dich für so viel Selbstständigkeit loben, aber du redest totalen Unsinn. Dark – und alle anderen Shadows, wenn ich das richtig mitbekommen habe – schwimmen in Geld. Wenn du mich fragst, sollten sie dankbar sein, dass du ihr Geld für sinnvolle Zwecke verwendest und es nicht auf ihrem Konto verrottet.“ Ich verziehe das Gesicht. Ich hätte ihm gerne ein schlagfertiges Argument an den Kopf geworfen, aber leider weiß ich seit meinem Aufenthalt in Teak City aus erster Hand, wie reich Chris und vermutlich auch die anderen sind. Louis hat Recht. „Und außerdem“, fährt er unbeirrt fort, „bist du auf einer offiziellen Mission. Dark hat dich persönlich nach Fuchsania geschickt, also ist er es dir schuldig, zumindest die Reisekosten zu bezahlen, wenn du schon kein Gehalt bekommst. Das ist im Übrigen der nächste Punkt, den wir ansprechen sollten. Dein Job bei Team Shadow–“ „–ist  kein Job, sondern eine Mitgliedschaft“, betone ich und entziehe mich seinem Griff. „Aber ich werde Dark die Kosten übernehmen lassen“, lenke ich ein, als Louis den Mund für einen erneuten Protest öffnet. Stattdessen grinst er überheblich und gibt mir einen schnellen Kuss auf den Mund. „Du spielst unfair“, beschwere ich mich, mache ein Schritt auf ihn zu und streiche mit meiner Hand über seine Wange. Louis´ Gesicht beginnt, vor Freude zu glühen. „Ehem.“ Erschrocken springen wir auseinander und schauen zu dem Verleiher, der mit der Rechnung in den Händen direkt hinter uns steht. „Wollt ihr Kinder jetzt die Fahrräder oder nicht?“   Einige Minuten später radeln wir fröhlich den Hang hinab, der zu unserer rechten wieder einmal von erdrückenden Felsmassiven begrenzt ist, doch der Weg ist breit und gesäumt von dichtem Gras, in dem Krokusse und Schneeglöckchen blühen. Priss hat sich bereits beim Verlassen des Fahrradverleihs durch ihren vibrierenden Pokéball bemerkbar gemacht und sich in meiner Kapuze eingerollt und Gott sitzt vor mir im Fahrradkorb, wo er den Gegenwind genießt. Die Wunden in seinem Schuppenpanzer sind gut verheilt und außer als helle Linien nicht mehr sichtbar. „Du hast dich eben ziemlich hinreißen lassen“, ruft Louis mir von seinem eigenen Rad aus zu und tritt etwas kräftiger in die Pedale, um dicht neben mir aufzuschließen. Ich erlaube mir einen kurzen Blick zur Seite. Er grinst breit wie eh und je. „Du hast angefangen“, erwidere ich und trete ebenfalls fester, um ihn abzuschütteln, doch er holt genauso schnell wieder auf. Wieder merke ich, wie viel Training er bei Hartwig bekommen hat, aber dieses Mal bin ich nicht irritiert, nur neidisch. „Ein kleiner Kuss zählt wohl kaum“, verteidigt Louis sich. Ich strecke ihm die Zunge heraus, lasse es aber darauf beruhen. Dann habe ich mich halt hinreißen lassen. Schlimm ist das schließlich nicht und Louis scheint es genossen zu haben. Dank des Weges, den wir bereits auf Route 16 zu Fuß zurücklegen mussten, erreichen wir den eigentlichen Fahrradweg erst am Abend. Nach zwei Stunden Fahrt tun meine Beine weh und den Lenker mit Gotts zusätzlichem Gewicht und nur einer halbwegs funktionstüchtigen Hand zu lenken, ist anstrengender als gedacht. Schließlich jedoch lichten sich Wiesen und Bäume und die Klippe ist erkennbar, von der aus sich das Stahlkonstrukt des Fahrradweges über die gesamte Meerenge spannt. Das Ende ist hinter leichtem Nebeldunst kaum erkennbar, aber ich weiß, dass man zu Fuß mindestens zwei Tage unterwegs wäre. Mit dem Fahrrad lässt sich die Strecke, zumindest aus dieser Richtung, in wenigen Stunden bewältigen. Louis kommt neben mir zum Stillstand und gemeinsam lassen wir unseren Blick über Route 17 schweifen. Vereinzelte Zelte und Schlafsäcke, die auf dem braunen Seitenstreifen der Brücke aufgebaut sind, zeugen von der etwas anderen Natur der Brücke. Viele Trainer, die diesen Weg nach Fuchsania nehmen, nutzen die Gelegenheit, sich in Pokémonkämpfen mit Bikern zu messen, die sich hier zu großen Teilen aufhalten. Nicht alle von ihnen gehören zu der Gruppierung, die mit Team Rocket zusammenarbeitet, trotzdem wird mir bei dem Anblick der vielen Bikes und Motorräder mulmig zu Mute. Louis legt eine Hand auf meine Schulter und nickt mir aufmunternd zu. „Du meintest doch, Chris und Jayden hätten nichts Verdächtiges bemerkt“, beruhigt er mich. „Außerdem sind wir spätestens morgen Nachmittag in Fuchsania.“ Ich schüttele die unliebsamen Gedanken ab und nicke. „Lass uns noch ein Stück weiterfahren, damit wir uns einen Schlafplatz sichern können“, sage ich und gemeinsam radeln wir wieder los. Einige Minuten später erreichen wir einen freien Fleck am Seitenstreifen, der eben ist und dafür in regelmäßigen Abständen in kleinen Stufen nach unten führt. „Dann rollen wir heute Nacht zumindest nicht durch die Gegend“, meint Louis und ich lache. Gotts Knurren lässt mich verstummen. „Na los, komm schon, kämpf gegen mich“, ertönt die Stimme eines Mannes irgendwo hinter uns. Meine Nackenhaare stellen sich auf, aber als ich mich umdrehe, ist die Herausforderung des Bikers nicht an mich gerichtet. Er steht einem Mädchen gegenüber, das selbst ein bisschen wie ein Biker aussieht, mit dem dunkelbraunen Mohawk, den Piercings und den zerrissenen Jeans. Dass sie zierlich und kaum größer als ich ist, passt nicht ganz ins Bild, trotzdem hat sie die Züge einer Siebzehn- oder Achtzehnjährigen. Sie steht an einen der Pfeiler gelehnt und hat die Augenbrauen zusammengezogen. „Nein“, sagt sie und von der genervten Art, wie sie es sagt, ist es nicht das erste Mal, dass sie ablehnt. „Ich will nicht.“ „Jetzt hol schon deine Pokémon raus“, wiederholt der Biker unwirsch. Seine Worte sind begleitet von dem roten Licht, das eins seiner Pokémon ankündigt. Im nächsten Moment steht ein sehr langes, sehr gefährlich aussehendes Cerapendra vor ihm und stampft ungeduldig mit den Füßen auf. Der Biker grinst. „Verteidige dich oder sie greift dich statt deinen Pokémon an.“ „Das geht zu weit“, murmele ich, stelle mein Fahrrad ab, packe Louis an der Hand und ziehe ihn mit mir. Gott folgt augenblicklich und unterbricht sein Knurren auch nicht, als wir direkt hinter dem Biker stehen. Er dreht kurz den Kopf in unsere Richtung, wendet sich dann aber wieder seinem eigenen Pokémon zu. Das Mädchen kratzt sich sichtlich genervt am Kopf und zieht ein mir fremdes Pokédexmodell aus ihrer Hosentasche, die ziemlich tief zu sein scheint, wenn ich bedenke, dass das klobige rote Gerät hineingepasst hat. Sie hält ihn auf ihren Gegner, der verwirrt den Kopf zur Seite legt. „Cerapendra, das Riesenfüßer-Pokémon“, erschallt eine abgehackte Männerstimme einige Sekunden später. „Typ Käfer/Gift. Lähmt seine Beute, indem es sie mit den Zacken an seinem Hals aufspießt. Mit einer Ladung Gift gibt es ihr den Rest. Level 31. Spezialfähigkeit: Giftdorn.“ „Ich werde nicht kämpfen“, wiederholt sie und steckt den Pokédex weg. „Jetzt verpiss dich.“ „Pass auf, du-“ „Gott, Flammenrad“, befehle ich. Er springt vor, holt tief Luft und speit sein gewaltiges Feuerrad auf Cerapendras Chitinpanzer. Das Pokémon gibt ein hohes Winseln von sich und rollt über den Boden, bis die Flammen ausgehen, dann kommt es schweratmend wieder auf die Füße. Der Biker funkelt mich kampflustig an, aber Gott gibt nur ein beängstigendes Grollen von sich und sogar er macht einen Schritt zurück. „Soll ich ihn noch einmal angreifen lassen oder lässt du sie in Ruhe?“, frage ich freundlich nach. Wütend schaut er zwischen mir und dem Mädchen hin und her, dann ruft er sein Pokémon zurück, steigt auf sein Motorrad und rattert davon. „Tut mir leid, wenn er dich belästigt hat“, meine ich und wende mich dem Mädchen zu. „Ich bin Abby und das ist-“ „Du hast ein ziemlich starkes Igelavar“, unterbricht sie mich schamlos und richtet ihren Blick auf Gott. Ihr Augenlid zuckt in sowas wie einer Herausforderung und ich will sie gerade vor Gotts Temperament warnen, da gibt er ein ohrenbetäubendes Knurren von sich und springt dem Mädchen an die Kehle. Ich habe nicht mal Zeit, zu reagieren, bevor ihre Arme vorschnellen und Gott aus der Luft packen. Sie wirft sich auf den Boden, rollt mit dem knurrenden und schnappenden Gott vor und zurück und wird fast von einer Stichflamme erwischt, die er ihr ins Gesicht spuckt. Stattdessen versengt das Feuer nur die Spitzen ihrer Haare. Ein erfreutes Lachen erschallt aus ihrem Mund und sie presst Gott fest zu Boden, während sie mit ihrem rechten Unterarm seine Kehle zudrückt, um weitere Feuerattacken zu vermeiden. Gotts Augen weiten sich, seine Glieder werden still – und er senkt den Blick und entspannt seine Muskeln. Das Mädchen zischt ihn an. Er winselt. Sie knurrt. Er gibt ein leises Heulen von sich und lässt den Kopf zur Seite sacken. Zufrieden lässt sie ihn los und erhebt sich. Mein Atem, den ich die ganze Zeit angehalten habe, strömt aus meiner Lunge und ich starre zwischen meinem Pokémon und der Trainerin hin und her. Sie hat ihn aus der Luft gegriffen, zu Boden gerungen und dazu gebracht, sich ihr unterzuordnen. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte ich es nicht geglaubt. Gott erhebt sich, ein wenig schwankend, hustet ein paar Rauchringe und schaut dann zu der Trainerin auf. Sie gibt ein sanftes Knurren von sich. Er duckt den Kopf und läuft gehorsam zurück an meine Seite. Als er wieder zu ihr aufsieht, meine ich, so etwas wie Bewunderung in ihnen zu erkennen. Bewunderung, und ehrlichen, tiefgehenden Respekt. Mich hat Gott noch nie so angesehen. „Du wolltest euch vorstellen“, erinnert die Trainerin mich, als wären Kämpfe mit aggressiven Pokémon bei ihr regelmäßig an der Tagesordnung. „Abby“, sage ich kurz angebunden. „Und mein Freund, Louis.“ Sie streckt mir eine Hand entgegen, die ich ergreife und die meine so fest drückt, dass ich die Zähne zusammenbeißen muss. Kein Mädchen mit so einer schlanken Figur sollte so stark oder respekteinflößend sein. „Und du?“, frage ich, als sie keine Anstalten macht, ihren eigenen Namen zu nennen. „Oh, klar. Mein Fehler.“ Sie verschränkt die Arme und lächelt mich frech an. „Ronya.“ „Ronya?“, wiederhole ich perplex. „Ronya Olith?“ Sie legt den Kopf schief. „Die einzig Wahre“, stimmt sie zu. „Woher kennst du meinen Namen?“ „Ich…“ Verdammt, die Situation hat mich völlig überrumpelt. Ich hatte noch nicht mal Zeit, mir Argumente zurechtzulegen, weil ich dachte, ich würde Ronya frühestens in Fuchsania finden und selbst dort erst nach ihr suchen müssen. „Ich bin die Abgesandte von Team Shadow“, sage ich nach einer Weile. „Dark hat mich geschickt, um dich zu überzeugen, uns beizutreten.“ Ronya scheint meine Unsicherheit bei dem Wort Abgesandte zu spüren, denn sie zeigt mir ein weißes Lächeln voller Zähne. „Und was machst du so als Abgesandte?“ Ihr abschätziger Unterton gefällt mir nicht und ich plustere mich innerlich etwas auf. „Ich war für die Gründung von Team Shadow mitverantwortlich, bin Managerin, Kontaktperson für die Polizei und die Presse und jetzt auch Leiterin der Rekrutierung.“ Den Titel Maskottchen lasse ich weg. Es ist eine lange Zeit her, seit das meine einzige Aufgabe war. Ronya nickt langsam und kratzt sich am Kopf, gerade da, wo ihr rasierter Schädel längerem Haar weicht. Sie beobachtet mich mit durchdringenden Augen. Alles an ihr fordert mich dazu heraus, mich zu verteidigen, ihr zu gefallen, sie zu beeindrucken. Es ist beängstigend. Ich kann Gotts Angriff beinahe nachvollziehen. „Das klingt zumindest nicht Mainstream“, gesteht sie. „Ich war um ehrlich zu sein auf dem Weg zu Dark, weil ich ihn endlich in Person treffen wollte. Chris sagte, er ist stark, aber sowas sehe ich lieber aus erster Hand.“ „Ich bin sicher, er würde sich mit dir duellieren, wenn du dem Team beitrittst“, sage ich. „Er ist derzeit aber unterwegs. Du wirst ihn nicht in Prismania finden.“ Ein irritierter Ausdruck macht sich auf Ronyas Gesicht breit, bevor sie den Kopf hebt und die Augen zusammenkneift. Inzwischen ist es schon dämmrig, aber als Louis und ich ihrem Blick folgen, entdecken wir am Himmel eine dunkle Silhouette, die sich uns stetig nähert. Ronya tritt einen Schritt zur Seite, da landet schon das Tropius auf dem Fahrradweg, dreht den langen, braunen Hals und brüllt sie an. Ronya verzieht keine Miene. Erst, als das Pokémon den Kopf dreht und ihr verletzt in die Augen sieht, tätschelt sie seine Stirn. „Nichts bringt mich auf deinen Rücken, Süße, das weißt du.“ „Feigling“, murmelt der Reiter, der zwischen den blattähnlichen Flügeln herabspringt und sein Tropiusweibchen zurückruft. „Ich fliege nicht“, erwidert Ronya mit aggressivem Tonfall und verschränkt wieder ihre Arme. „Wenn ich sterbe, dann mit festem Boden unter den Füßen.“ Neben dem Jungen wirkt sie gleich doppelt so klein, denn dessen langes, rotes Haar und der sportliche Kleidungsstil heben seine erstaunliche Körpergröße weiter hervor. Ich schlucke und mache einen Schritt In Louis´ Richtung. Gott beginnt, an meiner Seite zu grollen. Ich rufe ihn ohne Umschweife zurück. „Hi“, beginne ich, um den aufkommenden Streit der beiden Jugendlichen im Keim zu ersticken. Sie drehen überrascht den Kopf zu mir, als hätten sie vergessen, dass ich da bin. „Ich bin Abby, das ist Louis. Und du bist?“ Der Rothaarige zieht die Stirn kraus und macht einen bedrohlichen Schritt auf mich zu. „Das geht dich überhaupt nichts an, du kleine-“ „Gerard“, antwortet Ronya für ihn und grinst ihn süffisant an, als er zornig zu ihr herumwirbelt. „Gerard Laval.“ „Heiliger Pokéball“, platzt es aus mir heraus. „Ich kenne deine Mutter!“ „Was hast du über meine Mutter gesagt?!“, schreit Gerard und fährt dabei wieder zu mir herum. Louis macht einen Schritt vor und stellt sich zwischen uns. Trotz seinem Wachstumsschub ist er neben Gerard noch immer lächerlich klein und schmächtig. Wenn Gerard nicht Leistungssport oder so etwas betreibt, esse ich meine Cappie. Ich schiebe ihn sanft bei Seite und hebe ergeben meine Hände. „Ich habe ihr in Dukatia City Blumen geliefert und mit ihr Kekse gegessen“, sage ich langsam, sehr darauf bedacht, Gerard nicht weiter zu verärgern. „Sie hat mir von dir erzählt. Sie ist eine wundervolle Frau“, füge ich hinzu, als er das Kinn hebt und mich von oben herab betrachtet, als müsse er abwägen, wie er mich am besten umbringen wird. Ronya tritt an seine Seite und tätschelt ihm zweimal kräftig den Rücken. Er funkelt sie an. „Du musst deine Wutausbrüche in den Griff kriegen“, sagt sie mit einem fiesen Lächeln. „Deine Mutter wäre sehr enttäuscht, wenn sie dich so sehen könnte.“ „Halt die Klappe, Ronya“, zischt er sie an, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet in Richtung des Seitenstreifens zu einem der Zelte, das dort aufgebaut ist, nur zwei Stufen unter unseren Schlafsäcken. „Ich stelle vor, der Mann mit den Temperamentproblemen“, sagt Ronya und schaut ihm kopfschüttelnd nach. „Mein Rivale und leider bester Freund.“ „So sah das nicht aus“, murmelt Louis und verrenkt sich den Hals, um Gerard nachschauen zu können, ohne sich von Ronya wegzudrehen. „Gutmütiges Geplänkel“, sagt sie schulterzuckend. „Wir unterhalten uns mit Geschrei und Beleidigungen, das ist normal.“ „Gerard ist auch ein ordenloser Trainer, oder?“, frage ich aufgeregt. Dark hat mir zwar nur den Auftrag gegeben, Ronya für uns zu gewinnen, aber es war immerhin mein Vorschlag, Gerard in Erwägung zu ziehen. Dass er jetzt mit Ronya zusammen hier auftaucht, ist ein echter Glücksfall und wenn die beiden befreundet sind, stehen die Chancen gut, dass beide beitreten, wenn ich nur einen von ihnen überzeuge. Sie zuckt die Achseln. „Stimmt. Und wenn du vorhast, ihn ebenfalls zu rekrutieren, Miss Abgesandte, streng dich besser an. Wir sind nicht so abhängig voneinander, dass du dich auf unsere Freundschaft verlassen kannst.“ Ich seufze. Wäre ja auch zu schön gewesen. Gemeinsam mit Ronya kehren wir zu dem Seitenstreifen zurück. Als Louis und ich in die andere Richtung gehen müssten, bleibe ich stehen und halte Ronya fest. Sie dreht sich zu mir um. „Wo werdet ihr jetzt hingehen?“, frage ich. „Dark ist nicht in Prismania City, wenn du ihn also treffen willst, musst du ohnehin auf Wort von ihm oder mir warten. Und wenn unser Anführer nicht da ist, wird Ryan dich nicht in unser Hauptquartier lassen.“ „Das ist ziemlich scheiße“, gesteht Ronya und kratzt sich wieder am Kopf. Dann kommt ein Grinsen über ihre Züge. „Ich habe wohl keine Wahl, als mich solange an deine Fersen zu heften. Gerard ist nur hier, weil ich ihn gebeten habe, mich zu begleiten, er hält auch noch ein bisschen mehr Warten aus.“ Ich erinnere mich an Ronyas Worte zurück, nachdem Gerard mit seinem Tropius auf der Brücke gelandet ist. „Seid ihr den ganzen Weg von Johto zu Fuß gegangen?“, frage ich und denke an all die Gebirgsketten, Höhlensysteme und tiefen Wälder, die von Touristen und sogar Trainern so gut wie nie durchquert werden. Die Fahrt mit der M.S. Aqua und dem Magnetzug ist viel bequemer und Trainer, die zwischen den Regionen wechseln, besitzen häufig flugfähige Pokémon, mit denen sie zumindest das unwegsame Gelände südlich des Indigo Plateaus hinter sich bringen. „Nicht nur, aber hauptsächlich“, sagt Ronya und wirft einen Blick zu Gerard, der vor ihrem Lagerfeuer sitzt und mit verzerrtem Gesichtsausdruck mit einem Dosenöffner zu kämpfen hat. „Nur rohe Gewalt, der Kerl“, murmelt sie kopfschüttelnd und winkt Louis und mich mit sich, während sie zu ihrem Zelt geht und weiterspricht. „Ich habe Entei zwischen Rosalia und Viola City gefangen, danach hat Gerard mich in Neuborkia getroffen und von dort sind wir über Route 27 und 26 zum Eingang der Siegesstraße gewandert. Östlich ging es nach Vertania und von dort mussten wir nur noch durch Alabastia und über das Meer an der Zinnoberinsel und den Seeschauminseln vorbei nach Fuchsania City.“ „Es ist alles nur deine Schuld, dass wir von Vertania nicht einfach nach Prismania fliegen konnten“, schnauzt Gerard Ronya an, reißt dabei so heftig an dem Dosenöffner, dass er am Griff abbricht und ihm rote Soße aus der Dose ins Gesicht spritzt. Er blinzelt. „Oh je“, sagt Ronya und geht vor Gerard in die Knie. „Tief durchatmen. Du hast die Kontrolle, nicht die Dose. Du bist besser als die Dose. Atme mit mir. Ein… Aus…“ Neben mir verschluckt sich Louis halb an seinem Lachen, beginnt zu husten und vergräbt sein Gesicht in hilflosem Kichern in meiner Schulter. Gerard atmet einige Sekunden lang im gleichen Rhythmus wie Ronya, dann nickt er, öffnet die Augen und reicht ihr die Dose und den kaputten Dosenöffner. Sie grinst, öffnet die Dose ohne Probleme und hält Gerard die geöffnete Tomatensuppe hin. Er nimmt sie entgegen und füllt sie in einen verbeulten Topf, den er neben sich stellt, bevor er im Zelt verschwindet, vermutlich, um eine Kochplatte oder ähnliches zu besorgen. „Ihr seid übrigens zum Essen eingeladen“, sagt Ronya an mich gewandt und nickt auf die leere Fläche vor dem Zelt, an der eben noch Gerard gesessen hat. „Dein Igelavar hat mich wirklich beeindruckt, Abby“, fährt sie fort, kaum dass wir sitzen. „Du ihn auch“, sage ich und schaffe es trotz großer Bemühung nicht, den Neid aus meiner Stimme fernzuhalten. Louis, der sich von seinem Lachanfall erholt zu haben scheint und die Tränen aus seinen Augenwinkeln wischt, schaut neugierig zu mir. „Ronya findet sofort heraus, wie ein Pokémon tickt“, sagt Gerard, der sich in dem Moment aus dem Zelt duckt. „Sie ist die beste Trainerin, die ich kenne, vor allem bei Spezialfällen.“ „Das kann daran liegen, dass du außer mir keine weiblichen Trainerinnen kennst, aber hey, danke für die Lobeshymne“, meint Ronya grinsend. Gerard läuft rot an und verengt seine Augen zu Schlitzen. „Was willst du damit andeuten?“ Louis lehnt sich vor, so als könne er es kaum erwarten, einem weiteren Streit der beiden beizuwohnen, aber da muss ich ihn leider enttäuschen. „Ronya“, sage ich, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Sie dreht den Kopf in meine Richtung und legte eine Hand auf Gerards Mund, als der beginnt, ihr einige sehr kreative Beleidigungen an den Kopf zu werfen. „Warum hast du eigentlich nicht selbst gekämpft?“, frage ich. „Du hast Entei gefangen und Dark will dich in Team Shadow. Du musst so stark wie Chris und die anderen sein, oder nicht?“ „Klar bin ich das“, sagt Ronya überrascht. „Das wäre ja noch schöner.“ „Aber warum dann?“ Gerard zieht ihre Hand von seinem Mund und funkelt seine Rivalin böse an, bevor er mir antwortet. „Weil ihr Moralkompass kaputt ist“, erklärt er. „Unsinn“, meint Ronya sofort. „Ich weigere mich nur, den Standards zu folgen. Wenn ich kämpfe, dann ohne Zurückhaltung.“ „Aber nur, wenn die Leveldifferenz nicht zu groß ist“, fährt Gerad für sie fort. „Alles über 25 Level kann den Pokémon Schaden zufügen. Also kämpft sie ab da nicht mehr.“ „Huh“, meine ich. „Das macht Sinn“, sagt Louis und macht einen sehr grüblerischen Gesichtsausdruck. „Auf eine sehr unsinnige Art und Weise.“ „Aber wie hättest du dich verteidigt, wenn Gott nicht eingegriffen hätte?“, frage ich. Ronya hebt eine Augenbraue. „Mit meinen Händen. Wie sonst?“   Nach einem tomatensuppenlastigen Abendessen und der Vereinbarung, morgen früh zusammen mit Ronya und Gerard zurück nach Fuchsania City zu fahren, um dort zumindest die nächsten zwei Wochen unterzutauchen, machen Louis und ich uns auf den Rückweg zu unserem eigenen Fleckchen Seitenstreifen und schlagen unser Nachtlager auf. Als das erledigt ist, verabschiede ich mich von Louis und gehe auf die andere Seite der Fahrradbrücke, wo ich mich an die Reling lehne und auf die dunklen Wellen unter mir schaue, die gegen die Stahlpfeiler schwappen. Zuerst will ich Hunter rufen, damit er sich ein Karpador fangen kann, aber als ich vergebens nach seinem Pokéball taste, fällt mir wieder schmerzlich ein, dass er mit massiven Verbrennungen im Pokécenter liegt. Seufzend rufe ich stattdessen Sku. Sie maunzt leise zur Begrüßung und rollt sich um meine Beine ein, wachsame Augen auf das Meer gerichtet. Mein erster Anruf geht an Alfred, der wie erwartet schon von der Polizei von Zachs Gefangennahme erfahren hat. Seine Stimme hat ihre typische Begeisterung verloren und klingt einfach nur noch müde. Einige Male bleibt es am anderen Ende der Leitung still, so als müsse er mit seinen Worten ringen, aber letztlich versichert er mir, dass ich alles getan habe, was ich konnte. Zach wusste, worauf er sich bei seinem Doppelleben einließ. Danach melde ich mich bei Raphael. Mein Anruf mit ihm fällt kürzer aus, denn er gesteht, sich noch nicht von Liz hat trennen können und bei meiner Ankunft in Fuchsania City noch dort sein wird.  Als ich ihm in groben Zügen von Zach berichte, schweigt er lange und fragt schließlich, was mit Richard passieren wird. „Sie wollen ihn freilassen, sobald die letzten Befragungen abgeschlossen sind“, sage ich müde und lehne mich auf der Reling etwas weiter vor. Sku brummt leise und ich spüre das sanfte Beben ihres Brustkorbs in meinen Beinen. „Zumindest war das mein Deal mit Rocky. Aber ich glaube nicht, dass sie es sich anders überlegt hat.“ „In Ordnung“, sagt Raphael. „Ich werde ihn kontaktieren. Er wird Unterstützung brauchen, jetzt da Zach… weg ist.“ Wir verabschieden uns und legen auf. Bleibt noch ein Anruf. Und der liegt mir, mal wieder, schwer im Magen. Das letzte Mal habe ich mich so vor einer Konfrontation gedrückt, als ich im Vertania City Krankenhaus lag. Es war nicht viel anders als jetzt. Caroline nimmt nach dem zweiten Klingelton ab. Statt einer Begrüßung höre ich das metallische Klacken ihres Feuerzeugs, dicht gefolgt von dem langsamen Einatmen, als sie ihren ersten Zug nimmt. „Sie haben ihn, oder?“, fragt sie ohne Umschweife. Ich blinzele. „Woher weißt du-“ „Du hast dich das letzte Mal im Oktober gemeldet, als er aufgeflogen ist“, sagt Caro leise und zieht erneut an ihrer Zigarette. „Ich bezweifle, dass dir nach fast fünf Monaten plötzlich zum Plaudern zu Mute ist.“ Mein Mund wird trocken. Der Stich, den mir ihre Worte versetzen, kommt nicht ganz unerwartet, aber er schmerzt deutlich mehr, als ich erwartet hatte. Ich bin es gewohnt, mich lange nicht bei meinen Eltern zu melden, oder bei Freunden, mit denen ich später nie viel zu tun hatte, aber ich habe Caro viel zu verdanken. Und sie war eine meiner engsten Freundinnen, die erste, die ich auf meiner Reise gemacht habe. Ich will mich entschuldigen, dass ich sie so lange vernachlässigt habe, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie davon jetzt nichts hören will. Es gibt größere Probleme als mein schlechtes Gewissen. „Vor zwei Tagen gab es eine geheime Übergabe“, erkläre ich daher und bemühe mich, meine Stimme sachlich und ruhig zu halten. „Die Polizei hat davon erfahren und Team Rocket aufgelauert. Sie haben unseren Hinterhalt erwartet und gegen uns gekämpft, aber Zach war auch dort. Atlas scheint ihn zu dem Zeitpunkt bereits verdächtigt zu haben und wollte ihn loswerden. Aber ihr Plan ist nicht aufgegangen. Keiner der Rockets ist entkommen.“ „Hat er Eva gerächt?“ „Ich weiß es nicht“, sage ich leise. „Aber ich glaube, er hätte sich bei uns gemeldet, wenn es ihm gelungen wäre.“ „Alles umsonst also-“ Caros Stimme bricht am Ende ab und sie nimmt schnell einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. Wir schweigen einige Minuten. „Danke für deinen Anruf, Abby“, sagt sie schließlich. Ihre Stimme hat wieder den stählernen Klang angenommen, der all ihre Gefühle in ihrem Inneren verbarrikadiert. „Das gibt mir Gelegenheit, hier alles unter Kontrolle zu bringen, bevor die Polizei wieder vor meiner Tür steht.“ Sie zögert einen Moment, spricht dann aber weiter. „Was ist mit deinem Louis-Jungen? Seid ihr noch zusammen?“ „Wieder, könnte man wohl sagen“, sage ich und zwinge mich zu einem Grinsen, auch wenn sie das nicht sehen kann. Ich drehe den Kopf und beobachte Louis dabei, wie er zusammen mit Glen auf der anderen Seite am Geländer steht und allem Anschein nach Ethan zuguckt, der im Meer unter uns schwimmt. „Und es läuft ziemlich gut.“ Sie seufzt. „Denk dran, wenn es mit dem Befummeln losgeht, dann-“ „So weit kommt es ganz sicher nicht!“, rufe ich panisch und bin erleichtert, Caros heiseres Lachen vom anderen Ende der Leitung zu hören. Dass es zu abrupt abbricht, so als fühle sie sich schuldig, ist wie ein Schlag ins Gesicht. „Passt auch euch auf.“ „Wenn du Probleme mit der Polizei kriegst, melde dich bei mir“, sage ich. „Ich kenne jemanden, der ein paar Fäden ziehen oder dir Infos beschaffen kann. Und ich habe bei einigen der Polizisten einen Stein im Brett.“ „Werde ich“, sagt sie. „Bis dann.“ Sie legt ohne ein weiteres Wort auf. Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter und lasse das Handy sinken. Mein Blick wandert über den ergrauenden Nachthimmel, an dem in beängstigendem Tempo dunkle Wolken aufziehen. „Bis dann.“ Kapitel 100: Schmerzhafte Wahrheit (Wiedersehen) ------------------------------------------------ Der Sturm erreicht uns, als Louis und ich gerade eingeschlafen sind. Fette, kalte Tropfen platschen mir ins Gesicht und als ich die Augen aufreiße, tost der Wind mit solcher Kraft um meine Ohren, dass der Schlafsack ein Stück zur Seite rollt, bis ich auf meinem Bauch lande. Wütend strampele ich mich frei. „Louis!“, schreie ich, aber er ist meinem Beispiel schon gefolgt und längst dabei, dem Sturm zum Trotz seinen Schlafsack zusammenzurollen. Er nickt in Richtung der Zelte einige Stufen unter uns und ich folge seinem Blick. Der Wind bläst die braunen und blauen Stoffplanen in alle erdenklichen Formen und weiter entfernt entdecke ich durch die graue Regenwand ein Zelt, das halb von der Fahrradbrücke abhebt, bevor es zurückgerissen wird. Panik macht sich bei den Trainern breit, die aus ihren Zelten krabbeln, die Befestigungen verstärken und gegen den kalten Regen fluchen. Ich hebe den Kopf und beobachte die dunkelgraue Wolkendecke, die den Nachthimmel verdeckt. Zumindest sieht es nicht nach einem ausgewachsenen Gewitter aus. „Abby!“, erschallt Louis´ Stimme neben mir und ich wende den Blick zurück zu den Zelten. Ronya steckt sichtlich genervt den Kopf aus ihrem Zelteingang hervor, wirft einen Blick auf uns und winkt uns zu sich. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und so stemmen wir uns gegen den Wind, stolpern die Stufen hinunter und klettern neben Ronya ins Zelt. Mit drei Leuten ist es eindeutig zu eng, aber unser gemeinsames Gewicht hält das Zelt vorläufig am Boden. „Bleibt hier“, murmelt Ronya und zückt einen Pokéball. „Ich schlafe bei Gerard.“ „B-bist du sicher, dass wir nicht wegfliegen?“, bringt Louis mit bibbernder Stimme hervor und wickelt sich gleichzeitig enger in seine Jacke. Nur wenige Minuten haben uns bis auf die Unterwäsche durchgeweicht. Ich niese. Ronya wedelt ungeduldig mit ihrer freien Hand, rafft ihren Schlafsack an sich und krabbelt nach draußen. „Ich kümmere mich darum, Blondchen“, sagt sie noch, dann verschwindet sie im Sturm. Rotes Licht leuchtet hinter der Zeltplane und einige Momente später erklingt ein metallisches Knirschen, gefolgt von einem tiefen Seufzer und lautem Krachen. Dann wird es ruhiger. Das Plätschern des Regens und der sausende Wind sind noch gut zu hören, aber es fühlt sich nicht mehr so an, als würden wir jeden Moment samt Zelt ins Meer gepustet werden. Einige Sekunden sitzen wir sprachlos. Schließlich jedoch drehe ich den Kopf zu Louis. Er starrt weiterhin schockiert auf den Zelteingang. „Hat sie mich gerade–“ „–Blondchen genannt?“, frage ich und unterdrücke ein breites Grinsen, bevor ich aufgebe und lauthals loslache.   Der nächste Morgen kündigt sich durch lautes Geschrei unserer Zeltnachbarn an. „Es ist nicht meine Schuld, dass ich einen steifen Nacken habe!“, erklingt Gerards wütende Stimme, laut und deutlich, so als säße er neben uns. „Ich kann nichts dafür, dass du ein Riese bist, der nicht in ein normales Zelt passt.“ „Das Zelt hätte gereicht, wenn du dich nicht dazu gequetscht hättest!“ „Hätte ich die beiden draußen verrecken lassen sollen?“ Ich werfe Louis einen kurzen Blick zu, den er mit einem Augenrollen erwidert. In aller Eile packen wir unsere Schlafsäcke zurück in unsere Rucksäcke, während von nebenan das Wortgefecht von Ronya und Gerard andauert, die sich nun ohne Sinn und Verstand Beleidigungen an den Kopf werfen, gefolgt von Gegenständen, wenn ich die polternden Geräusche richtig deute. Wir ducken uns aus dem Zelteingang heraus – und finden uns einem Stahlbrocken gegenüber. „Ist das… ein Pokémon?“, frage ich und klopfe mit den Knöcheln auf die silbrig glänzende Oberfläche. Polternd setzt sich der Stahl in Bewegung und entrollt sich langsam aber sicher, bis der gewaltige, flache Kopf eines Stahlos sich in unsere Richtung dreht und uns gutmütig anbrüllt. Im nächsten Moment taucht Ronya aus Gerards Zelt auf, reibt sich eine Beule am Kopf und tätschelt die Stahlboa. „Danke, Wyatt“, sagt sie, ruft ihr Pokémon zurück und gibt damit den Blick auf den Fahrradweg frei. Die schrägstehende Morgensonne reflektiert in den Wasserpfützen zu unseren Füßen und ich kneife die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden. Louis kehrt in der Zwischenzeit mit unseren Fahrrädern zurück, die wir am Abend glücklicherweise am Geländer befestigt haben. Von den frustrierten Rufen einiger Trainer weiter unten hatten nicht alle so viel Geistesgegenwart. Gerard grummelt vor sich hin und beginnt damit, sein Zelt abzubauen. Ronya folgt seinem Beispiel und nur eine Viertelstunde später stehen wir in den Startlöchern für unsere Abfahrt nach Fuchsania City. „Auf geht´s!“, rufe ich und radele los.   Der Fahrradweg ist von dem nächtlichen Regenschauer noch etwas glitschig und erschwert unsere Abfahrt, aber mit der aufsteigenden Sonne bessern sich die Verhältnisse und schon bald rollen wir fast ohne Beinarbeit die lange Straße entlang, die sich stetig Route 18 nähert. Das Geplänkel zwischen Ronya und Gerard beginnt immer wieder von neuem, nur um in regelmäßigen Abständen zu gelassenes Schweigen oder gutmütigen Witzen zu verebben. Gemeinsam mit Louis fahre ich an der Spitze unserer kleinen Gruppierung und unterhalte mich mit ihm über unsere Pläne in Fuchsania City. Die Fahrräder sind schließlich für die nächsten zwei Wochen gebucht, und wenn ich schon mit Darks Geld bezahlt habe, will ich die Zeit wenigstens voll ausnutzen. "Urlaub", sagt Louis schlicht und grinst mich mit seiner Zahnlücke breit von der Seite her an. "Du hast in den letzten Wochen, ach quatsch, Monaten, genug durchgemacht. Ich sage, wir entspannen und erholen uns. Deine Arme brauchen genauso viel Ruhe wie deine Pokémon, wenn du mich fragst." "Du hast ja Recht", murmele ich und denke mit schlechtem Gewissen an Hunter, der sich von seinen Verbrennungen erholt und Sku, die trotz verheilter Rippe noch nicht ganz fit ist. Und natürlich ist mein Handgelenk noch immer eingegipst. Nur noch etwas mehr als eine Woche, aber solange muss ich es erstmal schaffen, mich aus Schwierigkeiten rauszuhalten. Nach unserer ersten Frühstückspause am Seitenstreifen, bei der Ronya uns mit Müsliriegeln und ein paar übrig gebliebenen Sandwiches überrascht, rufe ich Gott, der es sich sogleich in meinem Fahrradkorb gemütlich macht. Am frühen Nachmittag erreichen wir schließlich das Ende des Fahrradwegs. Die stählerne Überführung dockt an einer niedrig liegenden Küste an, die in eine seichte Grasfläche übergeht, nur durchzogen von lose angelegten Fahrradwegen. Ab hier geht es wieder bergauf, aber nur schwach und nach dem langen Rollen tut uns die Beinarbeit ganz gut. Route 18 schlängelt sich in Richtung Fuchsania City entlang und ist, bis auf zwei Gebäude völlig unbebaut. Das eine entpuppt sich als Partnerladen des Fahrradverleihs kurz hinter Prismania City, vor dessen Eingangstür eine herrische Dame in Motorradklamotten mit zwei jungen Bikern über den Zustand ihrer Reifen diskutiert. Wir fahren jedoch schnell vorbei und überhaupt habe ich kein Bedürfnis danach, mich in dieses Gespräch einzumischen. Das zweite entdecken wir erst, als wir uns über eine ungewöhnlich steil ansteigende Hügelkuppe quälen und ich schließlich von dem Rad absteigen muss, um bei dem Hin- und Herschlenkern meines Vorderrades nicht geradewegs umzukippen. Louis wirft mir von weiter vorne einen beunruhigten Blick zu und nickt unauffällig in Richtung meines linken Armes. Ich lächle grimmig und schiebe das letzte Stück, bis ich zu Ronya und Gerard aufhole. Oben angekommen stockt mir der Atem. "Was… ist das?", frage ich und betrachte mit einem Schaudern das Gebäude, an dessen Dach eine rote Flagge mit schwarzem Motorrad darauf befestigt ist, die vom Wind um ihren Mast gepeitscht wird. "Ich dachte, Chris und Jayden patrouillieren hier", murmelt Louis. Gemeinsam beobachten wir die Bewegungen hinter den Glasfenstern und die zahllosen Motorräder und Bikes, die vor dem Eingang geparkt sind und das schrägstehende Sonnenlicht gleißend gelb reflektieren. "Tun sie auch", erwidere ich. "Jayden hat von einer Ansammlung der Biker gesprochen, aber sie haben keinen Grund zum Eingreifen gesehen." "Aber sie sind nur den Fahrradweg abgeflogen, schätze ich", fährt Louis leise fort. "Das hier hätten sie sicher an Dark weitergeleitet." Ronya hebt eine Hand und schirmt ihre Augen ab. Ihr brauner Mohawk biegt sich sanft im Wind. "Was ist das Problem?", fragt sie und schaut zu uns. "Noch nie einen Bikertreffpunkt gesehen?" "Doch", sage ich. "Damals haben sie mich und meine Freunde bewusstlos geschlagen, entführt und wollten uns umbringen." "Hm…" Sie schaut zurück zu dem Haus. Es ist nicht besonders groß, aber sicher groß genug, um mehreren Dutzend Bikern Platz zu bieten. "Warum ist Dark an den Bikern interessiert?" Ich zögere. Ronya gehört zu den ordenlosen Trainern und ich will sie unbedingt für unsere Sache gewinnen, aber noch ist sie nicht Teil von Team Shadow. Ihr all unsere Quellen und Verdächte darzulegen, gefällt mir nicht. Dann wiederum ist es die perfekte Gelegenheit, Ronya zu zeigen, wofür wir stehen. Louis nimmt mir die Entscheidung ab. "Die Biker arbeiten zusammen mit Team Rocket", erklärt er. Ronya runzelt die Stirn, lässt die Augen jedoch nicht von dem Treffpunkt. "Das könnt ihr unmöglich wissen", mischt Gerard sich ein, während er sich an Ronya vorbeischultert, ihren strafenden Blick ignoriert und wieder auf sein Rad steigt. "Los jetzt. Ich will vor Sonnenuntergang wieder in dieser Scheißstadt ankommen, nachdem die letzten Tage anscheinend völlig umsonst waren." "Schon kapiert, Meckerliese", erwidert Ronya neckisch und lacht laut, als Gerards Beschimpfungen ein weiteres Mal auf sie niederregnen. Die beiden treten in die Pedale und schießen an uns vorbei den Hügel hinunter und auf schnellstem Wege nach Fuchsania. Ich schaue ihnen nachdenklich hinterher. "Alles okay?", fragt Louis. Ich nicke, aber sein zweifelnder Gesichtsausdruck sagt mir, dass er mir das nicht abkauft. "Nur ein paar miese Erinnerungen", erkläre ich schließlich und steige selbst wieder auf mein Fahrrad. Gott, der schon vor einiger Zeit eingeschlafen ist, grummelt leise in seinem Fahrradkorb und rollt sich enger zusammen.   Zu meiner Erleichterung begegnen wir danach weder einer großen Anzahl Bikern, noch müssen wir uns über weitere Hügel kämpfen und nur etwa eine Stunde später erreichen wir endlich das Durchgangshäuschen, dessen Wärter uns samt Fahrrädern durchwinkt. Ronya und Gerard nehmen automatisch Kurs auf das Pokécenter. Ich schaue zu Louis. Louis schaut zu mir. "Bitte?", fragt er und klimpert mit den Wimpern. Seufzend nicke ich und tröste mich mit dem Gedanken, dass Dark wirklich mehr Geld hat, als er braucht und Louis sich eindeutig sehr darüber freut, in einem Bett schlafen zu können. Ich fasse innerlich den Entschluss, Dark in Zukunft zurückzuzahlen, aber selbst mir kommt das sehr unrealistisch vor. Als wir etwas später unsere Fahrräder vor dem Pokécenter anketten und eintreten, sind Ronya und Gerard längst wieder in ein kleines Wortgefecht verwickelt, bei dem es wohl um das bevorzugte Stockwerk für ihre Einzelzimmer geht. Schwester Joy beendet das Gespräch mit der Aussage, dass nur im obersten Stockwerk Zimmer frei sind und erstickt die neuen Argumente damit im Keim. Während wir uns hinter den beiden anstellen, beobachte ich aus den Augenwinkeln die Trainer, die vereinzelt an den Tischen sitzen und uns mit offensichtlicher Neugier begutachten. Obwohl Janine, die Arenaleiterin von Fuchsania City, die fünfte in Kanto und damit auf gleichem Stand wie Jasmin oder Hartwig ist, scheint es hier keinen Trainerstau zu geben. Macht Sinn, denke ich, immerhin ist Saffronia von anderen Städten umgeben und besitzt genug Platz für alle Trainer, die sich gegen Sabrina die Zähne ausbeißen. Als wir in unserem Doppelzimmer ankommen, gönne ich mir eine Dusche und überlasse danach Louis das Bad. Ich ziehe mich an, mache es mir auf dem knarzenden Bett bequem und greife nach meinem Handy und dem S-Com. Einige neue Statusberichte und Nachrichten erwarten mich dort, unter anderem von Dark, der sich nach meinem Rekrutierungsfortschritt erkundigt und Jayden, der sicher darüber beschwert, für die langwierigen Kontrollflüge eindeutig zu wenige Rockets entlarven zu können. Ich grinse und mache mich an meinen eigenen Nachrichten zu schaffen.   Von: Abbygail_Hampton_04 An: Dark_01 »Habe Ronya Olith und Gerard Laval auf dem Fahrradweg getroffen. »Bin mit ihnen in Fuchsania City. »Ronya hat ein Interesse daran, gegen dich zu kämpfen. »Bis du Zeit hast, kann ich sie hinhalten. »Was Gerard vorhat, weiß ich nicht, aber ich gebe mein Bestes.   Von: Abbygail_Hampton_04 An: Chris_Rowland_02; Jayden_Williams_03 »Bikertreffpunkt auf Route 18 gefunden, Richtung Fuchsania City. »Derzeit keine verdächtigen Aktivitäten, aber haltet die Augen offen.   "Wann kriege ich eigentlich so ein Ding?", fragt Louis, der in dem Moment aus dem Bad kommt und mich halb zu Tode erschreckt. "Wenn du Team Shadow beitrittst", meine ich, nachdem ich mich gefangen habe und lege den S-Com beiseite. Er verschränkt die Arme. "Die Maske habe ich doch schon. Und ein Zimmer. Und Dark kenne ich auch. Ich gehöre quasi zur Familie." Schmunzelnd schnappe ich mein Handy. "Dann kannst du ja den Maskottchenposten übernehmen", sage ich. "Der ist vor kurzem freigeworden." Während ich mich an meiner SMS zu schaffen mache, schiele ich hin und wieder zu Louis, der sich umzieht und dann neben mir aufs Bett fallen lässt. "Wem schreibst du?", fragt er und reckt den Hals, um an meinen Händen vorbei auf das Display gucken zu können, gerade rechtzeitig, um die Nachricht zu lesen, bevor ich auf Senden drücke. Verwirrt schaut er zu mir. "Du hast ein Date?" "Nicht ich", erwidere ich lachend und erhalte in dem Moment die Zusage per Handy. "Wir."   Der Weg zur Safari-Zone führt einmal quer durch die ganze Stadt. Dieses Mal machen wir uns zu Fuß auf den Weg und genießen den Anblick des fuchsiaroten Kopfsteinpflasters und der gleichfarbigen Ziegeldächer, denen die Stadt ihren Namen verdankt. Ronya hat sich für den Abend entschlossen, mit uns zusammen Raphael, Liz und Rose zu besuchen, hauptsächlich, weil sie Liz und Rose von ihrem eigenen Besuch in positiver Erinnerung hat und sich allem Anschein nach mit den beiden über eine private Angelegenheit unterhalten möchte. Worum es sich dabei handelt, frage ich nicht, aber ich bezweifle, dass es allzu privat sein kann, wenn sie gleich zwei Fremde einweiht. Abgesehen davon habe ich meine eigenen Gründe, der Begegnung entgegenzufiebern, nicht alle von ihnen gut. Meine Hand geistert über Gotts Finsterball. Wenn mir jemand mit seinen Aggressionen helfen kann, dann Raphael, immerhin hatte er mit seinem Luxtra Dario ähnliche Probleme und wenn Roses Einschätzung von Liz stimmt, kennt sie sich ebenfalls gut mit Pokémon aus. Plötzlich blendet mich von der Seite rotes Licht und ich rufe Gott, bevor ich überhaupt richtig sehe, was passiert ist. Er baut sich fauchend neben mir auf, fährt sein Feuer jedoch sofort wieder hinunter und legt den Kopf schief. Ich schaue zu dem Pokémon, das sich neben uns materialisiert hat und entdeckte… Winry. Louis schaut mich erschrocken an, beruhigt sich aber, als er meinen entschuldigenden Blick sieht und tätschelt Winrys Flanke. Sie zittert am ganzen Körper und wickelt sich augenblicklich um Louis´ Taille und Schultern. Ihr linkes Vorderbein bewegt sie nur spärlich. "Ich dachte, sie würde Rose gerne wiedersehen", erklärt Louis, nachdem wir den Schock des Moments überwunden haben und uns wieder in Bewegung setzen. Ronya beobachtet uns sehr interessiert. "Sie hat sich damals so gut um sie gekümmert." Ich nicke und schiele hinunter zu Gott, der die Umgebung misstrauisch mustert. Außer Winry, die er aufgrund ihrer Verletzung nicht als Gefahr eingestuft hat, kennt und respektiert er unser Grüppchen und da inzwischen nur noch Straßenlaternen für Licht auf den schmalen Straßen sorgen, begegnen wir so gut wie keinem anderen Passanten. "Woher kommt ihre Verletzung?", fragt Ronya nach einer längeren Gesprächspause. Louis dreht den Kopf in ihre Richtung und streichelt beruhigend Winrys Kopf. "Sie hat eine Kugel für mich abgefangen", erklärt er sachlich. "Letztes Jahr, im Dezember." "Kämpfst du noch mit ihr?" Er schüttelt den Kopf und ich schaue zur Seite. "Nicht mehr. Ihre Agilität ist eingeschränkt und sie ist mir wichtiger als meine Orden." Nachdenklich kratzt Ronya sich am Kopf. "Ich bin die letzte, die dich zum Ordensammeln animieren will, aber du könntest lernen, mit ihrer Verletzung umzugehen. Es gibt Wege, körperliche Einschränkungen auszugleichen." "Der Vorfall hat sie traumatisiert", erkläre ich. "Sie hält den psychischen Druck nicht mehr aus." Gott schnaubt und schaut zur Seite. Ronya schaut zu ihm und ein schmales Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht, so als verstünde sie, was er sagen will und es irritiert mich mehr als je zuvor, dass sie einen besseren Draht zu Gott zu haben scheint, als ich. "Was?", frage ich daher gereizt. "Er würde sich davon nicht abhalten lassen", sagt sie lediglich und nickt dabei in Gotts Richtung. Stolz spuckt er eine kleine Flamme auf den Boden. "Und woher willst du das wissen?", frage ich. "Er ist mein Pokémon. Du kennst ihn erst seit gestern." Ronya hebt überrascht die Augenbrauen. "Du musst nicht eifersüchtig auf mich sein. Er will dich beschützen, das ist sein größter Antrieb." Ich schaue zu Gott hinunter, der an meiner Seite entlang trabt. Es ist mir bisher nicht aufgefallen, aber seit seinem Kampf gegen Venuflibis ist er weiter gewachsen. Das Feuer auf seinem Rücken scheint auch heißer als zuvor. Er muss seiner Entwicklung verdammt nahe sein. "Was meinst du damit, dass ich ihr Trauma überwinden könnte?", unterbricht Louis unser Gespräch. "Du hast sie nicht gesehen, wenn sie kämpft. Sie gerät in Panik, sie bewegt sich nicht mehr und die Schmerzen ihrer Verletzung kommen zurück. Ich habe es versucht, Ronya, aber das hat die Sache nur schlimmer gemacht. Ich zwinge sie zu nichts mehr." Ronya zuckt die Schultern. "Dein Pokémon, deine Entscheidung. Ich wollte dir nur sagen, dass die Möglichkeit besteht, nichts weiter. Wenn sie dir die Arbeit nicht wert ist, ist das nicht mein Problem." Ich ziehe scharf die Luft ein und Louis bleibt abrupt stehen. "Sag das nochmal", flüstert er und ich begreife, dass ich ihn noch nie wirklich wütend gesehen habe. Bis jetzt. "Es ist deine Entscheidung, ob du Winry in diesem Zustand lässt oder ob du den schweren Weg wählst und sie da rausholst", sagt Ronya und dreht sich zu ihm um. "Sie ist in einem Albtraum gefangen. Jeder Angriff erinnert sie an den Schuss, jede feindliche Bewegung an den letzten Kampf, den sie ausgetragen hat. Und du stehst neben ihr und lässt sie dort vor Angst verrotten, weil du sie nicht aufwecken willst. Das ist feige. Sie ist mehr Wille wert als das." "Okay, Auszeit", rufe ich, als Louis einen Schritt auf sie zumacht, eine Faust zum Schlag zurückgezogen, Tränen der Frustration in seinen Augen. "Was soll ich denn machen?!", schreit er Ronya an mir vorbei an, während ich mich bemühe, eine Mauer zwischen den beiden zu bilden. "Ich habe es doch versucht! Sie kann nicht mehr kämpfen, sie hat es versucht und es geht nicht!" "Wie lange hast du es versucht?", fragt sie lediglich und wendet sich ab. "Du sagtest, sie hat die Verletzung erst seit ein paar Monaten. Wie lange bemühst du dich schon um ihre Rehabilitation?" "Ich-" "Abby!" Bei dem Klang der mir sehr bekannten Stimme drehe ich den Kopf und entdeckte Raphael, der uns von der Safari-Zone entgegen gekommen sein muss und jetzt auf uns zugejoggt kommt. Als er sich nähert, wird er langsamer. Sein Blick bleibt kurz an Louis feuchten Augen hängen, die verwirrt und wütend zwischen Ronya und ihm hin und her huschen. „Schlechtes Timing?“, fragt er und wirft mir einen fragenden Blick zu. „Nein, ganz und gar nicht“, sage ich und schaue Ronya giftig an. „Du kommst gerade richtig.“ Louis macht sich von mir los und wendet sich ab, um seine Tränen wegzuwischen. Raphael schaut zu Ronya, zieht misstrauisch die Augenbrauen zusammen und zurrt mit einer Hand seinen geliebten rostbraunen Schal zu Recht, zumindest, bis ich ihm um den Hals falle und mich von ihm in die Luft heben und einmal im Kreis wirbeln lasse. „Ich habe dich vermisst!“, beschuldige ich ihn lachend. Es stimmt. Außer über das Telefon hatte ich seit unsrem kleinen Abenteuer auf dem Indigo Plateau keinen Kontakt mehr mit ihm, auch wenn ich vor lauter Team Rocket und Team Shadow kaum Zeit für Sehnsucht nach meinem besten Freund hatte. Jetzt überkommt mich das Gefühl jedoch beinahe gewaltsam und ich drücke ihn noch etwas fester an mich, bevor ich mich von ihm löse und Louis zu uns winke. Er wischt sich ein letztes Mal über die Augen, zwingt sich aber sofort zu einem breiten Lächeln. „Hey, Raphael“, begrüßt er ihn. Raphael schüttelt seine Hand und gratuliert ihm zwinkernd zu unserer Beziehung. Louis wird rot, lacht jedoch schon bald mit ihm und als das Gespräch in Anekdoten über meine beiden verletzten Arme umschwenkt, entferne ich mich unauffällig und stelle mich neben Ronya. „Ein Freund von dir?“, fragt sie. „Wenn du Louis noch einmal so angreifst, kannst du deinen Kampf gegen Dark vergessen“, zische ich sie wütend an. Überrascht hebt sie die Augenbrauen. „Ich habe ihn nicht angegriffen. Ich habe ihm lediglich meine Meinung gesagt.“ „Bringt deine Meinung häufig andere zum Weinen?“, erwidere ich. „Dann würde ich das mit dem ehrlich sein nämlich sein lassen. Was bildest du dir überhaupt ein, ihn wegen Winry ein schlechtes Gewissen zu machen? Du bist ordenlos und eine unglaublich starke Trainerin. Als wenn du irgendeine Ahnung hast, wie er sich fühlt, wie er und Winry unter dieser Sache gelitten haben…“ Ronyas Augenlid zuckt, aber bevor sie sich rechtfertigen kann, winkt Raphael mich zu sich und ich folge seinem Signal mehr als dankbar. Gott trottet an meiner Seite entlang, wirft aber undefinierbare Blicke zu Ronya zurück. Wenn ich ihm befehlen würde, sie anzugreifen, würde er es tun? Der Gedanke erschreckt mich für einen Moment. Verurteile ich Gott wegen seiner Aggressivität, erwarte aber gleichzeitig, dass er sie zeigt, wann immer es in meinem Interesse ist? Nein, denke ich automatisch und lasse mir von Raphael einen Arm um die Schulter legen, bevor wir uns auf den Weg Richtung Safari-Zone machen. Ich will nur nicht, dass er sie mir vorzieht. Das ist alles. Ich nutze die Zeit, in der ich mit Raphael und Louis alleine bin, um ihm die gesamte Geschichte der Übergabe und allem davor zu berichten. Raphael nickt nachdenklich, als ich zum Ende komme und deutet dann unauffällig zurück in Richtung Ronya. „Ist sie eine von Team Shadow?“ „Nein“, sage ich, ohne zurückzuschauen. „Vorerst nicht.“ Es dauert nicht lange, bevor wir die Parkanlagen erreichen, die den Eingang der Safari-Zone zu beiden Seiten säumen und voller Teiche und Blumenbeete sind, geschützt durch getrimmte Hecken und weiß gestrichene Zäune. „Habt ihr schon Unterkünfte?“, fragt Raphael, als wir uns dem Eingang nähern. „Liz hat bestimmt nichts dagegen, euch ein paar Nächte bei ihrem Großvater unterzubringen, aber im Pokécenter ist es auf Dauer bequemer.“ „Schon alles geregelt“, erkläre ich, hake mich dann bei ihm unter und senke meine Stimme. „Und wo schläfst du? Im Pokécenter warst du jedenfalls nicht eingecheckt.“ Er grinst schelmisch und schielt zu mir herunter. „Mag sein, dass ich von Liz´ Übernachtungsangebot das ein oder andere Mal Gebrauch gemacht habe.“ „Du bist bei ihr eingezogen, du Aufreißer“, lache ich und pikse ihn in die Seite. Er streckt mir die Zunge heraus. Dann wird sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst und er hebt ruckartig den Kopf. Louis und ich folgen seinem Beispiel, aber außer ein paar graublauen Wolken kann ich am Himmel nichts ausmachen. „Ein Pokémon“, erklingt Ronyas Stimme hinter uns. Ich drehe mich misstrauisch zu ihr um. Ihre Augen sind zusammengekniffen, ihr Kopf in den Nacken gelegt. Wieder folge ich ihrem Blick und dieses Mal erkenne ich inmitten der Wolken einen helleren Fleck. Mein Herz macht einen Satz. Ist es Zach gelungen, aus dem Gefängnis zu flüchten? Aber dann wird der Umriss klarer und ich erinnere mich an einen ähnlichen Sturzflug, den ich schon auf dem Indigo Plateau miterlebt habe. Warum kann nicht einmal alles wie geplant laufen? „Hat Richard dir gesagt, dass er dich besucht?“, frage ich niedergeschlagen. Raphael schüttelt den Kopf. „Er hat heute Morgen angerufen, weil sie ihn rausgelassen haben, aber er sagte, er wolle erst noch etwas regeln, bevor er mich zum Training abholt. Ich dachte nicht, dass er schon heute herkommen wollte.“ „Er muss dich ausfindig gemacht haben“, murmelt Louis, ruft vorsichtshalber Winry zurück und beobachtet anschließend gemeinsam mit dem Rest von uns, wie die Silhouette von Richys Togekiss an Kontur gewinnt und in steilem Sinkflug auf uns herabrast. Ich springe zur Seite, gerade rechtzeitig, um nicht von Togekiss zu Boden gerissen zu werden, als es abrupt auf den Pflastersteinen zum Stillstand kommt und ein lautes Gurren von sich gibt. Richard springt vom Rücken seines Pokémon, entdeckt mich einige Meter entfernt und fletscht regelrecht die Zähne. „Du Aas!“, brüllt er und reißt sich von Raphael los, der nach seinem Handgelenk packt, kaum dass er seinen wutverzerrten Gesichtsausdruck entdeckt. „Du hast alles ruiniert! ALLES!“ Ich hebe meine Hände, entschuldigend und mache einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. „Es tut mir so unglaublich leid“, sage ich und zwinge all meine Schuldgefühle in meine Stimme und meinen Blick. „Ich habe alles getan, um Zach zu decken, aber ich wusste nicht, dass er dort sein würde. Sie haben ihn ohnehin verdächtigt, seine Tarnung wäre so oder so aufgeflogen und-“ „Ist mir so scheißegal, ob du davon wusstest oder nicht!“, erwidert Richard hitzig. „Wenn du bei der Championship nicht rumgeschnüffelt hättest, wenn du ihm nicht nachspioniert hättest, wär diese ganze Scheiße nicht passiert, also spar dir deine verfickten Ausreden! Toga, Luftschnitt!“ Einen Sekundenbruchteil bin ich sprachlos, dann reißt Louis mich schon zu Boden, keinen Moment zu früh, denn Togekiss beschwört mit seinen ausgebreiteten Flügeln einen schneidenden Wind hervor, der über unsere Köpfe hinwegfegt. „Richy, krieg dich wieder ein!“, ertönt Raphaels fassungslose Stimme, bevor er sich auf ihn stürzt und ein lautstarkes Gerangel zwischen den beiden Favoriten beginnt. Togekiss holt inzwischen zu einem weiteren Luftschnitt aus und von meiner Position auf dem Steinboden meine ich sogar, den Wind sehen zu können, der sich in turbulenten Schlieren um das Pokémon windet und auf uns zuschießt. Gott springt dazwischen und fängt die Attacke mit einem verzweifelten Fauchen ab. Die Luftattacke reißt ihn von seinen Füßen und katapultiert ihn über unsere Köpfe hinweg, bis er gegen einen Laternenmast kracht und bewusstlos zu Boden geht. Zischend komme ich auf die Füße, Louis dicht hinter mir. Raphael hat Richard inzwischen zu Boden gerungen, wird aber im nächsten Moment auf den Rücken gerollt und von Richard festgehalten. Togekiss gurrt und breitet ein drittes Mal die Schwingen aus. Hätte Gott die Attacke nicht für uns abfangen müssen, hätten wir bestimmt eine Chance gehabt, aber der Volltreffer hat genügt, ihn außer Gefecht zu setzen, Sku ist noch verletzt, Priss ist keine Kämpferin und Jayjay ist trotz Typenvorteil nicht auf dem nötigen Level, um mit Richards Pokémon fertig zu werden. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Louis nach seinen eigenen Pokébällen greift, aber zu Recht zögert. Er hat erst Recht keine Chance. Ronya pfeift einmal schrill und Togekiss unterbricht seine Attacke, um den Kopf ruckartig in ihre Richtung zu schwenken. In der Hand hält sie wieder ihren Pokédex, der nun auf Richards Pokémon gerichtet ist. „Togekiss – das Jubelierer-Pokémon“, erschallt es aus dem kleinen Gerät. „Typ Normal/Flug. Menschen, die unnötigen Streit vermeiden und sich gegenseitig respektieren, ist es wohlgesonnen. Level 53. Fähigkeit: Edelmut.“ Ronya grinst. „Da hast du dir wohl den falschen Trainer ausgesucht“, meint sie schlicht und nickt in Richtung Richard, der weiterhin mit Raphael rangelt, während der versucht, an seine Pokébälle zu kommen. Togekiss fiept traurig, schüttelt dann aber sein weißes Gefieder und spreizt die Flügel zum Angriff. Ronya tritt vor uns und wirft Louis einen vielsagenden Blick zu. „Wenn ihr erlaubt“, sagt sie und greift nach einem ihrer Pokébälle. „Ich möchte ein paar Missverständnisse beseitigen. Ich weiß genau, was du und Winry durchgemacht habt.“ Rotes Licht erfüllt die Nacht und Togekiss´ neuer Gegner, ein Folipurba, materialisiert sich zu Ronyas Füßen. Seine langen, grünen Ohren lehnen sich aufmerksam nach vorne, seine Vorderpfoten fahren aufgeregt die Krallen ein und aus. Schweif und Hinterbeine liegen seitlich vom restlichen Körper und wirken völlig entspannt. Ich brauche einige Momente, bevor ich die unnatürliche Unbeweglichkeit des gesamten Hinterleibs mit Ronyas Worten in Verbindung bringe. Mir wird übel. Ronyas Starter ist von den Hinterbeinen an gelähmt. Kapitel 101: Es gibt immer einen Weg (Ronya und Maxwell) -------------------------------------------------------- Der Schock meiner Erkenntnis sitzt mir noch in den Gliedern, als Togekiss einen Luftschnitt auf Folipurba schleudert. Mein erster Instinkt ist, dazwischenzugehen. Das hilflose Pokémon zu beschützen. Die Attacke braucht nur wenige Sekundenbruchteile, um auf das Pflanzenpokémon herab zu sausen, aber für mich steht die Zeit still. Ich sehe Ronya, die ihr Pokémon mit verschränkten Armen und voller Zuversicht beobachtet, sehe Richard, der zu einem Schlag aushält, bevor Raphaels Faust ihn unterm Kinn erwischt und zu Boden gehen lässt. Sehe Folipurba, das gelassen mit den Ohren zuckt. Eine kuppelförmige Barriere bildet sich um das Pokémon und Togekiss´ Luftschnitt prallt wirkungslos an dem Schutzschild ab, der im nächsten Moment in tausend silberne Scherben zerspringt. Fassungslos stehen Louis und ich beieinander und schauen dabei zu, wie das hilflose Folipurba stolz das Kinn in die Höhe reckt und zu Ronya blickt. „Deine Reflexe sind besser geworden, Max“, sagt Ronya. „Deine Synthese brauchst du heute nicht. Bleib offensiv.“ Max nickt einmal energisch und nimmt wieder Togekiss ins Visier, das unsicher mit den Flügeln schlägt, sich schließlich jedoch in den Nachthimmel hievt, nur um mit Schwung auf Folipurba herabzurasen. Das Pflanzenpokémon gähnt nur gelassen, hüllt sich in ein helles Licht, das ich als Schwerttanz identifiziere und erwartet die Fliegen-Attacke mit absoluter Geduld. Der Aufprall schiebt Max ein gutes Stück zurück, bis es halb auf dem Rücken, halb auf der Seite liegt, aber als Togekiss versucht, sich erneut in die Lüfte zu katapultieren, verlängert sich das Blatt auf Folipurbas Stirn zu einem rasiermesserscharfen Farnwedel, umwickelt Togekiss und schleudert es zurück zu Boden, bevor es wie eine Peitsche auf das Flugpokémon niedergeht. Einmal, zweimal... nach dem dritten Hieb schrumpft das Blatt reflexartig zu seiner Anfangsgröße zurück. Max strampelt ein wenig mit den Vorderbeinen, um wieder in Sitzposition zu kommen und betrachtet seinen besiegten Gegner mit offenkundiger Zufriedenheit. „Erste Klasse, Maxwell“, lobt Ronya und hebt ihr Pokémon hoch. Schweif und Hinterbeine baumeln wie die Glieder einer kaputten Marionette zwischen ihrem Armen herab. Keinen der beiden scheint es zu stören. Louis schluckt, sein Blick stur zu Boden gerichtet. Ich rufe Gott zurück, der noch immer bewusstlos unter dem Laternenmast liegt, dann hole ich tief Luft und wende mich Ronya zu. „Tut mir leid, was ich eben gesagt habe“, sage ich kleinlaut, zwinge mich aber, Ronyas abwartenden Blick zu erwidern. „Ich habe dich falsch eingeschätzt. Wenn ich gewusst hätte, dass du… dass dein Pokémon paralysiert ist, hätte ich dich nicht so angeschrien.“ Ronya krault Maxwell hinter den Ohren und betrachtet mich nachdenklich. „Doch, hättest du“, widerspricht sie. „Aber solange ihr meinen Vorschlag im Kopf behaltet, ist mir der Rest egal. Es geht schließlich um Winry, nicht um euch.“ „Du hättest es netter formulieren können“, murmele ich, aber Ronya wendet sich schon grinsend ab und geht in Richtung Raphael, der sich unter Richards stöhnenden, halb bewusstlosen Körper hervorkämpft. „Ich mache keine Kompromisse.“ Louis und ich werfen uns einen ratlosen Blick zu, folgen ihr aber zu Raphael. „Du bist… Ronya, richtig?“, fragt er atemlos und wischt sich etwas Blut von der Wange. Seine Brille hat die Rangelei zum Glück heil überstanden, auch wenn der Bügel ein bisschen verbogen ist. „Hast du ein Pokémon, mit dem wir ihn transportieren können? Er ist schwerer, als er aussieht.“ „Was sagst du, Max?“, fragt Ronya ihr Folipurba abwesend und greift nach einem ihrer Pokébälle. „Lust, den Wyatt-Express zu nehmen?“ Ein roter Lichtstrahl schießt zwischen ihren Fingern hervor und nimmt gewaltige Ausmaße an, bevor er sich als Ronyas Stahlos entpuppt. Wyatt dreht gemächlich den gewaltigen Schädel, entdeckt Ronya und Maxwell und stößt ein freudiges Brüllen aus. Ronya setzt ihr Folipurba auf seinem flachen Kopf ab, von wo es sich mit den Vorderbeinen empor robbt. Stahlos schielt glücklich zu ihm hinauf. Wir helfen Raphael dabei, Richards Körper auf eins von Wyatts größeren Körpergliedern zu legen, sodass er nicht in die Zwischenräume rutscht und versehentlich zerquetscht wird. Als wir sicher sind, dass nichts passieren kann, setzt die fast zehn Meter lange Stahlboa sich gemächlich in Bewegung. Maxwell seufzt zufrieden und bettet den Kopf auf seine Vorderpfoten. Raphael ruft Richards besiegtes Togekiss zurück und läuft dann voraus, um Liz per Handy von den Geschehnissen zu unterrichten. Ronya, Louis und ich bilden mal wieder das Schlusslicht. „Was ist mit ihm passiert?“, fragt Louis, als er es nicht mehr aushält. Ronyas Blick verfinstert sich. „Zu Beginn meiner Reise habe ich mir viele Feinde unter den anderen Trainern gemacht“, erklärt sie nach einigen Sekunden. „Vor sechs Jahren hat uns eines Tages eine ältere Gang außerhalb der Stadt aufgelauert. Maxwell war noch nicht entwickelt, aber er hat sich gut geschlagen. Trotzdem konnten wir unmöglich gewinnen.“ Mit zusammengebissenen Zähnen reibt sie sich die Nasenwurzel, atmet einmal tief durch und lässt langsam ihre Hand sinken. „Sie haben mich festgehalten, damit ich ihn nicht zurückrufen konnte. Eins der Pokémon, ein Stahlos, hat nicht mal aufgehört, als er schon längst bewusstlos war. Er wurde zerquetscht. Seitdem ist er querschnittsgelähmt.“ „Das tut mir so leid“, flüstere ich tonlos und schaue dem lebensfrohen Folipurba hinterher, das ausgerechnet mit einem Stahlos befreundet zu sein scheint und gerade mit Leichtigkeit gegen das Pokémon eines Favoriten gewonnen hat. „Es war nicht deine Schuld“, entgegnet Ronya, jetzt wieder unbekümmert. „Es war eine schwierige Zeit, aber wir haben uns gemeinsam durchgebissen. Niemand wird uns jemals wieder so verletzen.“   Louis und ich warten auf den Stufen vor der Safari-Zone darauf, von Raphael ins Foyer gerufen zu werden. Richard ist wieder zu Bewusstsein gekommen und soll in einem Zimmer untergebracht werden, bevor er mich erneut attackiert. Irgendwie werde ich diese ganze Sache mit ihm regeln müssen, damit die Situation nicht weiter eskaliert, aber derzeit kreisen meine Gedanken einzig und allein um Ronya, Wyatt und Maxwell. Ich war ein Idiot. Ein verdammter Idiot. Selbst nachdem ich mich entschuldigt habe, könnte ich mich für meinen Wutausbruch selbst ohrfeigen. „Bin ich ein schlechter Trainer?“, unterbricht Louis meine innere Schimpftirade. Ich schaue zu ihm. Er hat die Knie angezogen und sein Kinn darauf gebettet. Sein Gesicht ist ausdruckslos. „Bist du nicht“, sage ich, rücke näher und lege einen Arm um seine Schultern. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, Winry zu helfen, dann hier. Ronya hat Erfahrung mit solchen Spezialfällen, Rose hat einen guten Draht zu Pokémon und Liz soll angeblich auch eine Koryphäe sein. Du wirst einen Weg finden, ihr zu helfen, da bin ich sicher.“ Er lächelt und lehnt sich an mich. „Hoffentlich.“ Ein Räuspern schreckt uns auf und wir fahren hektisch herum. Eine breit grinsende, junge Frau steht hinter uns im Eingang und schnalzt anzüglich mit der Zunge. Das bleiche Haar mit den türkisblauen Strähnen und die olivgrüne Rangeruniform lassen sie mich sofort als Elizabeth O´Neil identifizieren. Hinter ihr taucht mit strahlenden Augen Rose auf, deren kurze Rasterlocken um ihr Gesicht wippen, als besäßen sie ein Eigenleben. „Abby! Louis!“ Sie schiebt sich an ihrer besten Freundin vorbei und nimmt uns nacheinander freudestrahlend in den Arm. „Es ist schon so lange her“, sagt sie, als wir mit unseren Begrüßungen fertig sind. „Ich werde bald abreisen, deswegen bin ich froh, euch vorher noch einmal gesehen zu haben.“ „Lass mich hier ruhig versauern, Rose, das ist lieb von dir“, ertönt Liz´ Stimme. Ihr Grinsen ist breit wie eh und je. Rose streckt ihr die Zunge heraus. „Ich stelle vor, D-Rangerin und national bekannte Safari-Koryphäe, die einzig wahre Elizabeth Liz O´Neil.“ „Knie nieder, Pöbel“, meint Liz, bevor sie und Rose in einen hysterischen Lachanfall ausbrechen. „Ah, tut mir leid…“ Rose wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich kann nicht ernst bleiben, wenn sie in der Nähe ist. Sie hat einen furchtbaren Einfluss auf mich.“ Ich nicke nur grinsend. Nach der depressiven Stimmung der letzten Minuten ist ihr Gelächter herrlich erfrischend. „Scherz bei Seite“, sagt Liz und tritt vor, um meine Hand zu schütteln. „Du musst Raphaels beste Freundin sein. Abby, richtig? Ich bin echt froh, dich endlich zu treffen. Auch wenn ich das Gefühl habe, dich schon längst kennen gelernt zu haben, so oft wie er von dir spricht. Beinahe wäre ich eifersüchtig geworden.“ „Selbst wenn er wollte, ich bin schon vergeben“, sage ich mit einem Seitenblick zu Louis. Liz und Rose geleiten uns durch das Foyer der Safari-Zone, vorbei an der Rezeption und den nummerierten Ausgängen, durch eine halb versteckte Tür. Wir folgen den beiden durch einen holzvertäfelten Gang in eine Art Lounge mit Kamin und braunen Ledersofas, in die wir uns dankbar plumpsen lassen. Raphael stößt wenige Minuten später zu uns und nimmt neben Liz Platz, die uns allen Limo aus einem kleinen Campingkühlschrank anbietet. Mit dem Knistern des Kaminfeuers und dem leisen Schnarchen von Winry im Hintergrund, die sich auf Roses Schoß zusammengerollt hat, nimmt der Abend seinen Lauf. Liz findet stetig ein neues Gesprächsthema, fragt Louis und mich über unsere Reisen aus und berichtet mit Leidenschaft von ihrer Arbeit in der Safari, ihren Ausflügen mit Raphael und integriert selbst Rose so sehr ins Gespräch ein, dass sie mir wie ein anderer Mensch vorkommt. Die Stunden schmelzen dahin, aber als es auf zwei Uhr zugeht, steht Liz gähnend auf, streckt sich ausgiebig und verabschiedet sich für die Nacht, mit der Begründung, am nächsten Morgen Frühschicht zu haben. Raphael bleibt noch eine Weile bei uns sitzen und unterhält sich leise mit uns, bis auch er sich verabschiedet, nicht, bevor er der eingedösten Rose eine Decke um die Schultern gelegt hat. „Ihr könnt heute Nacht hier übernachten“, sagt er leise und nickt in Richtung des dunklen Holzschranks, aus dem er eben die Decke geholt hat. „Da sind genug für euch drin.“ Gähnend erhebe ich mich ebenfalls. „Wir können auch ins Pokécenter zurückgehen“, meine ich müde, doch er schüttelt den Kopf. „Es wäre mir lieber, ihr schlaft hier“, sagt er. „Nachts sind manchmal betrunkene Biker unterwegs. Sie tun selten jemandem etwas, aber gerade du musst es nicht drauf anlegen.“ „Da hat er Recht“, stimmt Louis dösig zu und kuschelt sich etwas tiefer in die Couch. „Komm schon Abby, es ist spät…“ Seufzend gebe ich mich geschlagen und so verbringen wir unsere erste Nacht in Fuchsania City im Gemeinschaftsraum der Safari-Zone.   Pling. Allgemeines Stöhnen wird laut, als der Signalton meines S-Coms alle Anwesenden aus ihrem Schlaf klingelt. Ich drehe mich zur Seite, verfange mich in meiner Decke und rolle geradewegs von der Couch, was zumindest Louis zum Lachen bringt, bevor er sich umdreht und sofort wieder einschläft. Rose blinzelt mich aus glasigen Augen an. Ich kämpfe mich aus der Decke frei und taste nach dem S-Com, den ich vor dem Schlafengehen auf dem Kaffeetisch abgelegt habe.   Von: Ryan_Bittner_05 An: Dark_01 Weitergeleitet an: Team_Shadow_00 »Fortschritte des Hackergenies zu melden. »Polizeiserver fast vollständig unter Kontrolle. »Informationsabzapfung aus den Datenbanken ab jetzt möglich. »Einschleusung in Passwortverteiler des Team Rocket HQs noch nicht abgeschlossen. »Ist aber nur eine Frage der Zeit. »Dankt mir später.   „Arroganter Typ“, murmele ich leise vor mich hin, kann meine Aufregung aber nicht ganz unterdrücken. Daran arbeitet Ryan also schon seit Wochen so intensiv. Dark versucht, mit seiner Hilfe an die Passwörter zu kommen und sich Zugang zu dem Hauptquartier zu verschaffen. Lagepläne braucht er nicht und sicher weiß er auch, wie man viele der Fallen umgehen kann, schließlich hat er seine gesamte Kindheit in dem Betonklotz auf Eiland Fünf verbracht. „Interessant“, sagt Ronya, die plötzlich hinter mir steht. Ich ziehe scharf die Luft ein, bevor ich mich von dem Schrecken erhole. „Warum schleichen sich dauernd Leute an mich ran?“, beschwere ich mich und schließe die Nachricht. Wankend komme ich auf die Füße. „Können wir reden?“, frage ich Ronya und nicke Richtung Tür. „Irgendwo draußen?“ „Klar.“ Sie geht voran und ich folge ihr, durch den langen Flur und in einen kleinen Lagerraum, der unbenutzt scheint, denn Tische sind an die Wand geschoben und eine dünne Staubschicht bedeckt alle Oberflächen. In der hintersten Ecke steht ein klobiger Ohrensessel mit grässlichem Blümchenmuster, den Ronya ohne Zögern in Beschlag nimmt. Ich mache es mir vor ihr im Schneidersitz bequem. „Du hast gestern viel über meine Reise gehört, und über meine Motivation, Team Rocket aufzuhalten.“, beginne ich.  „Das ist unser Ziel bei Team Shadow, neben dem Training natürlich, auf dass ihr ja alle so versessen seid. Hast du schon eine Entscheidung getroffen, ob du uns beitreten möchtest oder nicht?“ „Nein“, erwidert Ronya schlicht. „Warum nicht?“ „Team Rocket muss aufgehalten werden, das ist klar, aber nichts zwingt mich, dazu eurem Club beizutreten. Ich könnte genauso gut alleine gegen sie vorgehen.“ „Das könntest du“, gestehe ich. „Aber wir haben Zugang zu den Polizeiservern, wie du eben gelesen hast. Und wir haben die beste Kommunikation, die beste Organisation und die besten Trainer. Es wird einfacher sein, mit uns zu kämpfen, als getrennt von uns.“ Ronya lehnt sich in dem Ohrensessel zurück und begutachtet mich ausgiebig. „Ich werde beitreten. Wenn Dark mich in einem Duell besiegt. Bis ich ihn treffen kann, bleibe ich hier.“ „Mehr erwarte ich nicht“, erwidere ich grinsend und hochzufrieden. „Und Gerard?“ „Was weiß ich, was dieser Draufgänger vorhat“, lacht sie. „Du wirst ihn persönlich fragen müssen.“ „Meinetwegen.“ Ich betrachte sie eingehend. „Kennst du andere wie euch? Trainer, die keine Orden sammeln und trotzdem stark sind?“ „Du nimmst deinen Job wirklich ernst, was?“ „Je mehr wir sind, desto besser können wir Kanto und Johto abdecken“, erwidere ich. „Ryan ist mit seinen Computern beschäftigt, damit bleiben nur drei Mitglieder, die auf Patrouille gehen können.“ Ronyas Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Ich kenne tatsächlich ein paar Trainer, die dich interessieren könnten…“ „Aber?“, frage ich. „Sie sind vermutlich noch in Einall. Ich weiß nicht, ob sie dich für die Situation hier interessieren werden, oder die Reise auf sich nehmen wollen. Selbst wenn sie zusagen, kann es mehrere Wochen dauern, bis sie hier sind.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und greife nach meinem S-Com. Nachdenklich drehe ich ihn in meinen Fingern. Mehrere Wochen sind eine lange Zeit. Ich weiß nicht, wann Team Rocket seinen End-Coup geplant hat, aber wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, kann es nicht mehr allzu lange dauern. Es könnten noch zwei oder drei Monate sein, oder schon morgen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlechter wird mir, aber ich schüttele die unliebsamen Gedanken ab und hebe den Kopf. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, neue Mitglieder anzuwerben, muss ich es versuchen“, sage ich eisern. „Wer sind die Trainer?“ Ronya hält mir ihre offene Hand hin und ich lege den S-Com hinein. Sie beginnt, das Tastenfeld zu bearbeiten und gibt mir einige Minuten später das Gerät zurück. Ich finde drei neue Namen in meiner Kontaktliste. „Amy Heartoline, Nathan Shuck und Melissa Border“, lese ich laut vor. Bei dem ersten Nachnamen habe ich ein Deja-vú. Ich kenne jemanden mit diesem Namen, aber wen… „Amy ist die ältere Schwester von einem Protrainer hier in Kanto“, erklärt Ronya, als sie meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkt. „Vielleicht kennst du ihn. Tim Heartoline ist mit seiner Mutter aus Einall hierher gezogen, als sie sich von ihrem Mann getrennt hat. Ruf Amy auf keinen Fall tagsüber an. Sie ist absolut nachtaktiv und ist um diese Uhrzeit nur wach, wenn sie noch nicht ins Bett gegangen ist.“ Ich erinnere mich an den blonden Trainer, den Alfred auf der PCS interviewt hat. „Und die anderen?“, frage ich. „Irgendwelche Tipps?“ „Nathan steht auf Legenden“, sagt Ronya gähnend und erhebt sich. „Versprich ihm ein bisschen Ruhm und er macht alles, was du willst. Und wenn du Nat hast, ist Melissa kein Problem mehr. Sie ist nie weit von ihm entfernt. Wenn er Einall verlässt, kommt sie mit.“ „Die beiden darf ich aber tagsüber anrufen?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, bei starken Trainern immer nach exzentrischen Eigenschaften Ausschau zu halten. Es würde mich nicht wundern, wenn Nathan oder Melissa bei Vollmond irgendwelche Trainingsrituale durchführen. „Ja, kannst du“, stimmt Ronya zu. „Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich gehe zurück zum Pokécenter, bevor Gerard sich mit jemandem prügelt und ich eine Beerdigung organisieren muss.“ Sie verlässt den kleinen Abstellraum und lässt mich mit meinem S-Com und meinen Gedanken alleine. Wenn ich Ronya richtig verstanden habe, stehen die Chancen gut, die drei Trainer auf unsere Seite zu bringen. Das Problem wird die Distanz sein, die sie überbrücken müssen. Warum können sie nicht in Hoenn oder Sinnoh sein? Ich sende Dark einen kurzen Statusbericht mit Ronyas Bedingung und der Aussicht auf weitere Mitglieder und freue mich nicht unwesentlich, als seine überraschte Antwort zurückkommt. Sicher hat er nicht damit gerechnet, dass ich als Rekruter so erfolgreich sein würde. Immer langsam, Abby, denke ich und mache mich auf die Suche nach Raphael. Erstmal musst du sie überzeugen.   Nachdem ich das gesamte Untergeschoss abgeklappert habe, frage ich mich bei den Angestellten nach ihm durch. Einige Besucher warten im Foyer und schauen mir ärgerlich hinterher, als ich vor ihnen durch einen der Ausgänge in die Safari husche. Ein Ranger startet gerade den Motor seines Jeeps, ein älteres Pärchen auf der Rückbank und rattert davon, während ein anderer Ranger mit einer jungen Trainerin über die Kampf-Verbote in den Arealen diskutiert. Der Himmel ist von Wolken bedeckt und ohne meine Jacke fröstele ich ein wenig, aber es dauert nicht lange, bis ich Raphael entdecke, der hinter Liz auf einem Rihorn den Korridor zwischen den Arealzäunen entlang donnert. Ich verdrücke mich an den Rand des befestigten Weges und schirme meinen Mund gegen die Staubwolke ab, die das Gesteinpokémon bei seiner Ankunft aufwirbelt. Raphael schwingt sich von seinem Rücken, gibt Liz einen schnellen Kuss und kommt dann in meine Richtung. Liz ruft mir ein fröhliches Guten Morgen und Tschüss! zu, bevor sie sich in die Lederschlaufen stemmt, eine verhältnismäßig scharfe Kurve macht und auf ihrem Pokémon zurück in Richtung der Areale galoppiert. „Gut geschlafen?“, erkundigt Raphael sich, während wir zurück in das Safari-Gebäude treten. „Es gibt hier eine kleine Küche für die Angestellten, aber wenn du ein ordentliches Frühstück möchtest, musst du zurück in die Stadt.“ „Ich werde noch ein bisschen überleben“, meine ich und folge ihm an den Tresen und einigen Rangern vorbei, die ihm zunicken oder leise tuscheln. „Am Anfang musste Liz mit ihrer Entlassung drohen, damit sie nicht bei PCN anrufen“, sagt Raphael grinsend und winkt einigen Angestellten. „Nachdem sie alle ein Autogramm hatten und ich schon über eine Woche da war, hat sich die Aufregung langsam gelegt. Es ist wirklich entspannt.“ „Hast du schon eine Ahnung, wo du für die PCS trainieren willst?“, frage ich. Ich weiß schließlich, dass Alfred sich immer einen Spaß daraus macht, Jagd auf seine geliebten Favoriten zu machen. Auch vor Raphaels Abneigung gegen Pressetrubel macht er keinen Halt. „Wahrscheinlich muss ich die Region wechseln. Mal wieder…“ Er seufzt und lehnt sich an die Wand im Flur. Seine Augen sehen allein bei dem Gedanken an den erneuten Stress müder aus. Manchmal frage ich mich, ob es gut war, dass er so früh von Alfred entdeckt wurde. Aber was geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen. „Vielleicht kannst du ja nach Sinnoh“, schlage ich vor. „Oder auf die Eilande. Valentin meinte, auf dem Glühweg auf Eiland Eins lässt es sich gut trainieren.“ „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, gesteht Raphael. „Die Eilande sind so abgelegen, wie es in Kanto möglich ist. Und der Glutberg ist einer der besten Trainingsorte für starke Trainer.“ „Wenn du nach solchen Orten suchst, kann ich dir auch den Silberberg und den Felsenherzturm empfehlen“, erwidere ich schnaubend. Raphael lacht. „Bevor ich mich in diese Todeszonen wage, warte ich lieber noch etwas.“ Ich zögere, bevor ich das nächste Thema anschneide, aber es führt kein Weg daran vorbei, also kann ich es auch gleich hinter mich bringen. „Und Richard? Wo will er hin?“ „Oh, Richy…“ Raphael reibt sich unter seiner Brille die Augen und schüttelt ratlos den Kopf. „Ich weiß nicht mehr, was ich mit ihm machen soll. Als ich ihm heute Morgen Frühstück gebracht habe, ist er in dem Zimmer schon die Wände hochgegangen. Ich kann es ihm nicht verübeln, schließlich hat er monatelang in einer Zelle festgesessen, aber wenn er glaubt, ich lasse ihn wieder auf dich los, hat er sich geirrt.“ „Meinst du, ich kann mit ihm reden?“ „Nicht alleine“, sagt Raphael sofort. „Ich komme mit.“ „Dachte ich mir schon“, erwidere ich grinsend und umarme ihn einmal fest. „Also, wo geht´s lang?“   Richards Zimmer ist am anderen Ende des Flures und abgeschlossen. Von drinnen kann ich Schritte hören. Raphael wirft einen letzten Blick zu mir, dann ruft er vorsichtshalber Dario und steckt den Schlüssel ins Schloss. Die Schritte verstummen beim ersten Knarzen der Tür, die Raphael nach innen aufdrückt. Richard steht am anderen Ende des Raumes. Sein Kinn weist einen blauen Bluterguss auf und seine Augen sind rotgerändert. Das karamellbraune Haar sieht aus, als wäre er zahllose Male mit der Hand hindurch gefahren. „Yo“, sagt er müde und schaut von Raphael zu Dario und schließlich zu mir. Seine Augen verengen sich, aber er attackiert mich nicht, sondern lässt sich auf das Bett fallen und starrt auf seine Hände. „Wir hatten ein ausführliches Gespräch heute Morgen“, erklärt Raphael und lässt mich in das Zimmer. Dario und er nehmen zu beiden Seiten von mir Stellung. „Hast du dich beruhigt?“, fragt er Richy. „Ich bin Naturtalent darin, mich in Zellen zu beruhigen, Raph“, sagt Richy durch zusammengebissene Zähne. „Ist quasi mein zweiter Vorname.“ „Du weißt, dass ich dich hier nicht einsperren will“, sagt Raphael. „Aber wenn deine erste Handlung nach deiner Freilassung ist, Abby mit deinen Pokémon anzugreifen, habe ich keine Wahl. Sie war diejenige, die den Vertrag für deine Freilassung ausgehandelt hat, sonst wärst du jetzt immer noch im Gefängnis. Und sie hat dabei viel riskiert. Wir haben das alles durchgekaut, Richy. Muss ich es dir nochmal vorbeten oder entschuldigst du dich?“ „Ich entschuldige mich nicht bei ihr.“ Er funkelt Raphael an, der erschöpft ausatmet und die Arme verschränkt. „Ich kann das den ganzen Tag machen“, droht er. „Bevor du mir versprichst, dass du Abby in Zukunft in Ruhe lässt und dich bei ihr entschuldigst, lasse ich dich nicht raus. Und wenn mich das zu einem Arschloch macht, bitte sehr. Aber ich kann dich sonst nicht guten Gewissens aus den Augen lassen.“ Richard schließt die Augen und beginnt, seinen Kopf gegen die Wand hinter sich fallen zu lassen. Schlag um Schlag um Schlag. Ich beiße mir auf die Lippen, aber als ich zu Raphael hinaufschaue, beobachtet er Richard nur mit ausdrucksloser Miene. Er will das auch nicht, denke ich. Aber er wird nicht nachgeben, nur damit er weiß, dass ich vor ihm in Sicherheit bin. Ich schaue zurück zu Richard, der die Augen immer fester zusammenkneift, einen frustrierten Schrei von sich gibt und die Handballen gegen seine Augen presst. „Lass mich hier raus…“, fleht er. „Wenn ich länger hier bleibe, werde ich verrückt!“ „Es ist okay“, murmele ich. „Er muss sich nicht entschuldigen. Wenn er mich nicht mehr angreift, reicht mir das als Kompromiss.“ Richard lässt die Hände sinken und schaut zu Raphael, der zögert, dann jedoch seufzt und nickt. „Lässt du sie von nun an in Ruhe?“, fragt er. Er wirft einen letzten Blick zu mir, nickt aber ergeben. „Ich greife deine kleine Freundin nicht mehr an. Versprochen.“ „Okay.“ Raphael wirft Richard den Zimmerschlüssel zu und gemeinsam mit Dario wenden wir uns zur Tür. Ich drehe mich noch einmal um. Ich weiß schließlich nicht, wann ich ihn das nächste Mal wiedersehen werde. „Ich bin auf Zachs Seite“, erkläre ich. Er sieht mich skeptisch an, lässt mich aber ausreden. „Wenn ich eine Möglichkeit finde, ihm zu helfen, ihn da raus zu holen, werde ich alles in meiner Macht stehende tun, sie zu ergreifen. Das verspreche ich.“ Richard nickt nur, steht auf und geht ans auf Kipp stehende Fenster. Draußen huscht etwas Weißes zwischen den Blumenbeeten hindurch und verschwindet im angrenzenden Wald. Kapitel 102: Funke zu Flamme (Weißer Schatten) ---------------------------------------------- Ich sammele Louis in der Lounge auf, wo er noch immer seelenruhig schläft und mache mich gemeinsam mit ihm auf den Rückweg zum Pokécenter. Draußen halte ich nach dem weißen Etwas Ausschau, das ich durch das Fenster gesehen habe, aber als ich nichts Verdächtiges entdecke, gehe ich davon aus, dass es irgendein Pokémon gewesen sein muss, dass ich sich zu weit aus dem Wald gewagt hat. Nachdem Schwester Joy etwas später unsere Pokémon durchgecheckt hat, frage ich sie nach Ronya und Gerard, bei deren Namen sie sofort das Gesicht verzieht, aber sie schüttelt nur den Kopf. „Die beiden sind schon vor über einer Stunde gegangen“, erklärt sie und reicht uns die Pokébälle. „Wo sie sind, weiß ich nicht, tut mir leid.“ Schulterzuckend machen Louis und ich uns auf unserem geteilten Zimmer frisch, wo ich meine Verkleidung aus Saffronia City anziehe und mich kritisch im kleinen Badezimmerspiegel begutachte. Es wird reichen müssen. Als wir wieder draußen stehen, schauen wir uns ratlos an. „Und jetzt?“, frage ich. Ronya ist unauffindbar und außer sie und Gerard zu überzeugen, Team Shadow beizutreten, habe ich vorerst keine Verpflichtungen. Es fühlt sich… ungewohnt an. „Wir sollten unseren Pokémon etwas Freilauf geben“, sagt Louis grinsend, während er schon dabei ist, sein Fahrrad zu entketten. Er zieht den Helm auf und schaut mich auffordernd an. Ich zögere, aber eigentlich spricht nichts dagegen. „Aber nicht zurück zu Route 18“, drohe ich und schwinge mich auf mein eigenes Fahrrad. Gesagt, getan. Mit dem Fahrrad fällt der Trip durch Fuchsania City wesentlich leichter als zu Fuß und so erreichen wir schon bald das Durchgangshäuschen, das Route 15 mit der Stadt verbindet. Die beiden von Bäumen abgeschirmten Wege, die östlich nach Orania City und Lavandia führen, verlaufen den ersten Teil der Strecke in einem Wirrwarr aus seichten Tälern, Hügelkuppen und einigen Erdhängen, die steil gen Himmel ragen und die Route grob auf zwei Höhen-Niveaus heben. Mit den Fahrrädern kommen wir gut voran, auch wenn die kleinen Abhänge einige Abschnitte schwer passierbar machen. Zu unserer Linken verläuft stets der höher gelegene Teil der Route, aber auch von unten kann ich einige Trainer erkennen, die aus der anderen Richtung kommen und sich dort oben umsehen oder picknicken. Gegen Mittag werden unsere Beine und meine Arme müde und ich will gerade vorschlagen, eine Pause einzulegen, als Louis, der etwas voran gefahren ist, auf ein kleines Grüppchen deutet. „Sind sie das nicht?“, ruft er mir zu und wird langsamer, damit ich zu ihm aufschließen kann. Nur wenige Sekunden später weiß ich, was er meint. Gerards Haar leuchtet in der Frühlingssonne wie glühende Kohlen und auch so wären wir kaum an ihm vorbei gefahren, schließlich ist er selbst im Sitzen fast so groß wie ich. Ronya liegt neben ihm auf dem Rücken, ein Bein überschlagen, so dass der Schlitz ihrer Jeans das gesamte Knie freigibt und summt eine mir unbekannte Melodie. Als wir näher kommen, entdecke ich auch Max, der halb eingerollt in ihrem freien Arm liegt und leise schnarcht. Neben Gerard sitzt ein Azumarill und stemmt… Gewichte? „Hey!“, rufe ich den beiden zu und ernte von Gerard einen wutentbrannten Blick. „Seid ihr uns gefolgt?“, beschuldigt er uns, kaum, dass wir bei den beiden angekommen sind und ächzend von unseren Fahrrädern klettern. „Dann seid ihr nämlich sowas von-“ „Nicht schreien, Gerard“, murmelt Ronya träge und blinzelt uns gegen die Sonne an. „Du weckst Max auf.“ Wie auf Kommando hebt das Folipurba seinen Kopf, gähnt ausgiebig und leckt sich über die Schnauze. Ronya beginnt automatisch, es am Kopf zu kraulen. „Habt ihr was dagegen, wenn wir uns hierhin pflanzen?“, fragt Louis, während er schon sein Fahrrad an den Wegesrand manövriert und es sich neben Ronya gemütlich macht. Gerard funkelt uns weiter an, aber dieses Mal lasse ich mich nicht einschüchtern und folge Louis´ Beispiel. Es scheint zu funktionieren, denn Gerard wendet sich nach kurzer Zeit wieder seinem Pokémon zu und fördert neue Hanteln aus seinem Rucksack zu Tage, die er dem Azumarill reicht. Louis und ich teilen unsere Sandwiches, die wir auf dem Weg durch die Stadt gekauft haben, rufen unsere Pokémon und genießen die Sonne, die inzwischen nicht mehr von grauen Wolken verdeckt ist. Jayjay gibt ein enttäuschtes Wiehern von sich, als er Hunter nirgendwo sieht. „Tut mir leid“, sage ich und tätschele seine Schnauze. „Hunter muss sich von seinem Kampf erholen. Er wird ein paar Wochen nicht bei uns sein.“ Er schnaubt, verständnislos, und stupst mich mit seiner Nase an, Verwirrung in seinen schwarzen Augen. „Er hat sich schwer verletzt“, erkläre ich leise und muss mit einem Mal die Tränen hinunterschlucken. Jayjays Reaktion geht mir näher als alles zuvor. „Ich vermisse ihn auch“, murmele ich und umarme Jayjays Hals aus meiner sitzenden Position, dann tätschele ich seine Flanke. „Na komm, die anderen sind dort drüben.“ Jayjay wiehert, aber es klingt müde und als er zu einem Stück Wiese trabt, fehlt seinem Gang der übliche Schwung. „Schau nicht so“, kommentiert Ronya meinen Blick und schreckt mich aus meinen düsteren Gedanken auf. „Dein Ibitak hat für dich gekämpft und wird sich wieder erholen. Kein Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“ „Ich weiß, ich weiß…“ Ich schaue zu Folipurba, das schnurrend die Ohren gekrault bekommt und mich aus nussbraunen Augen beobachtet. Plötzlich landet etwas Schweres auf meiner Schulter und klettert von dort auf meinen Kopf. Ein Blick nach oben zeigt, dass Priss sich von Gott und Sku entfernt hat, die beide im Gras liegen, wo Jayjay grast. Gotts Blick huscht in alle Richtungen, stets wachsam und bereit, Sku und die anderen vor jeglicher Gefahr zu beschützen. Stolz schwillt in meiner Brust auf, aber Priss´ Krallen auf meiner Kopfhaut bringen mich schnell in die Gegenwart zurück. Sie maunzt laut. Maxwell hebt den Kopf und schaut sie an. Da fällt es mir wieder ein. „Ronya“, sage ich und hebe Evoli von meinem Kopf in meinen Schoß. „Du hast Max doch als Evoli von deiner Tante bekommen, oder?“ Sie nickt. „Manchmal bist du unheimlich, Abby“, sagt sie. „Woher weißt du das nun wieder?“ „Ich habe Priss von derselben Person bekommen“, erkläre ich. „Von Karin. Sie hat deiner Tante Max mitgegeben. Und das bedeutet, dass-“ Ronya reißt die Augen auf. „Sie sind Geschwister?“ Maxwell spitzt überrascht die Ohren, dann stützt er sich auf seine Vorderbeine und brummt Priss wohlig an. Sie faucht leise, tippelt aber langsam in seine Richtung und die beiden beginnen, einander zu beschnuppern. Ronya setzt Max kurzerhand vor Priss ins Gras, die ihn umrundet und verwirrt seine Hinterbeine anstupst. „Wir sollten den beiden ein bisschen Zeit geben, sich kennen zu lernen“, meint sie an mich gewandt und schaut dann zu Louis, der sich das letzte Sandwich in den Mund stopft. Als er ihren Blick bemerkt, verschluckt er sich und erleidet einen heftigen Hustenanfall. Gerard schaut ihn angewidert an. „Wa-was?“, fragt er, als seine Atmung wieder in Ordnung ist. Ronya erhebt sich. „Hast du Winry dabei?“ Er nickt, verunsichert. „Gut, dann machen wir zwei jetzt einen Spaziergang und ich erkläre dir, wie ich Max wieder ans Kämpfen gewöhnt habe. Abby, du hältst hier mit Gerard die Stellung.“ Sie zwinkert mir zu, zieht den sichtlich überforderten Louis auf die Beine und verschwindet mit ihm in Richtung Waldesrand. Ich räuspere mich und Gerard dreht ruckartig den Kopf in meine Richtung. „Hast du ein Problem?“, fragt er gereizt. „Habe ich tatsächlich“, sage ich und erlaube ein wenig meiner angestauten Frustration in meine Stimme. „Würde es dir etwas ausmachen, dich normal mit mir zu unterhalten, statt alles sofort als Angriff gegen dich aufzufassen?“ „Ich hasse Leute wie dich!“, faucht Gerard mich hitzig an und ich merke an dem Ton in seiner Stimme, dass er dieses Mal wirklich wütend ist. Meine Worte müssen bei ihm eine Kurzschlussreaktion ausgelöst haben, warum auch immer. „Wenn du mein Temperament nicht ertragen kannst, dann rede nicht mit mir und versuch nicht, mich zu ändern, nur damit du dich besser fühlen kannst! Es gibt Menschen, die-“ „Geraaaard!“, ertönt Ronyas Ruf von weiter südlich. „Atmung!“ Der Rothaarige schließt die Augen, atmet mehrere Male tief ein und aus und schaut mich dann an. Als er spricht, klingt seine Stimme ruhig, aber in seinem Blick lodert weiterhin das Feuer seines vorigen Wutausbruchs. „Es gibt Menschen, die sich nicht ändern wollen, nur um in die allgemein akzeptierte Norm zu passen. Was wolltest du mit mir besprechen?“ Ich räuspere mich verlegen. „Ronya hat mein Angebot angenommen, Team Shadow beizutreten, wenn unser Anführer Dark sie in einem Duell besiegt. Wir sind eine Gruppe Trainer, die sich nur auf ihr Training konzentrieren und keine Orden sammeln und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Polizei im Kampf gegen Team Rocket zu unterstützen. Möchtest du uns helfen?“ „Warum sollte ich?“, erwidert Gerard. „Wenn dort alle so sind wie du, habe ich absolut kein Interesse daran, mit ihnen zusammen zu arbeiten.“ „Niemand dort ist wie ich“, kontere ich sofort. „Alles an meiner Mitgliedschaft ist Ausnahme. Ehrlich gesagt würdest du dort gut reinpassen. Ihr seid alle etwas exzentrisch, wenn man mich fragt.“ „Willst du damit sagen, ich bin exzentrisch?“, fragt er wütend. Ich nicke. Er springt auf, Fäuste geballt und ich rutsche instinktiv ein Stück zurück. Keine Sekunde später kommt Gott an mir vorbeigeschossen, reißt das Maul auf und schleudert ein Flammenrad in Gerards Richtung, der überrascht in die glühend heißen Flammen starrt, die wie ein entfesselter Wirbelsturm aus Feuer auf ihn zu rasen. Eine Wasserdüse durchschlägt die Feuerattacke, einen Sekundenbruchteil, bevor sie Gerard erreicht. Azumarill hat seine Gewichte fallen gelassen und die Wasserattacke abgefeuert, um ihren Trainer vor dem Flammenmeer zu beschützen. Jetzt baut es sich warnend vor seinem Trainer auf. Gott faucht mit grimmiger Entschlossenheit und macht einen Schritt auf die beiden zu. „Was zur Hölle machst du da?“, schreie ich und komme zitternd auf die Füße. Der Schock seines Angriffs und das Adrenalin, das heiß und kalt durch meinen Körper pulsiert, lassen meine Stimme hysterisch klingen. „Du kannst nicht einfach so einen Trainer angreifen! Was, wenn Azumarill nicht da gewesen wäre? Was ist los mit dir, Gott?!“ Gott presst sich während meines Gefühlsausbruchs flach auf den Boden, aber seine feindseligen Blicke werden nicht weniger. Gerard tritt einige Glutfunken aus, die im Gras gelandet sind und schweigt. Azumarill verschränkt erwartungsvoll die kräftigen Arme. „Ich fasse es nicht…“, murmele ich und starre mein Pokémon an. Ich fühle mich… verraten. Mehr als je zuvor. Nach unserem Kampf gegen Venuflibis hatte ich das Gefühl, dass Gott Fortschritte macht. Dass er mir vertraut, dass er versteht, wann er Menschen angreifen darf und wann nicht. Und jetzt greift er Gerard nicht nur ohne triftigen Grund an, sondern benutzt sogar eine richtige Feuerattacke. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich bin so enttäuscht von dir“, flüstere ich. Gott reißt den Kopf herum und bleckt die Zähne. Ich habe die Geste oft genug gesehen, um sie blind übersetzen zu können. „Wenn du jedes Mal so reagierst, wenn du mich beschützen willst, verzichte ich lieber ganz darauf“, sage ich kalt. Gott legt verletzt die Ohren an. Wir liefern uns ein erbittertes Blickduell, bis er resigniert den Kopf abwendet. Meine Augen brennen, aber ich lasse die Tränen nicht kommen. Vorerst überwiegt noch die Wut. In dem Moment kommen Ronya und Louis, angelockt von dem Aufruhr, von ihrem Gespräch am Wegesrand zurück. „Was ist passiert?“, fragt Louis und schaut unsicher zwischen mir und Gott hin und her. „Ihr seid hoffnungslos, alle beide“, stellt Ronya fest und geht neben Gott in die Hocke. „Wie lange trainiert ihr schon zusammen?“ „Ein halbes Jahr“, erwidere ich mit trockener Stimme. „Er hat schon öfter jemanden gebissen, aber er hat noch nie mit einer Feuerattacke angegriffen.“ „Gerard ist ein großer Typ, da ist es nicht verwunderlich, dass er zu einer Attacke greifen würde“, überlegt Ronya laut. „Das ist nicht der Punkt“, fluche ich. „Immer wieder habe ich ihm gesagt, er soll Menschen nicht einfach angreifen. Er tut es immer wieder, es wird schlimmer, je stärker er wird und jetzt das? Ich verliere die Kontrolle über ihn und ich weiß nicht, was ich sonst noch machen soll!“ „Abby, beruhige dich erstmal“, sagt Louis leise und umarmt mich von hinten. Ein Schluchzen schüttelt meinen Körper und ich wische mir hastig über die Augen. „Ich will doch nur, dass wir zusammen arbeiten. Aber er entgleitet mir und mit dir kommt er auch viel besser klar und ich-“ „Shh…“ Er reibt mir über den Rücken und legt sein Kinn auf meine Schulter. „Ganz ruhig.“ Gott schaut schuldbewusst zu mir auf, lässt jedoch sofort den Kopf hängen, als er mein Gesicht sieht. Das macht es nicht einfacher. Ich weiß ja, dass er nur mein Bestes will, aber er ist eine Gefahr für andere, wenn er so weiter macht, und dass kann ich nicht mehr länger verantworten. Nicht, wenn er die Bisse durch ausgewachsene Feuerattacken ersetzt. Er ist inzwischen Level 34. Es geht längst nicht mehr um eine kleine Glutattacke, mit der man höchstens ein Lagerfeuer anfachen könnte. Ich habe Gotts Feuer in Anemonia City am eigenen Körper zu spüren bekommen. Die Brandnarbe an meiner Hand ist Beweis genug, dass seine Feuerattacken nicht mehr nur harmlose Spielereien sind. Wäre die Attacke zu Gerard durchgedrungen, hätte er schlimme Verbrennungen davontragen können. Hätte er vielleicht sogar sterben können? Bei dem Gedanken wird mir schlecht. Ronya kratzt sich am Kopf. „Ihr habt ein ganzes Stück Arbeit vor euch“, sagt sie schließlich und lässt sich vor mir auf den Boden sinken. „Ich kenne euch beide nicht besonders gut, aber von dem, was ich mitbekommen habe, vertraust du Gott nicht, sich zu benehmen und er vertraut dir nicht, Gefahren richtig einzuschätzen. Soweit korrekt?“ „Klingt ziemlich auf den Punkt“, meint Louis. Ronya schaut von ihm zu mir und kratzt sich am Kopf. "Hoffnungslos. Ihre alle. In Ordnung. Ich kann nicht länger mit anschauen, wie ihr blind durch euer Trainerdasein torkelt. Ab morgen bekommt ihr beide Nachhilfe in Sachen Pokémonaufzucht." Gerard gluckst. Ich schaue Ronya nur sprachlos an. "Was? Warum?" "Weil ihr beide keine Ahnung habt, was ihr eigentlich tut", erwidert sie und richtet sich auf. "Ich treffe euch morgen um zehn Uhr im Pokécenter. Gerard, wir gehen." Sie winkt ihn mit sich, klaubt Maxwell vom Boden auf, wo er neben Priss eingedöst ist und radelt mit ihrem besten Freund zurück Richtung Stadt. Mich lässt sie verwirrt und ein bisschen hoffnungsvoll zurück. Louis geht es nicht besser. Ich rufe Gott und die anderen zurück, aber bevor wir die Route weiterfahren, mache ich es mir neben Sku gemütlich, überprüfe den Zustand ihrer Rippe und bringe sie auf den neusten Stand. Es scheint ihr besser zu gehen und laut Joy sollte sie in ein paar Tagen wieder voll kampffähig sein. Ihr tiefes Schnurren bringt mich wieder auf den Boden zurück und während ich mein Gesicht in ihrem aufgeheizten, staubigen Fell vergrabe, bin ich insgeheim dankbar darüber, dass Ronya so geradeheraus ist und uns nun zu diesem Treffen gezwungen hat. Ich weiß nicht, ob ich Gott alleine unter Kontrolle bringen könnte.   "Ich kann das Meer sehen!", rufe ich begeistert, als wir eine Stunde später das Ende von Route 15 erreichen. Der Weg, dem wir seit heute Morgen folgen, führt nördlich auf eine Hügelkuppe, deren Windräder sich in der kraftvollen Brise langsam drehen. Große Buchen säumen den Asphaltweg und trennen die Straße von dem daneben liegenden Pfad, der zwischen Wald und Hügel eingeklemmt ist. Begeistert von dem Anblick des blauen Ozeans, der sich bis ans Ende des Horizonts erstreckt,  fahren Louis und ich in Rekordtempo an beiden Weggabelungen vorbei und geradewegs auf den Zaun zu, der uns vor einem Sturz ins Meer bewahrt. Lachend und aufgeregt, so als wäre es das erste Mal, dass wir das Meer zu Gesicht bekommen, springen wir von unseren Rädern, lehnen uns über das weiße Holz und blicken hinunter in die seichten Wellen. Da höre ich es. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus, als das Heulen hinter uns ertönt. Unheil. Verderben. Opfer. Schmerz. Schicksal. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um und entdecke Absol, das wie ein weißer Schatten zwischen den Baumstämmen auf Route 15 zu uns herabschaut. Das nachtblaue Horn, das sichelförmig aus dem weißen Fell seines Kopfes herausragt, glänzt bedrohlich in der Nachmittagssonne und die gewaltigen, schmutzverkrusteten Pfoten kneten die Erde zwischen seinen Krallen zu feinem Staub. Es muss uns von Saffronia City bis hierher gefolgt sein. Das Wehklagen wiederholt sich und dieses Mal fällt mir die Bedeutung wie Schuppen von den Augen, so als wäre ich schon immer sein Trainer gewesen. Es warnt mich vor nahendem Unheil, vor Entscheidungen, die falsch getroffen werden können und vor einem notwendigen Opfer, das ich erst bringen werde, wenn es zu spät ist. Wäre Zach hier, würde es sie bestimmt besser verstehen, denke ich noch, da macht Absol schon kehrt und verschwindet zwischen den Baumstämmen in der Dunkelheit des Waldes. Ich bezweifle nicht, dass sie mir folgen wird, bis mein Versprechen erfüllt ist. Nicht nur Richard hat ein Interesse daran, dass ich mich für Zachs Befreiung einsetze. "Das… war ein Absol, oder?", fragt Louis perplex und stellt sich neben mir auf. "Gibt´s die hier überhaupt?" Ich schüttele den Kopf. "Es gehört Zach", erkläre ich leise, meine Gedanken noch immer mit der Prophezeiung beschäftigt, wenn es denn eine ist. Ein Opfer, das ich nicht bringen werde? Nahendes Unheil? Wie nah denn bitte? "Es läuft frei, deswegen hat Rocky es nicht eingesackt." "Tja, ich hab jetzt jedenfalls eine gewaltige Gänsehaut", stellt Louis fröstelnd fest und rubbelt sich über die Arme. "Zurück? Wir haben noch ein paar Stunden bergauf vor uns." Wir steigen wieder auf unsere Räder und fahren zurück Richtung Route 15, nicht, ohne einen Blick in den eingeklemmten Weg zu werfen, der uns eben nur flüchtig im Gedächtnis geblieben ist. Im Nachhinein hätten wir es besser gelassen. Der Korridor ist bevölkert mit Bikern, die auf Kisten sitzen, Bier trinken und sich angeregt unterhalten. Das Meeresrauschen und Absols Ruf hat sie bisher übertönt, aber als wir jetzt näher kommen, kann ich die leicht betrunkenen Stimmen, die Pfiffe und das heisere Lachen sehr gut ausmachen. Einer der Biker hebt den Kopf und schaut in unsere Richtung. Mein Herz setzt einen Schlag aus, dann trete ich auch schon wie vom Bibor gestochen in die Pedalen und rase davon, bis meine Beine streiken und die Bikergruppe so weit wie nur möglich von mir entfernt ist. So schnell, wie ich unterwegs bin, machen aber weder meine Beine, noch meine geschwächten Arme lange mit und bei der ersten kleinen Erhebung im Boden rutsche ich mit dem Reifen ab, schlittere samt Fahrrad über der Boden und komme polternd in einem kleinen Flecken Gras zum Stillstand. "Gottverdammte...", flucht Louis, der mir in halsbrecherischem Tempo gefolgt ist und jetzt von seinem Fahrrad springt, um neben mir auf die Knie zu fallen. "Hast du dich verletzt? Geht´s dir gut?" Vorsichtig bewege ich meine Gliedmaßen, aber außer einem aufgeschrammten Ellenbogen und einer schmerzenden Hüfte scheine ich unversehrt. "Alles gut." "Abby, ey, ohne Mist", flüstert Louis und atmet zittrig aus, bevor er mich wütend ansieht. "Manchmal glaube ich, du legst es echt darauf an, dich umzubringen. Was war das gerade eben?" "Sorry", flüstere ich und schiebe mein Fahrrad zur Seite. Louis hilft mir auf die Füße und stützt mich, als mir für einen Moment unwohl wird, aber der Schwindel legt sich fast sofort wieder. "Also, was war los?" "Mik", murmele ich mit einem Schaudern und werfe einen letzten Blick über meine Schulter. "Das war Mik. Und ich weiß nicht, ob er mich erkannt hat." Kapitel 103: Therapiestunde (Freitag der 13.) --------------------------------------------- Wir haben kaum unser Zimmer im Pokécenter betreten, da schnappe ich mein Handy und wähle Jacks Telefonnummer. Holly ist noch immer nicht gut auf mich zu sprechen, deshalb gehe ich lieber auf Nummer sicher. „Jack, hier ist Abby“, melde ich mich, kaum dass er abnimmt. „Louis und ich sind eben auf Route 14 Mik über den Weg gelaufen. Er war einer der Bikeranführer in Teak City, der entkommen ist. Erinnerst du dich?“ „Langsam, Abby, langsam.“ Jack lacht, aber seine Stimme ist ernst. „Wo genau auf Route 14? Und bist du absolut sicher, dass es Mik war?“ „Am Ende, in der Senke bei den Windrädern.“ Ich denke an die Augen zurück, die mir am Anfang Vertrauen eingeflößt haben, nur um mich später zu verraten. „Und ja. Ich bin sicher.“ „Wann hast du ihn dort gesehen?“ „Vor etwa drei Stunden“, erwidere ich und lasse mich auf das Bett fallen. Louis und ich sind im Eiltempo zurückgefahren, immer mit dem Gefühl im Nacken, jeden Moment von den Bikern eingeholt zu werden. Mit ihren Motorrädern wäre es ihnen ein leichtes gewesen, uns zu folgen. „Er hat nicht versucht, uns aufzuhalten und ich weiß nicht, ob er mich überhaupt erkannt hat. Aber es gibt auf Route 18 einen Bikertreffpunkt. Vielleicht halten sie sich dort auf.“ „Danke für deinen Anruf“, sagt Jack. „Wir kümmern uns darum. Bleib im Pokécenter, bis du wieder von uns hörst.“ „Ich kann euch Unterstützung schicken“, werfe ich noch schnell ein, bevor er auflegen kann. „Hier sind zwei… drei sehr starke Trainer, die bestimmt helfen würden.“ „Einer von denen reicht“, sagt Jack nachdenklich. „Ich will nicht zu viele Rookies organisieren müssen. Treffpunkt ist das Durchgangshaus vor Route 18.“ „Geht klar.“ Er legt auf und ich springe vom Bett. Louis nickt mir zu und gemeinsam verlassen wir unser Zimmer. Zeit, die Unterstützung zusammenzutrommeln.   „Nein.“ „Bitte, Ronya!“, flehe ich und lehne mich auf dem Stuhl vor, den sie mir in ihrem Zimmer angeboten hat. Gerard, der ebenfalls hier war, steht wie eine gigantische Statue am anderen Ende des Zimmers neben dem Fenster. „Seit ich dich getroffen haben, liegst du mir mit Team Shadow in den Ohren“, sagt sie von ihrem Platz auf dem Bett aus, wo Louis und ich sie in ein dickes Buch vertieft vorgefunden haben. „Ich sagte dir bereits, ich trete euch erst bei, wenn Dark mich in einem Duell besiegt. Vorher lasse ich mich nicht von dir für Missionen anleiern.“ „Ich will dich nicht anleiern“, protestiere ich sofort. Ronya seufzt und lässt ihr Buch sinken. „Denkst du, ich merke nicht, welche Taktik du benutzt?“, fragt sie. „Du willst mir ein schlechtes Gewissen machen, damit ich die Polizei in Team Shadows Namen bei dieser Razzia unterstütze. Die Polizei hat schon vor deiner Existenz gewusst, wie sie mit Bikern umgeht, sie kommen mit Sicherheit sehr gut alleine klar. Außerdem ist niemand in direkter Gefahr und wenn ich dich eben richtig verstanden habe, bist du nur zu mir gekommen, weil du Raphael ersparen willst, seine Tarnung vorzeitig aufzugeben. Wenn er der Polizei jetzt hilft, verbreiten sich die Nachrichten wie ein Lauffeuer und er muss sofort abreisen. Ist doch so, oder nicht?“ Sie verschwindet wieder hinter ihrem Schmöker und ich lese den Titel, der mir in meiner Aufregung zuvor völlig entgangen ist. Pokémon-Erziehung für Fortgeschrittene: Verhaltensmuster erkennen und richtig reagieren Ich schlucke und halte den Mund. Ronya bereitet sich bereits auf ihre Therapiestunde mit uns vor. Freiwillig. Sie hätte bestimmt besseres zu tun, aber sie nimmt sich die Zeit, um Louis und mir zu helfen. Sie tut wirklich schon genug für uns. „Du hast Recht“, sage ich. „Tut mir leid, dass ich gefragt habe.“ „Das Fragen muss dir nicht leid tun“, erwidert Ronya gelassen und blättert eine Seite um. „Ich mach´s.“ Die Stimme erklingt so unerwartet, dass ich erschrocken zusammenzucke, bevor mir einfällt, dass Gerard ja immer noch im Raum ist. „Du?“, fragen Louis und ich wie aus einem Mund. Selbst Ronya hebt überrascht den Kopf. „Es ist dir wichtig, oder nicht?“, fragt er kurz angebunden und greift nach seinem Pokégürtel, den er sich lässig um die Hüfte schlingt. „Du hast eben gesagt, Mik hätte deine Freunde gegen dich aufgehetzt und die Biker in Teak City angestiftet. Wird er das hier wieder tun?“ Ich nicke. „Er arbeitet mit Team Rocket zusammen. Wenn er nicht hier ist, um Ärger zu machen, esse ich meinen Pokédex.“ „Dann ist das geklärt. Ronya wäre euch ohnehin keine Hilfe. Sie fliegt nicht und mit dem Fahrrad ist sie zu langsam.“ Seine Freundin streckt ihm die Zunge heraus und beobachtet gemeinsam mit uns, wie Gerard das Zimmer verlässt. Ich stehe einige Sekunden regungslos da, dann laufe ich zum Fenster, schiebe die weißen Vorhänge bei Seite und drücke meine Nase gegen die kalte Glasscheibe. Gerard steigt im Schein des roten Neonschilds auf Tropius´ braunen Rücken und erhebt sich schwerfällig mit ihm in die Lüfte. „Er ist nett, wenn er nicht gerade Wutanfälle hat“, erklärt Ronya hinter ihrer Lektüre. „Regelrecht hilfsbereit. Ich hoffe nur, die Polizisten sagen nichts Falsches, sonst wird dieser Abend böse enden.“   Wie erwartet ist der Drang, Gerard zu folgen und vor Ort des Geschehens zu sein, fast überwältigend, aber Louis weist mich geduldig darauf hin, dass Hunter noch immer im Pokécenter ist und ich wahrscheinlich ohnehin nur im Weg stehen würde. Trotzdem kann ich mich nicht dazu durchringen, schlafen zu gehen, und so verläuft sich der Abend in angespannten Kartenspielen mit Louis auf Ronyas Fußboden, während die unermüdlich durch das Buch blättert, einzelne Passagen liest und sich auf einem kleinen Block Notizen macht. Gegen Mitternacht klingelt mein Handy.                „Wie ist es gelaufen?“, frage ich aufgeregt, kaum dass ich Jacks Namen auf dem Display erkenne. „Dachte ich´s mir doch, dass du noch wach bist“, lacht Jack. „Dein Freund hat hier für ziemliches Aufsehen gesorgt, aber er war sehr hilfreich. Auch wenn er mich ein paar Mal angeschrien hat, aber hey, soll mir egal sein.“ „Habt ihr Mik festgenommen?“, frage ich ungeduldig. Das folgende Schweigen reicht als Antwort und ich lasse mich resigniert auf einen Stuhl sinken. „Was ist passiert?“ „Wir haben ihn und die anderen Biker gesehen, als sie durch die Stadt und zum Bikertreffpunkt gefahren sind“, erklärt Jack. „Einer von ihnen entsprach deiner Beschreibung aus dem Teak City Verhör, daher bin ich ziemlich sicher, dass es Mik war, wie du sagtest. Wir sind ihnen mit Abstand gefolgt. Kaum, dass sie alle im Treffpunkt waren, haben wir das Gebäude umstellt und es mit Gerard gestürmt.“ „Und? Wo lag das Problem?“, frage ich. „Gerard sollte stark genug sein, sie alle zu besiegen.“ „Mik und die anderen waren verschwunden.“ Jacks Stimme klingt frustriert. „Wir haben den gesamten Treffpunkt auf den Kopf gestellt, aber außer einer Handvoll Biker war niemand dort. Wir konnten ihnen nichts vorwerfen, schließlich haben sich nur Mik und Alina bisher etwas zu Schulden kommen lassen.“ „Verdammt!“, fluche ich. „Mik muss gemerkt haben, dass er verfolgt wurde und hat sich irgendwie versteckt.“ „Wir konnten ihn nicht finden“, wiederholt Jack. „Tut mir leid, Abby. Aber bis die regulären Biker negativ auffallen, dürfen wir das Gebäude nicht erneut durchsuchen.“ Ich verabschiede mich und lasse seufzend das Handy sinken. Wäre ja auch zu schön gewesen.   Pünktlich um zehn Uhr morgens erwarten Louis und ich Ronya an einem der Tische im Erdgeschoss des Pokécenters. Für einen Freitagmorgen ist es gut besucht, trotzdem ist ein Großteil der eingecheckten Trainer schon auf dem Weg zum Training oder zur Arena, die nur ein paar Minuten Fußmarsch vom Pokécenter entfernt liegt. Ronya kommt ein paar Minuten nach uns die Treppe hinunter, bestellt etwas bei Schwester Joy und lässt sich schwungvoll an unserem Tisch nieder. Ihre Augen wirken wach, aber die roten Ränder und dunklen Schatten zeugen von einer langen Nacht, die sie höchstwahrscheinlich über ihrem Erziehungsschmöker gebrütet hat. „Also dann“, sagt sie und nimmt mich ins Visier. „Ich habe mich gestern bereits mit Louis unterhalten. Jetzt bist du dran. Ich will alles über deine Beziehung zu Gott erfahren, wie du ihn getroffen und gefangen hast, sein Verhalten damals und heute und wie du auf seine Aggressionen reagierst, wenn sie gelegen kommen und wenn nicht. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.“ Ich beginne, zunächst stockend, bei unserer Verschüttung in den Alph-Ruinen, wie ich Gott dort gefangen habe und er uns geholfen hat, den Weg zurück nach draußen zu finden. Anfangs fällt es mir schwer, meine Gedanken zu ordnen, aber Ronya hört aufmerksam zu und schon bald sprudeln die Erinnerungen nur so aus mir heraus und ich rede und rede und rede. Irgendwann während meines Berichts vom Indigo Plateau, als Gott mich in der Männertoilette vor Richard verteidigt hat, kommt Schwester Joy mit drei Portionen ausladendem Frühstück an unseren Tisch und wir beginnen zu essen, aber mein Redeschwall hört auch dabei nicht auf. Schließlich, über eine Stunde später, komme ich zum Ende meines Berichts und fühle mich völlig ausgelaugt. Ronya schaut mich aufmerksam an, Kinn auf eine Hand gestützt. „Louis, warum gehst du mit Winry nicht raus und tust, was ich dir gestern vorgeschlagen habe?“ Er dreht überrascht den Kopf in ihre Richtung, nickt aber langsam und erhebt sich. „Bis später, Abby“, sagt er, wirft uns einen letzten Blick zu und verlässt das Pokécenter. Schwester Joy kommt an unserem Tisch vorbei und sammelt murrend unsere leeren Teller ein. Ich warte gespannt auf Ronyas Urteil. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und kratzt sich am Kopf. „Jetzt ist mir alles klar.“ „Was ist dir klar?“, frage ich verwirrt und überfliege meine Erzählung flüchtig im Kopf. Habe ich irgendetwas übersehen? Gibt es eine ganz einfache Lösung für Gotts Problem? „Du bist vollkommen inkonsistent“, sagt Ronya und schaut mich ernst an. „Mal rufst du ihn ohne Umschweife zurück, wenn er sich deiner Meinung nach falsch verhält, mal lässt du ihn draußen. Du wirst wütend, wenn er sich aggressiv verhält, lobst ihn aber gleichzeitig für genau dieses Verhalten, wenn es gerade passt. Gott kann deine Gedanken nicht lesen, Abby, auch wenn du dir das wünschst. Er muss sich an deinen Reaktionen orientieren und die sind völlig durcheinander.“ Sie nimmt einen Schluck ihres Pirsifsaftes und stellt das Glas wieder auf dem Tisch ab. Das leise Klirren ist das einzige Geräusch, das zu mir durchdringt. Ich fühle mich, als hätte sie mich unter Wasser getaucht. „Aber… das kann nicht sein…“, protestiere ich. Ronyas Worte haben mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ist es meine Schuld, wie Gott sich verhält? „Dazu kommt euer Misstrauen“, fährt Ronya geduldig fort. „Gott verhält sich nicht so, wie du möchtest, deswegen willst du ihn an der kurzen Leine halten. Aber dafür fehlt dir der Überblick und die Autorität. Du sagst selbst, dass es viele Situationen gab, in denen Gott die Gefahr erkannt hat, in die du ahnungslos hineingelaufen bist. Er vertraut deinem Urteil nicht, und weil er dich beschützen will, nimmt er alles selbst in die Hand. In Kämpfen scheinst du dich für ihn bewiesen zu haben, schließlich respektiert er deine Kommandos, auch wenn er sie nicht mag. Aber Menschen richtig einschätzen… das ist eine ganz andere Sache.“ „Ich hatte nie solche Probleme mit Sku und den anderen“, sage ich. „Warum ist es bei Gott so wichtig, wie konsistent ich mich verhalte?“ „Das Buch, das ich gestern noch gelesen habe, ist mein Lieblingsband“, erklärt Ronya und nimmt noch einen Schluck Saft. „Er befasst sich nicht mit der allgemeinen Aufzucht und Erziehung von Pokémon, sondern geht auf spezifische Charakteristika von Pokémon ein, die es Trainern schwer machen, sie unter Kontrolle zu bringen. Aggressionen, Ungehorsam, Panikattacken… viele dieser Verhaltensweisen können auf eine oder zwei Kerneigenschaften des Pokémon zurückgeführt werden. Das Verhalten unerfahrener Trainer verstärkt sie in vielen Fällen. „Skuntank ist dein Starter, und du besitzt sie, seit sie ein Jungpokémon ist. Das stärkt das Band zwischen dem Pokémon und dir und macht es leichter für euch, auf einer Wellenlänge zu kommunizieren. Deine anderen Pokémon sind unkomplizierte Fälle, aber Gott hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, reagiert sensibel auf Stimmungen und versucht, durch seine Aggression Gefahr von dir fern zu halten. Verstehst du jetzt, wo das Problem liegt?“ Ich nicke, immer noch taub von der Enthüllung. Ronya kam mir all diese Zeit ein bisschen punkig vor. Rebellisch, schmerzhaft ehrlich. Aber jetzt sehe ich zum ersten Mal, wie viel geballtes Wissen sich hinter ihren zerrissenen Jeans und dem Mohawk verbirgt. Kein Wunder, dass sie es geschafft hat, Maxwell trotz seiner Lähmung zu dem starken und lebensfrohen Pokémon zu machen, das er jetzt ist. „Was muss ich tun?“, frage ich. Mein Entschluss ist gefasst. Ich werde Ronyas Ratschläge befolgen und Gott helfen, sich besser in mein Team einzufinden. „Das wichtigste ist, dass du Gotts Standpunkt verstehst“, sagt sie sofort und schaut mich ernst an. „Du musst ihn in all seinen Facetten begreifen und akzeptieren. Danach kommt der schwierige Teil. Er hat fast sein gesamtes Leben in deinem Umkreis verbracht. Du musst ihm die Verhaltensweisen abgewöhnen, die er sich angeeignet hat, und das bedeutet, dass du zuerst dein eigenes Verhalten ändern musst. Konsistenz in deiner Reaktion ist hier das wichtigste. Gott muss verstehen, dass nicht er der Anführer ist, sondern du. Dein Wort ist Gesetz, auch wenn es ihm nicht gefällt. Wie genau du seine Aggressivität lenken willst, ist deine Entscheidung, aber mach dir bewusst, dass sie immer da sein wird. Das ist der dritte Punkt: Disziplin. Die wird er schon sehr bald brauchen, wenn du sein Training fortführen willst, ohne dass er sich entwickelt.“ „Woher weißt du, dass das mein Plan war?“, frage ich überrascht. „Weil du Angst davor hast, ihn als Tornupto nicht im Griff zu haben. Und zu Recht.“ Ronya leert ihr Glas in einem Zug und steht auf. „Als Tornupto wird es schwieriger sein, ihm sein jetziges Verhalten abzutrainieren. Wie du vermutest, wird er häufiger zu seinen Feuerattacken greifen und du wirst keine Möglichkeit haben, ihn rechtzeitig zu stoppen. Gleichzeitig bist du in keiner Position, in der du sein Kampftraining völlig außer Acht lassen kannst. Er wird zwangläufig kämpfen und stärker werden, und wenn er Level 36 erreicht, ist seine bis dahin erworbene Disziplin das einzige, was ihn davon abhält, deinen Befehl zu ignorieren und sich sofort zu entwickeln, um dich besser beschützen zu können.“ Sie gähnt. „Und jetzt geh raus, unterhalte dich mit Gott und leg dir einen Trainingsplan zurecht. Ich gehe schlafen.“ Sie winkt und verschwindet die Treppen hinauf. Mich lässt sie mit rauchendem Kopf zurück.   Louis finde ich nach ein bisschen Suchen in der Safari-Zone, wo er auf Ronyas Vorschlag hin einen Aushilfsjob bei Liz ergattert hat. „Ich habe ihr erzählt, dass ich bald in Anemonia City meine Ausbildung machen werde“, erklärt er mit vollem Mund, als wir etwas später in einem Eiscafé in der Stadt sitzen und uns einen großen Beerenbecher mit Sahne teilen. „Sie meinte, es wäre gut für Winry, mit der Umgebung konfrontiert zu werden, in der sie verletzt wurde, ohne dass sie sich bedroht fühlen oder kämpfen muss. Rose hat mir geholfen, Liz zu überreden.“ „Sie hat ja auch was davon, wenn du Erfahrung sammelst“, stimme ich zu. „Ronya ist wirklich eine Lebensretterin.“ „Ist sie“, sagt Louis nickend. Dann grinst er. „Also, was habt ihr besprochen, dass sie mich vorher rausschmeißen musste?“ Ich seufze und bringe ihn auf den neusten Stand. Louis verzieht das Gesicht, nickt aber langsam. „Sie könnte Recht haben.“ „Sie hat Recht“, sage ich und stecke mir einen weiteren Löffel Eis in den Mund. „Kaum dass sie es gesagt hat, ist es mir selbst klar geworden. Ich wünschte nur, mich hätte vorher jemand gewarnt, wie stark mein Verhalten ihn beeinflussen würde.“ „Du solltest dir keine Vorwürfe machen“, sagt Louis leichthin. „Du wusstest es nicht. Jetzt bist du schlauer und wirst etwas dagegen tun, richtig?“ „Natürlich“, stimme ich zu. „Ich lasse nicht zu, dass irgendetwas zwischen Gott und mich kommt. Und wenn es Wochen oder Monate dauert, ich bringe das wieder in Ordnung.“ Louis grinst und schmiert mir etwas Sahne auf die Nase. „Das will ich hören.“   Den Nachmittag verbringe ich damit, Nathan und Melissa zu kontaktieren, was sich als schwieriger herausstellt, als gedacht. Keiner der beiden nimmt bei meinen ersten Anrufen ab und als ich schließlich durchkomme und mich vorstelle, legt Melissa sofort wieder auf, ohne mich auch nur ausreden zu lassen. Ich gebe sie auf und malträtiere stattdessen die Wahlwiederholung für Nathans Nummer, bis ich endlich zu ihm durchdringe. Was folgt, ist ein sehr langes Gespräch. Ich schaffe es, Nathan dazu zu bringen, mir zumindest zuzuhören, indem ich Ronyas Namen fallen lasse. Danach heißt es Überzeugen, Überzeugen, Überzeugen. Zunächst ist er skeptisch, doch je länger ich rede, je öfter ich die Zusammenarbeit mit Giganten wie Gold und das Potential, selbst zu einer Legende in Kanto und Johto zu werden, erwähne, desto aufgeregter wird Nathan. Schließlich habe ich ihn soweit und er sagt zu, gleich am nächsten Morgen die Reise nach Prismania City anzutreten und Melissa zu überzeugen, sich ihm anzuschließen. Wir verabschieden uns und ich lasse mich erleichtert gegen die Parkbanklehne fallen. Zwei Trainer abgehakt. Fehlt nur noch Amy. Ein kurzer Blick auf meinen S-Com bestätigt, dass es noch zu früh ist, die nachtaktive Trainerin zu kontaktieren, daher schließe ich die Augen, lausche dem Zwitschern der Vogelpokémon, dem Rauschen des Windes, als er durch die Grashalme streicht und genieße das warme Sonnenlicht auf meinem Gesicht. Zeit, mir einen Trainingsplan zu überlegen.   ooo   Tag um Tag verstreicht in Fuchsania City. Mit dem voranschreitenden März wird es schleichend wärmer und von Mik, Alina und den anderen Bikern fehlt jede Spur, bis ich zu dem Schluss komme, dass sie geflüchtet sein müssen, um nicht wieder ins Visier der Polizei zu geraten. Entkommen mögen sie sein, doch es war knapp. Sicher wollen sie das Risiko so gering wie möglich halten. Auf der einen Seite macht es mich wütend, dass wir es fast geschafft hätten, die Anführer der Biker festzunehmen, andererseits bin ich… erleichtert. Das Gefühl kommt nicht ganz ohne Schuldgefühle, aber auch wenn ich oft sage, dass alles gut ist, haben die letzten sieben Monate ihre Spuren hinterlassen. Meine eigene Paranoia, die sich bereits meldet, wenn ich in Gedanken an Team Rocket oder die Biker von einem lauten Geräusch überrascht werde, oder wenn Louis mich überraschend anspricht, frustriert mich. Der Griff zu meinem Pokégürtel ist zu einem Reflex geworden, der in gefährlichen Situationen sicher hilfreich ist, mich im Alltag aber nur behindert. Dazu kommen die Berichte von Schwester Joy über Hunters Gesundheitszustand, der zwar stetig besser wird, mich aber jedes Mal daran erinnert, dass ich nicht die einzige bin, die in diesem Kampf viel riskiert. Meine Pokémon leiden regelmäßig unter meiner Entscheidung, Team Shadow und die Polizei zu unterstützen und ich ertappe mich immer öfter dabei, zu wünschen, ich könnte einfach… aussteigen. Pause machen. Seufzend öffne ich die Augen und schaue hinauf in den hellblauen Frühlingshimmel. Louis und ich haben ein Picknick auf Route 15 gemacht, um uns von dem täglichen Therapietraining, wie Ronya es nennt, zu erholen. Jetzt liegen wir faul im weichen Gras und hängen unseren eigenen Gedanken nach. Gott, den ich als Teil des Trainings öfter als gewöhnlich aus seinem Pokéball lasse, liegt eingerollt einige Meter neben mir, Rücken an Rücken mit Sku, die sich vollständig von ihren angebrochenen Rippen erholt hat und laut schnarcht. Priss hat sich in meiner Armkuhle zurechtgestrampelt und unsere restlichen Pokémon sind auf dem gesamten Seitenstrafen verteilt, wo sie dösen, grasen oder in der Sonne spielen. Es fühlt sich gut an. Wie Urlaub. Wenn ich daran denke, dass schon der 12. März ist und wir Anfang nächster Woche nach Prismania zurückkehren werden, wird mir mulmig zu Mute. Apropos Rückkehr. „Raphael reist heute ab“, sage ich und drehe den Kopf, um Louis zu erkennen, der neben mir liegt. Ich dachte, er schläft vielleicht, aber er scheint genau wie ich die ganze Zeit über wach gewesen zu sein. „Ich weiß, Abby“, seufzt er und verschränkt die Arme unter seinem Kopf. „Liz liegt mir schon seit einer Woche damit in den Ohren. Sie wird ihn wahrscheinlich nicht wiedersehen, bis die Championship losgeht.“ Ich nicke nachdenklich. Seit Louis den Nebenjob in der Safari-Zone angenommen hat, haben er und Liz viel Zeit miteinander verbracht, weil sie ihn auf ein paar ihrer Ranger-Einsätze mitgenommen hat. Ganz legal war das glaube ich nicht, aber als Enkelin des Inhabers war Liz das relativ egal. Rose ist bereits am Wochenende nach Orania City aufgebrochen, um von dort mit der Fähre nach Oliviana City zurückzukehren. Sie hat geweint, als sie sich von ihrer besten Freundin verabschieden musste. „Wir sollten uns auf den Weg machen“, sage ich gähnend, strecke mich und stehe auf. „Ich will Raphael nicht verpassen. Gott, wir gehen.“ Gott erhebt sich langsam, stupst Sku wach und trottet in meine Richtung. Ich pfeife leise und er verdreht die Augen, setzt sich aber gehorsam auf seine Hinterläufe und wartet, bis Louis und ich unsere Pokémon zurückgerufen haben und auf unsere Räder gestiegen sind. Ronya hat mir geraten, Gott daran zu gewöhnen, auch außerhalb von Kämpfen meine Befehle zu befolgen, auch wenn mir der Gedanke missfällt, ihn ständig herumzukommandieren. Um das System zu verfeinern, habe ich begonnen, drei verschiedene Signale zu verwenden, die sich in ihrer Stärke unterscheiden. Das leise Pfeifen ist mehr ein freundlicher Vorschlag als ein echter Befehl und gibt Gott Freiraum, zu protestieren, wenn er nicht folgen will oder glaubt, es gäbe eine bessere Möglichkeit, die Situation zu handhaben. Dadurch wollen Ronya und ich verhindern, dass meine Befehle durch zu häufigen Gebrauch ihre Wirkung verlieren. Wenn der Moment kommt, an dem Gott wirklich gehorchen muss, will ich sichergehen, dass es nicht zu Protesten kommt. Die Fahrt bergauf Richtung Stadt ist anstrengend, aber seit Schwester Joy mir vor zwei Tagen endlich meinen Gips abgenommen hat, genieße ich es, meinen Arm langsam wieder an seine Freiheit zu gewöhnen. Die großflächigen Blutergüsse sind noch nicht ganz verblasst und meine Haut ist voller gelbvioletter Flecken, aber die frische Luft auf meinem Arm fühlt sich unglaublich gut an. Wir kommen nur langsam voran, was auch der Grund ist, warum Gott ohne Probleme mit unserem Tempo mithält. Wie schon in Saffronia City bemühe ich mich, ihn auszulasten, damit er nicht vor Energie platzt. Bisher kommen wir mit unserem Therapietraining gut voran, aber natürlich sind wir noch in keine Situation gekommen, in der Gott wirklich auf die Probe gestellt wurde. Meine Versuche, ihn auf darauf vorzubereiten, sind kläglich gescheitert. Gott merkt, wann er wirklich keine Wahl hat, und wann es nur Teil eines Experiments ist. Wir treffen Raphael und die anderen am Durchgangshäuschen vor der Stadt, wo er Mandy bereits auf den Flug vorbereitet. Kleine Seitentaschen hängen zu beiden Seiten ihres Körpers herab, in denen er Essen und Trinken für die Reise aufbewahrt. „Raph!“, rufe ich gegen den rauschenden Wind und komme vor ihm zum Stillstand. Gott legt die Ohren an, aber er kennt Liz und Raphael inzwischen gut genug, um sie nicht als Gefahr wahrzunehmen. Ich springe vom Rad und falle Raphael um den Hals. „Nicht so stürmisch“, lacht er und wuschelt mir durch die kurzen Haare. „Wir werden uns wiedersehen, keine Sorge.“ „Aber wann?“, fragt Liz trocken, schüttelt aber im nächsten Moment den Kopf. „Abby, du wirst ihn auch vermissen, richtig? Unterstütz mich hier ein bisschen.“ „Klar werde ich das“, sage ich und lasse ihn los. Seine runde Brille, die roten Locken, das verschmitzte Grinsen… „Er fehlt mir immer. Aber er hat schließlich Verpflichtungen“, sage ich zwinkernd. Er lacht. „Ich bin Favorit, Lizzy. Ich muss meine Erschafferin stolz machen.“ „Das tust du schon“, versichere ich und klopfe ihm ein letztes Mal auf die Schulter. „Jetzt ab mit dir zum Glutberg und trainier fleißig.“ „Ja, Chefin“, erwidert er, schüttelt Louis´ Hand zum Abschied und wendet sich dann Liz zu, die ihn mit zusammengepressten Lippen begutachtet. „Ich rufe dich an“, verspricht er geduldig. „Es sind nur ein paar Monate.“ Sie seufzt, küsst ihn und macht einen Schritt zurück. „Abby hat ja Recht. Du musst trainieren, wenn du die Championship gewinnen willst.“ Raphael nickt, wickelt seinen rostbraunen Lieblingsschal enger um seinen Hals und steigt auf Mandys Rücken, die bereits ungeduldig das Brustgefieder aufplustert und kehlig krächzt. Bevor er abhebt, winkt er mich noch einmal zu sich und lehnt sich zu mir herunter. „Du weißt, dass du mich immer anrufen kannst“, sagt er leise und schaut mich ernst an. „Ich trainiere zwar, aber wenn ich irgendwie im Kampf gegen Team Rocket helfen kann, will ich, dass du mir Bescheid sagst. Es gibt wichtigeres als den Championtitel. Okay?“ „Okay“, flüstere ich. „Danke, Raphael. Das bedeutet mir echt viel.“ „Dann halt die Ohren steif und mach dir ein paar schöne letzte Tage in Fuchsania City“, sagt er grinsend, pfeift und schießt auf Mandys Rücken in die Lüfte. Nur wenige Sekunden später ist er schon so weit entfernt, dass ich ihn nur noch als rotbraunen Punkt gegen den blauen Himmel wahrnehmen kann. Liz wendet sich schwungvoll ab und geht zurück Richtung Stadt. Ich will gerade auf mein Rad steigen, da hält Louis mich am Ärmel fest und schaut mich mit leuchtenden Augen an. „Was?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Er grinst mich mit seinem breitesten Zahnlückenlächeln an. „Ich hatte gerade eine tolle Idee…“   Am nächsten Abend treffe ich Louis wie verabredet um halb sieben vor dem kleinen Restaurant, das er für unser Date in Fuchsania City ausfindig gemacht hat. Es liegt etwas abseits der Hauptstraßen in ruhiger Lage und ist nicht so teuer wie manch andere, trotzdem hat es Charme. Blumenkästen füllen die abendliche Luft mit dem charakteristischen Frühlingsduft, bei dem ich instinktiv die Augen schließen und tief einatmen will und die fuchsiaroten Fensterläden klappern leise im Wind. Ausnahmsweise habe ich mich mal nicht hinter Cappie und Sonnenbrille versteckt und sogar mein Haar sieht heute weniger struppig aus, auch wenn der Wind meine Bemühungen vor dem Pokécenterspiegel zunichtemachen will. Meine Pokébälle hängen wie immer sicher an meinem Gürtel, gleich neben dem S-Com, den ich nicht im Zimmer lassen wollte. Louis erscheint nur wenige Minuten nach mir, gibt mir einen schnellen Kuss und zieht mich dann durch den Eingang ins Innere. Behagliche Sitzecken füllen das kleine Lokal, dessen blassblaue Wände mich an den Himmel draußen erinnern. Wir setzen uns an einen der Tische und bestellen unsere Getränke. Einige Momente warte ich gespannt, aber als Louis nur immer breiter grinst, halte ich es nicht mehr aus. „Du hattest eine Überraschung erwähnt“, erinnere ich ihn. „Stimmt, da war ja was“, sagt er und kramt in seiner Hosentasche nach einer kleinen Box. „Hätte ich fast vergessen.“ „Sicher…“, murmele ich, als ich das Kästchen von ihm entgegennehme. „Gibt es hierfür einen Anlass?“ „Du hast über eine Woche überstanden, ohne in Lebensgefahr zu geraten“, sagt Louis und lehnt sich selbstgefällig auf seiner Bank zurück. „Das verdient eine Belohnung, würde ich sagen.“ Ich strecke ihm die Zunge heraus und warte, bis die Bedienung unsere Getränke abgestellt und unsere Bestellung aufgenommen hat, dann öffne ich vorsichtig den Deckel und entferne die schwarze Abdeckung. Andächtig nehme ich das Armband heraus, das aus zahllosen silbernen Kettengliedern besteht. Ein roter Anhänger sticht mir ins Auge und ich hebe das Armband hoch, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. „Eine Tamotbeere“, sage ich leise und kann plötzlich mein eigenes Grinsen nicht mehr zurückhalten. Ich schaue zu ihm auf. „Es ist wunderschön.“ Er kratzt sich an der Nase, Wangen so rot wie der kleine Anhänger. „Es gab so viel Auswahl, Herzen, Initialen und all das, aber ich wollte dir nichts Kitschiges schenken. Dann habe ich den Anhänger gesehen. Ich dachte, es passt ganz gut zu uns. Irgendwie hat es ja mit dem Versprechen angefangen, dir Tamottee zu besorgen.“  „Danke, Louis“, sage ich und ziehe das Armband an. Der Verschluss ist ein bisschen schwierig zu handhaben, aber er hilft mir und schon bald klimpert der Anhänger sachte gegen die Kettenglieder. „Es ist perfekt.“ „Gut“, sagt er grinsend. „Ah, da kommt das Essen. Mann, hab ich einen Hunger!“ Wie erwartet sind die Nudelgerichte erstklassig und die Zeit im Lokal verstreicht in Rekordtempo. Wir bringen einander auf den neusten Stand, fachsimpeln über Therapiestrategien und malen uns die Zukunft aus, wenn Team Rocket endlich ausgelöscht ist. Gegen zehn Uhr bezahlen wir und verabschieden uns von der Kellnerin. Louis entschuldigt sich kurz zur Toilette und ich mache mich auf den Weg nach draußen, um an der frischen Luft auf ihn zu warten. Inzwischen ist es kälter geworden und ziemlich dunkel; nur die sparsam verteilten Straßenlaternen werfen gelbe Lichtkreise auf die rote Straße. Gähnend bleibe ich etwas neben dem Eingang stehen. Da höre ich ein leises Kratzen. Ich drehe den Kopf, kann aber nichts erkennen. Das Kratzen wiederholt sich, lauter dieses Mal. Unsicher, wo es herkommt, umrunde ich das Lokal und spähe an der Steinfassade vorbei in die Dunkelheit dahinter. Ich kneife die Augen zusammen, bevor ich erschrocken Luft hole und zurückstolpere – geradewegs in die Arme einer Person. Wulstige Hände pressen sich über meine Augen und meinen Mund und ersticken meinen Schrei. Kapitel 104: Entführt (Schlimmster Albtraum) -------------------------------------------- Panik macht sich in meinem Brustkorb breit und ein bitterer Geschmack füllt meinen Mund. Mik. Auch wenn es dunkel ist, auch wenn meine Augen sofort verdeckt wurden, ist der Anblick seines in Schatten gehüllten Gesichts auf meine Netzhaut gebrannt. Sein Partner zieht mich gewaltsam mit sich, während ich vergebens den Kopf hin und herreiße, um meinen Mund für einen Schrei freizubekommen. Louis ist hier. Wenn ich es nur schaffe, ein Geräusch zu machen, wenn ich laut genug bin… Blind und so gut wie stumm strampele ich mit meinen Beinen, verliere aber nur den Halt und werde für wenige Sekunden von den kräftigen Armen in der Schwebe gehalten. Verzweifelt finden meine Füße wieder zur Erde und ich lasse mich von dem Mann vorwärtsschleifen. Sie werden mich bewusstlos schlagen, denke ich und erinnere mich an meine letzte Begegnung mit Mik zurück, als man genau das mit uns gemacht hat, um uns zu dem Bikerversteck in Teak City zu bringen. Wenn ich will, dass man mich findet, muss ich irgendetwas tun, und zwar jetzt. Ich kralle mich fester in die Unterarme meines Angreifers. Ich habe eine Chance, bevor sie auch meine Arme fixieren. Meine Hand schießt zu meinem Gürtel, vorbei an den Pokébällen und geradewegs auf den S-Com zu, dessen am Rand liegende SOS-Taste ich mit einem einzigen, festen Druck aktiviere. Ein Zischen, dann wird mein Handgelenk gepackt und zur Seite gedreht, bis mir die Tränen kommen. Der Schlag auf meinen Kopf trifft mich und ich sacke bewusstlos im Griff des Mannes zusammen.   Ich erwache mit höllischen Kopfschmerzen und pelziger Zunge in einem feucht riechenden Raum. Zunächst glaube ich, dass man mir die Augen verbunden hat, so dunkel ist es, aber als ich mehrfach blinzele und noch immer keinen Stoff wahrnehmen kann, muss ich einsehen, dass es einfach nur stockduster ist. Ein Bewegungstest meiner Arme und Beine bestätigt, dass ein an der Decke fixiertes Seil meine Handgelenke schmerzhaft zusammenhält, meine Füße aber frei sind. Dass ich auf Zehenspitzen stehen muss, um nicht in der Luft zu hängen, dämpft meine Euphorie jedoch schlagartig. Die einzige Lichtquelle ist ein Türschlitz, durch den kaltes Licht auf ein kleines Stück Fliesenboden fällt. Nicht genug, um mir Informationen über den Ort meiner Gefangennahme zu geben, aber der wichtigste Fakt ist mir schon bekannt, seit ich mich das erste Mal bewegt habe. Mein Gürtel fehlt, Pokébälle und S-Com miteingeschlossen. Resigniert lasse ich den Kopf nach hinten sacken, nur um bei dem schmerzhaften Pochen sofort zusammenzuzucken. Super Idee, Abby. In Gedanken spiele ich den Moment meiner Gefangennahme noch einmal durch. Ich hätte Gott oder Sku rufen und kämpfen können. Vielleicht hätte wir nicht gegen Mik und seinen Begleiter gewonnen, aber der Aufruhr hätte mir Zeit verschafft. Louis wäre zu Hilfe gekommen. Und die Polizei stände wieder nur mit zwei Gefangennahmen da. Vielleicht war es die falsche Entscheidung. Vielleicht war es wieder einer meiner typischen Risikoaktionen. Aber in dem Moment, als es darauf ankam, habe ich lieber um Hilfe gerufen und mich entführen lassen. Absols Prophezeiung kommt mir wieder in den Sinn. Bevorstehendes Übel? Abgehakt. Entscheidungen, die ich falsch treffen kann? Check. Ich weiß nicht, was die richtige Wahl war, aber eins weiß ich. Wenn Louis oder jemand anderes mich hier findet, dann finden sie die gesamte Bikergang. Und das wird uns weiter bringen, als ein paar vereinzelte Verhaftungen. Jetzt heißt es also nur noch abwarten. Und hoffen, dass nicht Mel vorher auftaucht, um mich für ihre Rachepläne abzuholen. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, die ich in dem Keller hänge. Meine Kopfschmerzen verebben allmählich, dafür melden sich aber meine trockene Kehle und gefesselten Handgelenke, in die das Seil einschneidet und meine Finger taub werden lässt. Zumindest die Dunkelheit hat ein Gutes. Je länger ich alleine und blind vor mich hinhänge, desto besser finden sich meine anderen Sinne zurecht. Die Modrigkeit in der Luft ist einfach nur unangenehm, aber die Geräusche, die in unregelmäßigen Abständen von draußen ertönen, werden immer deutlicher. Gespräche, zu leise, um die Worte auszumachen. Das quietschende Schrammen von Möbeln über Holzdielen. Eine Tür, die schwer ins Schloss fällt. Wassertropfen, die unermüdlich in eine Pfütze platschen. Schritte, die lauter werden, lauter, lauter… Die Tür schwingt knarzend auf und ich kneife erschrocken meine Augen zusammen, als Licht mich blendet. "Schön geschlafen, Prinzessin?", erklingt Miks Stimme mit gespielter Besorgnis. Ich öffne vorsichtig ein Auge. Er schließt die Tür hinter sich, verriegelt das alt aussehende Schloss und betätigt einen freiliegenden Lichtschalter. Weiße Kabel führen die verschimmelte Wand hinauf und zu einer flackernden Glühbirne, die meine Augen mit ihrem Licht schonungslos strapaziert. "Was willst du?", erwidere ich und erschrecke beim Klang meiner brüchigen Stimme. Kaum sind die Worte heraus, muss ich husten. "Na, na." Mik kommt näher, bleibt aber außer Reichweite etwaiger Tritte. "Hast du Durst? Möchtest du etwas trinken?" Ich schiele zu ihm herab. "Als wenn du mir etwas geben würdest", bringe ich hervor. Er schnalzt mit der Zunge. "Leider wahr. Allerdings würde ich mich durchaus überreden lassen, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest." "Vergiss es", antworte ich sofort. "Ich werde euch nicht helfen." "Du hast doch die Frage noch gar nicht gehört, Abby", sagt Mik mit zusammengezogenen Augenbrauen. "Ich möchte lediglich wissen, wo dein guter Freund Dark sich aufhält. Alina und ich haben sehr interessante Geschichten über euch beide gehört. Möchtest du uns nicht helfen, ihn zu finden?" "Fahr zur Hölle", fauche ich. "Ich werde nichts sagen." Er zuckt die Achseln. "Wie du willst." Bei seinem Lächeln läuft es mir kalt den Rücken herunter. "Vielleicht bist du später in besserer Stimmung." Ich denke einen Moment, dass er nur blufft, dass er weiter versuchen wird, die Antwort aus mir herauszuquetschen. Aber er macht kehrt, schaltet das Licht aus und lässt mich erneut in feuchter, einsamer Dunkelheit zurück. So schuldig ich mich fühle, so hoffe ich nach einer Weile doch, dass er zurückkommt, denn mein Durst macht sich immer stärker bemerkbar. Notfalls kann ich ihm schließlich eine Lüge auftischen. Zwar sammle ich inzwischen den Speichel in meinem Mund, um irgendwie an Feuchtigkeit zu kommen, aber nützen tut das selbstverständlich wenig. Plötzlich ertönt von draußen ein lautes Poltern. Meine verschärften Sinne orten die Geräusche weit über mir, etwas zu meiner Linken. Geschrei bricht los, gefolgt von dem Brüllen und Fauchen einiger Pokémon. Der Kampf dauert jedoch nur wenige Sekunden. Die Stille, die folgt, lässt mir alle Haare zu Berge stehen. "Hallo?", rufe ich und beginne sofort wieder zu husten. Meine Kehle brennt, ich schlucke und schlucke, aber es hilft nichts. Ohne Informationen, was passiert ist, werde ich unruhig. War es ein Streit zwischen den Bikern? Oder war es… Ich schüttele den Kopf und schließe verzweifelt meine Augen. Nicht darüber nachdenken, Abby, denke ich krampfhaft und öffne meine Augen wieder. Es macht keinen Unterschied. Alles ist schwarz, bis auf den Lichtstreifen auf dem Boden. Im Nachhinein glaube ich, dass Mik mich absichtlich mit meinen Gedanken alleine gelassen hat, denn als er schließlich die Tür öffnet und das Licht anmacht, schwirren alle möglichen grausamen Szenarien durch meinen Hinterkopf. Meine Nerven liegen blank und als ich das zufriedene Lächeln auf seinem Gesicht entdecke, bestätigen sich meine schlimmsten Vermutungen. Ich weiß schon, was er sagen wird, bevor er überhaupt den Mund öffnet. "Damit habe selbst ich nicht gerechnet", beginnt er und mir entgeht nicht, dass er die Tür offen lässt. "Aber umso besser. Dein Freund hat sich zu uns gesellt, Abby. Keine Sorge, die anderen leisten ihm Gesellschaft, nachdem er so ungestüm hier hereingeplatzt ist." „Lasst Louis gehen", drohe ich mit brüchiger Stimme. „Oder was?“, fragt Mik belustigt. Wirst du mich böse anschauen? Mir schlottern schon die Knie.“ „Er hat nichts damit zu tun“, versuche ich es erneut und unterdrücke den Hustenreiz, der sich wieder in meinem Hals ankündigt. „Lasst ihn gehen. Bitte.“ Mik lächelt unentwegt. Ich kann förmlich sehen, wie sehr er diese Situation genießt. „Ich glaube, du wolltest mir eine Frage beantworten", sagt er gelassen. Ich schüttele den Kopf. "Ich… Ich weiß nicht, wo Dark ist", flüstere ich heiser. "Er wollte der Polizei helfen, aber ich habe keine Ahnung, wo er ist." "Oh?" Er hebt eine Augenbraue. "Schade." Er wendet sich ab und geht zur offenen Tür. "Ich weiß es wirklich nicht!", wiederhole ich und reiße an meinen Fesseln. "Lasst Louis in Ruhe, bitte!" "Vielleicht hilft dir das hier auf die Sprünge", sagt Mik, bevor er sich an den Türrahmen und in den Gang dahinter lehnt, aus dem die feuchten Steintreppen nach oben führen. Er lächelt mich entschuldigend an, dann erhebt er die Stimme. "Fangt an!" Einige Sekunden geschieht nichts. Dann erfüllt rotes Leuchten das Treppenhaus, reflektiert an den feuchten Steinwänden und in den Wasserpfützen und zwingt mich, geblendet meine Augen zusammenzukneifen. Wenige Momente später zerreißt ein markerschütternder Schrei die Stille. "NEIN! LOUIS!" Mein Hals brennt bei den Worten, aber die Schmerzensschreie von oben werden nicht weniger, klingen nur immer grotesker und ich spüre, wie hemmungslose Tränen meine Wangen herunterfließen, als ich Louis´ dabei zuhören muss, wie er auf welche Art auch immer gefoltert wird. "Lass ihn in Ruhe, Mik, ich flehe dich an! LOUIS! Hörst du mich?!" Mik lächelt nur unentwegt und lauscht scheinbar andächtig den Schreien, die abbrechen, nur um sofort wieder zu erklingen. Alles in mir zieht sich zusammen. "Ich weiß es nicht!", kreische ich. "Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung, wo Dark ist! Ich sage dir alles, was du willst, nur bitte, lass Louis in Ruhe! BITTE!" "Pause!", ruft Mik nach oben und das Schreien bricht augenblicklich ab. Ich kann kaum sehen, so verschmiert sind meine Augen mit Tränen. Mein Herz klopft so stark, dass ich glaube, es muss jeden Moment meine Rippen sprengen. "Louis?", rufe ich. Keine Antwort. Ich kann nur vermuten, wie mitgenommen er sein muss, dass er nicht mal mehr antworten kann. "Du wolltest mir eine Antwort geben", sagt Mik und nickt in meine Richtung. "Oder sollen wir von vorne beginnen?" "Ich weiß nicht, wo Dark ist, aber ich kann es herausfinden", sage ich kraftlos und starre auf den Boden. Der Tränenschleier lichtet sich langsam, aber meine Stimme zittert weiterhin. "Ich brauche nur mein Handy, oder meinen S-Com, dann finde ich es für euch heraus." "Siehst du", sagt Mik. "War doch gar nicht so schwer. Jetzt sag mir alles über diese Trainer, die überall aufgetaucht sind und mit Dark zusammenarbeiten. Wer sie sind, wo man sie finden kann, was immer dir einfällt. Ich hoffe für deinen armen Freund, dass mir deine Antwort gefällt. Er hat wegen dir wahrlich genug leiden müssen." Resigniert schließe ich die Augen, während der echoende Klang weiterer Schritte auf der Treppe ertönt. Ich bin im Inbegriff, alle Geheimnisse von Team Shadow zu verraten. Ich weiß es. Aber allein der Gedanke an was auch immer sie Louis dort oben antun… ich werde nicht zulassen, dass sie es wiederholen. Immer noch mit zu Boden gerichtetem Blick beginne ich, zu reden. "Sie nennen sich-" "Lauter", unterbricht Mik mich unwirsch. Ich schlucke, huste und beginne von vorne. "Sie nennen sich Team Shadow", wiederhole ich. "Es sind Elitetrainer, die von Dark organisiert werden und über beide Regionen verteilt gegen Team Rocket vorgehen und der Polizei helfen." "Wo findet man sie?" "Unterschiedlich. Ihr Hauptquartier ist in…" Ich stocke. "Weiter." Ich zucke zusammen, denke an Louis, der dort oben ist. Ich habe keine Wahl. Egal, was für Folgen es für uns hat, ich muss antworten. "…in Prismania City. In der Spielhalle, im alten Rocket Hauptquartier." "Warum dauert das so lange?", erklingt eine zweite Stimme und ich hebe den Kopf. Alina steht im Türrahmen, tätowierte Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Nasenpiercing blinkt im flackernden Lampenschein. "Wir sind gerade fertig geworden", erwidert Mik mit gleichgültiger Stimme. "Wenn wir ihren S-Com benutzen, können wir alle Mitglieder ausfindig machen." "Das wird Craig gefallen", sinniert Alina. "Mel wird sie bald abholen." "Hörst du, Abby?", fragt Mik spöttisch und schaut zu mir. "Deine alte Freundin kann bald sehr viel Zeit mit dir verbringen. Freust du dich nicht?" Ich kann nicht mal mehr antworten. Alle Energie, alle Gefühle, sind aus mir herausgesaugt worden. Ich konnte Louis nicht beschützen, habe die falsche Entscheidung getroffen, habe Team Shadow und Dark verraten. Meine Finger krallen sich ins Fleisch meiner Handinnenseite, bis mir wieder die Tränen kommen. Es ist vorbei. Ich bin am Ende. Zumindest glaube ich das, bis Miks Stimme erneut ertönt. "Genieß den Rest deines Aufenthalts. Weiter!" Die erneut ertönenden Schreie durchbrechen die Reste meiner Selbstbeherrschung und statt wie zuvor ebenfalls zu schreien, schließe ich nur noch die Augen, flehe still, dass es aufhört, dass ich taub werde, dass die Schreie aufhören mögen… Es funktioniert. Ein lautes Donnern, dann ein Brüllen, wie ich es bisher nur von einem einzigen Pokémon gehört habe. Ethan. Ethan ist hier. Aber das heißt… "ABBY! WO BIST DU?!" "LOUIS!" Verzweifelt werfe ich mich gegen die Fesseln, schreie und tobe und versuche, mich mit aller Macht loszureißen. "Abby, wir holen dich da raus!" Die Erleichterung, die sich bei seiner Stimme in mir breit macht, ist unvergleichlich. Ich nehme Miks und Alinas fassungslose Blicke nur nebenbei wahr, stattdessen reiße und reiße ich an den Fesseln, bis Louis´ Armband mit zerbrochenem Verschluss zu Boden klirrt und die obersten Hautschichten meiner Handgelenke sich ablösen. Louis ist wohlauf. Ethan ist noch nicht geschlagen. Ich weiß nicht, was dort oben vor sich geht, aber die Hoffnung wäscht über mich hinweg und hinterlässt nur eiserne Entschlossenheit. Rotes Licht erfüllt das Treppenhaus in unregelmäßigen Abständen, während ich von oben ähnliche Geräusche wie schon zuvor wahrnehme, als ich glaubte, Louis wäre alleine herein gestürmt und gefangen genommen worden. Der Lärm ist nicht mal vergleichbar mit dem, was jetzt vor sich geht. Von dem Krachen, dem Knirschen und den Erschütterungen, scheint Ethan mit seinem Fuchtler die gesamte Einrichtung zertrümmern zu wollen. Fast erwarte ich, dass er das ganze Gebäude zum Einsturz bringen wird. Alina und Mik werfen sich einen schnellen Blick zu, dann nicken sie und laufen Richtung Tür. "Abby!" Louis´ Schrei ertönt näher als noch zuvor, gefolgt von lautem Fluchen und einem dumpfen Knall. "Gottverdammte… bist du allein?!" Alina schaut kurz hinaus ins Treppenhaus, dann macht sie kehrt und zieht Mik mit sich zum anderen Ende des Kellerraums, wo sie einen Hebel betätigt, der mir bis dahin nicht aufgefallen ist. Die beiden verschwinden hinter einer Geheimtür, die sich nahtlos in die Wand einfügt. "Jetzt schon!", schreie ich zurück. "Mik und Alina hauen ab, Louis! Ich brauche meine Pokémon!" "Expresslieferung, kommt sofort!" Es dauert nicht lange, da preschen Sku und Gott Seite an Seite die steinernen Treppen herunter, meinen Pokégürtel samt S-Com im Maul. Gott zerschlitzt meine Fesseln mit einem präzisen Sternschauer und ich falle die letzten Zentimeter zurück auf meine Füße, bevor ich einknicke und auf die Knie gehe. Umringt von Sku und Gott, die mich umkreisen, schnurrend und knurrend und bereit, sich jeden Moment in den Kampf zu stürzen, rufe ich Priss, die, erschrocken ob der unbekannten Umgebung, auf meinen Kopf springt und in mein Ohr beißt. "Besorgst du mir… etwas zu trinken?", frage ich leise und huste sofort wieder. Ohne zu zögern hopst sie von meinem Kopf und huscht aus dem Kellerraum und die Treppen hinauf. "Wir halten hier oben die Stellung!", schreit Louis mir zu, dicht gefolgt von einem weiteren dumpfen Laut und dem Schmerzensschrei eines Mannes. "Es sind verdammt viele, aber die Polizei ist unterwegs! Halte Mik und Alina auf, bevor sie entkommen!" Geht klar, denke ich grimmig, kraule einmal beruhigend über Skus und Gotts Kopf und erhebe mich, gerade, als Priss die Treppen mit einer Flasche Wasser im Maul herabschlittert. Ich nehme einige große Schlucke, dann schnalle ich mir den Gürtel wieder um und laufe zu dem Geheimschalter. Der Hebel lässt sich leicht betätigen, er scheint häufig in Gebrauch zu sein und regelmäßig geölt zu werden. Die versteckte Tür öffnet sich einen Spalt und ich trete in den feuchten Steingang dahinter, der nur von Gotts Rückenfeuer erleuchtet wird. Der Tunnel ist so schmal, dass ich kaum einen Arm zur Seite ausstrecken kann und ich bin plötzlich erleichtert, dass Louis nicht auch hier unten ist. Er würde darauf bestehen, mich zu begleiten, trotz seiner Platzangst. "Los", befehle ich und laufe voran, Sku und Gott dicht hinter mir. Priss rufe ich zurück, sobald das Ende des Tunnels in Sicht kommt. Sie würde in einem Kampf nur unnötig in Gefahr geraten. Der Ausgang ist gut sichtbar, trotzdem brauche ich eine Weile, bevor ich den richtigen Stein gefunden habe, dessen Druck die Tür einen Spalt öffnet. Schließlich jedoch sinkt eine der kalten Oberflächen unter meinen Händen tiefer in die Wand und ich presse mich gegen den Ausgang, bis er nachgibt und wir hinaus ins Freie kommen. Oder besser gesagt, in den Abstellraum. Zuerst bin ich unsicher, wo genau wir gelandet sind, aber dann fallen mir die zahlreichen Ersatzreifen, Hupen, Sättel und Luftpumpen auf und ich ziehe die einzig logische Schlussfolgerung. Der Bikertreffpunkt ist über einen Geheimgang mit dem Fahrradverleih verbunden. Kein Wunder, dass Gerard und Jack die Biker nicht finden konnten. Sie müssen ihre Verfolger bemerkt und sich im Tunnel versteckt haben. Ich stolpere durch das Gerümpel und hinaus in den Verkaufsraum, der zu dieser Uhrzeit wie erwartet geschlossen ist. Von draußen höre ich ein lautes Knattern, gefolgt von dem Dröhnen zweier Motoren. "Mist!", fluche ich und sprinte durch den Ausgang nach draußen. Mik und Alina sind bereits auf zwei gestohlenen Bikes halb den Hügel hinauf und werden jeden Moment die Straße erreichen. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Gott und Sku landen für´s erste wieder in ihren Bällen, stattdessen rufe ich Jayjay, auf dessen Rücken ich steige, bevor ich ihn zum Galopp antreibe. "So schnell du kannst", beschwöre ich ihn und er gibt ein erfreutes Wiehern von sich, bevor er losprescht. Innerhalb von Sekunden ist der Gegenwind so stark, dass ich mich flach an Jayjays Rücken pressen möchte, aber seine Starkstrommähne treibt mir das Bedürfnis schnell wieder aus. Die Handschuhe trage ich dieses Mal natürlich auch nicht, daher muss ich fast ohne Hilfe meiner Hände im Sattel bleiben. Hätte ich nicht genau das auf Hunters Rücken durchgemacht, bevor wir von der Explosion getroffen wurden, wäre ich vielleicht bei der ersten Richtungsänderung von Jayjays Rücken gestürzt. So wie die Dinge stehen, schaffe ich es aber, mich im Sattel zu halten, auch wenn meine Oberschenkel bei der ungewohnten Anstrengung protestieren. Einige Minuten verfolgen wir die beiden Bikes über den vorgegebenen Pfad, aber als ich merke, dass wir sie so niemals einholen werden, lenke ich Jayjay querfeldein nach rechts. Der Weg wird bald eine Rechtskurve zum Fahrradweg machen, wenn wir es schaffen, sie bis dahin abzuschneiden… Es ist knapp, aber wir schaffen es. Der Donner von Jayjays Hufen grollt noch in meinen Ohren nach, als wir über einige hochgewachsene Büsche hechten und den Beginn des Fahrradwegs vor den beiden Geschwistern erreichen. Ich springe von Jayjays Rücken, während ich gleichzeitig Skus Pokéball und Gotts Finsterball aktiviere. Zusammen mit meinen drei Pokémon erwarte ich Mik und Alina, die mich im Glauben gelassen haben, Louis wäre gefoltert worden, weil ich nicht schnell genug geantwortet habe. Sie wissen, wo Team Shadows Hauptquartier ist. Ich darf sie nicht durchlassen. Die Motorräder nähern sich und kommen schlitternd einige Meter vor uns zum Stillstand. Alina betrachtet mich nur irritiert, während Mik belustigt den Kopf schüttelt. "Du willst dich duellieren?", fragt er und setzt einen Fuß auf dem Boden auf. Seine Hand greift nach seinen Pokébällen. Alina tut es ihm gleich. "Ihr werdet bereuen, euch mit Team Rocket eingelassen zu haben", sage ich und beobachte, wie Mik Flunkifer und sein inzwischen entwickeltes Lucario ruft, denen Bojelin, Gladiantri und Lin-Fu von Alina folgen. Die Pokémon bauen sich bedrohlich vor ihren Trainern auf. Gotts Feuer brennt so heiß, dass ich einen Schritt zurück machen muss, Jayjay stampft mit den Hufen auf und entlädt einige Blitze durch seine Mähne an die Luft, sichtlich bereit, Hunter zu rächen, egal wie. Sku wirft mir einen kurzen Blick zu. Ihre rotunterlaufenen Augen leuchten voller Zuversicht in der Dunkelheit. Verlass dich auf uns, scheint sie zu sagen. Wir machen sie fertig. Kapitel 105: Zeit für Rache (Das Opfer) --------------------------------------- Es bleiben nur wenige Sekunden, mir eine Strategie zurechtzulegen. Rasch überfliege ich die fünf gegnerischen Pokémon, die angriffslustig auf die Befehle ihrer Trainer warten oder ihrerseits mein Team abschätzen. Mik und Alina besitzen ein sehr stahllastiges Team, aber Bojelin stellt eine große Gefahr für Gott da. Mir bleiben nicht viele Möglichkeiten. „Gott, sorg mit Rauchwolke für Sichtschutz, Sku, Toxin auf Lin-Fu! Jayjay, schalte das Bojelin aus, Ladevorgang, dann Funkensprung. Los!“ Sku springt vor und spuckt eine übelriechende Ladung Toxin in Richtung des Kampfpokémon, dessen komplexes Ausweichmanöver es nicht vor der Attacke schützt. Das Gift erwischt Lin-Fu am Oberschenkel und ätzt sich zielstrebig durch das rosafarbene Fell. Quietschend geht es auf die Knie, atmet gezwungen ruhig aus und schließt zu einer Meditation die Augen. All das sehe ich, bevor Gotts Rauchwolke die Luft mit dichten, schwarzen Rauchschwaden füllt und die Sicht verdeckt. Einzig Jayjays elektrische Entladungen zeigen, wo er sich gerade aufhält. Ich erwarte mit Grauen Bojelins Wasserdüse, doch sie kommt nicht. Stattdessen durchbricht ein Wassersprenkel den Rauch und fällt in einem feinem Niesel zu Boden. Nassmacher… Ich hätte es mir denken können. Alina wird alles tun, um Gotts Feuerattacken so gut es geht zu behindern. „Flunkifer, Knirscher auf das Zebritz, lass es nicht zum Zug kommen! Lucario, Knochenhatz auf das Stinktier, jetzt!“ „Gladiantri, Silberblick auf Igelavar.“ Etwas schießt durch den Rauch auf Sku zu und trifft sie, zweimal, dreimal, bis sie keuchend zur Seite springt und dem vierten Objekt gekonnt ausweicht. Gleichzeitig flackert ein silbernes Augenpaar in der Dunkelheit auf und lässt Gott knurrend einen Schritt zurückweichen. Jayjay leuchtet einmal stärker auf, als er seinen Ladevorgang beendet, macht sich damit aber zu einem leichten Ziel für Flunkifer, das auf ihn zuspringt und sein zum Kiefer ungeformtes Horn in seine Flanke gräbt. Zischend beobachte ich, wie Jayjay zur Seite stolpert, ausschlägt und sich so von dem Stahlpokémon befreit, aber die Bisswunde ist auch im Rauch deutlich zu erkennen und Blut tropft durch sein gestreiftes Fell. „Jetzt Wasserdüse, Bojelin“, ertönt Alinas kontrollierte Stimme. „Lin-Fu, bleib bei Meditation.“ „Nochmal Knirscher. Lucario, Scanner, schütz Bojelin!“ Noch während Bojelin einen Wasserstrahl in Gotts Richtung schießt, der so schnell ist, dass ich ihn fast nicht mehr sehen kann und ihn einige Meter zurückschleudert, rufe ich bereits das nächste Kommando. „Jayjay, attackier Flunkifer, Sku, Säurespeier auf Lin-Fu! Unterbrich die Meditation. Gott, komm schon! Flammenrad auf Flunkifer!“ Skus Giftattacke trifft im selben Moment, da Jayjay seinen Funkensprung in letzter Sekunde von Lucarios Scanner abwendet und auf Flunkifer lenkt. Der Nassmacher, den Bojelin zuvor heraufbeschworen hat, ist jetzt der perfekte elektrische Leiter und die Elektroattacke schüttelt das Stahlpokémon ordentlich durch. Gotts Flammenrad, das wie ein feuriger Wirbelsturm auf Flunkifer zurollt und es mit voller Wucht trifft, erledigt den Rest. Mik zischt, als eins seiner Pokémon besiegt zu Boden taumelt. Ich grinse nur und warte, bis Gott wieder Stellung an meiner Seite bezogen hat, bevor ich ihm ein weiteres Flammenrad befehle, dieses Mal auf Lucario, dessen Scanner abgeklungen ist. Natürlich habe ich nicht mit Alina gerechnet. „Gladiantri, Folterknecht!“ Das kleine Stahlklingenpokémon, das sich bis dahin unauffällig am Rande des Geschehens gehalten hat, gibt einige undefinierbare Geräusche von sich. Was genau, kann ich nicht sagen, nur dass Gotts Flammenrad im letzten Moment durch einen Sternschauer ersetzt wird, den er fauchend geradewegs in Lucarios Gesicht schleudert. Das Aurapokémon zeigt sich von der Normalattacke selbstverständlich völlig unberührt und macht sich stattdessen bereit für eine weitere Knochenhatz, die Sku dieses Mal zweimal erwischt und schnaufend zu Boden gehen lässt. „Sku, halte durch!“, rufe ich ihr zu, während ich gleichzeitig Jayjays zweiten Funkensprung auf Bojelin dirigiere, das Gott erneut mit einer Wasserdüse attackieren will, sich im Rauch aber verschätzt und ihn nur streift. Jayjay hingegen trifft. Der Ladevorgang ist aufgebraucht, aber die Elektroattacke richtet trotzdem erheblichen Schaden an, als sie das Wasserpokémon unter Starkstrom setzt. Sku, die sich wieder aufgerappelt hat, setzt dem Ganzen mit einem wohlplatzierten Schlitzer ein Ende. Mit Bojelins Niederlage kommt auch der Nassmacher zum Erliegen. „Gott, jetzt kannst du durchstarten!“, rufe ich ihm zu, während er durch den sich langsam lichtenden Rauch jagt und scheinbar neue Energie getankt hat. Könnte es sein… „Lin-Fu, beende es mit Ableithieb!“, befiehlt Alina mit kalter Stimme. Das Kampfpokémon reißt die Augen auf, rast vor und trifft Sku mit einer Faust tief in der Magengrube. Nicht nur fällt Sku bewusstlos zu Boden, ein Teil der Energie kommt auch noch Lin-Fu zu Gute. „Lucario, Kraftwelle auf Zebritz!“ „Komm ihm zuvor, Jayjay! Funkensprung auf Lin-Fu!“ Beide Attacken treffen gleichzeitig, doch während Jayjay besiegt zu Boden geht, hält Lin-Fu sich geradeso auf den Beinen. Ich atme einmal tief durch. Lin-Fu ist so gut wie erledigt. Lucario und Gladiantri haben noch fast volle Kraftreserven und Gott musste bereits eine sehr effektive Attacke einstecken. Es sieht nicht gut aus. „Gott, jetzt wird es ernst“, sage ich. „Lass dich nicht treffen und schalte zuerst Lin-Fu mit deinem Sternschauer aus, danach Feuer auf alles, was dir in die Quere kommt!“ Er faucht zustimmend, fährt sein Rückenfeuer weiter auf und rast geradewegs an Lucario und Gladiantri vorbei und auf das Kampfpokémon zu, dessen Verteidigung dem sicheren Normaltreffer nicht mehr standhält. Skus Toxin erledigt den Rest und das Pokémon geht tonlos zu Boden. Gott brüllt und fährt zu seinen beiden übrigen Gegnern herum, Zähne gefletscht. Kommt es mir nur so vor, oder sieht er… bedrohlicher aus? Mik und Alina werfen sich einen schnellen Blick zu. Sicher wollten sie schon längst über alle Berge sein, aber so leicht lässt sich Abbygail Charlotte Hampton eben nicht besiegen. „Knochenhatz!“ „Gewissheit!“ Gott reißt den Kopf herum, als die fünf Bodengeschosse auf ihn zurasen, windet sich aber im letzten Moment zur Seite und entgeht so den Attacken. Sein Körper beginnt, rot zu glühen, dann schießt er auf Gladiantri zu und trifft seinen Gegner mit voller Wucht. Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Flammenrad war das nicht. Es sah eher aus wie… „Nitroladung?“, frage ich und sehe nur, wie Gott zufrieden nickt. Gladiantri liegt besiegt zu seinen Füßen. Bleibt nur noch Lucario. Alina gibt einen undefinierbaren Laut von sich, ruft ihre Pokémon zurück und springt auf ihr Bike, um zu verschwinden, aber Gott schleudert ohne Zögern einen Sternschauer in ihre Richtung, der die Reifen mühelos zerschlitzt. Ich kann mein Grinsen kaum noch unterdrücken und das Genugtun, selbst auf Miks Gesicht einen fassungslosen Ausdruck zu sehen, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Gott und Lucario umkreisen sich langsam. Der Schakal hat noch mehr Energie übrig, aber Gotts Typvorteil ist eindeutig. Die beiden springen aufeinander zu, doch Gotts Initiative ist durch die vorige Nitroladung erhöht und er trifft Lucario mit solcher Wucht, dass das gegnerische Pokémon zurückgeschleudert wird, über die Straße schlittert und zum Stillstand kommt. Erst einige Sekunden später hebt es erschöpft den Kopf, ein letzter, verzweifelter Kraftakt. Gott gibt ein gewaltiges Fauchen von sich und Lucario lässt besiegt seinen Kopf zurück in den Staub fallen. Wir haben gewonnen. Ein drei vs. fünf Kampf, und wir haben tatsächlich gewonnen. Sprachlos und mit weichen Knien rufe ich Sku und Jayjay zurück, die noch immer besiegt am Boden liegen. Gott bleckt selbstgefällig die Zähne. Dann beginnt er, zu leuchten. Nein, nein, doch nicht schon jetzt! Ich werfe einen raschen Blick zu Mik und Alina, die kehrtmachen und das Weite suchen. Ich will sie verfolgen, aber wenn Gott sich entwickelt, war es das mit meinem Therapietraining. Ich gehe vor Gott in die Knie und schaue ihn eindringlich an. Noch ist die Entwicklung nicht fortgeschritten, doch sobald er die Veränderung zulässt, wird es sich nur um Sekunden handeln. „Gott“, sage ich und zwinge ihn, mir in die Augen zu sehen. „Keine Entwicklung. Ich verbiete es.“ Ein frustriertes Winseln erklingt aus dem weißen Leuchten, das Gott inzwischen völlig umhüllt hat. „Ich meine es ernst“, fahre ich fort und durchbohre ihn mit meinem Blick. „Wir haben das besprochen, Gott. Brich die Entwicklung ab. Sofort.“ Gott macht einen Schritt zurück. Das Licht fällt wie Schuppen von einigen Stellen seines Körpers ab, aber es verblasst nicht gänzlich. Ich hatte nicht darauf zurückgreifen wollen. Aber es scheint, als hätte ich keine Wahl. Wie Ronya, als sie Gott zu Boden gerungen hat, fletsche ich meine Zähne. „Stopp“, presse ich hervor und halte dabei den Blick zu Gott aufrecht. In all unseren Versuchen, diesen Befehl in einer Übung einzusetzen, hat es nicht funktioniert. Er hat mich stets belustigt angehechelt oder als Antwort selbst geknurrt. Mein Herz schlägt schneller in meiner Brust, während ich darauf warte, wie Gott sich entscheiden wird. Es sind einige der angespanntesten Sekunden meines Lebens. Dann erlischt das Licht und Gott steht weiterhin als Igelavar vor mir, Kopf gesenkt, so als schäme er sich dafür, solange für die Entscheidung gebraucht zu haben. Tiefe Erleichterung überkommt mich, als ich die Arme ausbreite und Gott sich grummelnd in meine Umarmung schmiegt. Unsere Probleme sind noch nicht beseitigt. Aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. „Abby!“ Ich hebe den Kopf und entdecke eine dunkle Silhouette, die sich auch aus dieser Entfernung schnell als Louis entpuppt. Er kommt in meine Richtung gejoggt und bleibt schwer atmend vor mir stehen. Mein Blick wandert über das Veilchen unter seinem linken Auge, seine aufgeschrammten Fingerknöchel und das zerzauste Haar. Kein Zeichen von Folter oder ähnlichem. Ein erleichtertes Aufatmen überkommt mich. Im nächsten Moment bin ich schon in seine Umarmung geflüchtet, wo ich mich an ihm festkralle, so als könnte er mir jeden Moment entrissen werden. „Ich dachte… da waren diese Schreie und ich… ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen!“ „Abby, shhh, ganz ruhig.“ Beruhigend streicht er mir über den Kopf. „Alles ist gut. Das war nicht ich, der so geschrien hat.“ „Was ist überhaupt passiert?“, frage ich und atme mehrere Male tief ein und aus, bevor ich mich bereit fühle, meinen Griff zu lockern. „Nein, erzähl es mir gleich“, unterbreche ich Louis, der schon den Mund zu einer Erklärung geöffnet hat. „Mik und Alina sind noch auf freiem Fuß. Wir müssen sie einfangen.“ „Bezweifle ich“, meint er grinsend und dreht sich mit mir gemeinsam zurück Richtung Route 18, die in der Dunkelheit still vor uns liegt. Oder auch nicht ganz so still. Jetzt, da meine Ohren sich nicht auf Gespräche oder Kampfgeräusche konzentrieren müssen, kann ich von weiter südlich Schreie, Flüche und Befehle hören. Taschenlampen blitzen hier und da auf und als ich den Kopf hebe, kann ich einige dunkle Gestalten entdecken, die über den Hügeln ihre Kreise ziehen. „Die Polizei?“, frage ich und kneife die Augen zusammen, um Mik und Alina in den Grüppchen auszumachen. Es gelingt mir nicht. „Sie sind eingetroffen, kurz nachdem du abgehauen bist, um die beiden einzufangen“, erklärt Louis. „Die Biker im Treffpunkt haben sie sofort eingesackt, danach sind sie ausgeschwärmt, um die Entflohenen einzusammeln. Mik und Alina werden nicht weit kommen.“ Ich nicke und beobachte aus der Ferne, wie zwei Figuren von einer Gruppe Feuerpokémon zu Boden gerissen werden. Rockys Fukano? Aber wenn Rocky hier ist, dann heißt das… „Ist Holly auch da?“, frage ich panisch, aber Louis lacht nur, hakt sich bei mir unter und zieht mich mit zurück in Richtung der Polizisten. „Keine Sorge. Ich glaube, dieses Mal hast du keine Standpauke zu befürchten.“ Er runzelt die Stirn. „Was ist passiert, Abby? Ich bin aus dem Restaurant gekommen und du warst einfach verschwunden! Es gab nicht mal Anzeichen eines Kampfes, geschweige denn von dir. Ich bin durchgedreht, weil ich nicht wusste, wo ich anfange soll, zu suchen! Etwas später hat sich dann Ronya bei mir gemeldet, weil Dark einen Notruf von dir bekommen hat. Er hat sie kontaktiert, weil er wusste, dass sie hier bei uns ist und zusammen mit ihr und Gerard haben wir die Polizei gerufen und sind dem Funksignal von deinem S-Com gefolgt.“ „Sie haben mir aufgelauert“, erkläre ich. Einen Moment überlege ich, Louis nicht zu sagen, dass ich die Wahl zwischen Kämpfen und Hilfe rufen hatte, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder. Wir sind beide heil aus der Sache rausgekommen. Das letzte, was ich will, ist eine Lüge, die spätestens bei genauerem Hinterfragen auffliegt. „Ich hatte nur einen kurzen Moment zu entscheiden, was ich tun soll, deswegen habe ich den SOS-Knopf aktiviert, statt zu kämpfen. Ich dachte, wenn ihr dem Signal folgt, kann die Polizei dieses Mal alle auf einmal festnehmen.“ „Das ist mal wieder sehr nobel von dir“, stellt Louis trocken fest. „Und sehr dumm und selbstzerstörerisch und riskant und… ach verdammt, Abby! Ich will nicht sagen, du hättest es nicht tun sollen, schließlich hat es ja geklappt. Aber als wir vor dem Treffpunkt standen und ich höre von drinnen diese… diese Schreie, da bin ich wahnsinnig geworden!“ „Ich auch, Louis“, flüstere ich und klammere mich enger an ihn. Wir kommen den Polizisten näher, aber noch sind wir außer Hörweite. „Die ganze Zeit dachte ich, du würdest gefoltert werden! Und es wäre meine Schuld gewesen, eben weil ich dieses Risiko eingegangen bin.“ Ich seufze und schaue zu ihm. „Also, was hat uns denn nun gegenseitig so gekonnt imitiert?“ „Ein Plaudagei, dieses Drecksvieh“, murrt Louis. „Hat natürlich aufgehört, sobald wir reingestürmt sind. Sie müssen es darauf abgerichtet haben, solche Geräusche von sich zu geben, gesprochen hat es jedenfalls nicht.“ „Klingt ganz nach etwas, das Mik machen würde“, sage ich bitter und denke an mein Gespräch mit ihm zurück. Wahrscheinlich hat er Louis´ Auftauchen und den Kampf inszeniert, als er merkte, dass ich nicht reden würde und sich dann einen Spaß daraus gemacht, mich mit der Vorstellung in den Wahnsinn zu treiben. Vielleicht hätte mir klar sein sollen, dass Mik wieder die Manipulationsmasche durchziehen würde, aber ich war zu dem Zeitpunkt nicht gerade in meiner besten geistigen Verfassung. Und, wenn ich ehrlich bin, hätte ich Louis´ Wohl nicht auf eine Theorie gestützt, selbst wenn ich auf die Idee gekommen wäre. „Ah, da seid ihr ja“, ruft eine Polizistin und kommt mit auf und ab hüpfender Taschenlampe zu uns gejoggt. Zwei Fukano folgen ihr auf dem Fuß, daher weiß ich, um wen es sich handelt, noch bevor ich ihr Gesicht sehen kann. „Hallo, Rocky“, begrüße ich sie und löse mich von Louis. „Sind Mik und Alina erwischt worden?“ Sie nickt andächtig. „Dank dir, Abby. Deine Methoden sind bisweilen sehr fragwürdig, aber du hast schon viele Vorfälle melden können und uns in Kontakt mit Team Shadow gebracht. Ihnen verdanken wir einen Großteil der neueren Festnahmen und heute Nacht hast du uns über zwanzig Biker auf dem Silbertablett serviert, ihre Anführer mit eingeschlossen. Ich muss mich bei dir bedanken.“ „Ach was…“, murmele ich, kann die Zufriedenheit aber nicht zurückhalten. Lob von Rocky bedeutet mir sehr viel, vor allem, da meine Beziehung mit der Polizei in letzter Zeit auf Messers Schneide lag und ich bis vor einer halben Stunde noch glaubte, alles falsch gemacht zu haben. „Entschuldigt mich jetzt“, sagt sie und nickt in Richtung ihrer Kollegen, die versuchen, Mik und Alina auf die bereitstehenden Tauboss zu hieven. „Meine Hilfe wird benötigt. Wenn du jemals wieder Hinweise hast, zögere nicht, dich bei uns zu melden“, fügt sie in meine Richtung zu, salutiert und kehrt zu dem Polizistengrüppchen zurück. „Siehst du, lief doch perfekt“, meint Louis grinsend, küsst mich auf den Kopf und zieht mich mit Richtung Bikertreffpunkt. „Ronya und Gerard warten bestimmt schon. Und mit Holly willst du dich sicher auch noch unterhalten.“ Ich lache. „Verschon mich.“ Fast gelingt es mir, Alinas tobende Schreie zu ignorieren, die aus dem Himmel zu uns herabschallen und uns den gesamten Rückweg begleiten. Sie werden dich kriegen. Sie werden dich kriegen. Aber nur fast.   Am nächsten Nachmittag finde ich mich mit Louis auf Route 15 ein, wo wir uns von Gerard und Ronya verabschieden. Meine Augen brennen noch von den Albträumen, die mich die ganze Nacht über aus dem Schlaf gerissen haben, bis ich mit Sku in den Armen endlich fest eingeschlafen bin. „Ihr müsst nicht heute schon abreisen“, versuche ich es ein letztes Mal. Jetzt, da Gott offiziell seinen Entwicklungslevel erreicht hat, bin ich plötzlich sehr unsicher, wie es weitergeht. Ronya scheint meine Zweifel zu spüren, denn sie klopft mir flüchtig auf die Schulter. „Du hast ihn schon im Griff“, versichert sie mir und zieht einen blau-gelb gemusterten Ball von ihrem Gürtel, den ich nach kurzem Überlegen als Flottball identifiziere. Sie wird doch nicht… Ein roter Lichtstrahl schießt aus dem Ballgehäuse und verdichtet sich zu einer grobschlächtigen Raubkatze, deren zottig braunes Fell nur von den Musterungen im Gesicht und dem aufgebauschten, weißen Fell auf ihrem Rückgrat unterbrochen wird. Enteis Brüllen ringt in meinen Ohren nach, als das Legendäre seinen gewaltigen Kopf in unsere Richtung dreht und uns unbeeindruckt mustert. Ronya tätschelt seinen Hals und steigt auf den breiten Rücken. Gerard schüttelt von Tropius´ Rücken aus fassungslos den Kopf. „Angeberin.“ „Wir treffen uns in etwa einer Woche in Prismania City, Abby“, sagt Ronya und winkt zum Abschied. „Bis dahin steht hoffentlich fest, ob ich bei euch einsteige oder nicht. Man sieht sich.“ Entei schüttelt seine Mähne, wendet sich ab und springt den Steilhang hinauf, der von dieser Seite eigentlich nicht zugänglich ist. Gerard hebt wortlos auf seinem Pokémon ab und nimmt direkten Kurs auf Prismania City. Auch er will sich erst einen Eindruck von Team Shadow machen, bevor er beitritt, aber seit seinen beiden Einsätzen wirkt er sehr viel williger. Irgendwie scheint ihm der Gedanke zu gefallen, anderen Menschen zu helfen. „Wow“, stellt Louis fest, der noch immer Entei hinterherschaut, obwohl es längst auf dem oberen Routenabschnitt verschwunden ist. „Wow“, stimme ich zu und fahre mit den Fingern über meine wunden Handgelenke, die Schwester Joy noch gestern Nacht mit einer intensiv riechenden Kräutersalbe eingeschmiert hat. Plötzlich halte ich in der Bewegung inne. Mein Herz setzt einen Schlag aus. „Das Armband!“ Ungläubig betaste ich meine Handgelenke, aber natürlich ist es nicht da. „Ich hab total vergessen, dass es mir bei meinen Fluchtversuchen kaputt gegangen ist“, fluche ich und steige auf mein Fahrrad. „Viel Glück hat es dir ja nicht gebracht“, gibt Louis zu bedenken, steigt aber ebenfalls auf sein Fahrrad und folgt mir zurück in die Stadt. Als wir an der Kreuzung vorbeifahren, die zum Pokécenter führt, holt er jedoch mit einigen kräftigen Pedalentritten zu mir auf. „Und wo genau willst du hin?“ „Zum Bikertreffpunkt natürlich“, erwidere ich sofort. „Es muss noch in dem Keller liegen. Wenn einer der Polizisten es gefunden hätte, würde Rocky sich bei mir melden.“ „Du willst ernsthaft dahin zurück?“, fragt Louis. „Nach gestern Nacht macht dir niemand Vorwürfe, wenn du dort nie mehr rein möchtest, Abby. Ich am allerwenigsten.“ „Ich weiß“, rufe ich gegen den Fahrtwind. „Aber es war ein Geschenk von dir und ich möchte es zurück.“ Louis seufzt, belässt es aber dabei. Er kennt mich inzwischen gut genug, um zu wissen, wann er einen Streit nicht gewinnen kann. Als wir Fuchsania City etwas später mit unseren Fahrrädern verlassen, kommt der Gebäudekomplex in Sicht, den Mik und Alina als ihr Hauptquartier verwendet haben. Absperrband ist um das gesamte Gebiet gespannt, aber von Polizisten ist keine Spur zu sehen. Sie müssen ihre Ermittlungen beendet haben, als wir noch im Bett lagen. Inzwischen ist es schließlich schon sechs Uhr. Wir stellen unsere Fahrräder etwas abseits ab und klettern unter den gelben Absperrungen hindurch. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst den Haupteingang benutze und kaum dass wir den Gemeinschaftsraum betreten, wird mir klar, wie viel Schaden Ethan und die anderen eigentlich angerichtet haben. Das dunkle Parkett ist zerkratzt, verkohlt und teilweise eingebrochen, einer der Pfeiler, der die Decke stützt, liegt zerschmettert über umgekippten Sofas und ein Kronleuchter hat seine Kristalle beim Herunterkrachen auf dem gesamten Stockwerk verteilt. Zersprungene Fenster, aufgeplatzte Kissen, halb demolierte Treppen, die auf einen höheren Level mit Balkon führen… Es ist ein wahres Schlachtfeld. „Was ist da oben?“, frage ich leise, obwohl wir alleine sind. Die Atmosphäre ist so erdrückend, dass ich nicht wage, laut zu reden. „Wir waren nicht dort“, flüstert Louis zurück, angesteckt von meiner Vorsicht. „Schlafzimmer, Badezimmer, Büros, sowas in der Art, denke ich. Die haben hier schließlich gelebt.“ Nickend mache ich mich auf die Suche nach der Treppe, die hinunter in den Keller führt. Es dauert nicht sehr lange, denn die geheime Regalvorrichtung, die den Eingang vermutlich verstecken soll, ist zu Boden gerissen und zu Kleinholz zertrümmert worden. Von den Büchern bleiben nur verkohlte Seiten und Asche zurück. Ein bisschen tut es mir um den Treffpunkt leid. Das Gebäude konnte schließlich nichts dafür, wer sich hier eingenistet hat. Gemeinsam steigen wir die Stufen hinunter. Es sind mehr, als ich gedacht hatte, und je tiefer wir uns auf der Wendeltreppe bewegen, desto düsterer und feuchter wird es. Schließlich platschen die kleinen Wasserpfützen unter unseren Schuhen und auch ohne Licht weiß ich, dass wir da sind. Ich trete in den Kellerraum und taste blind nach dem Lichtschalter, der die nackte Glühbirne an der Decke flackernd zum Leben erweckt. Trübes Licht erfüllt das steinerne Gefängnis. Louis schaudert neben mir, als er die Vorrichtung entdeckt, an der ich gestern noch gefesselt von der Decke hing. „Das ist krank“, flüstert er, während ich schon den Boden absuche. Das Armband ist im gestrigen Tumult zur Wand geschlittert, aber ich entdecke es auf den ersten Blick. Als ich es hochhebe, begutachte ich bedauernd den kaputten Verschluss. „Meinst du, der Laden, wo du es gekauft hast, kann es reparieren?“, frage ich. Louis nickt nur. „Bitte, Abby“, meint er und macht einen Schritt zurück zur Treppe. „Ich will hier einfach nur weg.“ „Wer hat jetzt Angst?“, frage ich spöttisch, folge ihm aber nach oben. Gestern hatte ich Bedenken wegen des Tunnels, aber der Kellerraum ist auch nicht gerade der geräumigste. Schweigend klettern wir die Stufen hinauf zurück zum Gemeinschaftsraum, doch Louis, der vorgeht, bleibt abrupt stehen und presst sich gegen die Wand. „Was?“, frage ich so leise, dass Louis mir das Wort von den Lippen ablesen muss. Er legt einen Finger auf die Lippen und deutet die letzten Stufen hinauf zum Ausgang. So vorsichtig, wie es mir möglich ist, steige ich zwei Stufen höher und an ihm vorbei. Dort, inmitten des zerstörten Mobiliars, stehen ein Mann und eine Frau, beide schwarz gekleidet. Feuerrotes Haar fällt der Frau um die Schultern und spiegelt sich in dem gleichfarbigen R wieder, das auf ihrer Brust prangt. Etwas in ihrem Gesicht kommt mir sehr, sehr bekannt vor. Der Mann kommt mir auch bekannt vor, aber bei ihm weiß ich genau, wo ich ihn schon einmal gesehen habe. Der Hüne dreht sich bedächtig in seinem schwarzen Anzug und als das Licht sein Gesicht trifft, festigt sich meine Vermutung. Craig blockiert unseren Ausgang. Kapitel 106: Erkenntnis mit Folgen (Harter Rückschlag) ------------------------------------------------------ „Das ist Craig“, hauche ich. „Einer der Vorstände.“ „Der aus Teak City?“, fragt Louis ungläubig und stiehlt noch einen Blick durch den Spalt, der für uns einsehbar ist. „Pst“, zische ich leise und gehe auf den Treppenstufen auf die Knie, um nicht so leicht gesehen zu werden. „Ich will hören, worüber sie reden.“ „Sollten wir nicht durch den Geheimgang fliehen?“ „Wenn du denkst, dass du dort durch kannst, probier es aus“, flüstere ich und lausche angestrengt auf die Gesprächsfetzen. „Hier.“ Ich betätige die Rocket-Taste auf meinem S-Com und reiche ihm das klobige Gerät. „Bleib in Kontakt mit denjenigen, die sich melden. Und schalte es stumm.“ Hinter mir macht Louis sich an dem Com zu schaffen, dann verschwindet er hinunter in den Keller. Ich nehme unterdessen die beiden Rockets näher in Augenschein. „−haben wirklich ganze Arbeit geleistet“, sagt die Frau und schnalzt mit der Zunge. Ihr schwarzer Rock ist mittig bis über die Knie geschlitzt, darunter trägt sie eine enganliegende Hose. Selbst eine Frau wie sie scheint sich bei Team Rocket nicht zu gut für schmutzige Arbeit zu sein. Craig nickt bedächtig, aber als ich die Augen zusammenkneife, kann ich die Anspannung in seinem Kiefer erkennen. „Das ist ein schwerer Schlag für uns“, sagt er und rückt seine Sonnenbrille zurecht. „Michael und Alina waren unserer Sache zugetan. Sie mitsamt den Bikern zu verlieren…“ „Atlas wird sich wieder aufregen“, stellt die Frau seufzend fest und betrachtet ihre lackierten Fingernägel. „Er ist ohnehin so gereizt in letzter Zeit.“ „Sein Sohn hat ihn verraten und war an Lambdas Gefangennahme beteiligt“, lacht Craig humorlos. „Was erwartest du, Athena?“ Athena. Ich schlucke und werfe einen flüchtigen Blick die Treppe hinunter, wo Louis vermutlich gerade den Gang testet. Vielleicht kenne ich mich nicht so gut mit Team Rocket aus wie Red oder Gold, die persönlich gegen diese Verbrecher gekämpft haben, aber seit meiner Zusammenarbeit mit Dark ist mir zumindest die oberste Hierarchie ein Begriff. Und Athena gehört wie Craig zum Vorstand. Es sieht wirklich übel aus. Mein Kampf mit Lambda ist mir noch gut im Gedächtnis und ich habe fast alle meine Ressourcen verbraucht, um ein einziges seiner Pokémon auszuschalten. Nochmal kann ich nicht auf einen so ausgedehnten Kampf hoffen. Aber schließlich müssen wir nicht kämpfen. Louis unterbricht meinen Gedankengang, als er plötzlich hinter mir auftaucht. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts Gutes. "Was?", murmele ich. "Zu eng?" Er schüttelt den Kopf. "Die Polizei muss die Tür zugeschweißt haben. Sie bewegt sich kein Stück." "Verdammt", fluche ich tonlos. Wenn der Tunnel blockiert ist, haben wir keine Wahl, als wie Rattfratz in der Falle darauf zu warten, dass Craig und Athena verschwinden. "Was ist mit Gott? Meinst du, er könnte−"  „Ich werde mich mit meinen Kontakten in Dukatia City treffen müssen“, erklingt Craigs Stimme in dem Moment. „Ohne die Biker sind sie das einzige Netzwerk, das uns noch zur Verfügung steht.“ Athena schnaubt, was so gar nicht zu ihrer damenhaften Art passt. „Deren Hilfe hat sich damals ja auch so bezahlt gemacht“, sagt sie spöttisch und steigt vorsichtig über einen umgestürzten Beistelltisch. „Außer einem Fanatiker mit Rachedurst haben sie uns nichts beschert.“ „Du vergisst die Materialien, die wir von ihnen erhalten“, entgegnet Craig. „Verkleidungen, gefälschte Pokébälle, Informationen… ohne den Untergrund wäre unsere Filtrationsphase nie so glatt über die Bühne gegangen.“ „Mag sein.“ Sie dreht sich zu ihm und streicht eine rote Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Aber im eigenen Hauptquartier auf der Hut sein zu müssen, hat mir nicht zugesagt. Du hast Glück, dass Zacharias deine Verbindungen nicht aufgedeckt hat. Atlas hat ein gefährliches Spiel mit dem Jungen getrieben, auch wenn uns natürlich allen von Anfang an klar war, warum er uns beigetreten ist, aber er hat seine Arbeit gut gemacht, das muss ich ihm lassen.“ „Du redest zu viel, Athena“, murrt Craig. „Wir sind hier fertig. Komm.“ „Einen Moment noch“, sagt sie, rümpft die Nase und zieht einen Pokéball von ihrem Gürtel. „Ich möchte etwas überprüfen.“ Der rote Lichtstrahl verdichtet sich zu einem schmalen Kleoparda, das den Schweif elegant um seine Pfoten legt und ein delikates Niesen von sich gibt. Athena nickt andächtig. „Was meinst du, Lilia“, beginnt sie. „Woher kommt dieser Geruch?“ „Geruch?“, fragt Craig und schnuppert seinerseits die Luft. „Ich rieche nichts.“ „Du bist ein Mann“, erwidert sie, so als erkläre das alles. Mir haben sich inzwischen alle Haare aufgestellt, denn Kleopardas Kopf schwenkt von links nach rechts und kommt schließlich in unsere Richtung geneigt zum Stillstand. „Seit wir herunter gekommen sind, riecht es markant nach Kräutern. Und du bist nicht der Verantwortliche. Die Frage ist also…“, ihr Blick folgt dem ihres Pokémon, „…wer diesen Duft verbreitet.“ Ungefähr zu dem Zeitpunkt fällt mir wieder in kleinstem Detail ein, wie Schwester Joy mich vor unserem Aufbruch in ihr Behandlungszimmer gedrängt hat, um mir dort die übelriechende Salbe auf meine aufgerissenen Handgelenke zu reiben. Wenn sie gewusst hätte, dass sie uns damit an Team Rocket verrät, hätte sie meinem Protest vielleicht Gehör geschenkt. Beide, Craig und Athena, greifen nach ihren Pokébällen. Der Zeitpunkt für subtile Abgänge ist vorbei. „Renn!“, schreie ich, stürze die letzten Stufen hinauf und sprinte Richtung Ausgang, während ich schon nach meinen eigenen Pokébällen greife. Gott, Sku und Jayjay materialisieren sich und geben Louis und mir Rückendeckung. Zumindest so lange, bis ein Beben uns zum Straucheln bringt und wir der Länge nach auf das zerfurchte Parkett fallen. Ein flüchtiger Blick hinter uns bringt mich Angesicht zu Angesicht mit einem drei Meter großen Golgantes, dessen goldene Musterungen in der blauen Rüstung grell aufleuchten, als es mit seinen riesigen Fäusten zu einem Hammerarm ausholt. Sku wirft sich dazwischen, wird von der Attacke in die Seite getroffen und so kraftvoll ans andere Ende des Gemeinschaftsraumes geschleudert, dass sie einige Sekunden an der Wand zu kleben scheint, bevor sie winselnd zu Boden rutscht. „SKU!“, kreische ich, muss aber schon der nächsten Attacke des Urgolems ausweichen, der zu einem weiteren Hammerarm ausholt. Ich werfe mich zur Seite und lande in einem halb demolierten Sofa, während Golgantes´ Attacke nur Luft trifft. Ich weiche weiter vor dem Pokémon zurück, rufe Sku in ihren Ball und beobachte mit Horror, wie Louis von Craigs Panferno bewusstlos geschlagen wird, als er gerade versucht, sich aufzurappeln und seine Pokémon zu rufen. Jayjay schafft es, einen Funkensprung auf Kleoparda abzufeuern, das lediglich sein Fell sträubt, mit einem wilden Fauchen auf Jayjay stürzt und ihre fingerlangen Krallen in seine Flanke gräbt. Blut fließt ungehemmt zu Boden und sickert in die Kissenfüllung, die überall verstreut liegt und sich langsam aber sicher tiefrot färbt.  Ich reiße mich aus meiner Starre, renne die Wand entlang, weg von Golgantes, das mir mit scheinbarer Belustigung langsam aber stetig folgt. Jayjay rufe ich zurück, bevor er zu viel Blut verliert, aber wenn mich die Blutlache auf dem Parkett nicht täuscht, muss er dringend in ein Pokécenter. „Willst du sie töten?“, fragt Athena im Plauderton und wickelt eine Haarsträhne um ihren Finger. „Mel liegt uns zwar allen mit ihrer Rache in den Ohren und sie wäre sicher untröstlich, sollte das Mädchen hier durch einen dummen Zufall umkommen, aber sie hat wirklich genug Ärger gemacht, findest du nicht auch?“ „Ein Grund mehr, sie mitzunehmen“, sagt Craig mit zufriedener Stimme. „Wenn Atlas alles aus ihr herausgequetscht hat, können wir sie an Mel übergeben.“ Athena seufzt, nickt aber. „Männer müssen immer alles so kompliziert machen.“ Am liebsten würde ich mich zusammenkauern und einfach wegwünschen, aber so funktioniert es leider nicht. Ich hechte zur Seite, um Golgantes auszuweichen, übersehe aber einen Tisch und krache mit voller Wucht hinein. Golgantes gibt ein dumpfes Brummen von sich und kommt auf mich zugerast, bereit, mich dieses Mal endgültig zu packen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich Gott, der sich bisher in einem Duell mit Panferno befunden hat und wie wahnsinnig dessen Angriffen ausweicht. Jetzt reißt er sich aus dem Gefecht los und stürmt in meine Richtung. „Nicht!“, schreie ich, doch er ist schon abgesprungen, rotglühend, um Golgantes mit seiner Nitroladung zu treffen. Der Urgolem greift ihn aus der Luft, drückt knirschend mit der Faust zu und schleudert ihn zu Boden. „GOTT!“ Panisch krabbele ich zu ihm, das Bild von Maxwell in meinem Kopf, der seine Hinterbeine nie mehr bewegen wird. Er wurde zerquetscht. Seitdem ist er querschnittsgelähmt. „Nein, nein, Gott, komm schon, wach auf!“ Hinter mir ertönt ein Kichern und ich drehe mich wutentbrannt um. Athena schüttelt fasziniert den Kopf. „Du musst dich nicht über dieses Ergebnis wundern, wenn du gegen zwei Vorstandsmitglieder gleichzeitig antrittst“, sagt sie lächelnd und schnalzt einmal mit ihrer Zunge. Ich habe gerade genug Gelegenheit, Gott zurückzurufen, bevor Golgantes mich mit seinen überdimensionalen Händen packt und emporhebt. Ich strampele, schreie, winde mich, aber es hilft nichts. Louis stöhnt, noch immer bewusstlos. Sie beachten ihn nicht einmal. „Können wir jetzt gehen?“, fragt Craig, so als hätte es nie eine Unterbrechung in ihrer ursprünglichen Unterhaltung gegeben. „Gerne, Craig.“ Athena lächelt. „Du führst.“ Im Griff von Athenas Golgantes gefangen, werde ich wie eine Trophäe an Louis vorbei und durch den Gemeinschaftsraum getragen. Der Urgolem macht sich nicht mal die Mühe, den Trümmern auszuweichen, er stapft zielstrebig voran und begräbt die berstenden Möbel unter seinen Füßen. Die frische Luft trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Panisch schaue ich mich um, aber um diese Uhrzeit ist die Route völlig verlassen. Meine Gegenwehr hält das Golgantes nicht davon ab, mich stillzuhalten, als Craig seine Krawatte lockert und mir mit einigen geübten Handgriffen die Unterarme so hinter meinem Rücken fixiert, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Athena ruft unterdessen ihr Kleoparda zurück und ersetzt es durch ein Kramshef, das neben ihr in der Luft flattert. An seinem Körper ist ein Gurt beschäftigt, dessen genauen Mechanismus ich mit meiner verschwommenen Sicht nicht ganz nachvollziehen kann, doch sie nimmt in einem Stoffsitz Platz, der daran befestigt ist und steigt langsam mit ihrem Pokémon in die Höhe. „Ein bisschen schneller, Craig“, ruft sie uns fröhlich von oben herab zu. „Ich möchte pünktlich zum Frühstück zurück im Hauptquartier sein.“ Craig brummt ungehalten, holt Panferno zurück und ruft stattdessen ein Trikephalo, dessen rechter Kopf neugierig meine Tränen ableckt. Die anderen beiden Köpfe schauen ihren Partner angewidert an. Er steigt auf den Rücken seines Pokémon und nickt Golgantes zu, das mich vor ihn setzt und mich festhält, bis Trikephalo die sechs schwarzgefiederten Flügel gespreizt hat. Kaum dass es mich loslässt, katapultiert das Drachenpokémon sich in die Höhe und bringt so in wenigen Sekunden mindestens hundert Meter zwischen uns und den Boden. Jegliche Fluchtpläne, die ich mir zurechtgelegt hatte, sind zunichte gemacht. Athena ruft ihr Pokémon zurück und folgt Craigs Beispiel, der höher und höher steigt und Kurs auf Fuchsania City nimmt. Inzwischen ist es dämmrig geworden. Mit der untergehenden Sonne im Rücken fliegen wir in halsbrecherischem Tempo davon. Zunächst hege ich noch Hoffnung, dass uns irgendjemand bemerken wird, auch wenn ich nicht sicher bin, ob die schwarzen Uniformen aus dieser Entfernung überhaupt erkennbar sind. Diese Fragen erübrigen sich jedoch, sobald Craig und Athena den Kurs ändern und südlich an Fuchsania City vorbeifliegen. Während wir immer weiter Richtung offenes Meer steuern, versuche ich verzweifelt, nicht in Panik zu geraten. Außer Priss haben alle meine Pokémon massive Verletzungen davongetragen und von der Polizei oder Team Shadow, die ich per Notruf kontaktiert habe, fehlt weiterhin jede Spur. Selbst wenn es zu einer Verfolgung kommt, weiß ich nicht, wie schnell sie zu uns aufholen werden, zumal Craigs Trikephalo ein erstaunliches Tempo an den Tag legt und mein S-Com mit den Koordinaten im Bikertreffpunkt bei Louis liegt, der möglicherweise noch immer bewusstlos ist. Es sieht wirklich nicht gut aus. Ganz ruhig, Abby, denke ich krampfhaft und schließe meine Augen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Lage aussichtslos ist, und du bist noch immer mit heiler Haut davongekommen. Na ja. Mehr oder weniger. Trikephalo schwenkt sanft in einen anderen Luftstrom ab, um den Kurs nach Südosten zu korrigieren. Unter uns erkenne ich Felsen, verlassene Strände und den Ozean, dessen gekräuselte Wellen ich aus dieser Entfernung nur an den rotgolden schimmernden Lichtreflektionen der untergehenden Sonne ausmachen kann. Vor meinem geistigen Auge beschwöre ich die Karte Kantos herauf, die mir von Kindesbeinen an ins Gedächtnis gebrannt ist. Wenn wir unseren derzeitigen Kurs beibehalten, werden wir innerhalb weniger Minuten das Festland verlassen und sobald wir über dem Meer sind, wird es keine Anhaltspunkte mehr geben, uns zu finden. Jede Suche wird ins Leere laufen und ich kann meine letzten Tage mit Verhören im Team Rocket HQ verbringen. Ich kann nicht zulassen, dass es soweit kommt. „Bitte!“, flehe ich und reiße meine Augen auf, um mir durch den salzigen Gegenwind Tränen in die Augen treiben zu lassen. „Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht…“ Meine Atmung wird schneller, als ich mich weiter in meine Rolle hineinsteigere. Fast fühlt es sich so an, als stünde ich tatsächlich kurz vor einer Hyperventilation. „Bitte übergebt mich nicht an Mel, alles, nur das nicht! Sie wird mich foltern!“ „Da gebe ich dir Recht“, stimmt Athena zu, die im Damensitz von ihrem Kramshef durch die Lüfte getragen wird. „Jetzt weine doch nicht, Mädchen. Du hast dich in erwachsene Angelegenheiten eingemischt, jetzt musst du auch Verantwortung übernehmen und die Folgen tragen. Deine Stärke hat uns alle wirklich beeindruckt, aber es konnte schließlich nicht ewig gutgehen, hm? Du bist schon so oft knapp entkommen…“ „Du redest schon wieder zu viel“, brummt Craig und packt mich brutal im Nacken. „Und du hältst den Mund. Atlas wird entscheiden, wie mit dir zu verfahren ist.“ „Kann ich nicht irgendetwas tun?!“, schreie ich mit aller Panik, die ich zustande bringe. „Ich… ich sage euch alles, was ihr wollt, nur bitte, haltet Mel von mir fern! Ich kann ihren Anblick nicht ertragen…“ Die Kälte des Windes kommt mir gerade Recht, als ein unfreiwilliger Schauer meinen ganzen Körper schüttelt. Athena wirft Craig einen Blick zu. Ob er ihn erwidert, kann ich nicht sehen, aber irgendetwas scheint er ihr mitgeteilt zu haben, denn Athena fliegt näher und lehnt sich zu mir. „Alles, ja?“, fragt sie. Ich nicke energisch. „Hmm.“ Sie legt einen Finger an die Lippen. Der Meereswind lässt ihr Haar wie eine züngelnde Flamme um ihren Kopf flattern. „Dann fangen wir einfach an. Wo ist euer Hauptquartier?“ „Woher wisst ihr, dass wir eins haben?“, frage ich schniefend gegen den Wind. Craig schnaubt und Athena lächelt belustigt. „Dark ist ein Verräter, aber er hat bei uns gelernt, wie eine Organisation zu führen ist. Es wäre das erste, nach dem er Ausschau hält. Wo ist es? Ich  warne dich, ich frage nur dieses eine Mal. Wenn du nicht antwortest, darf Mel sich gerne deiner annehmen.“ Ich zwinge mich zu einer kurzen Pause, in der ich die Augen zukneife und auf meine Lippen beiße. Ich verrate meine Freunde. Es darf nicht einfach für mich sein. „Unser Hauptquartier… Team Shadows Hauptquartier… ist in einem unbenutzten Untergeschoss des Radioturms in Lavandia“, presse ich schließlich hervor. Einige Tränen, die sich wegen des Windes in meinen Augen gesammelt hatten, rollen unter meinen Wimpern hervor und werden im nächsten Moment vom Wind weggeblasen. „Warum dort?“, fragt Craig. „Ich kenne einen der Reporter persönlich“, sage ich mit matter Stimme, gerade laut genug, dass man mich im tosenden Wind und zwischen den Flügelschlägen hören kann. „Als Dark mich bat, beizutreten, hatte er anonym ein Stockwerk im Prismania City Hotel gebucht, aber auf meinen Vorschlag hin sind wir umgezogen.“ Ein weiterer kalter Wind bringt mich zum Zittern und ich bemühe mich nicht, die Müdigkeit und Erschöpfung aus meinem Blick fernzuhalten. Fast glaube ich meinen eigenen Worten, aber das ist schließlich auch die beste Art zu lügen. Wer sich selbst überzeugt, hat kein Problem, die Lüge auch anderen zu verkaufen. Mein Gehirn läuft bereits auf Hochtouren, bereit, auf jede erdenkliche Frage eine plausible Antwort auszuspucken, mit gerade genug Details, dass es nicht unglaubwürdig wirkt. Statt einer Frage hebt Athena jedoch nur den Kopf und schaut zu Craig empor, der mit seinen kräftigen Oberschenkeln in regelmäßigen Abständen Kommandos an sein Trikephalo gibt. Der rechte Kopf dreht sich zu mir um, wann immer er kann, um meine Tränen zu kosten, aber seine beiden Brüder fauchen ihn stets an, bis er sich wieder dem Flug widmet. „Was denkst du?“, fragt sie, dieses Mal mit ernster Stimme. Ihr Säuselton ist verschwunden. „Ich sage, wir lassen Atlas entscheiden“, erwidert Craig sofort. „Die Göre macht mehr Ärger als du denkst, Athena. Unterschätze sie nicht, nur weil sie gefesselt ist und sich ein paar Tränen rausquetscht.“ „Was kann sie schon tun?“, fragt Athena. „Sie ist gefesselt, hunderte Meter über dem offenen Meer. Selbst, wenn sie springen würde, könnte der Aufprall sie genauso gut töten, ganz abgesehen davon, dass sie so niemals zum Ufer schwimmen könnte. Und wie würde sie uns loswerden? Mit ihren Pokémon? Dass ich nicht lache.“ Craigs Griff um das lose Zaumzeug seines Drachen versteift sich, doch seine Stimme bleibt ruhig. „Ich weiß nicht, wie sie entkommen soll“, gibt er zu. „Aber ich wette mit dir, das wusste Mel damals auch nicht. Alina und Mik wussten es nicht. Dieses Mädchen hat ein Händchen dafür, aussichtslosen Situationen zu entgehen. Ich bin dafür, dass wir sie Atlas überliefern, bevor etwas schief gehen kann.“ „Du bist ängstlich wie ein Haspiror“, spottet Athena. „Sie kann nichts ausrichten! Und außerdem haben wir keine Garantie, dass sie uns die Wahrheit sagt, wenn wir es nicht überprüfen.“ „Überprüfen?“, fährt Craig sie an. „Du willst dort jetzt hinfliegen, ohne Planung, ohne Vorbereitung? Ohne Atlas Bescheid zu geben?“ „Natürlich werde ich Atlas informieren“, zischt Athena zurück. „Alles, was ich sagen will, ist, dass Abby hier einen guten Grund hat, uns die Wahrheit zu sagen. Würdest du gerne einem Rendezvous mit Mel entgegensehen?“ „Nein.“ Craig lacht humorlos. „Bah, ich kann dich ja doch nicht umstimmen, also ruf Atlas an. Wenn er sein Okay gibt, fliege ich auch bis hoch nach Sinnoh, wenn es sein muss.“ „So ist´s Recht, Craig“, flötet Athena, zurrt am Seil und kommt mit Kramshef zum Stillstand, das mit seinen Flügelschlägen nur noch die Höhe aufrechterhält. Craig lässt Trikephalo langsamer werden und fliegt das Pokémon im Kreis um Athena herum, die ein verkabeltes Handy von ihrem Gürtel fischt und in wenigen Sekunden eine Nummer in das Gerät tippt. Ich schließe unterdessen die Augen und hoffe auf etwas. Irgendetwas. Athena berichtet Atlas die Lage, während ich fieberhaft Möglichkeiten durchdenke, um abzuhauen. Letztlich schinde ich nur Zeit. Das Beste, worauf ich hoffen kann, ist ein Polizeisuchtrupp, der uns zufällig findet und vielleicht sogar stark genug ist, gegen die beiden Vorstände zu gewinnen. Leider sind mir Athenas Argumente im Gedächtnis geblieben. Gefesselt wie ich bin, wird es unmöglich, die ganze Strecke ans Festland zurückzuschwimmen, vorausgesetzt, ich schaffe es überhaupt, Athena und Craig bis dahin loszuwerden. Und aus dieser Höhe abzuspringen… Ich schiele an Trikephalos nachtblauen Schuppen, die zum Hals in zottig schwarzes Fell übergehen, vorbei in die Tiefe. Ich kann nicht springen. Nur fallen lassen. Kopfüber. Und wenn ich falsch aufkomme, ist die Wasseroberfläche nichts anderes als Beton. Athena bejaht mehrmals und legt auf. Sie wirft Craig einen triumphierenden Blick zu. „Kurswechsel?“, fragt er, während sie schon längst Kramshef zurück Richtung Festland lenkt. Murrend folgt er ihr. Ich zwinge mich dazu, nicht zu grinsen, obwohl Craig es hinter mir nicht sehen würde, doch als er seine Finger schmerzhaft in meinen Haarschopf krallt und mich gegen den rauen Schuppenpanzer des Drachen presst, vergeht mir die Lust gleich wieder. Er lehnt sich über mich, bis sein Mund direkt neben meinem Ohr ist. Seine Bartstoppeln kratzen und jagen mir eine Gänsehaut über den Rücken. „Wenn wir herausfinden, dass du gelogen hast“, flüstert er und drückt mich fester gegen Trikephalos Nacken, bis ich aufschreie, „ist Mel dein kleinstes Problem.“ Das bezweifle ich, denke ich, hüte aber meine Zunge. „Was hat der Boss genau gesagt, Athena?“, ruft Craig ihr zu, während Trikephalo schneller mit den sechs Flügeln schlägt, um zu ihr aufzuholen. „Er will, dass wir Abby zu unserem Vorteil nutzen“, sagt sie und wirft mir einen beinahe liebevollen Blick zu. „Einige unserer Leute kommen uns dort entgegen. Außerdem sind deine Kontakte in der Stadt. Niemand wird uns erkennen, bis es zu spät ist, und ihre Freunde wollen sicher nicht, dass ihr etwas zustößt.“ Erpressung also. Wahrscheinlich erhoffen sie sich, Dark zu lähmen, indem sie mich als Geisel benutzen. Wäre unser Hauptquartier tatsächlich in Lavandia, könnte es vielleicht sogar klappen. Dark ist stark, aber nicht unbesiegbar, und auf Flächenattacken wie Frosdedjes Blizzard würde er vielleicht verzichten, um mich nicht ebenfalls zu treffen. Natürlich ist das alles spekulativ. Ich weiß genau, dass es in dem Radioturm kein geheimes Stockwerk gibt, in dem Dark sich verbunket hat. Es ist tröstlich, dass ich dieses Mal niemanden verraten musste. Bei meiner Flucht hilft mir Trost jedoch reichlich wenig. In der Dunkelheit kommen wir gut voran. Der Wind hat an Kraft zugelegt, aber der sonst geliebte Geschmack von Salz bleibt mir dieses Mal im Hals stecken. Während wir ohne andere Lichtquellen als den Mond fliegen, kann ich schon aus mehreren Kilometern Entfernung die Lichtkegel der Polizei ausmachen, die in weiten Kreisen über Fuchsania City und die angrenzenden Routen fliegen. Craig und Athena amüsieren sich köstlich über die Unfähigkeit meiner Retter und genießen die Unsichtbarkeit, die schwarze Pokémon und schwarze Kleidung ihnen in dieser wolkenverhangenen Märznacht gewähren. Sie überfliegen gekonnt einige der Suchtrupps, so als wäre nichts leichter als das. Die Kälte der Höhe kriecht mir in die Knochen und mein Zähneklappern irritiert Craig so sehr, dass er ein Stück Stoff meines T-Shirts abreißt und es mir zwischen die Zähne klemmt. Dass mir jetzt der eisige Wind geradewegs durch den Schlitz in mein Oberteil zieht, scheint ihn dabei wenig zu kümmern. Wir fliegen südlich von Route 15 entlang, die verlassen in absoluter Dunkelheit daliegt. Meine Hoffnung, die Polizei könnte uns bemerken, hat sich inzwischen in Luft aufgelöst. Mir bleibt nur noch übrig, die wenigen Stunden bis zu unserer Ankunft in Lavandia zu überstehen und Craig und Athena dort irgendwie auffliegen zu lassen. Wie mir das gelingen soll? Keine Ahnung. „Craig“, ruft Athena von etwas hinter uns. Sie wird schneller und holt zu uns auf, bis wir auf einer Höhe sind. „Eine Gruppe hat uns entdeckt.“ Überrascht drehe ich den Kopf, kann aber nur ein paar Schatten entdecken, die sich gegen die Wolkendecke abzeichnen, bevor Craig meinen Kopf gewaltsam nach vorne dreht. „Keine Spielchen“, flüstert er bedrohlich. Im Nachhinein muss ich wohl dankbar sein, dass er meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne gerichtet hat, denn sonst wäre mir sicher entgangen, was die beiden Vorstände nicht bemerken, während sie die Verfolger hinter uns beobachten. Ein dumpfes Glühen, wie von halb erloschenen Kohlen, kommt uns von Route 14 aus entgegen. Zuerst glaube ich meinen Augen nicht, aber innerlich weiß ich, wer da im Sprint an den Windrädern vorbeirast und geradewegs auf den äußersten Rand der Route zuhält. Rote Lichtblitze leuchten auf, als Ronya von Entei springt und ihr Folipurba ruft, das auf Stahlos´ Kopf gesetzt und dem Himmel empor gereckt wird. Vertrauen. Ich habe schon viele Unterhaltungen mit Dark darüber geführt. Wir müssen einander vertrauen. Ronyas Gestikulation spricht Bände. Ich hole einmal tief Luft, dann beuge ich mich etwas vor, gerade, als Craig und Athena sich wieder nach vorne orientieren und einen Zahn zulegen. Noch haben sie Ronya nicht bemerkt. Mir bleiben höchstens ein paar Sekunden. „Hey“, flüstere ich so leise, wie es mir möglich ist. „Du magst meine Tränen, oder?“ Der rechte Kopf des Trikephalo schielt zu mir zurück. „Weißt du, wessen Tränen viel besser schmecken?“, frage ich. Es kneift die Augen zusammen. Ich nicke in Richtung Ronya, die links von uns an der Klippe von Route 15 wartet. „Was tuschelt−“ Weiter kommt Craig nicht, denn Trikephalos rechter Kopf hat beschlossen, meinen Vorschlag zumindest in Erwägung zu ziehen. Es reißt den Hals herab und unter seinem eigenen Körper hindurch. Ein Ruck geht durch den Unlicht-Drachen, als die Bewegung in einem Überschlag resultiert, der uns für wenige Momente kopfüber in der Luft hängen lässt. Nur, dass ich nicht hängen will. Ich löse den Griff meiner Beine und falle, schneller, schneller, mit dem Kopf voran Richtung Wasseroberfläche. Kurz bevor ich glaube, jeden Moment sterben zu müssen, schlingen sich Maxwells Ranken um mich, zerschlitzen mit unnatürlicher Präzision meine Fesseln und ziehen sich sofort zurück. Meine freien Arme tun höllisch weh, aber ich reiße sie vor und tauche mit einem senkrechten Kopfsprung ins Meer ein. Luftblasen sprudeln um mich herauf, während ich von der Wucht meines Aufpralls tiefer und tiefer sinke, bevor ich endlich zum Stillstand komme und mit kräftigen Arm- und Beinschlägen zurück an die Oberfläche schwimmen kann. Als ich durch das Wasser breche, hole ich tief Luft, bevor Wellen über meinem Kopf zusammenschlagen und mich wieder Unterwasser drücken wollen, doch wieder erreichen mich Maxwells Ranken, die ich um meine Handgelenke wickele. So befestigt zieht Folipurba mich ans rettende Ufer. Mit seiner Unterstützung gelingt es mir, die Steilklippe hinaufzulaufen und als ich über das Geländer klettere, breche ich keuchend auf der anderen Seite zusammen. Jetzt, wo meine Ohren nicht mehr voller rauschendem Wind und Wasser sind, kann ich die Schreie von oben hören. Craig muss zuerst angenommen haben, ich wäre versehentlich gefallen, aber als er und Athena sehen, dass ich bei Ronya bin und wie ich augenscheinlich dem sicheren Tod entgangen bin, ist die Wut groß. Craigs donnernde Stimme hallt in meinen Ohren wieder, als er Athena anbrüllt. Ich habe es dir gesagt. Ich habe es dir gesagt! Sie setzen zu einem Sturzflug an, doch die Verfolger, die nun Verstärkung bekommen haben, holen in dem Moment auf und die beiden Vorstände müssen wohl oder übel ohne mich weiterfliegen, wenn sie keinen ausgewachsenen Luftkampf riskieren wollen. Immer noch wie betäubt sitze ich durchweicht und schlotternd auf dem Boden. Ronya wartet noch einige Sekunden, Hände beidseitig an ihre Pokébälle gelegt, atmet schließlich jedoch erleichtert aus und lässt sich neben mir in die Hocke sinken. „Was ein Akt“, flüstert sie und reibt sich die Augen. „Ich dachte wirklich, sie hätten dich. Die Suchtrupps waren über eine Stunde an der Küste unterwegs, ohne Erfolg, und dann wurde es dunkel. Wenn ihr den Polizisten mit den Lampen nicht regelmäßig so nah gekommen wärt, hätten wir euch nie mehr gefunden.“ „W-wo ist Louis?“, frage ich mit zittriger Stimme. Mir ist eiskalt. Ronya erhebt sich, zieht mich hoch und bugsiert mich auf Enteis Rücken. Weißer Dampf steigt um mich herum auf, als die Körperwärme des Legendären meine Kleider trocknet. „Kurz vorm Durchdrehen in Fuchsania City. Er wollte mitfliegen, aber er hat eine Gehirnerschütterung, deswegen wollten sie ihn nicht hoch lassen. Bleib da sitzen, ich sag ihm Bescheid.“ Während Ronya Louis unterrichtet und immer wieder Es geht ihr gut, wir haben sie, es geht ihr gut, Louis, wirklich sagt, lasse ich mich auf Entei nach vorne sinken und vergrabe mein Gesicht in seiner Mähne. Ob es das Vulkanpokémon stört, weiß ich nicht, aber vielleicht hat es Mitleid, denn ich werde nicht abgeschüttelt. Wenige Minuten später sitzt Ronya hinter mir auf und gemeinsam preschen wir auf dem Wanderpokémon davon in Richtung Fuchsania City.   Nüchtern lausche ich in den frühen Morgenstunden Schwester Joy, als sie mir nach mehrstündigen Operationen erschöpft die Gesundheitszustände meiner Pokémon mitteilt. Louis atmet einige Male erschrocken ein, aber ich bin schon zu weit in mir selbst versunken, um irgendeine Reaktion zu zeigen. Jayjay, mehrere tiefe Schnitte, die genäht werden mussten. Großer Blutverlust. Anämisch. Pokéballruhe von wenigstens einer Woche. Sku, vier gebrochene Rippen, schwere Gehirnerschütterung. Pokéballruhe, mindestens zwei Wochen. Und Gott. Hier verlässt ein erstickter Laut meine Lippen, während ich starr auf den Fliesenboden starre. Trümmerbruch in beiden Hinterbeinen, innere Blutungen, zahlreiche gebrochene Rippen. Pokéballruhe von vier Wochen. Das einzige, was mich vor einem Nervenzusammenbruch bewahrt, ist wohl, dass keine der Verletzungen langfristige Folgen haben wird. Irgendwie sind wir heil davon gekommen. Louis legt einen Arm um meine Schulter, aber ich entziehe mich seiner Berührung, werfe ihm ein gezwungenes Lächeln zu und verlasse das Pokécenter, um mir draußen in der Dunkelheit einen ruhigen Ort zu suchen. Mir ist sehr, sehr schlecht.   Wir verbringen einen weiteren Tag in Fuchsania City, den Louis und ich hauptsächlich verschlafen. Ich lasse meine Pokémon in das Pokécenter in Prismania City transferieren, wo ich bitter an Schwester Joy denke, auf deren Intensivstation nun vier meiner fünf Pokémon nebeneinander liegen. Sie muss mich für eine rücksichtslose Trainerin halten. Im Angesicht der letzten Tage erklärt Ronya sich bereit, uns nach Prismania City zu eskortieren und so nehmen wir statt des Umwegs über Lavandia und Saffronia City den Fahrradweg Richtung Norden, dessen Anstieg uns zwar das Leben schwer macht, mit seinen vier Tagen Fahrtstrecke aber schneller ist, als die zehn Tage, die wir sonst in Kauf nehmen müssten. Ohne Biker, die auf der Brücke ihr Unwesen treiben, verläuft unsere Rückkehr ereignislos. Louis versucht, mich mit einem unerschöpflichen Vorrat an Witzen aus der Reserve zu locken, aber selbst wenn ich lache, fühlt es sich irgendwie falsch an. Ab Tag zwei lässt er mich in Ruhe.   ooo   Ich tippe das Passwort in das Tastenfeld des Aufzugs und fahre alleine ins vierte Untergeschoss unseres HQs. Dark wartet bereits im Gemeinschaftsraum auf mich. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, erhebt er sich und kommt mit einer frischgebrühten Tasse Tamottee zurück. Hundemon döst neben seinem Stammplatz und zuckt nur hin und wieder mit den Ohren. Wir sind völlig allein. „Ich will alle Informationen über Atlas, den Vorstand und die anderen Mitglieder, die du mir geben kannst“, sage ich, bevor Dark zu Wort kommen kann. Er lehnt sich auf dem Sofa zurück und beobachtet mich genau. „Alle?“ Ich balle meine Hände zu Fäusten. „Alle.“ Kapitel 107: Ungebrochen (Gib niemals auf) ------------------------------------------ „Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seit Mark Eisenthal und Chloe Falkner die Pokémon Championship für sich entscheiden konnten, Alfred, aber noch haben die beiden keinen Gebrauch von ihrem Gewinn gemacht.“ „Noch einmal zur Erinnerung, liebe Zuschauer, der Sieg über ihre Konkurrenten in der PCS gibt den beiden Trainern das Privileg, Noah und die Top Vier bis zum 30. September dieses Jahres herauszufordern!“ „Sie haben drei Versuche, um gegen die fünf hochkarätigsten Trainer unserer Regionen hintereinander zu bestehen, und außer mitgebrachten Arzneien zwischen den Duellen wird es keine Heilmöglichkeiten geben. Es ist seit jeher die ultimative Herausforderung, der nur die stärksten Trainer gewachsen sind.“ „Heute haben wir Chloe Falkner zu Gast, die ihre Gedanken über die bevorstehenden Duelle mit uns teilen wird. Begrüßen Sie sie mit uns! Hallo, Chloe!“ „Hey Alfred, Jessy.“ „Chloe, du gehörst zu den zwei Trainern, die sich letztes Jahr von der Masse abheben konnten, und dabei warst du vorher ziemlich unbekannt! Wie kam es dazu, dass niemand von dir gehört hatte, und wie fühlt es sich an, nun die Augen aller Pokémonfans auf dir zu spüren?“ „Ich hab´ mich immer von dem Medienrummel ferngehalten. Das ist mir auch ganz gut gelungen, finde ich. Aber jetzt so im Mittelpunkt zu stehen, das fühlt sich richtig krass an. Manchmal kann ich es immer noch nicht richtig glauben.“ „Das ist verständlich, Chloe. Sag uns, wann wirst du deinen ersten Versuch wagen? Die letzten Monate hast du nach unseren Angaben in der Siegesstraße verbracht, um dich dort vorzubereiten, nicht wahr?“ „Die Siegesstraße hat ein paar gute Trainingsplätze, aber wenn man immer nur gegen wilde Pokémon kämpft, verliert man irgendwann das Gefühl für echte Kämpfe. Wir sind aber sehr gut vorbereitet, deshalb will ich die Top Vier am 25. März herausfordern, um ein Gefühl für die Kämpfe dort zu kriegen. Das hilft mir auch im Training, meine Schwächen zu erkennen und auszumerzen.“ „Schon nächste Woche?! Oh, Chloe, wie wunderbar! Die Aufregung, ich kann kaum noch an mich halten. Ich werde natürlich live vor Ort sein, um deine Duelle zu moderieren…“   Chloe, ein schmales Mädchen mit braungebrannter Haut und zwei zerrupften Zöpfen, die unter ihrem Beanie hervorgucken und ihre karierte Bluse streifen, sitzt gelassen auf der Couch, während Alfred und Jessy vor Begeisterung kaum noch stillsitzen können. Schmunzelnd lehne ich mich an Louis, der neben mir im Gemeinschaftsraum sitzt und leise schnarcht. Der fünfstündige PCN-Marathon war vielleicht doch zu viel für ihn. Gerade will ich den Fernseher leiser schalten, um Louis nicht zu stören, da läuft ein PCN-Mitarbeiter ins Bild und gibt Alfred eine Karteikarte. Die beiden tuscheln angeregt und ich schalte nun doch lauter. Irgendetwas ist da faul. „LEUTE!“, schreie ich so laut ich kann und warte gebannt, während Alfred sein Taschentuch hervorzieht und sich den Schweiß von der Stirn wischt. Er spricht leise mit Jessy, die kreidebleich wird. Chloe sieht genauso verwirrt aus, wie ich mich fühle, aber als sie sich vorlehnt, scheint sie die beiden zu verstehen. Ihr Gesicht verdüstert sich. Dark ist der erste, der durch die Tür gestürzt kommt. „Was?“, fragt er und bleibt neben dem Sofa stehen, Hundemon und Priss dicht auf seinen Fersen. Keine paar Sekunden später tauchen Ronya, Gerard und sogar Ryan auf. Chris und Jayden sind die letzten. Sie sind kaum alle versammelt, da räuspert Alfred sich und nimmt Position vor der Kamera auf. „Wir unterbrechen die Abendshow für eine Eilmeldung“, sagt er mit der nüchternen Stimme, die ich nur sehr selten von ihm höre. „Gerade hat uns eine Nachricht von Rockys Spezialeinheit erreicht. Team Rocket warnt vor einem Anschlag auf Kanto und Johto, der im Mai stattfinden wird.“ „Unmöglich“, verkündet Ryan. „Ich überwache alle Polizeiserver, es kann nicht sein, dass-“ Wir alle wenden uns zu ihm, doch er schaut nur gedankenverloren geradeaus. Ärger  und Fassungslosigkeit festigen sich in seinen Gesichtszügen, dann macht er kehrt und rauscht aus dem Gemeinschaftsraum. „Wohl doch nicht alle“, ruft Jayden ihm hinterher. Ronya grinst schwach, aber es erreicht nicht ihre Augen. Gerards Fluchtirade ignorieren wir geflissentlich. „Sie werden die Höhlen sprengen“, sage ich automatisch. „Das war von Anfang an ihr Plan.“ Chris nickt. „Wenn sie im Mai angreifen, haben wir Zeit, uns vorzubereiten." Ich schiele zu Dark, der nachdenklich Hundemon zwischen den zurückgebogenen Hörnern krault. "Was meinst du, Anführer?", frage ich. Eigentlich soll der Titel ironisch klingen, aber in dieser Situation hat es eher etwas von Hilflosigkeit. "Es sind nur einige Tage vergangen, seit Team Rocket die Biker verloren hat und Abby ihnen entwischt ist", sagt er langsam. "Sie wollen ein Statement abgeben. Aber…" "Aber was?", hakt Louis nach, der bei Dark noch nie ein Blatt vor den Mund genommen hat. "Sie könnten uns bis Mai in Sicherheit wiegen wollen und früher zuschlagen", erklärt Dark. "Oder sie attackieren im Mai. Sie machen uns nervös und lassen sich alle Möglichkeiten offen. Es ist kein schlechter Zug." "Dann müssen wir einfach flexibel bleiben", meine ich. "Am besten verteilen wir uns so bald wie möglich über Kanto und Johto, sodass jeder Ort abgedeckt ist." Hundemon knurrt zustimmend, während Priss sich zwischen seinen Vorderbeinen hindurch schlängelt. Ein kollektives Nicken geht durch unsere Runde. "Wenn das geklärt ist", beginnt Ronya grinsend, "können wir ja jetzt kämpfen, Dark." Er wirft ihr einen kurzen Blick zu, nickt aber dann. "Komm", sagt er. "Es gibt eine abgelegene Wiese hinter der Stadt." Ich schnappe mir Louis und gemeinsam mit allen anderen Mitgliedern, Ryan einmal ausgeschlossen, machen wir uns auf den Weg zu dem Loch im Maschendrahtzaun, der die Wildwiese und die dahinter liegenden Wälder von dem Südviertel der Stadt trennt.   "Ich wähle zuerst", sagt Dark, als die beiden sich etwa dreißig Meter voneinander entfernt aufgestellt haben. Gerard steht bei Ronya, der Rest von Team Shadow findet sich hinter seinem Anführer ein. "Weißt du was?", ruft Ronya. "Ich trete euch bei, egal wie das hier ausgeht. Aber wenn ich gewinne, dann bin ich die Anführerin. Was sagst du?" "Der Stärkste sollte in jedem Falle die Führung übernehmen", entgegnet Dark. "Ich bin einverstanden." Hundemon löst sich von seiner Seite und nimmt vor ihm Stellung. Ronya zögert nur kurz, dann greift sie an ihren Gürtel und beschwört ihr erstes Pokémon. Luxtras dichtes, nachtschwarzes Nackenfell sträubt sich und wird vom Wind aufgewühlt. Der elektrisierte gelbe Schweif peitscht aufgeregt von links nach rechts. "Du weißt, was zu tun ist, Sibyll", ruft Ronya. Hundemon dreht den Kopf flüchtig zu seinem Trainer, der ihm zunickt. Es wendet sich Luxtra zu, das abwartend über das Gras schleicht, und hüllt sich in eine düstere, schwarzrote Aura. "Ränkeschmied?", frage ich unsicher. Bisher habe ich die Attacke noch nie gesehen. Ihre Schwesterattacke Schwerttanz wird sehr viel häufiger verwendet. Dark hat keine Zeit zu antworten, denn Luxtra prescht auf Hundemon zu, Zähne gebleckt, springt ab und wirft sich mit aller Kraft auf seinen Gegner, der von der Kraftkoloss-Attacke zurückgerissen wird. Beide Pokémon kugeln über den Boden, Grasbüschel fliegen durch die Luft und das Knurren, Fauchen und Schnappen der beiden Pokémon durchbricht die abendliche Stille. "Jetzt hast du ihn", ruft Dark. Hundemon, dessen Gliedmaßen in denen seines Gegners verkeilt sind, reißt seinen Rachen auf. Das altbekannte Glühen beginnt in seinem Brustkorb, wandert seine Kehle hinauf und trifft Luxtra als lodernd weißer Flammenwurf mitten ins Gesicht. Das Kreischen erfüllt meine Ohren, erinnert mich an die Nacht vor Saffronia City, als Hundemon seine Gegner mit dieser Attacke in Scharen überwältigt hat. Ein roter Lichtstrahl zieht Luxtra zurück in seinen Pokéball, noch bevor die Flammen erlöschen. Ronyas Augen sind auf Hundemon fixiert, das sich feixend die Lefzen leckt und erwartungsvoll eine Schneise ins verkohlte Gras läuft. Es hinkt von dem Gefecht, scheint sonst aber weitestgehend unverletzt. Ihr nächstes Pokémon ist ein Galagladi, das zunächst desinteressiert über seine klingenförmigen Arme streicht, bevor es den Geruch von verbranntem Gras wahrnimmt, den Kopf hebt und seinen Gegner entdeckt. Eine Tirade unverständlicher Laute ergießt sich über Ronya, die in einem ähnlichen Ton antwortet. Ob sie wirklich versteht, was ihr Pokémon sagt, weiß ich nicht, aber sie verschränkt zuversichtlich die Arme. "Nahkampf." "Nochmal Flammenwurf." Die beiden Pokémon rasen aufeinander zu. Erde spritzt zu beiden Seiten empor, als Hundemon durch das Gras prescht, einen Angriff antäuscht und Galagladi von der anderen Seite aus nächster Nähe mit der Feuersbrunst erwischt, doch das Pokémon hat beide Arme zum Schutz gekreuzt und bleibt bei Bewusstsein, obwohl es kurz in die Knie geht. Hundemon knurrt bedrohlich, doch da hat das Klingenpokémon sich schon wieder aufgerafft und begräbt seinen Gegner unter mächtigen Tritten und Schlägen, die Hundemon immer weiter zurückdrängen, bis es einknickt und winselnd zu Boden geht. Schwer atmend hält Galagladi in seiner Bewegung inne. "Los", befiehlt Dark, und obwohl ich geglaubt hatte, so wieder jeder andere vermutlich auch, dass diese Runde an Galagladi geht, bäumt Hundemon sich ein letztes Mal auf. Statt einem Flammenwurf geht eine schwarze, wabernde Nebelwand von ihm aus, die das keuchende Psychopokémon umhüllt, bis es nicht mehr sichtbar ist. Eine merkwürdige Stille tritt ein. Als die Finsteraura sich verflüchtigt, liegt Galagladi besiegt am Boden. Ronya flucht leise, ruft ihr Pokémon aber zurück. Einige Momente lang wandert ihre Hand von Ball zu Ball, unschlüssig, wen sie als nächstes in den Kampf schicken soll. Dann seufzt sie und kratzt sich am Kopf. "Du hast gewonnen!", ruft sie Dark zu, der überrascht aufschaut. "Bist du sicher?" "Entei hat noch keinen nennenswerten Level und der Rest meines Teams ist anfällig für Feuerattacken. Mit Ränkeschmied und dem Erstschlagvorteil auf deiner Seite, habe ich keine Chance." Dark nickt und ruft sein erschöpftes Pokémon zurück. "Ich begrüße dich in Team Shadow, Ronya." "Na, dann her mit dem S-Com." Sie lacht. "Wenn Abby sich das nächste Mal in Lebensgefahr bringt, will ich sofort davon erfahren."   Während die anderen ins Hauptquartier zurückkehren, um Ronya und Gerard ihre S-Coms zu überreichen und Ryan wegen des Servers zu piesacken, mache ich den Umweg zum Pokécenter. Die elektrischen Türen öffnen sich sirrend und ich trete ein. Dank der fortgeschrittenen Uhrzeit ist das Pokécenter so gut wie ausgestorben. Schwester Joy steht am Schalter und schaut aus den Augenwinkeln zu einem Pärchen, das heftig miteinander flirtet. Ihre Augen gleiten zu mir, als sie mich bemerkt und ihr Gesichtsausdruck verdüstert sich. Dann schüttelt sie ihren Kopf und winkt mich zu sich. "So sieht man sich also wieder", sagt sie und bedeutet mir mit einer Geste, ihr in die hinteren Behandlungsräume zu folgen. "Dein Arm ist gut verheilt, wie ich sehe." "Ja, der Gips hat gut gehalten", sage ich, während ich ihr durch die beleuchteten Gänge folge. Vor einer Tür mit der Aufschrift Intensivstation bleibt sie stehen. "Vor ein paar Tagen sind mir drei Pokémon aus Fuchsania zugesendet worden", sagt sie und nimmt mich in Augenschein. "Alle von derselben Person. Stell dir meine Überraschung vor, als ich erfuhr, dass eins meiner Pokémon hier ebenfalls dieser Person gehört. Und dass ich schon ein Evoli von ihr in Behandlung hatte. Die betreffende Person ganz zu schweigen." "Ich weiß", sage ich. "Es tut mir leid." "Entschuldige dich nicht bei mir, Abbygail", sagt sie und stößt die Tür auf. "Entschuldige dich bei ihnen." Es ist das erste Mal, dass ich meine Pokémon seit dem Kampf mit Craig und Athena wiedersehe. Jayjay wirkt schon wieder relativ fit. Fäden durchziehen sein Fell an mehreren Stellen und er ist etwas wacklig auf den Beinen, aber sonst scheint es ihm gut zu gehen. Er steht neben einem Kronjuwild und einem Ponita, die allesamt an einem großen Heuballen knabbern. Als er mich entdeckt, wiehert er freudig, löst sich aber nicht von der Gruppe. Ich schaue genauer hin und entdecke das lose Halfter, das ihn an der Wand befestigt. "Da lang", sagt Joy und deutet nach rechts. Ich folge ihr, vorbei an Pokémon, die offensichtlich gerade ihre abendliche Fütterung haben und an denen ich nur geringfügige Verletzungen entdecken kann. Doch das muntere Schnurren, Fauchen, Wiehern und Zischen verebbt, je lauter das Piepen wird, das mir aus den hinteren Teilen der Intensiv entgegen schallt. Container unterschiedlichster Form und Größe reihen sich an die linke Wand, sind mit dicken Kabeln und Monitoren verbunden und besitzen eine kuppelförmige Glas- oder Plastikabdeckung, durch die ich in die Behälter hineinschauen kann. Darin liegen Pokémon. Genau wie die Maschinen sind sie regelrecht verkabelt. Atmung, Herzschlag und jede Menge mir unbekannte Raten werden auf den Bildschirmen über den Containern dargestellt. Außer dem Piepen kann ich nur die röchelnde Atmung wahrnehmen, die überall wiederhallt. "Was ist das?", frage ich tonlos. "Stationäre Pokébälle ", sagt Joy und nimmt neben mir Stellung. Gemeinsam betrachten wir das Piepi, das auf dem Polster liegt und zu schlafen scheint. "Eine künstliche Replikation der Pokéballumgebung, in der die Heilprozesse beschleunigt sind. Sie benötigen keine Nahrung und sind nicht bei Bewusstsein, aber wir können ihren körperlichen Zustand besser im Auge behalten, als in Bällen." "Wo sind meine Pokémon?", frage ich. Sie nickt zu zwei der hinteren Maschinen. Ich folge ihrer Geste, atme tief durch und schaue hinein. Im ersten entdecke ich Sku, die mit Schläuchen und Atemmaske in einer Art Schaumkissen fixiert liegt, Augen geschlossen. Ihr Atem geht rasselnd und flach, so als habe sie große Schmerzen. Meine Finger gleiten über die Glasoberfläche. Mein Starter. Meine älteste, beste Freundin. Einige Minuten stehe ich einfach nur da. Joy bleibt an meiner Seite, beobachtet jede meiner Bewegungen. Irgendwo in meinem Hinterkopf weiß ich, dass sie meine Reaktionen abschätzen möchte. Sie will sehen, ob die Verletzungen meiner Pokémon mir nahe gehen oder mich kalt lassen. Ob ich trotz der hohen Verletzungsrate eine gute Trainerin bin. Schließlich hole ich tief Luft, presse meine Augen zu und vertreibe das Brennen und den Schmerz in meinem Rachen, der sich dort breit macht. Das schlimmste liegt noch vor mir. Überraschender Weise legt Joy eine Hand auf meine Schulter, als ich mich abwende, um zu Gotts Container zu gehen. "Du musst nicht… es wäre vielleicht besser, wenn du dein Igelavar später besuchst." "Nein." Ich mache mich von ihr los. "Es ist meine Schuld, dass er in diesem Zustand ist. Das mindeste, was ich tun kann, ist nicht wegzusehen." Joy schweigt, während ich mich Gotts Container nähere. Als ich hineinsehe, schnappe ich nach Luft. Metallkonstruktionen durchbrechen den Gips, der beide seiner Hinterbeine umschließt, und scheinen in seinen Beinen befestigt zu sein. Auch er ist in einem Schaumkissen fixiert, um seine gebrochenen Rippen zu schützen. Die Atemmaske bedeckt sein Maul und sein Rückenfeuer ist erloschen. Immer wieder zieht die Metallvorrichtung meinen Blick auf sich und ich muss eine Hand vor meinen Mund pressen, um nicht… ich weiß nicht mal mehr, wie mir zu Mute ist. "Er ist unruhig", sagt Joy leise neben mir. "Trotz des Containers zeigt er regelmäßig starke Gehirnaktivitäten. Wir glauben, dass er eine starke Emotion durchmacht, die ihn nicht loslässt. Hast du eine Idee, was es ist?" Ich zögere, bin nicht sicher, ob ich sprechen kann. Doch die Antwort liegt mir im Magen. "Er wollte mich beschützen", sage ich und lasse die Hand sinken. "Er hat sich zwischen mich und ein Golgantes geworfen und ist zerdrückt worden. Er weiß vielleicht nicht mal, ob ich noch lebe, oder ob ich entkommen bin." "Schuldgefühle also", murmelt Joy und macht sich auf einem Klemmbrett Notizen. "Nun, das muss warten, bis er wieder bei Bewusstsein ist. Wenn du ihn dann besuchen könntest, würde uns das sehr helfen." "Natürlich", murmele ich und streiche ein letztes Mal über die Glasoberfläche, bevor ich mich abwende und Joy aus der Intensiv nach draußen folge. "Wenn du in drei Tagen wiederkommst, kannst du dein Ibitak und den Zebritz mitnehmen", sagt sie zur Verabschiedung. Der Gedanke, zumindest einen Teil meines Teams wieder bei mir zu haben, lässt mich innerlich aufatmen. Mir ist nie bewusst geworden, wie verletzlich und alleine ich mich ohne meine Partner fühle. Priss ist zwar da, aber ich habe sie von all meinen Pokémon als letzte bekommen und sie ist weiterhin keine Kämpferin. "Werde ich", sage ich und nicke ihr dankbar zu. "Auf Wiedersehen." "Komm bald wieder", sagt Joy. Während ich schon halb zur Tür hinaus bin, höre ich ihr fassungsloses Murmeln. Was hat dieses Kind nur durchgemacht…   Der Weg zurück zur Spielhalle vergeht wie im Traum. Ich bin wacklig auf den Beinen, merke gar nicht, wo ich abbiege, welchen Menschen ich begegne. Erst, als ich vor dem Geheimgang stehe, das Passwort eintippe und in den dunklen Gang dahinter trete, trifft mich alles wie ein Schlag. Ich erinnere mich an Gott, der mir zahllose Male den Weg geleuchtet hat, als die Stromkreise noch nicht wieder aktiv waren. Der flackernde Schein seines Rückenfeuers, das an den Wänden reflektierte. Ein ersticktes Geräusch entweicht mir und ich lasse mich, wo ich stehe, an der Wand herunter sinken, bleibe im Dunkeln auf der Treppe sitzen, Gesicht in meinen Händen vergraben. Ich weine nicht. Meine Gedanken wandern lediglich in immer düsterer werdenden Spiralen, tiefer und tiefer. Dieses Mal sind wir noch davongekommen. Was wäre geschehen, wenn Craig und Athena sich nicht von mir hätten manipulieren lassen? Wären Gott und Sku rechtzeitig in ein Pokécenter gekommen? Oder wären sie in ihren Bällen verrottet, vielleicht von Team Rocket aussortiert, weil sie nichts mehr nützen. Werden sie beim nächsten Kampf gegen die Vorstände sterben? Schritte. Erschrocken will ich aufspringen, doch da geht schon das Licht an. Ronya steht am Fuß der Treppe und schaut überrascht zu mir hoch. "Wieder zurück?", fragt sie. "Was machst du da oben?" "Nichts", sage ich schnell und stehe auf. "Habe nur nachgedacht." Sie zieht eine Augenbraue hoch. "Wie geht es deinen Pokémon?" Natürlich merkt sie sofort, wo das Problem liegt, denke ich missmutig. Als ich nichts sage, steigt Ronya die Stufen zu mir hinauf, drückt mich zurück in eine sitzende Position und lässt sich neben mir nieder. "Na los", sagt sie, ohne zu mir zu schauen. "Dir liegt was im Magen. Spuck´s aus." "Ich…" Meine Stimme bricht ab und ich setze neu an, spreche, ohne den Blick von meinen Händen zu nehmen. "Was, wenn ich mir zu viel zumute?", frage ich leise. Zweifel, Zweifel an mir, der Sache, für dich kämpfe, haben sich tief in mir verankert. Vielleicht brauche ich jemanden, der mir sagt, dass alles gut wird, dass ich nicht verantwortlich bin. "Ich bin keine besonders starke Trainerin. Besser als viele, aber lange nicht gut genug, um gegen Team Rocket anzukämpfen. Und wenn ich in Schwierigkeiten gerate, sind es meine Pokémon, die es ausbaden. Ich frage mich einfach, ob… ob ich so weiter machen kann." "Wirklich." Ronya rührt sich nicht, aber ihre Stimme ist kühl. "Und ich dachte, du hättest auf unserer Rückreise neue Motivation gefasst." Sie steht auf. "Scheint, als hätte ich mich geirrt. Versteck dich ruhig, während wir die Arbeit machen. Aber wenn du denkst, deine Pokémon macht das glücklicher, dann liegst du falsch." "Was soll ich denn bitte machen?", frage ich wütend und springe auf. Ronya dreht sich um, beobachtet mich wachsam. "Alles, was ich tue, befördert mich oder meine Pokémon ins Krankenhaus. Es geht immer irgendetwas schief, ganz Team Rocket ist auf mich eingeschossen, Trainer, die ich nicht mal in meinen Träumen besiegen könnte! Nicht jeder ist so stark wie ihr, okay? Ich wollte nie in diesen… diesen Krieg reingezogen werden! Ich bin entführt worden, bin gerade so abgehauen und danach habe ich einfach nur die Polizei angerufen und jetzt schau mich an! Ich habe euch alle zusammengebracht, ich bin diejenige mit dem Kopfgeld, die dauernd von Bikern oder Vorständen oder irgendwelchen anderen Fanatikern angegriffen wird und das alles nur, weil ich mir in den Kopf gesetzt habe, Team Rocket zu stoppen!" "Willst du sie denn stoppen?", fragt Ronya, ungerührt meines Wutausbruchs. "Natürlich will ich sie stoppen, verdammt!", fluche ich. "Sie sind miese Verbrecher und ich will, dass sie ein für alle Mal aus Kanto verschwinden." "Und du willst helfen?" "Wenn ich helfen kann, werde ich das natürlich. Aber…" "Kein Aber." Ronya deutet mit einem Finger auf mich, Gesicht nun wutverzerrt. "Du bist nicht jemand, der sich irgendwo verkriecht, während andere deine Arbeit machen. Du hast dir etwas in den Kopf gesetzt, hast etwas in diesem Krieg bewirkt, was niemand sonst hätte schaffen können, und jetzt heulst du rum und bedauerst deine Entscheidungen, die so viel Gutes gebracht haben, nur weil du einen kleinen Rückschlag einstecken musstest! Du bist nicht stark genug? Dann werde stärker, verdammte scheiße. Was denkst du denn, warum wir besser sind als du? Wir haben trainiert, jahrelang. Wir haben Rückschläge eingesteckt, aber haben wir nach einer Niederlage je gesagt, Mensch, vielleicht sollte ich lieber aufgeben, bevor noch etwas Schlimmes passiert?" Schwer atmend hält sie inne, Finger bebend auf mich gerichtet. "Wir haben weitergemacht. Jemand hat uns besiegt? Wir haben trainiert, bis wir stärker waren, bis niemand uns mehr etwas anhaben konnte. Und selbst jetzt hören wir nicht auf. Du denkst, du erreichst irgendwann einen Punkt, an dem alles gut ist? Nein, tust du nicht. Es wird immer etwas schief gehen, deinen Pokémon und dir wird immer etwas passieren und du wirst jedes Mal die Verantwortung tragen. Wenn Gott dich so hören würde, würde er sich fragen, wofür er all diese Zeit gekämpft hat. Das ist nicht die Abby, für die er sein Leben riskiert hat. Du bist nur eine feige Attrappe." „So redest du nicht mit mir“, flüstere ich drohend. Ronya legt eine Hand hinter ihr Ohr. „Was war das? Ich konnte deine feige Stimme nicht hören.“ „So redest du nicht mit mir, verdammt!“, schreie ich. „Weißt du, wie viel ich schon für diesen Kampf riskiert habe? Wie oft ich fast gestorben bin? Du denkst, nur weil eins deiner Pokémon in einem Kampf schwer verletzt wurde, kannst du unsere Situationen vergleichen? Ich bin diesen ganzen Dreck so leid! Zach ist im Gefängnis, Richard und Absol erwarten von mir, dass ich ihn da irgendwie rauskriege, vier meiner Pokémon liegen auf der Intensivstation und ich bin innerhalb von zwei Tagen zweimal von Team Rocket entführt und fast umgebracht worden! Und das sind nur meine letzten drei Wochen! Ich will einfach nur, dass dieser Albtraum vorbei geht, ist das zu viel verlangt?“ „Abby“, unterbricht Ronya mich. Ihre Stimme ist bei weitem nicht sanft oder beruhigend, aber sie hat die Härte von zuvor verloren. Meine Kehle ist trocken vom vielen Schreien. „Du hast mehr Scheiße hinter dir als ich. Mehr als wir alle. Aber du hast so viel aus alldem mitgenommen. Die Trainerin, die direkt nach ihrer Gefangennahme im Alleingang beide Bikeranführer gleichzeitig besiegt hat? Die hat mich beeindruckt. Die Trainerin, die gefesselt von einem Trikephalo ins Meer gesprungen ist und mir vertraut hat, in letzter Sekunde ihre Fesseln zu lösen? Die hat mich überzeugt, Team Shadow eine echte Chance zu geben. Wenn das schwächste Glied der Gruppe so viel Mumm hat, was ist dann mit dem Rest? Also zeig mir, dass ich Recht hatte.“ Sie kommt näher, legt eine Hand auf meine Schulter. „Du bist unglaublich, Abby. Lass dich von diesen Rocket-Verlierern nicht runterziehen. Deine Pokémon werden sich erholen und bis dahin lassen wir niemanden an dich ran. Also mach dein Ding, lauf nicht weg, und zeig der Welt, was für eine wahnsinnig gute Trainerin du bist. Du bist nicht allein.“ Sie wuschelt mir durchs Haar und verschwindet die Treppen hinauf. Die Geheimtür fällt schwer hinter ihr ins Schloss und lässt mich in dem hell erleuchteten Gang zurück, das Echo ihrer Stimme im Ohr. Kopfschüttelnd reibe ich mir die Augen, kann ein schwaches Grinsen aber nicht unterdrücken, als ich mich auf den Weg nach unten zu den anderen mache. Ryan verdient noch eine Runde Ärgern, und zwar von mir höchstpersönlich. Kapitel 108: Nachwuchs (Ich hasse sie) -------------------------------------- Ohne Pokémon hält Dark es am sichersten, dass ich die nächsten Tage im Hauptquartier bleibe und mich dort meinen Aufgaben widme. Vor einigen Monaten, vielleicht sogar Wochen, hätte ich heftig dagegen protestiert, aber meine Erlebnisse in Fuchsania City sind mir noch frisch im Gedächtnis und außerdem gibt es genug zu tun. Wie die beiden vorigen Tage sitze ich auch am 24. März in einem der unbenutzten Räume des Rocket-Verstecks und erweitere meine Notizen. Dank Julius habe ich das Heft lange Zeit nicht einmal anrühren wollen, aber Zach ist ohnehin schon im Gefängnis und ich bezweifle, dass Darks Identität noch lange ein Geheimnis bleiben wird. Nachdem ich alle Informationen über Team Rocket aus Dark herausgequetscht und sie Polizeireporten verglichen habe, die Ryan mir unter Murren und verletztem Stolz von den Polizeiservern besorgt hat, bin ich nun dabei, mir das Gehirn über ihre Pokémon-Teams zu zermartern. Stift im Mund und mit wippenden Füßen sitze ich vornübergebeugt an dem Schreibtisch und versuche, mich nicht von Louis ablenken zu lassen, der Ronyas Buch Traumatisierte Pokémon ausgeliehen hat und sich regelmäßig leise über die langen Wörter beschwert oder geräuschvoll Seiten umblättert. Mir ist klar geworden, dass ich von allen Anwesenden die meiste Erfahrung mit Team Rocket habe, Dark einmal ausgenommen. Aber er kennt nur einige der Pokémon, und hat bislang gegen keinen der Trainer gekämpft, außer seinem Vater. Ich schon. Es ist anstrengend, aber ich zwinge mich, all mein Wissen aus den Vorlesungen bei Agnes einzusetzen, um die Builds der Pokémon zu erahnen. Wie haben sie auf unsere Attacken reagiert, welche Strategien verfolgen sie in Kämpfen, welche Attackenkombinationen besitzen sie? Egal, wie unwichtig mir ein Detail erscheinen mag, ich schreibe alles auf, was mir in den Sinn kommt, denn wenn ich nicht aus den Strategien schlau werde, gibt es immer noch sechs andere hochkarätige Trainer, die sich sicher einen Reim auf das Ganze machen können. „Was zur…“, murmelt Louis hinter mir. „Somatoforme Störungen? Psychodynamisch Imaginative Traumtherapie? Was ist Ronya für ein Genie, dass sie das alles versteht?“ „Frag sie“, antworte ich abwesend und dokumentiere den Körperbau von Athenas Kleoparda. Schmal, schlank, guter Geruchssinn. Gebaut für Agilität und Initiative. Anfällig für geruchbasierte Angriffe? „Abby“, beschwert Louis sich. „Du brütest seit drei Tagen über deinen Notizen und hast heute noch nicht zu Abend gegessen. Oder überhaupt etwas gegessen, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Mach mal ´ne Pause.“ „Gleich.“ Ein Stöhnen, gefolgt von dem lauten Zuschlagen des dicken Psychowälzers. „Ich geh Ronya suchen und frag sie nach einem Lexikon. Ryan merkt bestimmt nicht, wenn ich zwei von seinen Instant-Nudeln klaue, oder?“ „Mhm“, stimme ich zu. Golgantes, größer als gewöhnlich. Erdbeben und Hammerarm, physischer Angreifer, Freude an der Jagd… Ich kaue nachdenklich auf meinem Kugelschreiber, als plötzlich schrilles Klingeln im ganzen Hauptquartier wiederhallt. Der Stift fällt klackernd auf den Tisch, während ich schon aufgesprungen und aus dem Raum gestürzt bin. In meinem Kopf überschlage ich die Tage. Alle Team Shadow Mitglieder kennen das Passwort zu unserem Hauptquartier und die einzigen, die wissen, wo man uns finden kann, sind… Genau wie ich hat die Klingel die restlichen Shadows im Flur zusammengetrommelt. Ich entdecke Ryan, der genervt an eine Wand gelehnt steht und seine frisch aufgebrühte Instant-Nudelsuppe schlürft. Dark kommt als letztes die Treppen hinauf, Hundemon und Priss wie immer an seiner Seite. Chris und Jayden halten sich im Hintergrund, während Gerard, Ronya und Louis sich neben mir aufstellen. „Ich warne euch−“, beginnt Ronya, wird aber von einem blonden Wirbelwind unterbrochen, der die Treppen herunter läuft und auf sie zustürmt. „Ronyaaaa“, quietscht das Mädchen, das sich ihr an den Hals geworfen hat und ihr Gesicht gegen Ronyas schmiegt. „Was machst du denn, monatelang alleine durch Johto zu rennen und mir dann nicht Mal Bescheid zu sagen, wenn du erfolgreich bist? Gemein!“ Sie nimmt etwas Abstand, ohne Ronya loszulassen und zieht eine Schnute. Es gelingt Ronya nicht, ihr Lachen zu unterdrücken. Sie tätschelt ihrer Freundin den Kopf, die ein Geräusch von sich gibt, das mich stark an Skus Schnurren erinnert. „Wo sind die anderen beiden?“, fragt sie schließlich. „Oh, lass die doch“, murmelt das Mädchen. „Viel wichtiger ist, dass ich hier bin!“ „Stimmt, du hast Recht.“ Ronya entfernt die Hände von ihren Schultern und schiebt das Mädchen ein Stück zurück. „Willst du dich nicht vorstellen?“ „Ah, haha, tut mir leid.“ Sie kratzt sich am Kopf und streckt verlegen ihre Zunge heraus. „Ich bin Amy Heartoline, Ronyas älteste Freundin, komme aus Einall, Septerna City und bin nachtaktiv, nehmt also bitte Rücksicht.“ Dark nickt ihr respektvoll zu. „Danke für dein Kommen, Amy. Wir freuen uns, dich in Team Shadow aufzunehmen.“ „So, und wer von euch allen ist diese Abby, die bis Mitternacht aufgeblieben ist, nur um mich anzurufen?“ Ich trete grinsend vor. „Das wäre dann wohl ich.“ „Ahh, das war so lieb von dir!“ Sie stürmt auf mich zu und begräbt auch mich unter einem Schwall ihrer blonden Locken. Von allen Anwesenden ist sie eindeutig die kleinste. Als sie sich wieder löst, bedenkt sie mich mit einem verschwörerischen Blick und flüstert hinter vorgehaltener Hand. „Du glaubst gar nicht, wie oft ich tagsüber angerufen werde. Und dann wundern sich die Leute, dass ich motzig bin. Wie würdest du dich fühlen, wenn nachts alle paar Minuten dein Handy klingelt?“ „Wie oft wirst du denn angerufen…“, murmele ich kaum hörbar, doch Amy ist schon längst weitergegangen und schaut nun zu Gerard hinauf, während sie ihn darüber informiert, Ronya und er dürften erst heiraten, wenn sie das Okay gebe und bisher habe er sich eindeutig noch nicht bewiesen. „Ich will Ronya nicht heiraten!“, schreit Gerard sie an, Amy bricht in Tränen aus und fällt Ronya um den Hals, die ihr abwesend den Rücken tätschelt. „I-ich meine es doch nur gut mit euch beiden… Niemand sonst wird euch haben wollen!“ „Ja“, murmelt Ronya und verdreht in meine Richtung die Augen. „Danke, Amy.“ Jaydens lauthalses Lachen und anschließende Witzerklärung für Chris verebben, als zwei weitere Trainer die Treppen hinuntersteigen. Der erste, ein Junge mit einem Schopf voluminösen, schwarzen Haars, schwarzen Handschuhen und einem dicken Schal, nimmt alle Anwesenden in Augenschein und lächelt gewinnend. Er sieht nett aus. Wäre da nicht die zweite Person neben ihm, die seinen Eindruck mit nach unten zieht. Ich schlucke. „Das ist Melissa“, murmelt Gerard, während er sich leicht zu mir nach unten beugt. „Wir nennen sie auch Bitch.“ „Ihr seid nicht die ersten, die mich so genannt haben, also bildet euch nichts auf eure Originalität ein“, sagt Melissa, die uns natürlich gehört hat. Blassviolett gefärbtes Haar baumelt als hoher Zopf über ihre Schulter und mit ihrer langen, schmalen Figur erinnert sie mich an eine Peitsche. Ihre Augen gleiten nacheinander über uns, und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Es ist nicht der Blick eines Raubvogels, nicht ganz. Dark hatte so einen Blick, als ich ihn das erste Mal getroffen habe. Mel auch. Die Art von Blick, die dir klarmacht, dass jemand dich ganz genau beobachtet, voll auf dich konzentriert ist, bereit, jeden Moment zuzuschlagen, wenn du dich falsch verhältst. Melissas Augen haben etwas leeres, desinteressiertes, als ob es ihr völlig gleichgültig wäre, sollten wir alle im nächsten Moment tot umfallen. Gefährliche Langeweile, das ist es. Als sie uns fertig gemustert hat, schaut sie sich in dem Raum um. Ihre Hand wandert hinauf zu einer Kette, die um ihren Hals hängt und mir bis dahin nicht aufgefallen ist. Dicke Holzperlen in schwarz und weiß reihen sich aneinander. Ihre Finger berühren die Kugeln nur kurz, bevor sie zurückschnellen und in der Tasche ihrer Jeansjacke verschwinden. „Das ist die lausigste Versammlung, die mir je untergekommen ist“, verkündet sie und dreht sich um. „Komm Nat, wir buchen uns irgendwo ein Zimmer.“ „Warte doch“, entgegnet er und tritt zu uns in den Flur. „Ich bin Nathan Shuck, und das ist eine gute Freundin von mir, Melissa Border.“ Er nickt mir zu. „Vielen Dank für die Einladung, Abby. Wir werden uns sicher beweisen.“ Melissa zischt. „Wir uns beweisen?“, fragt sie ungläubig und zieht Nathan mit einer Hand zurück. „Ich dachte, du bist hier, um zu einer Legende zu werden? Mit diesen Clowns gelingt dir das ganz sicher nicht. Komm, wir verschwinden hier und morgen nehmen wir uns Team Rocket selbst vor.“ Ich gluckse und halte mir erschrocken die Hand vor den Mund. Melissas Blick folgt dem Geräusch in meine Richtung und ruht auf mir. Sie kräuselt angewidert die Lippen und fasst erneut nach ihrer merkwürdigen Kette. „Was ist?“, fragt sie. „Nichts, nur dass ihr Team Rocket unmöglich alleine besiegen könnt“, antworte ich. Eigentlich will ich keinen Streit mit dieser Trainerin anfangen, aber schon jetzt geht mir ihre Art auf die Nerven und ich habe kein Interesse daran, gerade vor ihr zu kuschen. „Wenn du denkst, du bist besser als alle hier, bitte, tob dich aus“, sage ich und deute zu Dark. „Unser Anführer steht für Duelle bereit, wenn du ihm den Posten streitig machen willst.“ Melissa tritt ohne zu zögern vor, aber Ronya stellt sich ihr in den Weg. „Du hast keine Chance, Melissa“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Ich habe haushoch gegen ihn verloren.“ „Ich bin nicht du“, erwidert Melissa und schultert sich an ihr vorbei. „Vergleich mein Team nicht mit deiner verweichlichten Krüppelparade.“ „Du hast schon zweimal gegen meinen Krüppel den Kürzeren gezogen“, gibt Ronya ungerührt zu bedenken. Ich tausche einen schnellen Blick mit Louis. Melissa mag unhöflich sein, aber wie sie von Maxwell spricht, geht eindeutig zu weit. Wenn es nicht um die Zukunft von Kanto und Johto ginge, würde ich die Einladung sofort zurückziehen. „Wenn du zwei von sieben möglichen Siegen als Erfolg siehst, bitte sehr“, sagt Melissa und fasst wieder ihre Kette. „Ich habe höhere Ziele.“ „Jetzt lass gut sein, Lissa“, stöhnt Nathan und stemmt die Hände in die Hüften. „Du hast versprochen, dich nicht unmöglich aufzuführen und jetzt forderst du als erstes ihren Anführer heraus? Hör dir doch wenigstens an, was sie zu sagen haben.“ „Ich führe mich nicht unmöglich auf!“, protestiert Melissa sofort, während sie puterrot wird. Ich hebe überrascht eine Augenbraue. Sie wickelt die Kette um ihre Finger und schließt einige Sekunden die Augen, macht aber keine weiteren Anstalten, Dark von seinem Posten zu verdrängen. Ich werfe ihm einen schnellen Blick zu und er nickt. „Wenn die neuen Mitglieder ihre S-Coms konfiguriert haben, folgt mir bitte in den Seminarraum“, verkündet er. Ryan schlürft den Rest seiner Nudelsuppe aus und verteilt die klobigen Geräte an unseren durchwachsenen Zuwachs. Amy quietscht vor Vergnügen, als sie ihre Trainer-ID eintippt, Nathans Gesicht bleibt neutral entspannt und Melissa sieht aus, als habe man ihre gerade eine Mülltüte in die Hand gedrückt. Während die anderen Dark die Treppen hinunter folgen, laufe ich schnell zurück in unser Zimmer, krame meine Notizen zusammen und haste schließlich den Nachzüglern hinterher. Nachdem alle an dem runden Tisch Platz genommen haben, erhebt Dark sich und lässt den Blick über unsere Gesichter schweifen. „Da die letzten Trainer eingetroffen sind, die Abby für uns rekrutiert hat−“ Er ignoriert Melissas Schnauben, „−ist Team Shadow nun vollzählig. Ich begrüße euch. Wie ihr alle inzwischen erfahren habt, sind wir eine Gruppe hochklassiger Trainer ohne Orden, die zusammen trainiert und sich derzeit zusätzlich der Bekämpfung von Team Rocket widmet.“ „Die Polizei kriegt ohne uns halt nichts gebacken“, meint Jayden breit grinsend und stößt Chris in die Seite, die sich ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen kann. Humor mag sie nicht verstehen, aber stolz ist sie allemal. „Und was ist mit der da?“, fragt Melissa und deutet mit einem Daumen in meine Richtung, ohne die Augen von Dark zu nehmen. „Stark ist sie jedenfalls nicht und sie hat nur einen Pokéball.“ „Der Rest ist im Pokécenter“, erwidere ich gereizt. „Anders als du bin ich schon etwas länger dabei.“ „Oh, gruselig“, höhnt Melissa. Nathan wirft ihr einen genervten Blick zu und sie dreht verlegen den Kopf weg. Dark räuspert sich. „Abby hat verschiedene Aufgaben“, erklärt er an die Neuankömmlinge gewandt. „Bis vor kurzem war sie Rekruterin. Ihr haben wir die Hälfte unserer Mitglieder zu verdanken, so wie unsere gute Beziehung zu der Polizei. Sie ist außerdem diejenige mit der meisten Kampferfahrung gegen hochrangige Rockets und hat sich dazu bereiterklärt, uns zu coachen.“ Ein Stöhnen geht von Melissa aus, nur übertönt von dem aufgeregten Murmeln aus Amys Richtung, die sich begeistert an Ronyas Arm festkrallt. Ihre Freundin verdreht gutmütig die Augen und lässt sie gewähren. Ich räuspere mich und stehe auf. „Wahrscheinlich muss ich es nicht sagen, aber ich will trotzdem sicher gehen, dass jeder hier versteht, wogegen wir kämpfen.“ Mein Blick gleitet über alle Anwesenden und bleibt bei Melissa hängen. „Ich kenne die Level eurer Pokémon nicht, aber ich gehe davon aus, dass jeder hier in einem Bereich von Level 65 bis 75 liegt, Dark einmal ausgenommen.“ Sein Mundwinkel zuckt und Hundemon grollt zustimmend. „Dark hat Recht“, fahre ich fort. „Louis und ich sind die schwächsten hier, aber wir laufen Team Rocket seit acht Monaten regelmäßig über den Weg und ich habe einige Informationen, die euch in den bevorstehenden Kämpfen nützlich werden könnten.“ „Und was soll das bringen?“, fragt dieses Mal Nathan, nicht unfreundlich, nur neugierig. „Wir alle sind erfahrene Trainer und ich bezweifle, dass Team Rocket uns gefährlich werden kann.“ „Nicht in einem normalen Duell“, stimme ich zu. „Aber Team Rocket spielt nicht fair. Sie besitzen Feuerwaffen, mit denen sie euch oder eure Pokémon attackieren können und werden. Oft kämpfen sie in Teams oder sogar als große Gruppen, um euch mit ihrer schieren Anzahl zu überwältigen. Ihr werdet nicht immer in der Lage sein, mit Großflächenangriffen aufzuwarten, sei es der Ort oder eure Freunde, die mit euch kämpfen und ebenfalls getroffen werden könnten. Die Schwächen eurer Feinde im Voraus zu kennen, wird hilfreich sein.“ Nathan nickt und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Innerlich atme ich erleichtert aus. Ich weiß ja selbst, wie ich mich anhören muss, aber ich habe genug Kämpfe hinter mir, um Team Rocket nicht zu unterschätzen. Selbst Dark haben sie ausschalten können, nur weil sie den Überraschungsfaktor auf ihrer Seite hatten. Es wird Zeit, die Informationen, die Dark mir gegeben hat und die ich mit meinen Erfahrungen erweitert habe, in die richtigen Hände zu geben. Ich beginne mit einer kurzen Zusammenfassung der Hierarchie, so wie Dark sie mir direkt nach meiner Rückkehr erklärt hat.   Dark schob mir den Tee zu und lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Wo soll ich anfangen?“, fragte er. „Mein Vater ist der Anführer. Er war Giovannis rechte Hand und übernahm nach dessen Verschwinden die Führungsposition. Die Lücke, die er im Vorstand hinterließ, wurde mit Craig gefüllt. Soviel ich weiß, war er das stärkste Mitglied nach Atlas selbst, deswegen wurde er ausgewählt. Er ist für die Kommunikation mit den Bikern und dem Untergrund zuständig.“ „Was ist mit den anderen?“ „Athena, Lambda und Lance gehörten schon zum alten Vorstand“, fuhr Dark fort. „Lambda ist bereits festgenommen worden, aber er hatte unter anderem die Aufsicht über Diebstähle und andere Verbrechen. Er hat alles organisiert und überwacht. Athena war Giovannis Geliebte. Die beiden hatten einen Sohn, aber er ist schon zu Golds Zeiten spurlos verschwunden. Ich habe ihn nie bewusst kennen gelernt. Athena redet nicht gerne über ihn.“ Er schmunzelte humorlos. „Mein Vater wohl auch nicht mehr über mich… Sie ist das Herzstück von Team Rocket. Niemand ist loyaler als sie. Sie ist effizient, tödlich, aber mit einem Hang zu Risiko, wenn sie sich zu sicher fühlt. Große Teile der Infiltrationsphase sind ihr geschuldet, sie hat noch von damals sehr viele Kontakte unter den einflussreichen Personen. Einige unterstützen sie weiterhin. Bevor du fragst, ich weiß nicht, wer.“ Ich hatte den Mund schon geöffnet, schloss ihn aber wieder. „Was ist mit Lance?“, fragte ich stattdessen. „Informationen“, sagte Dark und strich Hundemon über den Kopf. „Er organisiert alles, Materialien, gestohlene Güter, Nahrung, Geldeinnahmen und -ausgaben, Gehalt… Er ist das Gehirn von Team Rocket. Ohne ihn würde mein Vater nichts zustande bringen.“   „Woher wisst ihr das alles?“, fragt Ronya stirnrunzelnd, als ich gerade zu den niederen Rängen wie Mel und Teal kommen will. Ich tausche einen schnellen Blick mit Dark. „Ryan hat sich in die Polizeiserver gehackt“, erkläre ich schließlich stockend. „Oh bitte“, protestiert Jayden sofort. „Die haben doch selbst keine Ahnung, was abgeht.“ „Nun, also…“ Ich ringe nach Worten, schaue fieberhaft zu Dark. „Es hat wohl keinen Sinn, es weiter geheim zu halten“, unterbricht Dark meine halb formulierte Ausrede. Er wendet sich der Gruppe zu. „Ich vertraue diesem Team. Atlas, der Anführer von Team Rocket, ist mein Vater.“ „WAS?!“, erschallt es von allen Seiten, am lautesten von Jayden, der schließlich einer der ersten in Team Shadow war. Chris sagt kein Wort, sieht nur perplex und ein bisschen verletzt aus. „Und das sagst du uns nicht? Dass du einer von denen warst?“ „Es gab keinen Grund, euch einzuweihen“, erwidert Dark ruhig. „Es gibt verdammt viele Gründe dafür“, ruft Jayden hitzig. Dann schaut er zu mir. „Und du wusstest davon?“ „Ich wusste, dass Atlas´ Sohn Dark heißt und ihn verraten hat“, entgegne ich kühl. „Als du mir sagtest, du und Chris wären einem Jungen mit demselben Namen begegnet, habe ich eins und eins zusammengezählt. Wenn ich es nicht schon gewusst hätte, hätte er es mir sicher nicht gesagt, wenn du darauf hinauswillst.“ „Tsz“, murmelt er und rutscht tiefer in seinen Stuhl. Nathan und Amy werfen sich fragende Blicke zu, schließlich sind sie erst seit heute hier. Für sie ist die Enthüllung weit weniger schockierend als für den Rest. Chris hat weiterhin irritiert die Augenbrauen zusammengezogen. Ronya beobachtet Dark lediglich mit erneuertem Interesse, während sie gleichzeitig Gerard davon abhält, die Stuhllehne zu zerquetschen und Ryan nickt nachdenklich, so als hätte er sich Darks Identität denken müssen. Einzig Melissa sieht aus, als hätte man ihr gerade ein Geburtstagsgeschenk vor die Nase gesetzt. „Das macht die Sache gleich viel interessanter…“, murmelt sie und pfeift vergnügt vor sich hin. Ich räuspere mich. „Da das jetzt geklärt ist“, beginne ich langsam, um die Aufmerksamkeit wieder auf mich zu ziehen, „werden wir uns jetzt dem Rangsystem und den Pokémon und Attackenbuilds der Vorstände widmen. Ich habe da etwas vorbereitet…“   „Ich hasse Melissa“, murmele ich unter meiner Decke vergraben, während Louis sich den Schalfanzug anzieht. „Ich hasse sie, hasse sie, hasse sie!“ „Sie ist eine Bitch“, stimmt Louis zu, der den Spitznamen in heller Begeisterung von Gerard übernommen hat und wirft sein T-Shirt auf meinen Kopf. Ich ziehe es zur Seite und setze mich abrupt im Bett auf. „Wenn sie mich nicht alle fünf Minuten unterbrochen hätte, weil sie irgendetwas so viel besser weiß, dann wären wir in weniger als einer Stunde fertig gewesen. Aber nein. Ich habe am Metarost City Pokécollege studiert, ich bin besser als ihr alle, ihr seid solche Amateure... und sie hat nicht mal den verdammten Abschluss gemacht!“ Louis lacht und setzt sich zu mir aufs Bett, wo ich mich in seine Umarmung fallen lasse und zu ihm hochgucke. „Ich hasse sie“, wiederhole ich, nur um das nochmal klarzustellen. „Ich weiß“, sagt er mit dem breiten Zahnlückengrinsen, dass ich so liebe. Ich werde knallrot und schaue zur Seite. Er stutzt. „Was?“ „Bevor du zurück nach Anemonia City fliegst−“, murmele ich, fast unhörbar. „−würde ich dich gerne meinen Eltern vorstellen.“ Ich muss sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass seine Augen aufleuchten. Dann treffen seine Lippen auf meine. Kapitel 109: Sturmwarnung (Hallo Mrs. Hampton) ---------------------------------------------- Am nächsten Morgen mache ich mich in aller Frühe auf den Weg zum Pokécenter, nicht jedoch, bevor ich den Wetterbericht bei PCN verfolgt habe. Zu meiner Überraschung bin ich nicht die einzige, die es sich im Gemeinschaftsraum gemütlich machen will. Nathan sitzt in nichts als Jogginghose und dicken Flauschsocken auf der Couch und schlürft eine Tasse dampfenden Kaffee, während er durch die Kanäle zappt. Als er mich bemerkt, wirft er mir ein Lächeln zu. „Wo hast du deine schlechtere Hälfte gelassen?“, frage ich, bevor ich es mir verkneifen kann und gehe zu einem der an die Wand geschobenen Tische, um mir meinen morgendlichen Tamottee aufzubrühen. Nathan lacht entschuldigend. „Lissa hat keinen guten ersten Eindruck hinterlassen, schätze ich“, sagt er und rutscht zur Seite, um mir Platz zu machen. „Willst du was Spezielles gucken?“ „Wetterbericht“, erwidere ich gähnend und lasse mich neben ihm in die orangeroten Polster plumpsen. „Kanal Sieben.“ „Glückszahl, he?“, fragt er und schaltet um. „Wie man´s nimmt.“ Einige Minuten füllt nur die im Hintergrund plätschernde Werbung den Raum. Schließlich wendet Nathan sich mir zu. „Ich weiß, dass Melissa nicht gerade die netteste Person auf diesem Planeten ist, aber bitte gebt ihr eine Chance“, sagt er und schaut mich ernst an. „Sie ist launisch und ihre Trainingsmethoden sind eher unorthodox, das gebe ich zu, aber ich glaube wirklich, dass sie eine Bereicherung für das Team ist." „Mhm“, stimme ich zu, schlürfe an meinem Tee und verbrenne mir die Zunge. Nathan setzt zu einer weiteren Rechtfertigung an, doch da ertönt schon die PCN-Tonfolge und er hält vorerst den Mund.   „Wir begrüßen sie zum acht Uhr Wetterbericht bei PCN! Ich bin Steve und das erwartet sie in der kommenden Woche: Mit dem nahendem April steigt auch das Niederschlagsrisiko und trotz der warmen Temperaturen nähert sich eine Unwetterfront, deren erste Ausläufer bereits vor Wochen in Kanto eingetroffen sind. Die nächsten Tage werden stürmisch, bereiten Sie sich also auf heftige Gewitter, Niederschläge und Blitzgefahr vor…“   „Nicht die netteste Person…“, murre ich vor mich hin, während ich etwas später durch Prismanias Straßen zum Pokécenter stapfe und an den anderen Passanten vorbeidrängele, die mit Tüten und Schirmen bewaffnet an den hohen Häusern vorbeilaufen. Der Frühling macht sich allmählich an den Blumenkästen bemerkbar, die in allen Geschäften und Wohnungen aufgestellt wurden, aber die Unwetterwarnung hat viele dazu bewogen, ihre geliebten Pflanzen zurück ins Warme zu holen. Regen mag ihnen bekommen, aber die heftigen Stürme, die in Kanto Einzug gehalten haben, sind nichts für die zerbrechlichen Blüten, deren sommerliche Farbenpracht Prismania City ihren Namen verliehen hat. Priss gibt ein undefinierbares Grummeln von sich. Für die Aussicht auf frische Luft hat sie sich von Hundemons Seite gelöst und döst nun zufrieden auf meinem Kopf. Klein, wie sie ist, fällt mir das zusätzliche Gewicht kaum auf. Kein Vergleich zu Sku, wenn sie auf meinen Schultern sitzt. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich meine Ankunft erst bemerke, als die elektrischen Türen des Pokécenters sich sirrend vor mir öffnen und mich mit einer Schar Trainer konfrontieren, die zum Frühstück an den Tischen sitzen und vereinzelt zu mir aufschauen oder Priss neidische Blicke zuwerfen. Schwester Joy winkt mich ungeduldig zu sich und ich folge ihrer Geste zur Theke. „Dein Igelavar ist weiterhin bewusstlos“, informiert sie mich mit geschürzten Lippen. „Wir werden noch einige Tage brauchen, bevor er geweckt werden kann.“ „Was ist mit Sku?“ „Dein Skuntank erholt sich gut“, erwidert Joy. „Gib ihr noch ein paar Tage Ruhe, dann kannst du sie wieder in dein Team nehmen, auch wenn ich dir empfehlen würde, es mit den Kämpfen vorerst nicht zu übertreiben. Wenn deine Pokémon noch einmal in so großer Zahl bei mir landen, werde ich mich mit der Liga in Kontakt setzen und den Entzug deiner Trainerlizenz vorschlagen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Ich schlucke, nicke aber. Wirklich verübeln kann ich Joy ihre Einstellung nicht. Um ehrlich zu sein, hatte ich bereits dieses Mal mit solchen Folgen gerechnet. Sie seufzt und zieht eine Schale mit sechs runden Einbuchtungen aus einem der Regale hinter sich, die allesamt mit Nummern beschriftet sind. Die beiden Pokébälle drückt sie mir mit hochgezogenen Augenbrauen in die Hände. „Ich werde auf sie aufpassen“, verspreche ich und nehme Hunters und Jayjays Bälle entgegen. Das leicht zerkratzte Plastik liegt perfekt in meinen Händen. Mit der Zusage, Sku in drei Tagen ebenfalls abzuholen, verlasse ich frohen Mutes das Pokécenter. Eigentlich habe ich Lust auf einen Abstecher zu Route 7, aber Dark erwartet mich zurück, um unser weiteres Vorgehen zu planen und ich bin nicht sicher, ob ich ohne Eskorte einen Spaziergang außerhalb der Stadt wagen will. Trotzdem verleiht die Vorfreude auf ein Wiedersehen mit meinen Pokémon meinen Schritten einen freudigen Schwung und ich finde mich im Hauptquartier wieder, bevor ich mich versehe. Ich bin kaum die Treppe hinunter, da rufe ich Hunter. Sein Brustgefieder ist fast vollständig nachgewachsen und als er desorientiert den Kopf schwenkt und mich entdeckt, gibt er ein durchdringendes Krächzen von sich, flattert zu mir und presst seinen Kopf liebevoll an meine Wange. Ich umarme ihn, streiche durch die dunkelbraunen Federn und murmele bedeutungslose Willkommensworte. Er versteht mich auch so. Als wir uns nach minutenlangem Kuscheln endlich voneinander lösen, rufe ich auch Jayjay. Fast bin ich neidisch, denn ich werde links liegen gelassen, während die beiden krächzen und wiehern, umeinander tänzeln und in Jayjays Fall Luftsprünge machen, die seine Hörner an die Decke stoßen lassen. Gutmütig beobachte ich die beiden besten Freunde und lehne mich grinsend an die Wand. Natürlich muss Melissa genau in dem Moment meine Laune ruinieren. „Ist ja süß“, sagt sie, kaum dass ihr Blick auf das Spektakel fällt. Sie nimmt die letzten Stufen die Treppen hinauf und begutachtet Jayjay und Hunter, die sie in ihrer Aufregung nicht bemerkt haben. „Du gehörst also auch zu den Freundschaftsfanatikern“, fährt sie fort und faltet ihre Hände hinter ihrem Kopf. „Ich habe ein gesundes Verhältnis zu meinen Pokémon, wenn du das meinst“, erwidere ich und schiebe Priss´ Schnauze von meinem Ohr weg, in das sie hineinbeißen wollte. „Deine Pokémon können mir leidtun, wenn ich mir dich als Trainerin vorstelle.“ „Meine Pokémon sind nicht verweichlicht“, sagt Melissa. „Sie folgen mir, weil sie stärker werden wollen, nicht, weil ich sie zufällig gefangen habe oder sie mich mögen. Das macht sie nicht stärker.“ „Schwächer macht es sie auch nicht“, entgegne ich säuerlich und rufe die beiden zurück. Priss gähnt auf meinem Kopf, springt zu Boden und verschwindet die Treppen hinunter, auf der Suche nach Hundemon. „Sie ist nichts weiter als dein Kuscheltier“, spottet Melissa und schaut Priss mit offenkundigem Abscheu hinterher. „Dafür, dass du große Reden über Team Rocket schwingst, nimmst du das Training deiner eigenen Pokémon sehr locker. Solltest du sie nicht unermüdlich trainieren, damit sie sich in den Kämpfen nicht verletzen?“ „Wie ich meine Pokémon trainiere, geht dich nichts an“, fauche ich, nicht zuletzt, weil ihre Worte einen wunden Punkt treffen. Ich weiß ja, dass ich stärker werden muss. Aber ohne Eskorte lässt Dark mich nicht aus der Stadt und ich kann Ronya oder Chris nicht ständig damit auf die Nerven gehen. „Und warum trainierst du nicht?“ Sie reibt sich die Augen und schaut die Treppen hinunter. „Nat hat mich gebeten, die Liga-Herausforderung mit ihm zu gucken. Es schadet nichts, mir eure jämmerlichen Top-Trainer anzusehen, also habe ich zugesagt.“ „Sicher“, sage ich trocken. „Nicht, weil Nathan dich darum gebeten hat.“ Melissas Miene verfinstert sich, doch statt mich anzufahren, greift sie nach der Kette um ihren Hals, murmelt etwas Unverständliches und verschwindet wieder nach unten. Unwillig folge ich ihr, aber ich werde mir von niemandem Chloes Herausforderung versauen lassen, schon gar nicht von ihr. Zu meiner Überraschung ist ganz Team Shadow im Gemeinschaftsraum versammelt, gequetscht auf die Sofas, Tische und teilweise auf dem Boden. Einzig Amy und Ryan fehlen. Ich lasse mich neben Louis nieder, der an die Couchlehne gelehnt sitzt und sich mit  Ronya über das Buch unterhält, das er von ihr geliehen hat. „Geht´s allen gut?“, fragt er, kaum dass ich sitze und küsst mich flüchtig, als ich zustimmend nicke. „Es geht gleich los“, verkündet er dann. Noch übertönen die Gespräche der versammelten Trainer den Fernseher, aber in der oberen rechten Ecke tickt bereits ein Countdown von PCN, der den Beginn von Chloes erstem Kampf gegen Top Vier Mitglied Jolanda ankündigt, eine junge Bodenpokémon-Trainerin, die vor einigen Jahren den bis dahin amtierenden Willi von seinem Posten verdrängt hat. Ich habe damit gerechnet, dass es spannend wird, nicht jedoch damit, dass die Kommentare meiner Team Mitglieder den größeren Unterhaltungswert haben. Alfreds dramatische Stimme wird schon bald von den ersten Zwischenrufen unterbrochen, die mich ein weiteres Mal daran erinnern, dass Team Shadow nicht viel mit der Liga zu tun hat und auf ganz eigenem Niveau spielt. "Was macht sie denn?", stöhnt Jayden, als Chloe einen Sekundenbruchteil zu spät auf Camerupts Geofissur reagiert, nicht rechtzeitig zu einem Flugpokémon wechselt und ihr Tohaido so in der KO-Attacke verliert. Es ist das erste Mal, dass ich die vernichtende Kraft mit eigenen Augen sehe, aber die aufbrechenden Fliesen und darunter liegenden Steinmassive, die das Haipokémon regelrecht verschlucken, jagen mir einen Schauer über den Rücken. "So schnell hätte sie nicht reagieren können", verteidige ich Chloe, die zögerlich zu einem Superball greift und ein Bisofank ruft, dessen Atem Wolken in der staubgefüllten Luft bildet. Seine vorgebogenen Hörner scheinen so schwer, dass es jeden Moment vorkippen müsste, aber es stampft nur schnaubend auf und gibt ein lautes Brüllen von sich, was Alfred sofort mit neuem Elan kommentiert. "Sie hätte die Attacke erahnen müssen", entgegnet Dark. "Jolanda ist ein großes Risiko damit eingegangen, Geofissur zu befehlen, statt ihr Pokémon auszutauschen." "Chloe hätte sie für das Risiko bestrafen müssen", stimmt Ronya zu. "So hat sie ihre beste Chance auf einen Sieg aus dem Fenster geworfen." "Welches Fenster?", fragt Chris, was kollektives Seufzen mit sich bringt. "Hat sie denn keinen Flugtyp?", fragt nun Nathan, der neben Melissa auf einem der anderen Sofas sitzt. "Steinhagel könnte ihr gefährlich werden, aber Bisofank besitzt keinen nennenswerten Vorteil gegenüber Camerupt. Sie sollte ihre Angriffe besser planen." Ich denke kurz nach. "Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie ein Panzaeron", sage ich dann. Melissa lacht schallend. "Sie hat schon verloren", stellt sie mit kaum unterdrückter Schadenfreude fest. "Wenn das eure besten Trainer sind, ist mir klar, warum du uns aus Einall hierher bestellst." "Sie sind nicht schwach", erwidere ich hitzig und denke dabei an Raphael, der dieses Jahr sein Glück bei der Pokémon Championship versuchen will. Melissa sagt nichts, wirft mir nur bei jedem weiteren besiegten Pokémon, das Chloe zerknirscht zurückrufen muss, einen eindeutigen Blick zu. Als schließlich ihr Starter, ein Meganie, mit letzter Kraft an seinen Egelsamen festhält und doch besiegt durch Rabigator zu Boden geht, klatscht sie zufrieden in die Hände, steht auf und verlässt den Gemeinschaftsraum. In meiner Ehre gekränkt bleibe ich noch eine Weile sitzen und lasse mir von Louis einen Arm um die Schultern legen. "Was hast du erwartet?", fragt er. "Sie hat selbst gesagt, dass sie nur ein Gefühl für die Kämpfe dort bekommen will. Niemand hat erwartet, dass sie gewinnt." "Nicht gegen Noah vielleicht", murmele ich. "Aber ich dachte, nach fünf Monaten Training würde sie wenigstens die ersten Kämpfe gewinnen. Jolandas Levelbeschränkung sollte 50 sein, oder nicht?" "Jolanda ist keine gute Gegnerin für ihr Team", sagt Dark. "Es kann sein, dass sie gegen die übrigen Top Vier ein leichteres Spiel gehabt hätte, aber ihr Team hat eine chronische Boden- und Gesteinschwäche." "Dazu kommt, dass ihre Pokémon schlecht trainiert ist", sagt Ronya, die zu den wenigen Mitgliedern gehört, die noch bei uns sitzen. Der Rest hat sich während der PCN-Nachbesprechung langsam verflüchtigt. "Weißt du, warum so wenige Trainer sehr starke Pokémon haben?" "Weil sie nicht genug trainieren?" "Oh, sie trainieren", entgegnet sie. "Aber theoretisch sollten alle älteren Trainer Teams auf Level 100 haben, oder nicht? Wenn sie ihr gesamtes Leben lang trainieren, würden die stärksten Trainer gleichzeitig die ältesten sein." Ich nicke stumm. Bisher habe ich nie darüber nachgedacht, aber sie hat natürlich Recht. "Es liegt an den Blockaden", erklärt Dark. Ronya lächelt ihm zu. "Stimmt genau. Die meisten Pokémon erreichen nie diesen Punkt, weil sie nicht intensiv genug trainiert werden. Aber die Pokéliga ist darauf ausgelegt, jeden Herausforderer in einen Levelbereich zu bringen, in dem er Blockaden überwinden muss, um zu gewinnen. Die meisten Pokémon erreichen zwischen Level 40 und 50 einen Punkt, an dem sie durch ihr normales Training nicht mehr stärker werden, egal, wie viele Gegner sie besiegen." "Es gibt noch eine zweite Blockade", fährt Dark fort. "Zwischen Level 70 und 80." Ronya nickt und deutet zum Fernseher. "Chloe wird gespürt haben, dass sie mit dem Training in der Siegesstraße nicht mehr weiterkommt. Deswegen hat sie sich entschieden, die Top Vier herauszufordern, in der Hoffnung, das Problem zu erkennen, das sie am stärker werden hindert. Sie wusste, dass sie nicht weit kommen würde, aber der Versuch war es ihr wert. Ob sie jemals Champion werden kann, hängt einzig und allein davon ab, ob sie die Blockaden ihres gesamten Teams überwinden kann. Wenn nicht…" "…wird sie niemals stärker werden", sage ich entsetzt. "Wissen alle von diesen Levelblockaden?" "Nein." Sie schüttelt den Kopf. "Aber wer das Zeug dazu hat, überwindet sie auch, ohne davon zu wissen. Wenn nicht, hat er es nicht verdient, sich Pokémonmeister zu nennen." Nachdenklich bleibe ich im Gemeinschaftsraum sitzen, während Ronya und Louis sich zu einer Therapiebesprechung für Winry verabschieden. Dark bleibt. "Worüber denkst du nach?", fragt er. Hundemon winselt und legt seinen schwarzen Kopf auf das Sofapolster neben mir. "Ich denke an all die Trainer, die niemals diese Blockaden überwinden werden", sage ich langsam. "Und an diejenigen, die es geschafft haben. Red. Gold. Du." "Vielleicht kannst du mich Gold eines Tages vorstellen", sagt Dark und krault Hundemon dabei abwesend zwischen den Ohren. "Ich war zu jung, um mich an seinen Sieg gegen meinen Vater zu erinnern, aber auch wenn Atlas damals noch nicht so stark war wie heute, war es kein Leichtes. Er muss ein formidabler Trainer sein, wenn die Gerüchte über ihn wahr sind." "Sind sie", sage ich ohne zu zögern. "Gold ist der stärkste Trainer, dem ich je begegnet bin, dich eingeschlossen. Aber ich denke, ihr werdet euch schon bald begegnen." Dark grinst flüchtig. "Mit deiner Einmischung, nehme ich an." Ich grinse ebenfalls. "Mit wessen sonst?"   Die nächsten drei Tage verbringe ich mit Telefonaten. Meine Mutter ist die erste, als ich sie über meinen Besuch mit Louis informiere. Sie klingt regelrecht euphorisch, als sie von meinem Plan erfährt und lädt uns für den 28. März in Orania City ein. Meine Telefonate mit Alfred und Rocky sind so zahlreich, dass mir ihre Stimmen in meinen Träumen erscheinen und Wiesel aus Teak City freut sich, nach so langer Zeit wieder meine Stimme zu hören. Die letzte Gesprächspartnerin, die schon am ersten Morgen nach Chloes Kampf von mir hört, ist niemand anderes als die Königin von Dukatias Untergrund persönlich. "Hey Caro", begrüße ich sie, kaum dass sie abnimmt. Zuerst erklingt das metallische Klackern ihres Feuerzeugs, gefolgt von dem Ausatmen von Rauch. "Abby", begrüßt sie mich. "Ich hatte nicht so früh mit deinem Anruf gerechnet." "Hör zu, Caro", beginne ich, stocke und beginne von Neuem. "Es tut mir wirklich leid, wie alles gelaufen ist", sage ich dann. "Nachdem ich im Oktober vom Plateau zurückgekommen bin, ist mir alles um die Ohren geflogen. Das entschuldigt nicht, dass ich mich solange nicht gemeldet habe und ich weiß, dass es schwer ist, mit mir befreundet zu sein, wenn ich immer nur bei schlechten Neuigkeiten anrufe, aber ich hoffe, du kannst mir vergeben. Ich vermisse dich. Und wenn du wissen willst, was alles in der Zwischenzeit passiert ist, kann ich dir stundenlang das Ohr abkauen." Sie lacht heiser. "Verschon meine Ohren, bitte. Aber auf die Geschichte bin ich gespannt." Wir telefonieren über drei Stunden. Meine Erzählung wird regelmäßig von nicht gerade jugendfreien Kommentaren seitens Caro unterbrochen, Louis stolpert ins Zimmer und wird an sie weitergereicht, nur um mir eine Minute später mit hochrotem Kopf das Handy wieder in die Hand zu drücken und zu flüchten und als ich schließlich bei meinen letzten Abenteuern in Fuchsania City ankomme und Craigs und Athenas Gespräch so wortgetreu wie möglich wiedergebe, fühlt es sich fast so an, als hätten wir all die Monate in engem Kontakt gestanden. Caros Wut ist verpufft, nachdem sie von all den Gefahren erfährt, durch die ich mich schlagen musste. Mein Bericht über Craig und Athena lässt sie lange verstummen. "Denkst du dasselbe, was ich denke?", frage ich. Es war einer der Gründe, weshalb ich Caro angerufen habe, auch wenn mir wichtig war, unsere Beziehung wieder geradezubiegen. "Wenn dieser Craig Kontakte zum Untergrund hat…" "…ist höchstwahrscheinlich er für Evas Tod verantwortlich", beende ich den Gedankengang für sie. Caro gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. "Nicht unbedingt er persönlich, aber wenn dieser Typ den Befehl gegeben hat… Fuck!" "Ich kann ihn dir beschreiben", sage ich. "Seine Stimme, seine Pokémon, sein Aussehen, seine Art. Aber du bist diejenige mit den Kontakten im Untergrund. Du musst herausfinden, ob er dort Verbündete hat, wer sie sind, was sie machen und wie wir ihm Steine in den Weg legen können." "Das ist−" Caros Stimme bricht. "Danke, Abby. Du weißt nicht, wie sehr ich mich darauf freue, diesen Wichser dranzukriegen." "Erst müssen wir herausfinden, ob ich richtig liege", beschwöre ich sie. "Halte dich bedeckt, sofern möglich. Wenn er die Verbindung zwischen dir und Zach erkennt, wird es eng." "Mach dir da mal keine Sorgen, Abby", erwidert Caro und ich kann das raubtierhafte Grinsen in ihrem Gesicht förmlich sehen. "Der Untergrund gehört immer noch mir."   ooo   Skus tiefes Schnurren zerstreut meine Nervosität und ich lasse mich auf die Knie sinken, um sie in meine Arme zu schließen. Ihr weiches, warmes Fell verdeckt meine Sicht und ihre Krallen ziepen schmerzhaft in meine Schultern, aber mir ist alles gleich. Ich habe sie wieder. Louis steht grinsend hinter mir und wirft Amy vielsagende Blicke zu. Der blonde Wirbelwind hat sich bereiterklärt, uns gleich nach dem Aufwachen − sprich fünf Uhr nachmittags − nach Orania City zu eskortieren. Ich hatte zuerst Ronya gefragt, doch ohne Flugpokémon ist sie für den Job ungeeignet und Amy ist voller Tatendrang. Ein loser Flechtzopf bändigt ihre goldene Lockenpracht und pinke Weste hält sie gegen die abendliche Kälte warm. Ich löse mich aus Skus Umarmung, kraule sie ein letztes Mal unter der Schnauze und rufe sie zurück. Louis hat sich bereits mit seiner Kletterausrüstung an Kramurx Joey befestigt und auch Amy steht startbereit neben ihrem Brutalanda, dessen bulliger Körperbau über seine Flugkünsten hinwegtäuscht. Dem Beispiel der beiden folgend, rufe ich Hunter, stülpe meine Handschuhe und die Pilotenbrille über, die ich seit meinem Kauf noch nicht oft benutzen konnte und schwinge mich auf Hunters Rücken. Wir heben von Route 7 aus ab und steigen in kraftvollen Luftströmen hinauf in den Himmel. Zuerst fliege ich vorsichtig, unsicher, wie sich die lange Pause auf Hunters Flugkünste ausgewirkt hat, aber schon nach der ersten Viertelstunde sind wir wieder ein eingespieltes Team. Meine Oberschenkel leiten ihn, während seine Flügel uns stets in die beste Position bringen und als der Höhenwind uns übermütig werden lässt, fliegen wir unseren ersten richtigen Salto. Amy schießt auf Brutalanda unter uns entlang, zieht hoch und umrundet uns in zahlreichen Spiralen und Saltos, die meine eigenen Manöver wie Spielerei aussehen lassen. Louis segelt unterdessen unter uns entlang und schüttelt ob unseres aufgeregten Jauchzens amüsiert den Kopf. Orania City kommt eine knappe Stunde später in Sicht. Amy fliegt niedrig, landet aber nicht, sondern schießt zurück in die Lüfte, kaum dass wir festen Boden unter den Füßen haben. Ich winke ihr zum Abschied, aber sie ist schon so weit entfernt, dass ich Brutalandas rote und blaue Färbung nur noch als dunklen Punkt am bewölkten Horizont erkennen kann. Wir rufen unsere Pokémon zurück und gehen die letzten Meter zu unserem Haus zu Fuß. "Ich bin aufgeregt", sagt Louis, kurz bevor wir die Tür erreichen. Ich schiele zu ihm. Sein Gesicht hat alle Farbe verloren und seine Finger sind ineinander verknotet. Belustigt hebe ich eine Augenbraue. "So schlimm wird es nicht", beruhige ich ihn. "Für dich vielleicht nicht… oh Gott, Abby, was wenn−" Ich lasse ihn nicht zu Ende reden, sondern betätige die Klingel. Eine nette Freundin hätte ihm vielleicht Zeit gegeben, sich vorzubereiten, aber ich bin nicht unbedingt als nett bekannt. Die Tür schwingt noch im selben Moment auf und ich bezweifle nicht, dass Mama schon auf die Klingel gelauert hat. "Hi Mama", begrüße ich sie grinsend und lasse mich von ihr in eine Umarmung ziehen, die meine Knochen knirschen lässt. "Ich habe dich so vermisst, Abby", flüstert sie und drückt mich von sich, Hände auf meinen Schultern. "Du weißt nicht, wie erleichtert ich bin, dich in einem Stück wieder hier zu haben." "Es war knapp", sage ich grinsend und trete zur Seite. "Darf ich vorstellen, das ist Louis Kale, mein Freund." "Freund?", fragt Mama mit hochgezogenen Augenbrauen und schaut zu Louis, der sie noch nicht überragt, aber ziemlich nah dran ist. "Oder Freund?" "H-hallo Mrs. Hampton!", stottert Louis und ergreift ihre Hand. "Ich fühle mich geehrt, Abbys Mutter kennenzulernen!" "Ignorier ihn", meine ich lachend, packe seine Hand und ziehe ihn hinter Mama hinein ins Haus. "Sonst ist er nicht so nervös." "Also doch Freund", murmelt Mama und zwinkert mir zu. Am Esstisch erkenne ich schon Papa, der seine aufgeschlagene Zeitung auf die weiße Tischdecke legt und sich erhebt, Arme ausgebreitet. Ich werfe mich in seine Umarmung und lasse mich drücken, fester noch als von Mama. Wir mögen unseren Streit beigelegt haben, aber ich werde nie vergessen, dass Papa es war, der mich damals hat ziehen lassen und mir seitdem stets den Rücken gestärkt hat. "Schöne Frisur", stellt er fest und lässt mich wieder zu Boden. Angenehm überrascht fahre ich durch meine rotblonden Strähnen, die inzwischen wieder auf Schulterlänge sind und um die ich mich eindeutig nicht genug gekümmert habe. "Los, legt eure Jacken ab, Mamas Gemüselasagne ist fast fertig." Wir folgen seinen Anweisungen und hängen unsere Jacken, Handschuhe und Brillen in der Garderobe auf. Unsere Pokéballgürtel behalten wir selbstverständlich an. Außer nachts oder in der Dusche lasse ich meine Pokémon seit Monaten nicht mehr von meiner Seite weichen. Mama hat die Lasagne kaum aus dem Ofen gezogen, da donnert Tarik schon mit großen Sprüngen die Treppen herunter und kommt grinsend vor mir zum Stehen. "Willkommen zurück, Abs", begrüßt er mich und zerzaust mein frisch gerichtetes Haar. "Und du bist dann?" "Louis", stellt er sich vor und reicht ihm die Hand. Obwohl Tarik seit meinem letzten Besuch weiter gewachsen ist und Louis überragt, scheint er weniger einschüchternd zu wirken als meine Eltern. Na ja, wer kann es ihm verübeln. Wir schlendern zurück zum Tisch und Tarik lehnt sich zu mir. "Wie weit seid ihr schon gegangen?", flüstert er und als ich hochrot werde, lacht er schallend und klopft mir auf den Rücken. "Kommt schon noch, Abby", sagt er lachend. "Gar nichts kommt", murmele ich und setze mich so weit von meinem Bruder entfernt, wie ich nur kann. Ich bin perverse Kommentare von Caro gewöhnt, aber von meinem Bruder muss ich sie eindeutig nicht auch noch haben. Mama tischt die Lasagne auf, während der Sturm draußen an Kraft zunimmt. Langsam frage ich mich, ob unser Plan, noch heute Abend zurückzufliegen, so eine gute Idee ist. "Louis, erzähl uns von dir", beginnt Papa das Gespräch. "Wie haben du und Abby sich kennengelernt?" Ein breites Grinsen macht sich auf Louis´ Gesicht breit und auch ich muss mit Melancholie an unser ersten Treffen im Dukatia City Pokécenter denken. Wie viel seitdem passiert ist, macht mir ein bisschen Angst. Aber es ist auch… aufregend. "Das ist tatsächlich eine lustige Geschichte", sagt Louis und erwidert schelmisch meinen Blick. "Ich muss ein bisschen ausholen, aber alles begann damit, dass ich mich verlaufen habe…"   Die Unterhaltung plätschert problemlos dahin. Außer dem ein oder anderen Fußtritt, den ich Tarik unter dem Tisch verpassen muss, um ihn in kritischen Moment zum Schweigen zu bringen, genieße ich die Gelegenheit, meinen Eltern von meinen Reisen zu erzählen, und dieses Mal nicht nur von all den Situationen, in denen ich beinahe umgekommen bin. Louis berichtet, mit meiner Unterstützung, von unserer Zeit in Azalea City und wie ich ihn gegen alle Vernunft im Wald vor Hypno gerettet habe, wie wir der Polizei helfen wollten und doch nur mehr Arbeit für Holly gemacht haben und wie ich in Anemonia City bei dem Strudelrennen den dritten Platz gemacht habe. Je länger er von meinen Abenteuern schwärmt, desto mehr vergesse ich, was mich in den letzten Wochen an meiner Aufgabe hat zweifeln lassen. Sicher, ich bin in Gefahr. Meine Pokémon werden weiterhin an der Front stehen. Aber was ich bisher erreicht habe, ist zu wichtig, um es rückgängig machen zu wollen, und meine Erfahrungen in Johto und auch kürzlich in Kanto haben mich wachsen lassen. Ich werfe Louis einen schiefen Blick zu. Nicht nur mich. Was mich jedoch am meisten freut, ist das Leuchten in Mamas Augen, als sie von meinen Erfolgen erfährt. Ich meine sogar, etwas wie Stolz in ihrem Blick aufblitzen zu sehen, als Louis Rockys Lob in Fuchsania City wiederholt und mich dabei ansieht, als hätte ich Team Rocket bereits im Alleingang besiegt. Ich spüre ein Brennen in meinen Augen, als alle Blicke auf mir ruhen, stehe hastig auf und entschuldige mich auf die Toilette. Es ist alles zu viel. Zitternd sitze ich auf dem Klodeckel und tippe eine Nachricht an Amy, damit sie uns erst am nächsten Tag hier abholt. Der Sturm hat an Gewalt zugenommen und ich fühle mich zu gut und trocken, um jetzt noch einen Flug durch das Frühlingsgewitter zu wagen. Als ich zu den anderen zurückkehre, drückt Louis unter dem Tisch flüchtig meine Hand. "Wir würden gerne doch übernachten", sage ich an Mama gewandt, die sofort enthusiastisch nickt. "Bei dem Wetter solltet ihr schön im Haus bleiben", stimmt sie zu, ihre Stimme begleitet von dem rhythmischen Trommeln der Regentropfen auf die Fensterscheiben und dem ein oder anderen Donnergrollen. "Louis kann in Mayas Zimmer schlafen", schlägt Papa vor. Ich nicke und muss mir ein Grinsen verkneifen. Meine Eltern müssen ja nicht unbedingt wissen, dass wir schon oft in einem Bett geschlafen haben, ganz zu schweigen vom selben Zimmer. Besser, sie erfahren nicht alles auf einmal. Der Abend vergeht in entspannter Runde und als wir uns schließlich alle ins Bett verabschieden, fühle ich mich seltsam. Es dauert eine Weile, bis ich das Gefühl als Glück identifiziere. Wenn mir vor zwei Monaten jemand gesagt hätte, dass ich jemals wieder freiwillig einen Fuß in dieses Haus setzen und meinen Aufenthalt sogar genießen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Aber endlich kann ich hier wieder atmen. Es macht einen größeren Unterschied, als ich je erwartet hatte. "Gute Nacht", sage ich zu Louis, der mich schnell am Hals küsst und dann in Mayas Zimmer verschwindet. "Oh, oh, oh", meint Tarik, der natürlich in genau dem Moment den Flur betritt. "Wann soll denn die Hochzeit stattfinden, liebste Schwester?" "Oh, verpiss dich doch, Riki", sage ich und genieße sein Zusammenzucken bei dem alten Spitznamen. "Schlaf gut, Abs", sagt er, piekt mich in die Seite und verschwindet in seinem eigenen Zimmer. Erleichtert atme ich aus, mache mich im Bad bettfertig und verkrieche mich anschließend im letzten Zimmer des Gangs. Meinem Zimmer. Es sieht noch genau so aus, wie ich es verlassen habe. Einzig das Bett ist frisch bezogen. Ich stelle meinen Rucksack unter den Schreibtisch, schnalle meinen Gürtel ab und lege ihn neben meinen seit Ewigkeiten unbenutzten Computer. Ich will schon unter die Laken kriechen, da beginnt einer der Bälle zu vibrieren. Ich weiß anhand seiner Position sofort, dass es sich um Priss handelt und befreie sie mit einem schlecht unterdrückten Seufzen. Meine kleine Prinzessin ist launisch, was ihre Zeit im Pokéball betrifft und heute hatte sie wahrlich wenig Ausgang. "Willkommen in meinem Zimmer", sage ich und klopfe auf die Decke neben mir. "Schläfst du heute bei mir?" Sie gibt ein würdevolles Schnauben von sich, springt aber neben mir auf die Matratze und rollt sich auf dem Kissen neben meinem Kopf zusammen. Mit ihrem wohligen Brummen im Ohr und ihrem flauschigen Fell zwischen den Fingern schlafe ich problemlos ein. Kapitel 110: Auge um Auge (Finale Entscheidung) ----------------------------------------------- Absols Heulen reißt mich aus dem Schlaf, gerade rechtzeitig, um dem Jagdmesser auszuweichen, das auf meinen Kopf zurast. Ich spüre den Biss der Klinge, als sie durch die Haut meiner linken Wange ratscht und blutig aus dem Kissen gezogen wird. Mels unversehrtes Auge betrachtet mich mit unverhohlener Gier. "Hallo, Abby." Regen prasselt auf mein Gesicht und vermischt sich mit dem Blut, das meine Wange herunter tropft. Mit klopfendem Herzen beobachte ich, wie Mel mein Blut von der Klinge leckt. Mein Blick huscht zu den Pokébällen, die außer Reichweite auf meinem Schreibtisch liegen. "Hun-" Mels Hand schnellt auf meinen Mund und erstickt den Ruf, noch während sie ihr Messer an meine Kehle presst. "Shh…", flüstert sie und nickt hinter sich. Arboks Silhouette ist nur spärlich erkennbar, bis ein Blitz mein Zimmer mit gleißendem Licht flutet und die violette Kobra sichtbar macht, die zusammengerollt vor meinem Schrank liegt, Kopf und Hals emporgereckt. Meine Hände, die ich bereits zu Fäusten geballt hatte, erstarren, als ich das quiekende Bündel Fell in ihren Fängen entdecke. Priss. "So sehen wir uns also wieder", zischt Mel und zieht damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Messer drückt schmerzlich gegen meine Kehle. "Ich habe lange auf diesen Moment gewartet, Abby. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich meiner Rache entgegengefiebert habe." Sie schüttelt sich, so als jage allein der Gedanke ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Ihre prominente Nase trieft Regenwasser, das ungehindert durch mein Fenster auf uns herabströmt. Ich schiele flüchtig hoch und entdecke ein kreisrundes Loch im Glas. Das erklärt, wie sie ohne einen Laut in mein Zimmer gelangt ist. "Wie hast du mich gefunden?", frage ich vorsichtig, um meinen Hals nicht weiter gegen die Messerklinge zu drücken. Kaum verlassen die Worte meine Lippen, kenne ich bereits die Antwort. Sie lächelt mitleidig. "Ein dummer Junge im Fernsehen war so freundlich, deine Adresse im gesamten Netz zu verbreiten", sagt Mel und streicht sanft über mein Gesicht, bevor sie die Finger zu Krallen formt und mit ihren Fingernägeln lange rote Striemen in meine Haut ratscht. Priss winselt, ein Laut, der im nächsten Moment durch Arboks feste Umklammerung verstummt. Ich presse meine Lippen zusammen, um keinen Laut von mir zu geben. Nachdem ich Julius´ als Gefahr für Zach ausgeschaltet hatte, erschien mir die Bedrohung durch ihn zerstört, aber natürlich habe ich mir in dem Gefecht mit ihm eine Blöße gegeben. Ich hatte nicht damit gerechnet, Mel nach so langer Zeit hier wiederzutreffen, aber so wie ich sie kenne, ist sie mir seit Wochen auf den Fersen und hat nur auf eine Gelegenheit gewartet, mich verletzlich und alleine vorzufinden. "Und jetzt?", frage ich bemüht ruhig, aber ich kann nicht verhindern, dass ein leichtes Zittern in meine Stimme schleicht. "Wirst du mich töten? Atlas wird das gar nicht gefallen." "Rede nicht so, als verstündest du etwas von seinen Plänen", faucht Mel tonlos. "Ich werde dich nicht töten. Noch nicht. Du wirst dich jetzt sehr langsam erheben und mit mir das Haus verlassen. Ein Wort, und Arbok beißt deinem Evoli den Kopf ab. So schwach, wie es aussieht, wird es ihren Knirscher nicht überleben." Ich schaue schnell zurück zu Priss, die in Arboks Fängen festgehalten wird. Mel hat Recht. Die Leveldiffernz liegt bei fast 40 und Arboks lange, gifttriefende Fänge werden Priss schneller ausschalten, als Hilfe mich erreichen kann. Selbst Hunter wird nicht rechtzeitig zur Stelle sein, sollte ich ihn rufen. Mir bleibt nur, Mels Anweisungen zu folgen und zu hoffen, dass ich draußen meine Chance bekomme. Langsam erhebe ich mich, Mels Messer stets an meiner Kehle. Ich setze mich auf, fühle mich plötzlich noch verwundbarer als ohnehin, als ich meinen alten Pokéballschlafanzug mit Mels schwarzem Kapuzenpullover und den enganliegenden schwarzen Stiefeln vergleiche. Schlammspritzer reichen bis über ihre Knie. Erst, als ich stehe, schlingt sie einen Arm in meinen linken Ellenbogen und hält mich in einem Polizeigriff, der meine Schulter an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringt. Mit dem anderen Arm zieht sie mich eng an ihren Körper, Messer stets an meiner Kehle. Tränen schießen mir in die Augen, aber ich halte mich unter Kontrolle, schaue nur zu Priss, die mit angsterfüllten Augen zu mir blickt. Sie zittert am ganzen Leib. Mel schiebt mich vorwärts durch die Tür und hinaus in den pechschwarzen Flur. Jeder Schritt, den ich mache, lässt mein Herz heftiger schlagen. Es gibt Holzdielen und Treppenstufen, die knarzen oder quietschen, wenn man nicht vorsichtig ist und ich habe das ungute Gefühl, dass Mel sich nicht darum schert, wie ein Geräusch zustande kommt, wenn wir dadurch entdeckt werden. Langsam lasse ich mich von ihr den Gang entlang und die Treppen hinunter führen. Mel folgt meinen Schritten mit gespenstischer Präzision und Arbok schlittert geräuschlos hinter uns über die Stufen. Priss atmet nicht mal, bis wir das Erdgeschoss erreicht haben. Erst, als Mel an mir vorbeigreift und die Eingangstür aufstößt, gibt sie ein panisches Fiepen von sich, zu leise, um durch die Türen der Schlafzimmer zu dringen, aber laut genug, um Mel herumfahren zu lassen. Arbok verstärkt instinktiv seine Umklammerung und schnürt Priss weiter Blut- und Luftzufuhr ab, aber das hält mein jüngstes Teammitglied nicht davon ab, in Angesicht des Platzregens mit den Beinchen zu strampeln. "Sie hat Angst vor Wasser", flehe ich, werde aber durch einen heftigen Ruck an meinem Arm daran erinnert, dass Mel sich einen Dreck darum schert. Gewaltsam schiebt sie mich hinaus in den tosenden Sturm. Regen durchnässt mich in Sekundenschnelle bis auf die Haut und eiskalter Wind peitscht mein Haar und meinen Schlafanzug gnadenlos umher. Kalter Schlamm quillt durch meine Zehen. Wir sind kaum zwei Schritte durch den Matsch gestapft, da klappere ich schon hilflos mit den Zähnen. Jeder Schritt, den ich mache, ist begleitet von dem Geräusch eines feuchten Saugnapfes, der sich löst. Arbok schlängelt sich mühelos durch den Regen, Priss pitschnass und zitternd in seinem Maul. Mein Herz zieht sich bei ihrem Anblick zusammen. Mel schiebt mich weiter vor, tritt mir in die Kniekehle, als ich mit meinem Fuß im Schlamm stecken bleibe und lacht hysterisch, als ich vorwärts stolpere und der Schmerz in meiner Schulter sich ins Unerträgliche steigert. Der Regen legt sich wie ein grauer Vorhang vor meine Augen. Es dauert einige Minuten, bevor ich verstehe, wohin sie mich bringt. Östlich unseres Hauses, hinter dem Steg, der zur Anlegestelle der Schiffe führt, ist ein schmaler Streifen steiniger Strand, der nur bedingt zum Schwimmen oder Angeln geeignet und daher selbst tagsüber meist verlassen ist. Schlamm weicht Kieseln, Sand und kleinen Felsen, die mir in die Fußsohlen schneiden. Schweratmend und mit gesenktem Kopf schiele ich zurück. Der Regen wäscht mein Blut fort, sobald ich den nächsten Schritt mache, aber ich spüre, wie sich einige der scharfen Kanten in meine Fußunterseite bohren. Ein Blitz erhellt kurzzeitig den Himmel und einige Sekunden später übertönt Donner Priss´ verzweifeltes Winseln, die beim Angesicht des Strandes mit den aufschäumenden Wellen Geräusche von sich gibt, die mir alle Haare zu Berge stehen lassen. Ich zische, als Salzwasser über meine Füße schwappt. Mel stößt mich ins Wasser, wo ich mich spuckend und prustend auf den Rücken drehe, nur um ihr in das verbliebene Auge zu sehen, während sie über mir steht. "Wir werden eine Menge Spaß zusammen haben, Abby", sagt sie, nimmt die Messerklinge in den Mund und geht über mir in die Knie. Meine Ellenbogen protestieren gegen das Gewicht, das ich auf sie stütze, aber auch so schwemmt das Wasser erbarmungslos über mich. Aufspritzende Gischt trifft auf den Schnitt in meiner Wange und das Salz beißt höllisch. Mel legt andächtig ihre Hände an meine Kehle, ihre Fingernägel in meinen Nacken gekrallt. Ich bocke unter ihr, versuche, mich zu befreien, aber Arboks bohrender Blick trifft meinen, als es die Fänge um Priss´ Hals aufblitzen lässt. Meine Gegenwehr kommt zum Erliegen. Mel lächelt süffisant und drückt mich unter Wasser. Mein erster Instinkt ist, um mich zu schlagen und meine Augen zusammenzukneifen, aber umgeben von Meerwasser fehlt mir die Kraft und Mels Finger drücken zusätzlich so fest auf meine Luftröhre, dass ich das Gefühl habe, doppelt zu ersticken. Ich zwinge meine Augen offen, beobachte das helle Schemen über mir, die verschwommenen Hände, die durch die Meeresoberfläche tauchen. Salzwasser brennt in dem Schnitt auf meiner Wange, meinen Füßen, den Kratzern an meinem Nacken, meinen Augen. Spitze Steine bohren sich in meinen Rücken. Während meine Sicht schummrig wird, meine Lungen brennen, das Bedürfnis zu atmen immer größer wird, taste ich mit den Fingern über den Untergrund. Sand. Steine. Meine Hand umschließt ein rundes Exemplar, klammert sich an die kalte, glatte Oberfläche, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Mels Griff lockert sich und sie reißt mich aus dem Wasser, erlaubt mir einige hustende Atemzüge, bevor sie mich wieder nach unten drückt. Meine Lunge brennt, als sie mich noch länger unten lässt. Meine Augen sind geöffnet, aber schwarze Flecken wabern am Rand meines Sichtfelds. Sie zerrt mich empor. Halb bewusstlos spucke ich Wasser, atme, bis ich nur noch kraftlos in ihrem Griff hänge, Hand immer noch wie festgefroren um den Stein geklammert. "Süße, komm her", ruft Mel Arbok zu, das sich gehorsam in Bewegung setzt und neben uns im seichten Meerwasser zum Stillstand kommt. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung öffnet Arbok seine Kiefer, lässt Priss ohne Umschweife ins schäumende Wasser fallen und schlingt sich im nächsten Augenblick um mich. Priss kreischt, prescht davon und kommt zitternd am Ufer zum Stehen. Arbok verschiebt seinen muskulösen Körper, bis ich in halb aufrechter Position vor Mel gefesselt bin. Regen prasselt auf uns alle herab. Auf Mel, deren blonde Strähnen sich aus dem Dutt befreit haben und platt an ihrem Kiefer kleben. Auf mich. Auf Priss, die sich flach auf den Boden presst und mit angsterfüllten Augen von mir zu Mel schaut. Ich nehme Augenkontakt auf, Stein noch immer in meiner Hand. Arbok fixiert mich, fest genug, dass ich meine Arme nicht heben kann. Flehend schaue ich Priss an. Sie nimmt Reißaus und stürzt davon. "Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung?", fragt Mel, nimmt das Messer wieder in den Mund und macht sich mit beiden Händen an ihrem Hinterkopf zu schaffen. Ich beobachte sie wachsam, wage nicht zu sprechen, aus Angst, einige Sekunden des unbeschwerten Atmens zu verpassen. "Du hast mir das hier vermacht", flüstert sie an dem Metall vorbei und lässt ihre Augenbinde sinken. Die leere Höhle ihres rechten Auges, das unsauber zusammengewachsene Narbengewebe, lässt mich innerlich zusammenzucken. Nach außen gebe ich keine Reaktion preis. Sie lässt die Binde ins Wasser fallen, greift nach dem Messer und gibt Arbok ein stummes Zeichen. Die Kobra spannt alle Muskeln an und hält mich so fest, dass ich keinen Finger mehr rühren kann. Ich schließe die Augen, zwinge mich, nicht hinzusehen, bei was auch immer Mel mit mir vorhat. Plötzlich spüre ich zusätzlich zur kalten Nacht die beißende Klinge von Mels Messer, die meinen Wangenknochen entlang streift. Ich reiße die Augen auf. Mel lächelt und lässt die Waffe höher wandern, bis die Spitze direkt unter meinem rechten Augapfel zum Stillstand kommt. "Auge um Auge", murmelt sie und baut zaghaft Druck auf. Mein Herz springt mir förmlich aus der Brust, während ich versuche, mich so weit wie möglich in Arboks Griff nach hinten zu manövrieren. Ich habe mit vielen Dingen gerechnet, gebrochene Knochen, Narben, aber nicht damit, mein Auge zu verlieren. Die Vorstellung zischt in Rekordtempo durch meinen Kopf. Mel, die mit dem Messer meine Haut durchsticht, mein Auge heraushebelt, als wäre er der Kern einer reifen Frucht. Der Schmerz. Ich schreie. Ein Fauchen ertönt und Mel reißt den Kopf herum, mein Auge für den Moment vergessen. Durch den Regenschleier halb verdeckt stürzen drei Pokémon über den Steinstrand in unsere Richtung. Ich schluchze auf, als ich Sku erkenne, deren rote Augen in der Nacht leuchten, über ihr Hunter mit weit ausgebreiteten Flügeln, sein Schnabel zum Angriff leicht geöffnet. Angeführt wird die Gruppe von Priss. Türkisblaue Schuppen bedecken ihren ganzen Körper, abgespreizte Schwimmhäute beben im tosenden Sturm und die lange Flosse ist aggressiv über ihrem Körper emporgehoben. Priss katapultiert sich vorwärts und springt in einem verzweifelten Tackle auf Mel zu. Arbok löst sich, schießt vor, um Priss mit seinen gebleckten Fängen aus der Luft zu packen, doch Hunter kommt ihm zuvor, greift Aquana mit seinen Krallen aus der Luft und zerrt es im letzten Moment aus der Angriffslinie. Mel wendet sich fauchend wieder in meine Richtung. Mein Stein trifft sie mit voller Wucht in die Schläfe. Schwer atmend beobachte ich, wie Mels Auge in seiner Höhle nach hinten kippt, bis nur noch das Weiße zu sehen ist. Tonlos fällt sie in sich zusammen und landet im Wasser. Arbok gibt ein verzweifeltes Zischen von sich und macht Kehrt, um mich anzugreifen. Ich springe zur Seite, weiche seinem Biss aus und umklammere meinen Stein, bereit, ihn auch gegen Mels Pokémon zu verwenden. "Priss, unterstütz die anderen mit Rechter Hand!", schreie ich gegen den tobenden Sturm. "Hunter, Sku, Offensive, Schlitzer und Fliegen!" Arbok reißt den Kopf aus dem Meerwasser, aber in seiner Verfolgung ist es weit vom Strand abgekommen und droht nun, den Halt zu verlieren. Es schlängelt sich mit den Wellen zurück zum Strand, wo es Mel umschlingt und seine Trainerin zurück an den Strand zerrt, sodass sie nicht Gefahr läuft, zu ertrinken. Ich will schon aufatmen, da schaut es sich um und sein Giftblick trifft mich bis ins Mark. Die Paralyse ergreift meinen gesamten Körper und plötzlich fällt es mir sehr schwer, nicht selbst unterzugehen. Prustend und spuckend lege ich meinen Kopf in den Nacken, zwinge mich, meinen Mund an der Luft zu halten, auch wenn der Regen mein Vorhaben erschwert. Priss jault und springt ins Wasser, als sie sieht, wie ich mit den Wellen kämpfe, die meinen tauben Körper unter Wasser drücken wollen. Agil wie ein Fisch taucht sie in meine Richtung, kommt unter meinem Arm zum Stillstand und stützt mich so gegen den brausenden Ozean. Sie gibt einige schrille Rufe von sich, die Hunter und Sku voller Elan erwidern. Sie motivieren sich gegenseitig, denke ich noch, da schießt Hunter schon in die Lüfte, lässt sich vom Wind tragen, nur um im Sturzflug auf Arbok niederzupreschen, das versucht, Skus fingerlange Krallen mit seiner Schlammbombe fernzuhalten. Die erste streift Sku nur an der Flanke, die zweite verfehlt völlig, aber die dritte trifft sie mitten ins Gesicht und Sku wird zurückgeschleudert, die supereffektive Bodenattacke selbst für sie problematisch. "Bleib dran!", rufe ich ihr zu, während Arboks vierte Schlammbombe von Hunters Flugangriff unterbrochen wird. Die Kobra wird ins Wasser geworfen, ihre zahlreichen Kratzer und Wunden färben die Meeresoberfläche kurzzeitig rot, bevor das Blut sich in der schäumenden Gischt verliert. Sku rappelt sich mühsam wieder auf, Fell verklebt mit dem schwarzbraunen Schlick, den Arbok auf sie gespuckt hat. Priss` ganzer Körper ist angespannt. Ihre Ablenkung hat mir die Möglichkeit gegeben, Mel niederzuschlagen, die immer noch bewusstlos auf den Steinen liegt, während ihr Körper von den Wellen aufgeschwemmt wird. Ich bin erleichtert, dass Arbok sie aus dem Wasser gehievt hat. Sie mag meine bitterste Feindin sein, aber töten will ich sie nicht. Arbok bricht durch die Oberfläche und schleudert sich Sku entgegen, die der Schlammbombe nur um Haaresbreite entkommt. "Hunter, feuer zurück mit Spiegeltrick!", befehle ich und beobachte durch den peitschende Regen, wie er Arboks Attacke imitiert, durch den aufgeweichten Boden pflügt und das Giftpokémon mit einer improvisierten Schlammbombe überrascht. Arbok zischt frustriert, als die Bodenattacke seine Augen trifft und die Giftporen zwischen seinen Schuppen verstopft. Skus Schlitzer durchbricht seine Verteidigung und fügt der Kobra einen langen Schnitt zu, der die gesamte Körperlänge abdeckt. Der schwere, fast vier Meter lange Schlangenkörper schlägt auf den Steinen auf, nicht unweit von Mel entfernt, die noch immer blutend und bewusstlos am Strand liegt. Während die Paralyse langsam an Wirkung verliert und ich mit Priss´ Hilfe zurück zum Ufer wate, fliegt Hunter mit einem liebevollen Krächzen zurück zu unserem Haus. Die drei müssen so schnell sie konnten hergekommen sein und hatten wohl kaum Zeit, meinen S-Com zu suchen oder jemanden auf mein Verschwinden aufmerksam zu machen, auch wenn ich bezweifle, dass sie geräuschlos das Haus verlassen haben. Erst, als ich schon halb aus dem Wasser gestiegen bin, wird mir bewusst, dass ich meinen Stein weiterhin fest umklammert halte. Im eiskalten Meerwasser sind meine Finger steifgefroren, aber ich zwinge meine Hand, sich zu öffnen. Mit einem Platschen versinkt er im Meer. Ich wische das Blut von meiner Wange, das dank des Regens mein Kinn herabtrieft und betaste vorsichtig die Wunde. Mels Klinge hat tiefer geschnitten, als ich dachte. Mein Blick gleitet zu dem Rocket-Mitglied, das Ruth und mich im Flegmonbrunnen fast umgebracht hat. Jetzt liegt sie hilflos zu meinen Füßen. Mit der linken Hand packe ich die Kapuze ihres vollgesogenen Pullovers und ziehe sie hinter mir an Land. Arbok gibt ein verzweifeltes Zischen von sich, als seine Trainerin von ihm weggezerrt wird, rafft sich auf und schlängelt halb bewusstlos hinter uns her. Kaum, dass ich Mel am Ufer loslasse, rollt es sich beschützend um seine Trainerin, zieht sich einige Male zusammen, bis Mel etwas Meerwasser aus dem Mund läuft und schließt endlich besiegt die Augen. Erschöpft sinke ich in die Hocke. Sku und Priss schmiegen sich sofort an mich. "Danke für die Rettung", flüstere ich und streiche den beiden über den Kopf. "Ihr wart großartig. Vor allem du, Priss. Du bist ein wundervolles Aquana. Hundemon wird deine Entwicklung lieben." Peinlich berührt, aber hochzufrieden, leckt Priss sich über die die Brustschuppen und legt ihre Flosse ordentlich um ihre Hinterläufe. Gerade habe ich mich wieder aufgerichtet, um Mel in Augenschein zu nehmen, da erklingen Rufe vom Haus aus. Meine ganze Familie kämpft sich durch den Regen, Arme schützend vor ihre Gesichter gehoben, Schlafanzughosen und Nachthemden schlammbespritzt. Über ihnen rauscht Hunter durch den Sturm und landet mit etwas Mühe vor mir im Kies. Louis springt von seinem Rücken und zieht mich augenblicklich in eine Umarmung. Lächelnd erwidere ich die Geste und lasse mir von ihm über den Rücken und durch die Haare streichen. Lousi löst sich und sein Blick fällt auf den Schnitt an meiner Wange und weiter hinunter zu meinem Hals, der den ein oder anderen Bluterguss und Kratzer abbekommen haben muss. Er knirscht mit den Zähnen und wirft Mel einen angewiderten Blick zu. „Sie gibt nie auf, oder?“, fragt er bitter. „Ist alles okay? Geht es dir gut?“ Ich denke kurz über seine Frage nach und schaue meinerseits zu Mel, deren Augenlider flackern, so als würde sie jeden Moment erwachen. Noch liegt sie jedoch am Boden, umwickelt von vier Metern Schlange. „Es geht mir gut“, erwidere ich schließlich, überrascht, wie wahr es ist. „Ich bin einfach nur erleichtert, dass es vorbei ist, glaube ich. Alle Rockets haben mir mit Mels Rache gedroht und jetzt ist sie hier und es ist vorbei.“ Ich grinse breit. „Was kann jetzt noch groß passieren?“ „Du bist unfassbar“, lacht Louis, bevor Mama mich ihm förmlich aus den Armen reißt, mich schluchzend umarmt und mein Gesicht betastet. „Abby, Gott sei Dank geht es dir gut. Was ist passiert? Und was ist−“ Sie schaut zu Mel, die in dem Moment benommen ihre Augen öffnet und hustet. Sie gibt einen erschrockenen Laut von sich. Ich löse mich abrupt und stelle mich beschützend vor sie, Sku und Priss fauchend an meiner Seite, während Hunter nur von einem Fuß auf den anderen hopst, froh, endlich wieder mit von der Partie zu sein. „Louis, hast du meinen S-Com?“ Er wirft mir das Gerät zu. „Holly und Rocky sind schon informiert“, sagt er und greift nach einem seiner Pokébälle. Im nächsten Moment materialisiert sich sein Sarzenia Harley und fesselt Mel auf sein Zeichen hin mit ihren Ranken. Ich nicke und schreibe eine kurze Nachricht an die anderen Team Shadow Mitglieder, damit nicht versehentlich alle neun vor meiner Haustür auftauchen. Während ich von Papa und Tarik umarmt, beruhigt und kritisch begutachtet werde, erklingt in schnellen Abständen das Pling von eingehenden Nachrichten.   Von: Dark_01 An: Abbygail_Hampton_04 »Gute Arbeit.   Von: Amy_Heartoline_08 An: Abbygail_Hampton_04 »Es tut mir so leid!!! >o< »Ich hätte die Nacht über Wache halten sollen… »Ich komme sofort und weiche euch nicht mehr von der Seite!!! ^-^   Von: Melissa_Border_09 An: Abbygail_Hampton_04 »Sag bloß, es ist dir gelungen, ganz alleine einen anderen Trainer zu besiegen. »Das muss ein großer Moment für dich sein. »Soll ich ein Blumenbouquet für deine glorreiche Rückkehr arrangieren?   Melissas Nachricht hätte lustig sein können. Wenn ich sie gemocht hätte, zum Beispiel. Wie die Dinge stehen, presse ich frustriert meine Lippen aufeinander. Sie soll sich erstmal selbst gegen Team Rocket beweisen, bevor sie große Reden schwingt. Unwirsch will ich meinen S-Com an meinem Gürtel befestigen, merke zum wiederholten Mal, dass ich in einem pitschnassen Schlafanzug am Strand stehe und mir verdammt kalt ist und werfe das Gerät stattdessen Louis zu, der es grinsend fängt. Papa betastet mit beunruhigtem Gesichtsausdruck meine Wange. „Das muss genäht werden“, stellt er fest und lässt von mir ab. Resigniert nicke ich. Noch eine Narbe mehr macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Das Bild von Mels Jagdmesser unter meinem Auge flimmert in meinen Gedanken auf und ich schüttele rasch den Kopf, um es zu vertreiben. Es hätte wesentlich schlimmer enden können. Louis verspricht, Mel im Auge zu behalten, bis Amy und die Polizei eintreffen und gibt mir die Möglichkeit, zum Pokécenter zu fliegen. Papa will mich begleiten, aber auf Hunters Rücken zu steigen, ist ihm dann doch nicht geheuer und so ist es Mama, die in einem Anflug ungeahnter Willensstärke ihr Nachthemd an den Säumen aufrafft und hinter mir auf mein Pokémon steigt. Bis zum Center sind es nur wenige Minuten Flug, wenn auch ein holpriger, denn der Sturm lässt nicht nach und als wir schließlich landen, bin ich so durchgefroren, dass Joy uns ohne Umschweife in dicke Decken wickelt, bevor sie mich ins Behandlungszimmer scheucht. „Du meine Güte“, sagt sie und reibt sich die rot unterlaufenen Augen. „Kaum bist du wieder unter uns, ist meine Nachtruhe dahin“, scherzt sie und betastet vorsichtig meine Wange. „Ah ja“, nickt sie. „Muss es genäht werden?“ „Nur ein paar Stiche, keine Sorge“, beruhigt sie mich. „Das haben wir gleich geschafft.“ Als ich etwas später zusammen mit ihr und meiner frisch genähten und betäubten Wange in den Hauptraum trete, entdecke ich Holly, die in einer angeheizten Diskussion mit Mama zu stecken scheint. Jack, der es sich mit einer dampfenden Tasse unbekannter Flüssigkeit an einem der Tische gemütlich gemacht hat, trinkt und schweigt. „-immer in Schwierigkeiten“, fährt Holly mit kalter Ruhe fort. „Wir können ihr Verhalten nicht mehr länger dulden.“ „Wenn die Polizei sich nicht auf Kinder verlassen müsste, um ihre Arbeit zu machen, würden sie das nicht müssen“, erwidert Mama hitzig. Jack rutscht tiefer in seinen Sitz und schielt zu Holly hoch, die kreidebleib geworden ist. Ihr Blick fällt auf mich und verdüstert sich, doch statt etwas zu sagen, dreht sie ohne ein Wort um und lässt uns mit Jack alleine zurück. „Ah, haha, das tut mir leid“, lacht er und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Sie steht unter Stress, so wie wir alle. Abby, gut dich wieder zu sehen. Was macht deine Verletzung?“ „Nichts Wildes“, erwidere ich grinsend und schlage in seine dargebotene Hand ein. „Wir werden morgen wegen der Verhöre wiederkommen“, erklärt er, trinkt seine Tasse aus und erhebt sich. „Du willst sicher erstmal schlafen. Besonders erholsam war die Nacht sicher nicht.“ „Was du nichts sagst“, meine ich lachend und lasse mich von ihm und Mama nach draußen begleiten. Der Sturm ist ein wenig abgeflaut, aber der Regen hört und hört nicht auf. „Mel nehmen wir in Gewahrsam“, fährt er fort. „Es ist zwar ein halbes Jahr her, aber es wird einen guten Eindruck machen, dass einer der Verbrecher aus Azalea City endlich gefasst wurde. Zumal ihr damaliges Opfer für die Festnahme verantwortlich ist. Wie sieht es im Übrigen aus, Abby? Rocky wird dich morgen persönlich fragen, aber es schadet nichts, wenn du dir schon mal Gedanken darüber machst. Sollen wir deine Beteiligung an der ganzen Sache vertuschen? Du hast sicher genug Aufmerksamkeit von Team Rocket und euer Superhelden-Team hält sich schließlich auch seit Wochen bedeckt.“ „Ich halte das für klug“, sagt Mama sofort. „Diese… diese Mel, sie ist nur hier, weil Abbys Identität bekannt wurde und sie uns so finden konnte. Sie ist in das Zimmer meiner Tochter eingedrungen! Wenn die Polizei die Verantwortung für die Verhaftung übernehmen würde, wären wir sehr dankbar.“ Sie schaut zu mir und fragt, etwas verspätet, „Nicht wahr, Abby?“ „Eigentlich“, beginne ich und genieße die Überraschung in den Gesichtern der beiden, „hatte ich eine anderen Idee.“ Jacks Augen blitzen. „Dein Blick gefällt mir.“ Ich schaue hinauf in den schwarzen Himmel, wo ich Amys und Brutalandas Silhouette am silbrigen Horizont ausmachen kann. „Wir haben lange genug Verstecken gespielt“, sage ich und fange Jacks Blick auf. Ein wölfisches Grinsen schleicht sich auf meine Züge „Ab jetzt mache ich Ernst.“ Kapitel 111: Live (Heldendebut) ------------------------------- "Nenn mir einen Grund, warum ich nicht sofort auflegen sollte", sagt Ruth am anderen Ende der Leitung. Zufrieden lehne ich mich auf unserem Sofa zurück. Louis´ Kopf ist auf meinen Oberschenkel gebettet. Er schnarcht leise. "Du würdest doch nicht deine liebste Rivalin abwimmeln wollen", spotte ich vergnügt. "Nicht, wenn sie gute Neuigkeiten für dich hat." "Wenn du vorhast, die Region zu wechseln und mich nie wieder zu belästigen, sag es jetzt", schnaubt Ruth. "Das würde mir tatsächlich den Tag versüßen, auch wenn du dir den Anruf hättest sparen können." Grinsend fahre ich durch Louis´ blondes Haar und ignoriere geflissentlich das höllische Jucken der Naht in meiner Wange. "Dann interessiert es dich also nicht, dass Mel mich gestern Nacht in meinem Zimmer überrascht hat, ich sie überwältigt habe und sie von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde?" "Was?!" Ich halte das Handy instinktiv von meinem Ohr weg. Muss sie immer so kreischen? "Wie kann das sein?", fährt sie leiser fort. Ihr muss eingefallen sein, dass sie die Tochter der Hafenbesitzer in Oliviana City ist und sich nicht von Pöbel wie mir aus der Fassung bringen lassen sollte. "Sie haben Mel", wiederhole ich und verzichte dieses Mal auf meine Imitation ihres herrischen Tons. "Ich dachte, es würde dich beruhigen, von ihrer Festnahme zu erfahren. Wir sind sicher, Ruth. Das ist deine Gelegenheit, mir zu danken und zu beweisen, dass du keine arrogante und verhätschelte Zicke bist." "Deine Wahnvorstellung kennt keine Grenzen, Abby", sagt Ruth. "Wenn du glaubst, ich danke dir dafür, mich in diese Sache hineingezogen zu haben, liegst du sehr falsch." "Ich habe dich nirgendwo reingezogen!", protestiere ich gereizt. "Du hast mich mit Team Rocket im Flegmonbrunnen eingesperrt. Es ist deine Schuld, dass du auch geschnappt wurdest, nicht meine." "Hättest du mich nicht in aller Öffentlichkeit bloßgestellt, wäre ich nie in diese Situation geraten", faucht Ruth sofort zurück. "Oh, tut mir leid, dass du an maßloser Selbstüberschätzung leidest und nicht mal gegen das Mädchen von der Müllhalde gewinnen konntest..." "Pass auf, was du sagst, Abby", flüstert sie bedrohlich. "Ich kann dir dein Leben noch immer zur Hölle machen. Hast du vergessen, dass ich dir in Oliviana City geholfen habe?" "Hast du vergessen, dass ich dir im Brunnen das Leben gerettet habe?" Wir schweigen einander wütend an. "Nun, es ist in jedem Falle vorteilhaft, dass Mel festgenommen wurde", gibt Ruth schließlich zu. "War das alles, was du mir mitteilen wolltest?" "Warum schaltest du am 31. März nicht um sechs Uhr abends bei PCN ein", schlage ich unschuldig vor. "Es könnte dich interessieren." "Ich soll mir dieses niveaulose Geplänkel antun?", erschallt ihre ungläubige Stimme. "Du hältst mich wohl für total bescheuert." "Vertrau mir", sage ich grinsend und kneife Louis in die Nase, als er schläfrig die Augen öffnet. "Du willst es nicht verpassen." Ohne ein weiteres Wort lege ich auf und werfe das Handy auf den Wohnzimmertisch. Soll sie sich darauf einen Reim machen, wenn sie will. Ich werde sicher nicht versuchen, sie zu überzeugen. Ich habe besseres zu tun. Louis in die Nase kneifen, zum Beispiel.   Dank der Verhöre, die ich über mich ergehen lassen muss, verbringen Louis und ich den nächsten Tag bei meinen Eltern. Amy, die kurz nach unserem Pokécenterbesuch zurückgekehrt ist, hat die gesamte Nacht über Wache gehalten und verschläft den Rest des Tages in Mayas Bett. Als wir das Abendessen hinter uns gebracht haben, wecke ich Amy, die benommen ihre Augen reibt. "Müssen wir schon los?", fragt sie müde. Ich werfe Louis einen verschmitzten Blick zu und nicke in Richtung Amy, deren blonde Locken abstehen und heillos verknotet wie ein Vogelnest auf ihrem Kopf sitzen. "Willst du nicht schnell zu Ronya zurück?", frage ich. Meine Worte haben den erwünschten Effekt, denn Amy wirft sich mit neuem Elan in ihre Morgenroutine und braucht nur etwa eine halbe Stunde, um ihr Haar in einem Zopf zu bändigen, sich umzuziehen und zur Haustür hinauszustürzen. "Ich werde mich die nächsten Wochen nicht regelmäßig melden können", erkläre ich Mama, während ich sie zum Abschied umarme. "Aber ich werde nichts gefährliches machen, also keine Sorge, okay?" "Ich weiß ja nicht, Abby…" Sie streicht mit einer Hand über meine genähte Wange. "Du scheinst Gefahren anzuziehen, wenn ich den Geschichten deines Freundes glauben kann." Wütend schiele ich zu Louis, der mir verlegen die Zunge herausstreckt. "Er übertreibt", sage ich. "Ich werde in guten Händen sein. Versprochen." "Lass sie, Natalie", kommt Papa mir zu Hilfe und umarmt mich ebenfalls. "Unsere Tochter hat sich gestern Nacht ganz alleine gegen ein hochrangiges Mitglied von Team Rocket behauptet. Wenn sie Unterstützung von ihren Freunden hat, wird ihr nichts passieren. Sie kann auf sich aufpassen." Dankbar gebe ich ihm einen schnellen Kuss auf die Wange und schwinge mich auf Hunters Rücken, der bereits aufgeregt mit den Flügeln schlägt. Ich ziehe meine Flugbrille über meine Augen, zurre ein letztes Mal an meinen Handschuhen und steige gekonnt mit ihm in die Lüfte. "Louis, steig bei mir auf!", ruft Amy ihm zu, als er gerade seine Klettergurte anzieht. Er hält in seiner Bewegung inne. "Na komm, Louis!", rufe ich ihm von oben herab zu, wo Hunter bereits ungeduldig Kreise fliegt. "Du willst doch sicher mal einen Looping fliegen, oder nicht?" Wie auf mein Zeichen steigt Hunter steil hinauf, lässt sich im Wind zurückkippen und fliegt einige Sekunden auf dem Rücken, während derer ich jauchzend und kopfüber herabhänge. Bevor Mamas erschrockener Schrei verklungen ist, hat er uns schon wieder in Normallage gebracht. Ein Grinsen breitet sich auf Louis´ Gesicht aus. Er klettert vor Amy auf Brutalandas breiten Rücken. Als die beiden empor schießen, glitzern seine Flügel im Schein der untergehenden Sonne wie zwei rote Halbmonde. Amy fliegt an mir vorbei und überholt Hunter und mich mühelos. Meine Schenkel pressen sich in Hunters Flanken, der meinem Befehl nur zu gerne nachkommt und gemeinsam jagen wir Louis´ und Amys freudigen Schreien hinterher.   ooo   "Hier…", sage ich und fahre mit dem Finger über die Landkarte, die Dark auf dem Tisch im Seminarraum ausgebreitet hat, "…und hier." Ich schaue auf und treffe die Blicke der versammelten Mitglieder. "Das sind die Orte, an denen Löcher gefunden wurden. Team Rocket hat angekündigt, diese Höhlen im Mai zu sprengen. Wir wissen nicht, wann sie zuschlagen, also sollten wir uns frühzeitig verteilen." Dark nickt mir zu und ich fahre fort. "Ryan wird hier in Prismania City bleiben", erkläre ich, schreibe seinen Namen auf die Karte und umkreise ihn mit schwarzem Filzstift. "Wir brauchen jemanden, der die Server im Auge behält und unsere Kommunikation überwacht. Außerdem kann er notfalls umliegende Rockets abfangen, auch wenn wir hier weit von allen Gefahrenzonen entfernt sind, und das Hauptquartier verteidigen, sollte es entdeckt werden. Einwände?" Ryan verzieht das Gesicht, als er meiner Logik nichts entgegensetzen kann, schüttelt aber den Kopf. Ich nicke grimmig. "Wir sollten Städte übernehmen, die uns bekannt sind. Gerard, können wir dir Dukatia City anvertrauen? Der Untergrund könnte von Team Rocket infiltriert werden und wenn es östlich zu Problemen kommt, bist du nur einen kurzen Flug entfernt." "Natürlich kann ich Dukatia übernehmen!", faucht er in gekränktem Stolz. "Wofür hältst du mich?" "Wunderbar", erwidere ich und ignoriere seinen Tonfall dabei mit Leichtigkeit. "Ich werde dich bei Caro und Richard ankündigen. Er wird bald zu ihr stoßen, um mit ihr nach Craigs Kontakten Ausschau zu halten. Als nächstes… Ronya. Du hast kein Flugpokémon, daher will ich dich direkt vor Ort. Marmoria City ist von hier aus der zentralste Problempunkt und wenn es eng wird, kannst du die Digdas Höhle durchqueren. Schneller wirst du nirgends in Kanto zu Fuß hinkommen und auf Entei bist du für die waldigen Wege am besten geeignet. Einverstanden?" Sie nickt und lächelt, offenbar zufrieden mit ihrer Position. Ich hole tief Luft und schaue wieder zu Dark, der meine Pläne zwar schon durchgewinkt, mir aber heute den Vortrag überlassen hat. In letzter Zeit hat er mich immer öfter machen lassen. Ich glaube, er bereitet mich darauf vor, während des Kampfes die Organisation zu übernehmen, genauso wie er den Rest des Teams daran gewöhnt, mich in der Führungsrolle zu sehen. Er selbst wird mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein, sollte alles nach Plan laufen. "Jayden, du hast gute Kontakte zu Jens", fahre ich fort. "Würdest du Teak City abdecken?" "Klar, kein Ding", meint er grinsend. "Sehr gut", sage ich erleichtert. "Ich habe dort ebenfalls jemanden, mit dem du dich in Kontakt setzen kannst. Ich gebe dir ihre Nummer, wenn wir hier fertig sind. Dark hat sich bereiterklärt, in Fuchsania City Stellung zu beziehen. Wenn wir eine Möglichkeit sehen, Verstärkung der Rockets von den Eilanden abzufangen, ist er ihnen dort am nächsten. Damit bleiben einige Posten offen, die frei besetzbar sind. Lavandia, Ebenholz City, Azalea City, Anemonia City und Viola City. Irgendwelche Wünsche?" "Ich will bei Ronya sein!", ruft Amy sofort und wedelt aufgeregt mit einer Hand durch die Luft. "Kann ich nicht bei ihr in Marmoria bleiben?" "Einer pro Stadt reicht, Amy", sage ich entschuldigend. "Wenn du Lavandia übernimmst, bist du aber nah genug, um sie zu unterstützen, wenn es nötig wird. Außerdem brauchen wir jemanden, der verhindert, dass Team Rocket den Radioturm angreift." Ich ziehe eine Grimasse. "Nur zur Sicherheit." "Na gut", murrt sie und zieht eine Schnute. "Ich gehe nach Viola City", erklärt Nathan mit leuchtenden Augen. "Ich würde sehr gerne Falk treffen. Er ist doch der Flug-Arenaleiter aus Johto, oder?" Ich habe kaum Zeit zu nicken, da wirft Melissa mir bereits einen eisigen Blick zu. "Welche von den freien Städten ist Viola am nächsten?" Ein kurzer Blick auf die Karte klärt ihre Frage. "Nach Luftlinie wäre das Ebenholz Cit-" "Nehme ich." Säuerlich schaue ich zu Dark, der nur mit den Schultern zuckt. Hundemon schnauft belustigt unter seinem Stuhl. "Gut, dann bleibt Anemonia City für Chris übrig", sage ich und suche flüchtig ihren Blick. Sie nickt ernst. "Louis wird in der Nähe sein", fahre ich fort. "Er hat seinen Posten in der Safari Zone, ist aber in der Lage, spontan zu dir zu stoßen." "Und was machst du?", fragt Ronya. "Ich werde wohl Posten in Azalea City aufnehmen", sage ich und deute auf die kleine Stadt in Johto, die als einzige noch nicht mit einem eingekringelten Namen versehen ist. "Mein Levelniveau ist noch nicht gut genug, um dort alleine die Stellung zu halten, aber ich habe schon einen Plan, wen ich um Unterstützung bitten werde." Mein Name gesellt sich zu den anderen auf der Karte. Ich hebe das faltige Plakat empor und pinne es mit Darks Hilfe an das Korkboard, das Jayden und Chris für den Seminarraum besorgt haben, während ich bei meinen Eltern war. "Das ist unser Schlachtplan", sage ich und schlage mit der flachen Hand auf die Karte. "Team Shadow ist die beste Chance, die unsere Regionen haben, wenn wir gegen Team Rocket gewinnen wollen. Die Polizei verteilt sich entsprechend der Höhlen und Vorkommnisse, aber wir haben es mit einer Organisation zu tun, die ihren Putsch seit fünf Jahren plant und ihre Leute überall hat. Wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. Gold und Noah werden die Regionen um die Liga herum umkreisen. Sie gehören zu den schnellsten Fliegern und kennen die Luftrouten inzwischen wie ihre Westentasche." Ich trete zur Seite und gebe das Wort an Dark. Das blau gefärbte Haar fällt ihm in feinen Strähnen ins Gesicht und sein stechender Blick gleitet einmal über jedes Mitglied, bevor er meine Rede fortführt. "Team Rocket hat seinen Anschlag im Mai angekündigt", sagt er. Seine Stimme füllt den Raum ohne Schwierigkeit. "Das heißt nicht, dass sie uns im April in Ruhe lassen. Jeder von uns muss sich vorbereiten. Bringt eure Teams in Bestform. Ihr werdet es mit Trainern zu tun haben, die auf ihre schiere Masse vertrauen, um euch zu überwältigen. Sie spielen nicht fair. Sie zeigen keine Gnade. Seid bereit, um euer Leben zu kämpfen. Nutzt die Zeit, die euch noch bleibt, um zu trainieren und euren Aufgaben für Team Shadow nachzukommen. Je mehr Rockets wir ausfindig machen und ausschalten, bevor es zu den Anschlägen kommt, umso besser." "Wir trennen uns am 1. April", füge ich hinzu, als ich merke, dass Dark mit seiner Ansprache fertig ist. "Wer Kontakte in seiner Stadt möchte, meldet sich bei mir. Wer Fragen zu den Strategien und Teams hat, die wir die letzten Tage besprochen haben, der kann alles in meinem Notizbuch nachlesen." Meinen Worten folgt aufgeregtes Gemurmel von den einen und abschätziges Schnauben von Melissa. Ich zucke mit den Achseln und verlasse den Seminarraum. Es gibt jemanden, den ich vor meinem großen Tag besuchen will.   "Seine Unruhe ist schlimmer geworden", sagt Joy, als sie mich in die Intensiv leitet. "Er ist in deiner Abwesenheit kurz aufgewacht und hat fast den gesamten Container in Flammen gesetzt, bevor ich ihn erreicht habe. Wir mussten ihn betäuben, bis du wiederkamst." Sie führt mich an den restlichen Containern vorbei, deren Piepen und Rauschen in meinen Ohren wiederhallt. "Ich hoffe, du kannst ihn beruhigen", fügt sie hinzu. Ich antworte nicht, sondern trete an Gotts Container. Wie Joy erwähnt hat, schläft er, aber die Innenseite der Glashaube weißt pulvrige Rußspuren auf und das Schaumkissen, das seinen Körper stabilisiert, ist halb verkohlt. Der Gips und die Metallschrauben an seinen Hinterbeinen lassen meinen Mund trocken werden, aber dieses Mal erlaube ich dem Anblick nicht, mich zu überwältigen. Gott braucht mich jetzt als starke Trainerin, nicht als mitleidige Freundin. Joy macht sich an einem der Fusionsschläuche zu schaffen. Gemeinsam warten wir, bis Gott träge die Augen öffnet. Sein Rückenfeuer lodert augenblicklich auf, doch dann entdeckt er mich. Ein erleichtertes Winseln dringt aus dem Container an meine Ohren und ohne auf Joys Erlaubnis zu warten, betätige ich den kleinen Riegel am Rand der Haube und schiebe sie empor. Gott mach Anstalten, sich zu erheben, zuckt aber zusammen, als er versucht, seine Hinterläufe zu bewegen. Geschwächt und gedemütigt bleckt er die Zähne und schnappt nach dem Gips. Joy tritt zurück, um uns Privatsphäre zu geben. Dankbar nicke ich ihr zu und wende meine gesamte Aufmerksamkeit Gott zu. Ich öffne meinen Mund, aber kein Wort kommt heraus. Was soll ich auch sagen? Stattdessen sehe ich ihn durchdringend an, hoffe, dass meine Gefühle ihn auf die gleiche Weise erreichen, wie seine es so oft bei mir tun. Seine Aufregung schwindet, sein Rückenfeuer lässt nach und er lässt sich erschöpft zurück in das Kissen fallen. Mit einer Hand streiche ich über seinen Kopf und beobachte, wie er erleichtert die Augen schließt. "Ich bin hier", flüstere ich schließlich. "Schwester Joy kriegt dich schon wieder hin, okay?" Er gibt ein leises, zustimmendes Knurren von sich. "Und dann trainieren wir", fahre ich fort. "Sobald du wieder fit bist. Wir werden stärker werden, bis niemand von Team Rocket euch jemals wieder so viel Schaden zufügen kann. Niemand, hörst du?" Gott öffnet die Augen. Er ist noch nicht wieder in der Lage, zu laufen, geschweige denn zu kämpfen. Aber seine Augen leuchten mit einer feurigen Leidenschaft, die mir eine Gänsehaut über den Rücken treibt. Der Plan, den ich seit einigen Tagen im Hinterkopf hatte, wird zu felsenfestem Entschluss. Der Krieg kommt. Und wir werden bereit sein.   ooo   "Es ist der 31. März, liebes Publikum, und hier bei PCN steht heute die Welt Kopf!" "Seit Wochen haben mysteriöse Vorfälle dafür gesorgt, dass der Polizei ein Rocket nach dem anderen in die Hände fiel, doch heute wird das Mysterium um die Trainer gelüftet, die all dies möglich gemacht und Kantos Kampf gegen Team Rocket aus den Schatten heraus unterstützt haben! Begrüßen Sie mit uns, Team Shadows  Abgesandte und öffentliche Stimme, Abbygail Hampton!" "Hallo Alfred, wie gut, dich wieder zu sehen!" "Die Freude ist ganz meinerseits, Abby. Warum setzt du dich nicht und hilfst uns allen auf die Sprünge? Es muss schockierend für unser Publikum sein, dich so plötzlich in dieser neuen Rolle wahrzunehmen! Bis vor kurzem warst du nur als das Mädchen aus Raphael Bernis erstem ausgestrahlten Arenakampf bekannt und nun bist du hier als Managerin der geheimnisvollen Trainer, die sich Team Shadow getauft haben." "Ich bin genauso überrascht darüber wie alle anderen, Alfred. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, heute hier zu sitzen und für Team Shadow zu sprechen, aber da sind wir." "Es ist großartig, dich hier zu haben, Abby. Warum erzählst du uns nicht, was mit deiner Wange passiert ist? Das sieht böse aus!" "Eine kleine Verletzung im Kampf gegen Team Rocket, nicht der Rede wert." "Oh, ich denke schon! Team Shadow hat sich dem Kampf gegen diese Verbrecherorganisation gewidmet, hielt sich bislang jedoch bedeckt. Was hat euch dazu bewogen, jetzt an die Öffentlichkeit zu gehen?" "Team Rocket ist ein Tumor, der sich in ganz Kanto und Johto ausgebreitet hat. Wenn wir sie besiegen wollen, müssen wir zusammenhalten. Wir müssen alle am selben Strang ziehen und das bedeutet für uns, der Öffentlichkeit zu zeigen, wer wir sind, was wir vorhaben und wie wir helfen können. Es ist längst kein Kampf mehr, den ein einziger Trainer wie Gold oder Noah oder die Polizei allein gewinnen kann. Wir kämpfen an allen Fronten. "Ich bin heute hier, um zum Kampf aufzurufen. Alle Trainer, die sich in der Lage fühlen, findet euch zusammen! Bildet Gruppen, unterstützt eure lokalen Städte, die Arenaleiter und die Polizei. Team Shadow wird sich bald über ganz Kanto und Johto verteilen, aber wir sind wenige und können nicht überall sein. "Die Zeit, sich zusammenzuschließen, ist jetzt. Wenn wir Team Rocket aus unserer Heimat vertreiben wollen, dürfen wir uns nicht mehr nur auf die stärksten Trainer verlassen. Wir müssen es selbst in die Hand nehmen. Jeder Pokémontrainer kann in diesem Kampf etwas bewirken, jeder von uns macht einen Unterschied!" "Du sprichst wahre Worte, Abby. Dein Enthusiasmus, deine Leidenschaft… Mir kommen die Tränen. Gibt es noch etwas, dass du uns mitteilen möchtest, bevor wir in die Details gehen?" "Ich glaube fest an unsere Generation. Man hält uns für schwach, für egozentrisch, weil wir die Ordenjagd dem Kampf gegen Verbrechen vorziehen. Aber ich glaube nicht daran. Ich weiß, dass wir eine starke Gemeinschaft sein können. Findet euch zusammen. "Wir werden allen zeigen, dass wir mehr sind als die Summe unserer Orden."   ooo   Louis´ Arme umschließen mich mit eisernem Griff, so als wolle er mich nie wieder loslassen. Ich presse mich eng an ihn, lasse mich in seine Berührung sacken, drücke meine Nase gegen seine Halskuhle. "Wir sehen uns in ein paar Wochen wieder", flüstere ich gegen seine Haut. "Du hast jetzt auch einen S-Com, du wirst also sofort wissen, wann es losgeht. Chris wird zu dir stoßen, sobald es Mai ist." "Ich habe mich so daran gewöhnt, dich um mich zu haben", murmelt er heiser zurück. "Es ist nicht mehr dasselbe ohne dich." "Wenn es dasselbe wäre, müsste ich mir Sorgen machen", lache ich. Ich küsse ihn länger als nötig und kürzer als ich möchte. Schließlich jedoch müssen wir uns voneinander lösen. Das ohrenbetäubende Quietschen der Zuggleise und das Stimmengewirr der umstehenden Passagiere dringen mit einem Mal wieder an mein Ohr. Ich hatte alle Geräusche ausgeblendet. "Besteh Level B für mich", sage ich breit grinsend und wuschele ihm durchs Haar, was sich bei unserer jetzigen Größendifferenz als nicht ganz einfach erweist. Er grinst ebenfalls und streicht abwesend über meine Wange. Ein letzter Kuss, ein letzter Blick, dann dreht er sich um und verschwindet in der Menschenmenge, die in den Magnetzug nach Dukatia City einsteigt. Ich schaue ihm nach, bis eine Hand auf meiner Schulter mich aufschreckt. Chris sieht mich eindringlich an. "Die anderen warten schon", sagt sie, dreht sich wortlos um und verlässt den Bahnhof. Ich laufe hinterher. "Meinst du, wir kommen vor Ronya an?", frage ich, als wir die Menschenmassen hinter uns lassen und in die kühle Morgenluft treten. "Sie hat immerhin einen Tag Vorsprung." Auf Chris´ Gesicht zeigt ein flüchtiges Grinsen. "Wir sind schneller", sagt sie. "Ich lasse mich von niemandem überholen, der nicht fliegt." Von ihrem Stolz angesteckt recke ich das Kinn empor und entdecke in einer der Seitenstraßen den Rest unseren Grüppchens, das sich für gemeinsames Training zusammengeschlossen hat. Nathan und Melissa stehen, abseits wie immer, an eine Hauswand gelehnt und unterhalten sich leise. Jayden sitzt im Schneidersitz auf dem Bürgersteig und krault abwesend den Bauch seines schwarzen Gluraks. Erst auf den zweiten Blick entdecke ich ein gewaltiges Washakwil, dessen blaue Gefiederunterseite von einem der Hochhausdächer zu sehen ist. Melissas Altaria schwirrt wie ein Seidenschal im Wind durch die Häusergasse und zeigt keinerlei Interesse an ihrer Trainerin, während sie scheinbar unsichtbaren Hindernissen ausweicht. Ich hole tief Luft und rufe, gemeinsam mit Chris, mein Flugpokémon. Hunter und Ho-Oh begrüßen einander, das Legendäre mit einem würdevollen Nicken, Hunter mit aufgeregtem Gekrächze und Gehopse. Schmunzelnd ziehe ich Handschuhe und Flugbrille an und schwinge mich gemeinsam mit allen anderen Trainern auf mein Pokémon. Einer nach dem anderen heben wir aus der Häuserflucht ab und katapultieren uns dem tiefblauen Frühlingshimmel entgegen. Saffronia City schrumpft unter den Flügeln unserer Pokémon, während wir Richtung Westen davon schießen. In der Ferne kann ich bereits die silbrig weißen Gipfel unseres Ziels erkennen.  Kapitel 112: Der Silberberg (Holpriger Start) --------------------------------------------- Wind rauscht durch mein Haar und Hunters Gefieder. Wir schießen durch die Lüfte, den anderen Flugpokémon hinterher, die uns von den heftigsten Gegenwinden abschirmen und dank Nathans Washakwil treibt uns ein Rückenwind stetig vorwärts. Das Dröhnen in meinen Ohren ist allgegenwertig und verschluckt die Schreie der anderen Shadow Mitglieder, die berauscht von der Höhe alle Streitigkeiten beseitigt haben und einander Herausforderungen zurufen. Selbst über Melissas Gesicht hat sich ein breites Lächeln gelegt, das ausnahmsweise einmal nicht von Schadenfreude herrührt. Dank Altarias Watteschild thront sie auf ihrem Flugdrachen und macht durch das wolkig aufgebauschte Gefieder dessen geringe Größe wett. Ihr Blick folgt Nathan, der im Himmel zu Hause zu sein scheint. Wie kein anderer finden er und sein Adler sich in den Luftströmen zurecht. Sie tauchen zwischen den anderen Vogelpokémon hindurch, fliegen ganze Streckenabschnitte in Steillage oder nutzen einen besonders günstigen Wind, um wie ein Pfeil an uns vorbeizuschießen, nur um in weiten Kreisen und Spiralen durch den Himmel zu trudeln, bis wir zu ihnen aufholen. Es erfüllt mich mit unbändiger Freude, ihnen zuzusehen und Hunters Aufregung durch das Zittern seines Brustkorbs zu fühlen. Nie habe ich mich so verbunden mit ihm gefühlt. Trotz aller Faktoren ermüdet er nach einigen Stunden. Wir lassen uns zu Chris zurückfallen, die in unserer jetzigen Rotation das Schlusslicht bildet. Ich sehe ihr an, dass sie lieber vorne fliegen würde, um die volle Macht des Windes zu spüren. "CHRIS!", schreie ich, während Hunter sich in einen anderen Luftstrom abfallen lässt und auf gleicher Höhe mit dem doppelt so großen Legendären sein Tempo wieder aufnimmt. Der Schlag seiner Flügel wird schwerfälliger. Sie lenkt Ho-Oh in unsere Richtung, bis sich die Flügelspitzen der beiden Pokémon beinahe berühren. "Hunter braucht eine Pause!", rufe ich ihr zu. "Da hinten ist Vertania City! Können wir dort landen?" Chris verzieht das Gesicht. "Wir wollen in einem durchfliegen!", ruft sie zurück. Ein Blick zu Hunter verdüstert ihren Blick. "Spring zu mir!" "Springen?!" Panisch schaue ich in die Tiefe. Wir sind hunderte Meter über dem Erdboden, unter uns nichts als Meer und bewaldete Klippenhänge. Sie zuckt mit den Schultern. "Wenn du dich nicht traust, flieg direkt über uns und ruf dein Ibitak zurück. Wir fangen dich auf." Ein letzter Blick nach unten. Die Luftströme reißen Hunter von unserer Position und einige Meter zur Seite. Auch wenn er seinen Kurs sofort wieder korrigiert, bin ich nicht mehr sicher, wie gut er seine Position halten kann, wenn es sein muss. Ich erinnere mich an Gold, der genau diesen Trick mit mir benutzt hat, um Lugia durch die Safari-Netze zu befördern. Mit den Oberschenkeln lenke ich Hunter im Steilflug empor. Es dauert einige Sekunden, aber schließlich fliegen wir direkt über Chris und Ho-Oh. Jetzt oder nie, denke ich und zücke Hunters Pokéball. Der Moment, in dem das Gefieder unter mir sich auflöst und ich von unserer Geschwindigkeit vorwärts getrieben herabfalle, lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Mit einem Ruck lande ich vor Chris in Ho-Ohs Nacken, aber der Wind hat uns etwas abdriften lassen und so rutsche ich beim Aufprall zur Seite. Chris´ Hand schießt vor und packt meinen Oberarm. Als könnte er ihre Gedanken lesen, lässt der Phönix sich sanft nach links sinken, bis ich von alleine in eine gerade Position rutsche. Chris zieht mich zu sich in die Schräge und als Ho-Oh seine Normallage zurückerlangt, sitzen wir direkt hintereinander auf seinem Rücken. Ein erleichtertes Lachen bricht aus mir hervor. Chris umklammert wortlos mit einem Arm meinen Bauch. "Rasch", murmelt sie gegen den Wind. Ho-Oh gehorcht augenblicklich. Seine Flügelschläge werden kräftiger und er nimmt Geschwindigkeit auf, bis mir vom Gegenwind die Zähne klappern. In wenigen Sekunden haben wir die restlichen Trainer eingeholt. "Abby fliegt ab jetzt mit mir!", ruft Chris ihnen zu und schwenkt mit Ho-Oh in ihre Formation hinein. Jayden driftet gehorsam ab, um ihr Platz zu machen, während Melissa ihr Pokémon zur Eile antreibt. Altaria streckt sich und schießt davon, um zu Nathan aufzuschließen. "Angeber!", schreie ich ihr hinterher, nur um im nächsten Moment dasselbe Verhalten beim Rest von Team Shadow zu bemerken. Sowohl Jayden als auch Chris legen nochmal einen Zahn zu. Bei ihrer Geschwindigkeit fühlt es sich an, als trenne sich mein Magen vom Rest meines Körpers. "Sag bloß, ihr habt euch die ganze Zeit zurückgehalten", presse ich hervor. Jayden lacht schallend. "Was denkst du denn?", fragt er lachend und zieht mit Glurak weiter an uns vorbei. "Dass dein kleines Ibitak mit uns mithalten kann? Ha!" "Genau das dachte ich", murmele ich tonlos, aber die Bitterkeit in meiner Stimme weicht schon bald der Aufregung, als Vertania City unter uns dahin schießt und wir den letzten Streckenabschnitt über Route 22 und 28 in Angriff nehmen.   Wir erreichen den Silberberg am frühen Abend. Die Routen, die von der Siegesstraße zu dem gewaltigen Gebirge führen, sind hügelig, voller Steilhänge, kleiner Seen, ungezähmter Wildwiesen und Waldabschnitten. Schon aus der Ferne kann ich die Pokémon erkennen, die sich bei unserer Ankunft in den Schatten der Bäume und zwischen den hohen Gräsern verkriechen. Auf einer kleinen Kuppel rechts vom Höhleneingang kann ich das kleine Pokécenter erkennen, das an das Felsmassiv gebaut wurde. Es ist das einzige Zeichen von Zivilisation, von der halb verfallenen Hütte einmal abgesehen, an der wir vor etwa einer halben Stunde vorbeigeflogen sind. Einer nach dem anderen landen wir auf dem Hügel vor dem Pokécenter, springen von unseren Flugpokémon und strecken unsere Rücken oder massieren unsere steifen Beine. Meine Muskeln brennen, aber ich lasse mir nichts anmerken, um Melissa keine Gelegenheit zu geben, sich über mich lustig zu machen. Die braucht sie auch nicht. Sie macht sich auch so über mich her. "Ist dein Ibitak müde geworden?", fragt sie zynisch. "Lissa…", stöhnt Nathan und verschränkt die Arme. "Lass Abby in Ruhe. Sie hat dir nichts getan." "Ich weiß nicht, was sie hier bei uns will", rechtfertigt sich seine Freundin sofort. "Das ist der Silberberg, oder nicht? Das Gebiet mit den stärksten wilden Pokémon in euren beiden Regionen. Sie ist nicht mal stark genug, um alleine durch die Siegesstraße zu kommen. Ihre Pokémon sind frisch von der Intensivstation und jetzt steht sie hier und will sich durch Höhlen voller blutrünstiger Pokémon schlagen, die 20 Level über ihr sind?" "Wir werden sie mitziehen", sagt Jayden und schlingt kameradschaftlich einen Arm um meine Schultern. "Abby hier wird sich an uns dranhängen und mit uns zusammen gegen Pokémon kämpfen. Das beschleunigt ihr Training." "Ronya wird morgen Abend eintreffen", fügt Chris ernst hinzu. "Sie hat mich gebeten, dich bis dahin zu unterstützen." "Hmpf." Melissa greift nach ihrer Kette, dreht sich weg und verschwindet im Pokécenter. Nathan befingert verlegen seinen Schal. "Sie wird sich schon beruhigen", sagt er schnell und läuft ihr hinterher. Kurz vor dem Eingang dreht er sich noch einmal um. "Wenn ihr Flugtraining für eure Pokémon haben wollt… das ist mein Spezialgebiet. Bis gleich!" Er verschwindet durch die elektrischen Türen. Schwester Joy staunt nicht schlecht, als sie den plötzlichen Ansturm auf ihr Center bemerkt. Sie sitzt auf einem Drehstuhl hinter der Theke, Füße an die Wand gelehnt und umringt von einem Stapel Bücher. Die pinken Einbände verheißen nichts Gutes und als ich den Titel Doktor Joy – Arzt der Herzen lese, muss ich mir ein Lachen verkneifen. Als sie den Rest unserer Gruppe ausmacht, springt sie erschrocken auf, stolpert über den Turm aus Groschenromanen und kommt gerade so unversehrt zum Stehen. Melissas versteinertes Lächeln zeigt kein bisschen Mitgefühl oder Wärme. "Abendessen für fünf", verkündet sie. "Ja, ja natürlich, sofort", stottert Joy, umrundet den umgeworfenen Bücherhaufen und verschwindet in der Küche. "Was für ein Service", spottet Melissa und lässt sich an einen der Tische sinken. Wir nehmen nacheinander Platz, wobei jeder sich bemüht, möglichst viel Abstand von ihr zu halten, Nathan einmal ausgenommen. "Wir sollten besprechen, wer welche Ebene übernimmt", verkündet Chris. "Mit so vielen Trainern werden wir die wilden Pokémon vertreiben, wenn wir uns nicht aufteilen." "Ich nehme den Berghang", sagt Nathan sofort. "Möglichst weit oben, wo die Eispokémon leben." "Dann bleibe ich am unteren Hang", sagt Melissa. "Abby und ich nehmen uns die Spiralkammer vor." "Spiralkammer?", frage ich verwirrt. Chris nickt. "Es gibt drei Haupthöhlen im Silberberg, sowie den Berghang und einige kleinere Höhlen, die schwer zu erreichen sind. In der Spiralkammer lassen sich manchmal Psychotypen finden, weil sie von der natürlichen Geometrie der Höhle fasziniert sind. Das wird Skuntank zu Gute kommen." Beeindruckt nicke ich. Während wir auf das Essen warten und Jayden den Gipfelhöhle für sich beansprucht, muss ich daran denken, dass ich noch nie im Silberberg war − und dass ich ohne Chris oder einen der anderen Shadows völlig verloren wäre. Nach einer halben Stunde hitziger Diskussion über Nachtwachen, Schlafposten und Nahrungsversorgung balanciert Schwester Joy ein großes Tablett Grillgemüse, Reis und Pudding durch das Center, stellt unser Essen vor uns ab und nickt speziell Melissa höflich zu. Sie schnaubt belustigt, sagt aber nichts. Solange die Welt nach ihrer Pfeife tanzt, scheint ihr der Rest egal zu sein.   Da es schon spät ist, mieten wir für die Nacht je ein Zimmer und verbringen den restlichen Abend gemeinsam in Jaydens Doppelzimmer, das er uns großzügig als Partyzimmer zur Verfügung stellt. Von Party ist allerdings nicht viel zu spüren; Melissa schmollt alleine in einer Ecke, weil sie Nathan nicht aus den Augen lassen will und der Rest unserer Truppe ist in Diskussionen über Trainingsmethoden vertieft. Ich beteilige mich so gut ich kann, aber nach dem dritten herablassendem Blick aus Melissas Ecke über einen meiner Kommentare, wird es mir zu viel. "Was ist dein Problem?", fahre ich sie an. "Ich bin noch nicht so stark wie ihr, buhu. Wenn du ein Problem damit hast, dass ich stärker werden will, dann sag es jetzt." "Du ziehst dich an uns anderen hoch, das ist mein Problem", erwidert Melissa hitzig. "Du machst einen auf Anführer, dabei kriegst du nicht mal das Training deines eigenen Teams auf die Reihe." "Bislang bin ich sehr gut alleine zurecht gekommen", fauche ich. "Aber Team Rocket wartet nicht geduldig, bis ich fertig bin, also versuche ich, das beste aus meiner Situation zu machen. Team Shadow ist genau dafür da: Einander beim Training zu helfen. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gerne verschwinden. Niemand zwingt dich, hier zu sein." "Technisch gesehen…", wirft Jayden ein und schielt zu Nathan, der vor Scham den Kopf eingezogen hat.. "Bitte, hört auf, euch immer zu streiten", fleht er und wirft Melissa einen kurzen Blick zu, bevor er mich fixiert. "Lissa hatte es nicht leicht mit ihrem Training, deswegen ist sie−" "Das geht niemanden hier etwas an!" Ihr Aufspringen erschrickt mich fast zu Tode. Ihre Hand ist um die Kette geklammert, doch plötzlich lässt sie die Perlen los und verschränkt die Arme. "Du sitzt hier und redest, als wärst du der beste Trainer, der je das Antlitz der Welt erblickt hat, aber du bist nichts als Mittelmaß und jetzt sollen wir anderen unser Training opfern, damit du von unserer jahrelangen Arbeit profitieren kannst? Bevor du nicht selbst etwas erreicht hast, kannst du dir meine Hilfe abschminken." Sie dreht um und stapft aus dem Zimmer, nicht ohne sich in der Tür ein letztes Mal umzudrehen. "Ich gehe jetzt trainieren. Wartet nicht auf mich. Ich brauche niemanden, um mich zu beaufsichtigen." Die Tür knallt hinter ihr ins Schloss. "Tja", sagt Jayden und wendet sich uns zu, "das lief ziemlich scheiße." "Mach dir nichts draus, Abby", stöhnt Nathan und lässt sich nach hinten auf das Bett fallen. "Sie hat manchmal ihre Momente." "Wenn du mir jetzt erzählst, dass sie das alles nicht so gemeint hat, spar dir die Mühe", sage ich. "Oh nein, sie meinte das genau so", erwidert Nathan. "Sie hält sich mir zu liebe sehr zurück, aber hin und wieder bricht es aus ihr heraus und dann kann man nichts machen, als den Sturm auszusitzen." "Ich bin nicht zum Aussitzen aufgelegt", flüstere ich kaum hörbar. Selbst überrascht von meinem plötzlichen Sinneswandel erhebe ich mich. Chris´ Blick folgt mir. "Wo gehst du hin?" "Trainieren", sage ich und mache mich auf den Weg zur Tür. "Die Pokémon auf Route 28 sind nicht so stark wie im Berg, habe ich Recht?" "Ja", stimmt Chris zögernd zu. "Warte, Abby", unterbricht Jayden uns und steht auf. "Ich bin der letzte, der dich vom Training abhalten will, aber es wird dunkel, du kennst dich hier nicht aus und auch wenn die Pokémon hier schwächer sind, macht sie das noch lange nicht zu einfachen Gegnern. Lass dich nicht von Melissa provozieren." "Dunkelheit ist für Sku nichts neues", kontere ich. "Außerdem hat Melissa Recht. Wenn ich nicht wenigstens hier draußen alleine auf mich aufpassen kann, sollte ich nicht hier sein." "Bleib nicht zu lange weg", empfiehlt Chris mir, als ich schon halb durch die Tür bin. "Der Aufstieg ist anstrengend und wir gehen bei Sonnenaufgang los." Ich nicke und verschwinde nach draußen.   Die Dämmerung greift mit nebligen Fingern um sich. Die verstreuten Seen sättigen die nächtliche Luft mit Feuchtigkeit und außer dem trüben Mondlicht und den gelben und roten Lichtern im Pokécenter gibt es keine Lichtquellen. Keine Straßenlaternen. Kein Gott, der meinen Weg erhellt. Vorsichtig tapse ich durch das feuchte Gras. Mein Atem hallt laut in meinen Ohren wieder. Das Rascheln der Gräser und Zweige im Wind, das Zirpen einiger Insektenpokémon und das Schuhu eines Noctuhs, lassen mir alle Haare zu Berge stehen. Längst bereue ich die Entscheidung, ohne die anderen heraus gekommen zu sein. Was Melissas Absicht war, ob sie überhaupt eine Absicht hatte, oder einfach nur ihren Frust loswerden wollte, weiß ich nicht, aber Jayden hat Recht. Ich habe mich von ihren Worten provozieren lassen und nun habe ich zu große Reden geschwungen, um ungetaner Arbeit zurückzukehren. Meine Finger geistern über die Bälle an meiner Hüfte. Skus Pokéball, der erste in der Reihe, öffnet sich auf meine Berührung hin. Für einige Sekunden blendet mich der rote Lichtstrahl so sehr, dass ich die Augen schließen muss. Als ich sie blinzelnd öffne, streicht Sku bereits um meine Beine, Schweif hoch erhoben. Ihre rote Augen glühen wie Kohlen in der Dunkelheit. Kurz halte ich nach Melissa Ausschau, doch ich kann sie nirgends entdecken. Der Nebel ist zu dicht. Wahrscheinlich hat sie ohnehin bereits den Berghang in Angriff genommen. Ich kneife die Augen zusammen und suche den Berg nach einem Anzeichen von ihr ab. Wenn sie nicht zu hoch wollte, würde sie die Strecke mühelos mit Altaria bewältigen können. Die Blizzards und Stürme um die Bergspitze herum machen es schwer, den Silberberg anzufliegen, aber für einen geübten Flieger ist es nicht unmöglich, solange das Wetter nicht völlig verrückt spielt. "Wollen wir?", frage ich in die nächtliche Stille hinein. Sku grummelt zustimmend und trottet voran durchs nasse Gras. Angewidert hebt sie ihre Pfoten höher als nötig und stakst so durch den Nebel. Meine Anspannung verflüchtigt sich in dem lauten Lachen, das ihre unbeholfenen Laufversuche aus mir herauskitzeln. "Oh Sku…", murmele ich und laufe ihr hinterher. "Ich habe dich wirklich vermisst." Ihr Schweif schnippt zur Seite, begleitet von einem hochzufriedenem Schnurren. "Dann suchen wir uns mal einen Gegner", sage ich. Es dauert nicht allzu lange, bis wir das erste wilde Pokémon treffen. Ein Geradaks huscht an uns vorbei, sein gestreifter Körper wendig wie der einer Schlange. Seine Schnauze in die Höhe gereckt, nimmt es unseren Geruch war und fährt fauchend zu uns herum, bereit, sein Revier zu verteidigen. Meine Hand schnellt zu einem zweiten Pokéball und im nächsten Moment findet Priss sich neben mir im Gras wieder. Sie macht sich klein, als sie unseren Gegner sieht, spreizt aber ihre Schwimmhäute ab, um sich bedrohlicher zu machen, als sie ist. Trotz Entwicklung ist sie weiterhin recht klein für ein Aquana. "Du bleibst bei mir", weise ich sie an. "Unterstütz Sku mit rechter Hand. Sku, du startest mit Toxin. Wir gehen auf Nummer sicher." Priss´ motivierende Schreie begleiten Geradaks´ Angriff. Feixend setzt es zum Sprung an und stürzt sich auf Sku. Seine Krallen reflektieren im trüben Mondlicht, bevor sie durch Skus mühsam errichtete Verteidigung brechen und zwei lange Striemen in ihre Seite reißen. Sku wird auf die Seite geschleudert, tritt nach ihrem Gegner und kommt fauchend wieder auf die Beine. Der nächsten Kratzfurie weicht sie gekonnt aus und speit Geradaks eine Ladung Toxin ins Gesicht, als es gerade wieder Boden unter den Pfoten hat. Ein empörtes Kreischen erfüllt die Nacht, während Geradaks verzweifelt versucht, das Gift von seinem Gesicht zu wischen. "Priss, benutz Rutenschlag, während es abgelenkt ist! Sku, Schlitzer gleich hinterher!" Priss´ ganzer Körper bebt. Sie ringt mit sich und Sku, die auf ihren Rutenschlag wartet, schaut verwirrt zu mir. Schließlich jedoch reißt Priss sich aus ihrer Schockstarre und springt vor. Ihr Schweif durchbricht die Verteidigung des Geradaks, das noch mit seinem Gesicht beschäftigt war. Im selben Moment, da der Rutenschlag trifft, lässt Geradaks seine Pfoten jedoch sinken und holt mit dem Kopf zu einer vernichtenden Kopfnuss aus, die Priss´ Schädel zertrümmern wird. Von Instinkt geleitet rufe ich sie zurück, gerade in dem Moment, da die Attacke sie getroffen hätte. Mein Herz hämmert in meiner Brust, aber ich lasse mich von der Schrecksekunde nicht verunsichern. Skus Schlitzer trifft Geradaks in den Rücken, als es verwirrt nach Priss Ausschau hält und jault. Ein zweiter Schlitzer wirft das gegnerische Pokémon auf den Rücken. Seine Krallen schießen in Skus Richtung, der ich im letzten Moment einen Säurespeier befehle. Bevor die Kratzfurie zu großen Schaden anrichten kann, trifft die Säurewoge auf den Dachs und das Toxin erledigt den Rest. Sku tritt mit bebenden Flanken von ihrem ersten besiegten Gegner zurück, schnurrt zufrieden und rollt sich ein, um die Schnitte an ihrer Seite zu lecken. Meine Hände beginnen zu zittern, als das Adrenalin meines ersten Kampfes am Silberberg verklingt. Plötzlich überwältigt lasse ich mich auf die Knie sinken und starre das Geradaks an, das sich wieder aufgerappelt hat und hinkend davon trottet, Kopf gesenkt. "Wir haben es geschafft…", murmele ich, immer noch völlig schockiert. Ich greife nach Priss´ Pokéball und rufe sie, um mich zu vergewissern, dass sie wirklich keinen Schaden genommen hat. Sie maunzt mich gekränkt an und spuckt mir eine Ladung Wasser ins Gesicht. Prustend wische ich mir über die Augen. Skus Keckern ignoriere ich geflissentlich, während ich nach meinem Pokédex krame und schnell Aquanas Attacken überprüfe. "Level 9 schon?", frage ich überrascht und schaue zu Priss, die sich stolz ihre Brustschuppen leckt. "Ich dachte nicht, dass Training mit stärkeren Pokémon so effizient sein würde. Andererseits macht es Sinn. Wenn Sku und Gott erst mit Ronya und den anderen trainieren, wird alles viel schneller vorangehen." Begeistert schaue ich zu meinen beiden Pokémon. "Ich frage mich, ob−" Priss Augen sind in blankem Horror geweitet, während Sku in ihrer Leckaktion innegehalten hat und gelähmt zu mir schaut. Nein, nicht zu mir. Eher an mir vorbei… Langsam drehe ich den Kopf. Ein Ursaring stapft aus dem Nebel auf mich zu. Sein zottig braunes Fell wirkt in der Dunkelheit fast schwarz und der beige Fellring auf seinem muskulösen Bauch schimmert golden im Mondlicht. Es macht einen Schritt vor, Vorderläufe leicht angewinkelt. Mein Blick folgt den Muskelsträngen, die sich deutlich unter dem Fell abzeichnen zu den Krallen, die länger sind als meine ganze Hand. Ich schlucke und rutsche vorsichtig rückwärts, in der Hoffnung, es könnte mich übersehen haben. Sku erhebt sich mit gesträubtem Fell, wagt aber nicht, näher zu kommen, aus Angst, die Aufmerksamkeit des Schläferbären auf uns zu lenken. Der Kampf gegen das Geradaks hat sie sehr geschwächt und außer ihr hat niemand in meinem Team eine echte Chance gegen dieses Monster. Plötzlich lässt es sich auf alle Viere niederfallen. Vogelpokémon stieben aus den umliegenden Bäumen auf und fliehen in den Himmel. Alles wird still. Ursaring öffnet sein Maul und brüllt mich an. Dickflüssiger Speichel fliegt mir entgegen. Nur ein Meter trennt mich von dem Gebiss, dem Schlund, in den mein Kopf bequem hineinpassen würde und dem Gestank, der mir aus den Tiefen seines Maules entgegen wabert. Es hebt eine Pranke für seinen Schlitzer und mein Atem setzt aus. Ein Donnerblitz rast herab und setzt den Bären unter Strom, der in der Bewegung eingefroren innehält, zittert und in sich zusammenfällt, kaum dass die Elektrizität verklungen ist. "Womit du das verdient hast, weiß der Teufel", erschallt Melissas Stimme von oben. Ich hebe den Kopf und entdecke sie auf Altaria, das gen Boden schwebt und neben dem besiegten Ursaring landet. Auf seinem Rücken sitzen Melissa und ein kleines Plusle, das sich die Pfoten reibt und auf seinen besiegten Gegner springt, um sein Werk zu begutachten. Seine roten Ohren und Wangen sprühen Funken. "D-danke", bringe ich hervor, bevor ich es mir bei ihrem Ton anders überlegen kann. "Das war knapp." "Nur du wärst blöd genug, unvorbereitet und nachts hier anzutanzen, um mir zu beweisen, dass du alleine trainieren kannst", fährt Melissa ungerührt fort. "Deine Voraussicht hat mich beeindruckt, wirklich." Ich beiße die Zähne zusammen, bis mein Kiefer schmerzt, sage aber nichts, sondern erhebe mich mit knackenden Knien und rufe Priss und Sku zurück, die an meine Seite geeilt sind. "Bist du fertig?", frage ich. Melissa zuckt die Achseln. "Geh zurück ins Center, bevor du dich erkältest." "Ja, Mama…", murmele ich und stapfe davon. "Du hast Mumm", erschallt Melissas Stimme hinter mir. "Wenn du jetzt noch deine Blödheit in den Griff kriegst, bist du vielleicht nicht mehr ganz so unausstehlich." Na danke, denke ich und verschwinde im Pokécenter. Trotzdem. Ich komme nicht umhin, aus ihrem Worten ein Kompliment herauszuhören.  Kapitel 113: Der Wahnsinn beginnt (Die Kaskadenhöhle) ----------------------------------------------------- Schweiß strömt mein Gesicht und meinen Rücken herab. Ich wische mir einige Tropfen vom Kinn und schaue hinauf zu dem Höhleneingang, der uns laut Chris in die Kaskadenhöhle bringen sollen. Nadelbäume, die sich trotz aller Widrigkeiten in die felsigen Steinhänge krallen, verdecken meine Sicht, aber ich bin ohnehin zu erschöpft, um mich für die Streckenplanung zu interessieren. Der Aufstieg, den ich mir als Wanderung durch die Höhle vorgestellt hatte, begann mit einem kurzen Flug zu dem letzten Abschnitt des Berghanges, der flach genug war, um dort gefahrlos zu landen. Danach folgte, was ich nur als Höllentrip bezeichnen kann. Zwei Stunden kraxeln wir bereits über zugewachsene Wege, klettern über umgeworfene Baumstämme oder hangeln uns an Felswänden entlang, wenn Steinschläge den Weg darunter eingerissen haben. Melissa hat sich bereits auf dem flachen Gelände von unserer Gruppe getrennt und jetzt, da meine Hände rissig, mein Gesicht staubig und meine Haare schweißverklebt sind, kann ich sehr gut verstehen, warum sie den unteren Abschnitt des Berges für sich beansprucht hat. "Wie lange noch?", frage ich keuchend und bemühe mich, nicht wie ein quengeliges Kind zu klingen. Ich bleibe stehen und stütze mich erschöpft auf meine Knie. Chris und Nathan sind uns schon ein gutes Stück voraus und unterhalten sich, scheinbar unberührt von dem Aufstieg. Jayden, der mir am nächsten ist und den ganzen Aufstieg über eine mir entfernt bekannte Melodie summt, dreht sich überrascht um. "Was, bist du schon am Ende?", fragt er grinsend. Er schultert den Rucksack mit unserem Proviant und erinnert mich unbewusst daran, dass ich als einzige kein zusätzliches Gewicht in meinem Rucksack tragen muss. Bevor wir losgegangen sind, habe ich alles ausgeleert, was ich nicht unbedingt brauche. "Ich… bin nicht gerade ein Kletterfreund", gestehe ich, richte mich auf und trete bei meinem nächsten Schritt geradewegs auf ein Stück brüchige Erde, das unter meinem Gewicht nachgibt und zur Seite rutscht. Mein Fuß wird mitgerissen und einige Momente lang hänge ich in der Schwebe, spüre, wie ich Richtung Abhang falle. Panisch greife ich ins Leere, bevor ich endgültig zur Seite kippe.  Jaydens Hand packt mich am Unterarm. Mit einem Stöhnen und vor Anstrengung verzerrtem Gesicht wuchtet er mich zurück Richtung Berg, wo ich auf ihn stürze. Schwer atmend drücke ich mich von ihm weg und lasse mich neben ihm auf den Hosenboden fallen. "Scheiße, war das knapp", murmelt Jayden. Chris fragender Ruf ertönt von weiter oben. "Alles okay!", schreit er zurück. "Hab Abby nur vor ´nem ungemütlichen Absturz bewahrt!" "Danke", flüstere ich, komme auf die Beine und ziehe ihn hoch. "Das ist das zweite Mal, dass mir hier jemand das Leben rettet." "Ach, halb so wild", meint Jayden nur und wischt sich über das Gesicht. Von nahem kann ich erkennen, dass er bei weitem nicht mehr so frisch aussieht, wie ich gedachte hatte. Seine Ohren und Wangen sind rot und Schweiß klebt sein T-Shirt an seinen Oberkörper. Wo der Kragen bei seinem Sturz zur Seite gerutscht ist, erkenne ich die tiefroten Einschnitte, die der Rucksack in seinen Schultern hinterlassen hat. "Hast du meinen Anteil mitgenommen?", frage ich mit einem Nicken zu seinem zum Bersten gefüllten Rucksack. Er zuckt mit den Schultern. "Hab mir gedacht, dass du so ´nen Aufstieg nicht gewohnt bist. Chris und ich sind bei unserem ersten Mal hier kaputt gegangen." "Gib mir die Hälfte", sage ich, bevor ich es mir anders überlegen kann. Er hebt eine Augenbraue. "Sicher? Ich kipp schon nicht um, wenn du davor Angst hast." "Ich profitiere auf diesem gesamten Trainingstrip von euren Fähigkeiten", entgegne ich, ziehe meinen eigenen Rucksack aus und öffne ihn. "Da kann ich zumindest meinen eigenen Proviant tragen." Jayden lacht. "Na gut, aber mach schnell. Chris und Nathan sind schon fast oben." Ich lasse mir einige Brotdosen, einen Sack getrocknete Beeren und drei Flaschen Wasser anreichen und verstaue alles in meiner Tasche. Als ich den Rucksack dieses Mal hebe, muss ich bei dem Gedanken an den Rest der Strecke schlucken, aber Jaydens erleichterter Blick, als seine eigene Last sich so stark verringert hat, ist es mir wert. Resolut stapfen wir voran. Eine letzte Kletterstrecke und einen steilen, von Wurzeln durchbrochenen Aufstieg später, entdecke ich Chris und Nathan, die neben einem schmalen und unscheinbaren Höhleneingang sitzen, aus ihren Flaschen trinken und mit den Beinen baumeln. Der Felsvorsprung ist kaum breit genug, um dort zu gehen und von einigen Überhängen verdeckt. Flugpokémon hätten uns hier nie absetzen können. "Hallo", begrüßt Chris uns. Jayden lässt sich ächzend neben ihr auf den Vorsprung fallen, nimmt ihr die Flasche aus der Hand und trinkt sie in einem Zug aus. Er reicht ihr die leere Flasche, zieht seinen Rucksack aus und lehnt sich gegen die Felswand. Ich folge seinem Beispiel. Der Moment, in dem das Gewicht von meinem Rücken weicht, atme ich erleichtert aus und schließe die Augen. "Nur so aus Neugier…", beginne ich und schiele zu den anderen drei, die bereits mit ihren Broten beschäftigt sind, "…wie oft werden wir diesen Trip machen?" "Wir müssen zweimal pro Woche runter, um neuen Proviant zu kaufen", erklärt Chris ohne das kleinste bisschen Mitleid. "Wenn du im Pokécenter schlafen willst, müsstest du jeden Tag los, aber das rentiert sich nicht. Wir sind schließlich zum Training hier." "Genau!", ruft Nathan, wirft eine getrocknete Pirsifbeere in die Luft und fängt sie aus dem Flug im Mund auf. Seufzend füge ich mich in mein Schicksal und mache mich an meinem Rucksack zu schaffen, aus dem ich Wasser und ein Sandwich ziehe. Während ich mit meinem Essen beschäftigt bin, nimmt Jayden sein Summen wieder auf. Nur wenige Momente später stimmt Chris ein und plötzlich wird mir klar, woher ich die Melodie kenne. "Ist das der Titelsong vom Lehrkanal?", frage ich lachend. "Der läuft doch schon seit Jahren nicht mehr!" "Ein Klassiker", entgegnet Jayden. "Jayden hat jede Folge geguckt", erklärt Chris. "Mehrmals", fügt Jayden grinsend hinzu. Ich schüttele den Kopf, muss aber ebenfalls grinsen. So hat eben jeder seine Macken.   Warme Sonnenstrahlen weichen klammer Kälte, als wir endlich den Silberberg betreten. Das Licht, das durch den Eingang fällt, wirft lange weiße Streifen auf das silbrig-graue Geröll, über das wir einer nach dem anderen steigen. Aus den Tiefen der Höhle erschallt das Tosen der Wasserfälle, vor denen Chris mich bereits gewarnt hat. Kleine Seen schimmern im schwachen Licht der Höhle und ein kühler Luftzug zeugt von den zahlreichen Durchgängen, die uns weiter oben erwarten. Chris und Nathan rufen ihre Flugpokémon zurück, die uns beim Aufstieg den Rücken freigehalten und wilde Pokémon vertrieben haben. Stattdessen rufen die drei jetzt Pokémon, die besser für das gewaltige Höhlengewölbe geeignet sind. Nathans Milotic ist sechs Meter lang und bäumt sich angewidert auf, als es seine düstere Umgebung erblickt. Die dünnen Fühler der Wasserschlange winden sich wie Tentakel durch die Luft und das blau-pinke Schuppenmuster endet in einem fächerförmigen Schweif, der zusammengelegt ist, bereit, bei einem Anzeichen von Gefahr bedrohlich ausgeklappt zu werden. Das Gewaldro erkenne ich als das von Chris wieder, das im Kampf gegen Craig in Teak City mit von der Partie war und Jaydens Voltenso knurrt mit gefletschten Zähnen die Dunkelheit an. Seine elektrisch aufgeladene Mähne steht golden von seinem Nacken und Schweif ab und bildet einen scharfen Kontrast zu dem himmelsblauen Fell, das seinen restlichen Körper bedeckt. Ein schräger Blick in Richtung der anderen Pokémon und anschließendes Bellen stellt die Rangordnung der drei Pokémon unmissverständlich klar. Chris und Jayden nicken sich zu. "Willst du nicht Sku rufen?", fragt Nathan, während er mit einer Hand über Milotics Stirn streicht und die pinken Hautfalten massiert, die wie zwei Enden eines Schals von ihrer Braue abgehen. Erschrocken nicke ich und rufe Sku, die sich neben den anderen Pokémon materialisiert und bei Voltensos Anblick winselnd zu Boden presst. Zufrieden schnaubt das Elektropokémon und trottet voran. Wir anderen kramen Taschenlampen aus unseren Rucksäcken und folgen den vier Pokémon. Schon bald merke ich, wie gut der Schutz durch Ho-Oh und Washakwil war. Kaum dass wir die ersten Schritte über den schmalen Höhlengrad hinter uns gebracht haben, ertönt aus den Tiefen der Höhle das Brüllen eines Ursarings, dessen Klang mir seit gestern Nacht ins Gedächtnis gebrannt ist. Stein schrammt über Stein und im Schein von Jaydens Taschenlampe flackert der gewaltige Schädel eines Onix auf, begleitet von zahllosen Augenpaaren, die ich nicht identifizieren kann. Mit zittrigen Fingern leuchte ich zuerst nach links. Der Lichtstrahl verliert sich in den Tiefen der Höhle. Der Weg, dem wir folgen, fällt zu dieser Seite hin steil ab. Zweifellos lauern Georok ungesehen in dem Geröll und zwischen den Kanten und Furchen der Felskluft. Meine Taschenlampe schwenkt nach rechts. Der bleiche Lichtkegel hüpft über die Wasseroberfläche, gerade rechtzeitig, um ein langes Schemen unter der schwarzen Oberfläche ausmachen zu können. Kleine Wellen schwappen gegen die glattgeschürften Steinwände. Ein Kräuseln erfasst die Wasseroberfläche. Im nächsten Moment schießt ein Golking aus den Tiefen des Höhlensees empor, schwarze Kugelaugen bedrohlich geweitet. Es versinkt mit einem widerhallenden Platschen im Wasser, nur um gefolgt von zwei weiteren Golking erneut aus dem See zu springen. Zwei der Goldfische begnügen sich mit einem Wasserstrahl, den sie auf uns niederregnen lassen, aber der letzte der drei katapultiert sich Horn voran aus der Senke und rast geradewegs auf mich zu. Sku springt vor und kracht mit gezückten Klauen geradewegs in ihn hinein. Sie kombiniert einen grellen Kreideschrei mit ihrem Schlitzer und zerfetzt die Schuppenhaut des wild zappelnden Golkings mit mächtigen Prankenhieben. Jaydens Stimme reißt mich aus meiner Starre. "Voltenso, verfolg ihren Nassmacher mit Donnerblitz!" Voltenso sträubt sein Fell, weicht durch einen geschickten Seitensprung einem der Wasserstrahle aus und schleudert zwei knisternde Blitze in Richtung der Fische. Die Elektrizität wird durch den Nassmacher zu seinem Ursprung geleitet und beide Fische platschen röchelnd zurück in den See. Sku lässt unterdessen von dem Golking ab, das vergebens versucht, sie mit seinem Horn von sich fernzuhalten. Nun liegt es mit bebenden Seiten auf dem Trockenen. Stolz schaut Sku zu mir und leckt sich das Maul. "Abby!", schreit Nathan. "Golking kann Dreschflegel!" "Sku, weg da!", schreie ich und greife nach ihrem Pokéball. Golking spannt mit letzter Kraft all seine Muskeln an und schleudert sich Sku entgegen, die panisch zur Seite hechtet. Gerade schließen meine Finger sich um das runde Plastik, da schießt ein Eisstrahl knackend vor meinem Gesicht durch die Luft und gefriert den meterlangen Goldfisch zu einem Eisblock, der zu Boden fällt und in tausend Splitter zerspringt. Zurück bleibt nur das besiegte Golking, das regungslos inmitten der Eisbrocken auf dem Steinpfad liegt. Sku landet schlitternd vor meinen Füßen und schaut sich panisch nach dem Golking um. Ich falle neben ihr auf die Knie und schlinge meine Arme um ihren zitternden Körper. Mein Blick wandert zu Nathan, der weiterhin eine Hand auf Milotics schuppigem Körper presst. Der Atem vor dem Maul der Seeschlange bildet weiße Wölkchen und Eiskristalle bedecken einen Teil des spitzen Gesichts. "Gute Arbeit, Milo", stellt er fest und tätschelt seine Flanke. "Versuch nächstes Mal, den Energieverlust geringer zu halten. Dein ganzes Gesicht ist vereist." Empört reckt Milotic seinen Nacken und schnaubt eisigen Atem auf seinen Trainer herab, der lacht und sich mir zuwendet. "Alles okay bei dir?" "Ja, geht schon", sage ich und erhebe mich. "Sku hat das meiste abgekriegt." "Dafür hat sie sich ziemlich super geschlagen", meint Jayden lachend, der zu uns gejoggt ist, Voltenso dicht auf den Fersen. Chris und Gewaldro halten etwas entfernt Wache. Von dem, was ich erkennen kann, zapft Gewaldro seine gesamte Umgebung mit Egelsamen an. Keine schlechte Taktik. Steinbrocken, die auf ihn und Chris niederregnen, wehrt das Pflanzenpokémon mit seinem Scanner ab, der wie eine gleißende Kuppel um es herum schimmert, wenn es sich bewegt. "Tut mir leid, wir hätten dich warnen sollen", entschuldigt Jayden sich grinsend und reicht mir zur Versöhnung eins seiner geliebten Bonbons. "Aber hier versucht eh´ alles, dich umzubringen, deshalb hab ich die Fische voll vergessen." "Ich merke es", sage ich und schiele zu Chris zurück, deren Pokémon ganz alleine die Stellung hält. Aus den Tiefen der Dunkelheit erhebt sich der Umriss des Onix, das ich schon zuvor bemerkt habe. Nathan folgt meinem Blick und nickt beeindruckt, Jayden wirft sich nur selbst ein Bonbon in den Mund und kaut es in Sekundenschnelle zu Pulver. "Also, hier ist der Crashkurs für kleine Shadows", sagt er und breitet die Arme aus. "In der Kaskadenhöhle sind die Pokémon nicht so stark wie weiter oben, aber trotzdem ist hier alles auf Level 40 oder höher. Wenn du nicht aufpasst, wird dich etwas angreifen, und zwar von wo auch immer du gerade nicht hinguckst." Das Onix bäumt sich auf und katapultiert Gewaldro mit gigantischen Steinbrocken, die das Dschungelreptil einen nach dem anderen an seinen muskulösen Armen abprallen lässt oder aus der Luft packt und zur Seite schleudert. "Am gefährlichsten sind die Steinschläge hier", fährt Jayden fort und deutet mit einem Daumen hinter sich auf das Schauspiel, das seine Kindheitsfreundin und das Onix veranstalten. "Intensität, Katapult, Steinhagel, Felsgrab… wenn du dagegen nicht gewappnet bist, frisst der Silberberg dich lebendig." Als Onix merkt, dass seine Steinangriffe nicht wirken, hämmert es mit seinem Steinschweif auf den Höhlenboden, bis der Boden unter Gewaldro und Chris aufbricht und sich scharfkantig empor bohrt. Gewaldro schnappt sich seine Trainerin, setzt sie auf seine Schulter und springt von einer Steinkante zur nächsten. Frustriert brüllt die Steinschlange und bohrt sich in den Boden, bis sie verschwunden ist. "Was noch…" Er verzieht das Gesicht. "Ich bin sicher, dass ich etwas vergessen−" Weiter kommt Jayden nicht, denn ein Garados bricht brüllend aus dem See und windet sich in einem hypnotisierenden Drachentanz, bevor es das Maul aufreißt und eine Hydropumpe auf ihn abfeuert. Voltenso wirft sich dazwischen, fängt die Wassersbrunst ab und nutzt den Kontakt, um seinen Donnerblitz via Hydropumpe zu der Wasserschlange zu leiten. Garados gibt ein ohrenbetäubendes Brüllen von sich und sinkt inmitten eines Rings aus schäumender Gischt zurück in den See. "Ach ja, der See", sagt Jayden und wischt sich lachend über das Gesicht, als Voltenso sich das Wasser aus dem blauen Fell schüttelt. "Danke, Kumpel. Die Golking sind an sich harmlos, aber wenn du nicht aufpasst, greifen sie mit ihrem Hornbohrer an und wenn der dich trifft, dann gute Nacht. Meist geht er daneben, aber es sind schon ganz andere unwahrscheinliche Sachen hier passiert. Die Garados sind harmlos, wenn man sie schnell unter Strom setzt. Richtig mies sind die Donphan, wenn−" Kleine Steinkaskaden bröckeln von den Wänden und der Decke und hüpfen über den Steinpfad. Das Beben unter unseren Füßen wird stärker. Fluchend ruft Jayden Voltenso zurück und ich folge hastig seinem Beispiel, als Sku droht, in einer aufbrechenden Felsspalte zu verschwinden. "−sie mit Erdbeben angreifen", beendet Jayden zähneknirschend seinen Satz. "Chris, wofür bezahle ich dich, wenn du da vorne nur rumspielst!" "Du bezahlst mich nicht", erwidert Chris ungerührt und springt vom Rücken ihres Pokémon. Gewaldro steht inmitten der Steinkantenverwüstung, die das Onix hinterlassen hat, bevor es sich zu einem Schaufler vergraben hat. Nun liegt es besiegt hinter den beiden und wird von herabrieselnder Erde bedeckt. "Ist doch egal!", wirft Nathan ein und springt zur Seite, um einem etwas größeren Steinbrocken auszuweichen, als er zu Boden kracht. Sein Schrei wird von einem dumpfen Schleifgeräusch unterbrochen, dicht gefolgt von einem Donphan, das zusammengerollt durch den Schutt walzt und auf uns zusteuert. "Zur Seite!", schreit Nathan. Ich springe hinter ihn, Jayden hinterher. "Jetzt du, Milo", befiehlt Nathan grimmig. "Wir räumen hier auf. " Milotic windet sich aus seiner Berührung, hebt sein Haupt und wiegt seinen cremefarbenen Körper von links nach rechts. Zuerst geschieht nichts. Ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust hämmert. Weder Jayden noch ich haben unsere Pokémon zum Schutz draußen. Wenn Milotic es nicht rechtzeitig schafft… Der See zu unserer Rechten erhebt sich in einer gigantischen Welle und schwappt über die meterhohe Felsenwand. Der Surfer überschwemmt den gesamten Steinpfad mit unbändiger Gewalt. Wasser spritzt mir ins Gesicht und feiner Niesel verdeckt mir für einige Sekunden die Sicht. Das Rauschen der zerschellenden Welle, vom Echo der Höhle vielfach verstärkt, hallt in meinen Ohren und drückt Donphan zurück. Der Panzerfant trompetet kraftlos, während das Seewasser ihn verschlingt und geradewegs über die Kante des Steinpfads spült.  Die Welle fließt zu beiden Seiten zurück und mündet in die Kaskaden und übrigen Seen, die im Dunkeln verborgen liegen. Einige junge Karpador und Goldini bleiben gestrandet und zappelnd zurück. Ich blinzele Wasser aus meinen Augen. Obwohl wir hinter Milotic standen, haben die rückwärtigen Ausläufer der Welle uns alle bis zu den Knien durchtränkt. Meine Schuhe schmatzen, als ich einen vorsichtigen Schritt vorwärts mache. Missmutig verziehe ich das Gesicht. Weder Nathan noch Jayden scheinen ein Problem mit dem veränderten Zustand unserer Kleidung zu haben, daher halte ich den Mund. Einzig Chris, die hinter dem Scanner ihres Gewaldros Schutz gesucht hat, ist noch trocken. Während ich den Pfützen ausweiche, die sich in den Erdbebengräben von zuvor gesammelt haben, sind Nathan und Milotic bereits dabei, die gestrandeten Fischpokémon zurück in den See zu befördern, Nathan mit gezielten Würfen und Milotic mit sanften Schlägen seines Schweifs. Jayden und ich folgen, um zu den anderen aufzuschließen. "Damit hast du die meisten Gefahren im Silberberg aus erster Hand kennengelernt", fährt Jayden seine Lektion von zuvor unbekümmert fort. "Fehlen nur noch die Golbat." "Keine Zubat?", frage ich skeptisch und denke an den Schwarm der gehässigen Blutsauger, die mich damals im Flegmonbrunnen an Team Rocket verraten haben. Vielleicht bin ich ungerecht, aber ich bin kein großer Fan der Fledermäuse mehr. "Nur Golbat. Zubat überleben hier nicht lange, und wenn, entwickeln sie sich." Ich nicke nachdenklich und schaue hinauf in die Dunkelheit. Mit dem Strahl meiner Taschenlampe suche ich das Deckengewölbe ab. Zumindest versuche ich es, denn die Höhle ist so weitläufig, dass der Lichtstrahl sich verliert, bevor er auf Stein trifft. Einzig die schmalen Augenpaare der mannsgroßen Fledermäuse bestätigen Jaydens Erklärung. "Langsam bezweifle ich, dass wir diesen Höhlenabschnitt heute noch verlassen werden", sage ich schließlich und folge Jayden zu Chris und Nathan, die bereits auf uns warten. "Wir sind seit einer guten halben Stunde hier drin und haben kaum fünfzig Meter geschafft." "Es ist der Silberberg", sagt Chris lediglich, so als wäre das eine ausreichende Erklärung. Ist es vielleicht sogar. "Jetzt verstehst du bestimmt, warum wir hier oben übernachten, wenn wir schon mal da sind", fügt Jayden grinsend hinzu. Ich nicke. Dann fällt ein Schwarm Golbat über uns her. Kapitel 114: Rückkehr (Im freien Fall) -------------------------------------- "Ich bin fertig mit der Welt", verkünde ich, als wir uns einige Stunden später durch einen schmalen Höhlenspalt quetschen. Der Durchgang zur zweiten Höhle im Silberberg ist am obersten Ende einer steilen Felswand lokalisiert, die wir natürlich erst hochklettern mussten. Warum natürlich? Weil der Berg versucht, mir eins auszuwischen, deshalb. Warum sollte es da nicht auch eine Kletterpartie geben, wenn ich ohnehin schon völlig am Ende bin. Meine Finger sind wundgeschürft, meine Füße brennen, meine Beinmuskulatur scheint jeden Moment reißen zu müssen und der Hunger macht sich ebenfalls bemerkbar. Auch wenn ich einen ganzen Haufen Sandwiches verdrücken könnte, müssen wir unsere Nahrungsrationen sorgsam einteilen. Einzig die Aussicht auf einen zusätzlichen Trip zum Pokécenter hält mich davon ab, gleich alles aufzuessen. So ignoriere ich geflissentlich die Krämpfe in meinem Magen und zwänge mich weiter durch die Felsspalte. "Du bist nicht die einzige", stimmt Nathan schnaubend zu. "Die Siegesstraße in Einall… hinter Twindrake City… ist viel leichter zu erreichen. Man fliegt einfach auf die höchsten Ebenen… und geht von dort in die Höhlen." "In Kanto machen wir es uns nicht leicht", sagt Chris. Am Tonfall ihrer Stimme kann ich mir das stolze Lächeln in ihrem Gesicht bildlich vorstellen. Es ist unfair, wie gut sie und Jayden diese Tortur wegstecken. "Das heißt noch lange nicht, dass− Au!" Chris ist plötzlich verschwunden und ich folge ihrem Beispiel, als der Spalt sich abrupt weitet und mich in eine kleine, kreisrunde Senke stolpern lässt, wo ich auf die Knie falle und mich mit meinen aufgerissenen Händen abstütze. "Verdammte Kacke…", fluche ich und lasse mir von Chris aufhelfen. Während Nathan und Jayden hinter uns aus dem Spalt klettern, schaue ich mich misstrauisch um. Nach oben hin ist der kleine Raum schier endlos, aber inzwischen ist es so eng, dass ich mich kaum drehen kann. "Das ist aber nicht die Spiralkammer, oder?" "Nein", sagt Chris und hebt mühsam einen Arm, um zu dem Loch über uns zu zeigen. "Wir müssen da hoch." "Zum Glück ist Louis nicht hier", murmele ich und presse mich gegen Nathan und Jayden, die ihrerseits gegen die raue Steinwand gedrückt werden, um Chris Raum für ihren Aufstieg zu geben. Mit gekonnten Bewegungen greift sie in die zahlreichen Einkerbungen im Fels, zieht sich schwungvoll hoch und klettert Meter um Meter die Wand empor. Nur etwa eine Minute später schwingt sie einen Fuß über die Kante und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Ich werfe einen Blick zu den beiden Jungs. Jayden grinst. "Nach dir." Seufzend trete ich vor und greife, wie Chris zuvor, in die Einkerbungen. Sie sind flacher als ich dachte, aber ausreichend, um mir Halt zu geben. Nathan gibt mir eine Räuberleiter und mit seiner Hilfe finde ich mich schon bald einige Meter weiter oben wieder. Ich folge Chris´ Stimme, während ich mich Griff um Griff hoch hieve und bin erleichtert, als die Kletterpartie sich als wesentlich leichter erweist, als der Rest meines heutigen Abenteuers. Nach kurzer Zeit lasse ich mir von Chris über die Kante helfen. Jayden und Nathan folgen dicht hinter mir. Als ich meine Hände von kleinen Steinchen und Staub befreit habe, strecke ich meinen Rücken durch und sehe mich um. Die Spiralkammer erweist sich als Kessel, dessen Seiten in großen Steinstufen ansteigen. Durch zahlreiche Höhlenausgänge und Felsspalten am obersten Ring flutet Sonnenlicht wie ein Wasserfall über die Kanten in den Silberberg und offenbart Steinhänge, Felsbrocken, Staub, der in der Luft hängt und das ein oder andere Pokémon, das uns aus den Schatten heraus beobachtet. Ein heller Klang wie Glockenbimmeln erfüllt die Höhle. „Wir verabschieden uns“, verkündet Jayden. Mit seiner Taschenlampe leuchtet er die erste Steinstufe ab. „Ist unser… ah, da ist es.“ Er winkt Nathan zu sich und zeigt ihm ein Seil, an dessen Ende ein Stein festgeknotet ist. Verkrustet mit Schlamm ist es neben die Steinwand kaum zu erkennen. „Chris und ich habe das angebracht, weil wir oft ganz oben trainieren. Hier geht’s ja nur um Höhe, da kann man auch mal ein bisschen schummeln.“ Ich schiele zu Chris, die bisher immer so stolz auf die Schwierigkeiten war, die wir im Silberberg bewältigen mussten. Sie hat die Brauen zusammengezogen, nickt aber stumm. Mit meiner eigenen Taschenlampe leuchte ich einmal die gesamte Höhle ab, während ich mich langsam im Kreis drehe. Tatsächlich scheinen nur wenige Stellen überhaupt kletterbar zu sein; je weiter man nach oben vordringt, desto weiter scheinen besagte Stellen auseinander zu liegen. Felstrümmer und aus dem Boden gebrochene Steine versperren in vielen Bereichen ein Durchkommen. Ich kann verstehen, weshalb selbst Chris das Seil zulässt. Bis alle Hindernisse überwunden sind, würde es wahrscheinlich einen ganzen Tag brauchen. Jayden hat inzwischen Handschuhe angezogen und klettert nun an dem Seil die stufige Steilwand empor. Einige Male rutscht ein Fels unter seinen Stiefeln ab oder entpuppt sich als Georok, aber er weicht immer geschickt aus oder schwingt zur Seite, um kleinen Steinschlägen auszuweichen. Nathan folgt ihm, als er etwa zehn Meter voraus ist. Ich werfe einen Blick auf mein Handy, aber wie erwartet habe ich keinen Empfang. Als ich den S-Com untersuche, ist das Signal zwar schwach, aber zumindest vorhanden. Inzwischen ist es fast 15:00 Uhr. Wir müssen länger in der Kaskadenhöhle verbracht haben, als mir bewusst war. Trotzdem ist es eindeutig zu früh. Die Müdigkeit überkommt mich in anhaltenden Schüben und alles, was ich will, ist zu schlafen. Aber ich bin mit Chris hier. Bei dem Gedanken daran, dass sie und Jayden schon Wochenenden durchgemacht haben, ohne mehr als ein paar Stunden zwischendurch zu schlafen, wird mir fast übel. „Die Pokémon hier sind auf Level 50 und höher“, sagt Chris, stellt ihren Rucksack ab und setzt sich ohne große Zeremonie im Schneidersitz auf den Boden. Erschöpft folge ich ihrem Beispiel. Es fühlt sich besser an, als es sollte. Während ich meine Wasserflasche auspacke und in großen Zügen austrinke, fährt Chris mit ihrer Erklärung fort. „Ronya wird in einigen Tagen ankommen und zusammen mit dir trainieren. Entei wird ein guter Partner für dein Igelavar sein, wahrscheinlich verlasst ihr die Höhle und geht zu Nathan. Dort gibt es mehr Eispokémon und keine direkte KO-Gefahr für ein Feuerpokémon.“ Ich nicke. Gott wird noch etwa zwei Wochen im Pokécenter bleiben müssen, bis seine Hinterläufe vollständig geheilt sind, aber danach ist es Zeit für ernstes Training. „Bis dahin übernehme ich deinen Schutz“, sagt Chris und steckt sich eine Trockenbeere aus ihrem Rucksack in den Mund. „Zuerst möchte ich verhindern, dass deine Pokémon ernsthaften Schaden nehmen, wenn etwas schief geht. Wir werden deine schwächsten Pokémon pushen, bis sie mindestens Level 25 erreicht haben. Danach kannst du entscheiden, wer deines Teams zuerst trainiert werden soll.“ Ich denke kurz nach. „Sku“, sage ich schließlich. „Du sagtest, es gibt hier Psychopokémon. Das macht sie zumindest nicht anfällig, auch wenn sie noch keine Unlichtattacke kann. Und wenn sie einen hohen Level hat, kann ich Hunter und Jayjay selbstständig mitziehen, oder nicht?“ Chris nickt zustimmend und isst eine weitere Beere. Über uns ist nur das Kraxeln von Jayden und Nathan zu hören, die fast das Ende des Seils erreicht haben. „Wo sind überhaupt die wilden Pokémon?“, frage ich misstrauisch und schaue mich um. Nachdem wir in der Kaskadenhöhle von einer Katastrophe in die nächste gerutscht sind, habe ich erwartet, hier augenblicklich von Gerölllawinen begraben zu werden. „Sie beobachten uns“, erklärt Chris und nickt in eine generelle Richtung. „Sie werden uns angreifen, sobald sie uns als Gefahr einstufen. Wenn wir nicht weiter in die Höhle vordringen, haben wir noch ein paar Minuten Ruhe, bevor sie Verdacht schöpfen.“ Ein schmales Lächeln huscht über ihre Züge, als rote Lichtblitze die Höhle erhellen. „Jayden und Nathan werden kämpfen müssen, bevor sie die Höhle verlassen können.“ Einige Minuten essen wir schweigend unseren Proviant, während Rufe und laute Kampfgeräusche von oben zu uns herab driften. Schließlich jedoch stellt Chris ihren Rucksack bei Seite und erhebt sich. Sie ruft ihr Gewaldro, ich folge ihrem Beispiel und wenige Sekunden später steht Priss neben mir und beißt mich in den Finger, eindeutig unbeeindruckt von ihrer neuen Umgebung. „Hab dich nicht so…“, beschwere ich mich und lutschte an der kleinen Bisswunde. „Wir sind hier, damit du stärker wirst.“ „Auf welchem Level ist sie?“, fragt Chris mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich krame meinen Pokédex aus den Tiefen des Rucksacks und deute damit auf Priss. „Aquana, das Blubblasen-Pokémon“, erschallt die metallische Frauenstimme. „Typ Wasser. Vibrieren seine Flossen, beginnt es in den nächsten Stunden zu regnen. Im Wasser ist Aquana so gut wie unsichtbar. Level 9. Spezialfähigkeit: H2O-Absorber.“ „Level 9…“ Sie lächelt. „Das wird sich bald ändern. Gewaldro wird alle Kämpfe austragen. Aquana muss sich einbringen, aber es sollte nicht aktiv mitwirken, das ist zu riskant.“ Ich nicke. „Verstanden.“   Wie Chris vorhergesagt hat, dauert unsere Ruhe nicht ewig an. Das Glockenbimmeln, das ich zuvor meiner Müdigkeit zugeschrieben habe, erweist sich schnell als ein Schwarm Klingplim, die wie eine Schule goldener Fische in den Lichtstrahlen tanzen, die durch die Höhlenspalte in die Spiralkammer fallen. Ich mache den Fehler, sie wegen ihres niedlichen Auftretens und der geringen Größe als Gegner zu unterschätzen, zumindest solange, bis der Schwarm Glöckchenpokémon mich mit einer kollektiven Konfusion fast dreißig Meter in die Luft befördert und dort kopfüber hängen lässt. Gewaldro greift mich mit Lianen aus der Luft, bevor die Pokémon mich mit glockenhellem Lachen in den Tod stürzen lassen können. Danach bleibe ich auf der Hut. Durch den Vorstoß der Klingplim ermutigt, fallen nach und nach weitere Bewohner des Silberbergs über uns her. Schon bald ist die größte Anstrengung, sie alle im Auge zu behalten, denn die Sniebel, Morlord, Entoron und Ursaring verlassen nach und nach ihre Verstecke und greifen stetig von allen Seiten an, während Golbat von der Decke hängen und in unregelmäßigen Abständen auf Chris und mich herabschießen. „Priss, nochmal Rechte Hand“, befehle ich zum gefühlt hundertsten Mal. Gewaldro hat sich Aquana aufgrund ihrer geringen Größe kurzerhand um den Hals geschlungen und schützt sie so vor allen Angriffen. Sein Blättersturm fegt durch die Höhle und trifft auf Eisstürme, die von einer kleinen Gruppe Sniebel beschworen werden. Jedes besiegte Pokémon wird sogleich durch zwei neue ersetzt. Die Luft ist geschwängert mit dem Lockduft der Ursaring und der Weißnebel eines Morlords hüllt Chris und mich schon bald in undurchdringliche weiße Schwaden. Ein Erdbeben lässt mich, wieder einmal, zu Boden stürzen. Ich will mich gerade erheben, da schießt eine Wasserdüse an mir vorbei, dicht gefolgt von einer Reihe Wind− und Luftschnitte, die von den Golbat über uns zum Spaß mit in den Topf geworfen werden. Zitternd krabbele ich über den bebenden Boden und suche hinter einem Felsen Schutz. Schreie, Kreischen, das Schrammen von Krallen auf Stein, schneidender Wind und das dumpfe Dröhnen des Untergrunds füllen meine Ohren. Erst, als der Nebel sich lichtet, kann ich Chris ausmachen, die auf einen der Felsen gesprungen ist und von dort Anweisungen gibt. Ihr Pikachu flitzt von einer Steinstufe zur anderen und setzt alles unter Strom, das fliegt oder ihm anderweitig in den Weg kommt, während Nachtara von Chris´ Schulter aus Horrorblicke und Toxine austeilt und sich regelmäßig mit Mondschein heilt, wenn es zu viele Attacken abfangen musste. Ich komme mir plötzlich sehr, sehr nutzlos vor.   „Level 23“, murmele ich schockiert, als wir etwas später in unseren Schlafsäcken liegen. Ich kann es immer noch nicht fassen. Wochenlanges, wenn auch unregelmäßiges, Training mit Gott hat mich nicht darauf vorbereitet, dasselbe Ergebnis an einem Abend zu erreichen. „Was hast du erwartet?“, fragt Chris gähnend. Sie liegt halb an einen Felsen gelehnt, Schlafsack offen, um das Stoffgefängnis in Sekundenschnelle verlassen zu können. „Aquana ist nicht nur an den Kämpfen beteiligt, sie gewöhnt sich an die Angriffsgeschwindigkeit und sieht viele Attacken in Aktion, die sie andernfalls erst später erkennen würde. Dadurch kann sie ihre eigenen Attacken schneller verstehen und erlernen. Ab jetzt wird es aber langsamer vorangehen.“ Sie gähnt wieder. Die Flut wilder Pokémon ist nach etwa drei Stunden des chaotischen Kämpfens abgeklungen, was ich damit erkläre, dass alle Bewohner dieser Höhle entweder zu verängstigt oder einfach bewusstlos sind, aber Chris hat mir versichert, dass dieser Frieden nur einige Stunden anhalten wird. Die wilden Pokémon auf dem Silberberg lassen sich nicht leicht vertreiben. Dies ist ihr Revier und wir sind die Eindringlinge. Sie werden ihren Lebensraum mit aller Macht verteidigen. Was im Klartext heißt: Nachtwachen und kaum Schlaf. Trotz des heulenden Windes, dem gedämpften Tosen der Wasserfälle unter uns und Walraisas schwerem Atem schlafe ich in Sekundenschnelle ein. Die Strapazen des Tages holen mich endlich ein und kein Pokémonkampf der Welt kann mich in dieser Nacht wecken.   ooo   Von: Ronya_Olith_06 An: Chris_Rowland_02; Jayden_Williams_03; Abbygail_Hampton_04; Melissa_Border_09; Nathan_Shuck_10 »Habe Proviant für alle dabei. »Bin gegen Mittag oben.   „Hallelujah!“, rufe ich und werde prompt von einem kleinen Steinchenhagel getroffen, den Chris eine Ebene über mir losgetreten hat. Priss, die neben mir in der Senke auf einem Stein sitzt, keckert vergnügt und spuckt mir eine Ladung Wasser ins Gesicht. Da ich gerade meinen Kopf zu ihr gedreht habe, landet die Hälfte in meinem Ohr. „Verdammt, Priss…", fluche ich und schlage mir gegen den Kopf, um das Wasser loszuwerden. „Seit du hier bist, verhältst du dich unmöglich!" Ihrer nächsten Attacke weiche ich gekonnt aus. „Ah", sagt Chris, die nun auch Ronyas Nachricht gelesen hat. „Das erspart uns den Abstieg." Ich nicke aufgeregt und schaue mich um. Drei Tage haben Chris und ich nun in der Spiralkammer zugebracht. Ich werde nicht lügen. Es war härter als ich in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Chris hat den Großteil unserer Nachtwachen übernommen, aber überraschender Weise schläft es sich nicht gerade gut, wenn einen Meter entfernt ein ausgewachsenes Walraisa gegen ein blutrünstiges Ursaring kämpft. Meine Hände, die dank unserer Kletterpartien in höhere Bereiche der Höhle nie ganz verheilt sind, habe ich gestern kurzerhand in Stoffstreifen eingewickelt, die von einem meiner alten Shirts stammen. Trotz Priss´ gelegentlicher Aquawelle sind meine Arme und Beine schmutzverkrustet und wenn ich einen Spiegel gehabt hätte, bin ich nicht sicher, ob ich meine Haarfarbe noch erkannt hätte. Trotzdem. Sich dem Silberberg so entgegenzustellen, hat seine Spuren bei mir hinterlassen. Ich bin nicht mehr völlig auf Chris´ Schutz angewiesen, die mich zwar stets im Blickfeld behält und meist eins ihrer Pokémon als Bodyguard absetzt, aber dank unseres durchgehenden Trainings hat mein Team einen echten Boost erhalten. Priss ist gewachsen. Mit Level 29 ist sie endlich nicht mehr in Gefahr, von den Attacken der wilden Pokémon umgebracht zu werden und ihr Einsatz von Wasserring ist ziemlich praktisch, auch wenn sie noch Probleme hat, genug Wasser aus der Luft zu absorbieren. Hunter ist bislang nicht zum Einsatz gekommen, denn der Luftraum im Silberberg ist noch härter umkämpft als der Boden und ich habe keine Lust, ihn in einen Schwarm Golbat hineinfliegen zu lassen. Sein gebrochener Flügel nahe dem Felsenherzturm war mir eine Lehre. Jayjay hat sich in seiner Abwesenheit mit Chris´ Pikachu angefreundet, das nur zu gerne von seinem Rücken aus Anweisungen gibt und Jayjay wenn nötig mit einem kräftigen Donnerblitz auflädt. Mein Blick fällt auf das ungleiche Duo, das eine Eben über mir gegen eine Gruppe Entoron kämpft. Dank Pikachus Unterstützung ist Jayjay in der Lage, die vier Wasserenten fast alleine in Schach zu halten. Pikachu hat die kurzen Ärmchen verschränkt und nickt anerkennend, während Pokémon um Pokémon Jayjays Funkensprung unterliegt. Und dann ist da Sku. Ich lasse mich neben Priss auf den Stein sinken und schaue zu meiner ältesten Freundin hinauf, die sich an Nachtaras Fersen geheftet hat und ihre Attacken mit Kreideschrei und Toxin unterstützt. Sie sind beide keine offensiven Kämpfer, aber zwischen Nachtaras Gegenstoß und Skus Schlitzer teilen sie genug Schaden aus, um sich in der Spiralkammer zurecht zu finden. Chris landet mit einem lauten Knall neben mir in der Senke und richtet sich langsam aus der Hocke auf. „Werden wir trotzdem zu Nathan gehen?", frage ich. Bevor Ronyas Nachricht kam, war das unser Plan, auch wenn Chris mir nicht sagen wollte, warum wir nicht den Weg zurück nehmen, durch den wir gekommen sind. Sie schmunzelt. „Ein andermal."   Ronya kommt einige Stunden später aus dem Loch gekrochen, das wie ein Abfluss an der tiefsten Stelle der Spiralkammer in die Kaskadenhöhle führt. Stöhnend klettert sie über den Rand und stellt ihren Rucksack neben sich ab, der sehr viel dicker aussieht als mein eigener. "Hey ihr beiden", begrüßt sie uns und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Mohawk hängt müde zu einer Seite. "Wenn ich Höhlen inzwischen nicht gewohnt wäre, hätte mir der letzte Abschnitt den Rest gegeben. Wyatt hat zum Glück etwas nachgeholfen." "Hast du Melissa getroffen?", frage ich und lasse mich ihr gegenüber im Schneidersitz auf den Boden nieder. "Kurz", stimmt Ronya zu. "Ich hab ihr einen Teil des Proviants überlassen. Nat und Jayden werden ihre Pokémon die Pakete abholen lassen. Ihr seid meine letzte Station." "Ich habe Abby so gut es ging unterstützt", schaltet Chris sich in die Unterhaltung ein. Hinter ihr feuert Gewaldro eine Ladung Egelsamen auf ein Georok ab. "Übernimmst du ab hier?" "Ja, kein Ding." Sie zieht eine große Wasserflasche aus ihrem Rucksack, nimmt einige tiefe Schlucke und kippt etwas in ihre hohle Hand, um sich Gesicht und Nacken zu waschen. "Gib mir nur ein paar Minuten Pause. Ah, hier ist dein Anteil." Sie wirft Chris zwei Plastiktüten zu, renkt mit einer scharfen Bewegung ihren Nacken ein und wendet sich mir zu. "Ich habe unten im Pokécenter nachgefragt, wann Igelavar wieder startklar ist." "Wirklich?", frage ich aufgeregt. Es wäre das erste gewesen, dass ich bei meiner Rückkehr zum Fuß des Berges getan hätte, aber Ronyas Ankunft hat unseren Plan über den Haufen geworfen. "Was hat Schwester Joy gesagt? Geht es ihm gut?" "Er ist gestern hierhin transferiert worden. Seine Beine sind gut verheilt, die Metallschienen sind entfernt worden und auch sonst erholt er sich ungewöhnlich schnell." Sie grinst. "Die Aussicht auf sein Training scheint ihn anzuspornen. Joy sagt, bei unserem nächsten Trip nach unten kannst du ihn einsammeln." Bis zu diesem Moment war mir nicht klar, wie sehr ich unter Gotts Abwesenheit gelitten habe. Zu hören, dass er bald wieder gesund und an meiner Seite ist, löst einen Knoten in meiner Brust, den ich schon als selbstverständlich angesehen habe. Tränen schießen mir in die Augen, aber ich wische sie hastig wef. Was muss Ronya denken? Ihre Hand landet auf meiner Schulter. "Ich weiß genau, wie du dich fühlst", sagt sie leise. "Lass es raus." Einen Moment zögere ich. Dann erwidere ich ihre dargebotene Umarmung und kralle mich hilflos an ihr fest.   ooo   Drei Dinge beschäftigen mich, während ich mich im tiefsten Schneesturm neben Nathan, Chris und Jayden an die Felswand hinter mir klammere und in die undurchdringliche Tiefe blicke. Neid darüber, dass Ronyas Höhenangst sie vor unserem Abstieg bewahrt, Vorfreude auf Gott, der am Fuß des Silberbergs auf mich wartet und dass ich bitte, bitte, bitte nicht sterben will. "Spring!", schreit Nathan, macht ein paar Schritte und hechtet von der Kante. Washakwil rauscht aus dem Sturm zu seinem Trainer, packt ihn mit den gewaltigen Krallen aus der Luft und schleudert ihn in die Höhe, um unter ihm hindurch zu schießen und im Sturzflug aus unserem Sichtfeld zu preschen. "Ich halte das für eine wirklich schlechte Idee", sage ich panisch und schaue zu Jayden, der mir ein breites Grinsen zuwirft, während Chris schon Nathans Beispiel folgt und vom Silberberg auf Ho-Ohs Rücken springt. Der legendäre Phönix erwartet sie nach zwanzig Metern freiem Fall und schießt mit ihr davon. "Du musst deinem Partner vertrauen", ruft Jayden gegen den tosenden Blizzard. "Na los, Abby! Runter da!" Ich zögere. Eine Sekunde zu lang für Jaydens Geschmack, denn er packt mein Handgelenk, zieht mich mit und reißt mich mit in die Tiefe. Mein Schrei muss bis nach Johto zu hören sein. Nach einigen Momenten, in denen mir der Atem wegbleibt, lässt Jaydens Hand mich los. Gemeinsam fallen wir den steilsten Hang des Bergs hinab, die einzige Stelle, die sich für dieses halsbrecherische Manöver anbietet. Der Blizzard reißt mir die Luft aus den Lungen, während ich kopfüber in die Tiefe stürze. Plötzlich bohren sich Krallen in den Stoff meiner Hoodie und verankern sich dort schmerzlich. Der Gegenwind wird schwächer, mein Fall langsamer und plötzlich habe ich das Gefühl, wieder atmen zu könne. Ich drehe den Kopf und entdecke Hunter. Sein Krächzen ist das schönste Geräusch, das ich je gehört habe. Ein gezielter Wurf und eine nicht ganz so gezielte Landung später finde ich mich auf seinem Rücken wieder, Tränen in den Augen und mit eisverkrusteten Haarsträhnen. "War doch gar nicht so schlimm!", lacht Jayden, der in dem Moment auf Glurak angerast kommt. Der Feuerdrache speit triumphierend eine Flammenwoge in den Blizzard, den wir hinter uns lassen, je tiefer wir sinken und fackelt dabei beinahe Jayden ab, der sich gerade rechtzeitig zur Seite kippen lässt. Ich schüttele fassungslos den Kopf und kralle mich stattdessen in Hunters Gefieder. Seine kraftvollen Flügelschläge bringen uns schnell voran und nur wenige Minuten später schwindet die weiße Schneedecke und gibt den unteren Berghang frei, über den wir in einem halben Sturzflug herab rasen. Dann kommt das Pokécenter in Sicht.   "Der ist für dich", sagt Schwester Joy und legt Gotts Finsterball vorsichtig in meine ausgestreckten Hände. "Ein wackeres Kerlchen, muss ich sagen." "Vielen Dank", flüstere ich und schaue fasziniert den schwarz-grün gemusterten Ball an. Ich verabschiede mich und verlasse das Center. Draußen wartet bereits die anderen. "Dann lass mal sehen, wer dieser sagenumwobene Gott ist", verkündet Melissa spöttisch. Zum ersten Mal ist mir ihr Ton völlig egal. Ich aktiviere den Finsterball und erwarte mit klopfenden Herzen den roten Lichtstrahl, der in unserer Mitte explodiert und seinen Bewohner freigibt. Gott schnaubt einige Flammen ins Gras und schaut sich desorientiert um. Sein Kopf macht einmal die Runde und entdeckt der Reihe nach Chris, Jayden, Melissa und Nathan. Sein Rückenfeuer erwacht zu neuem Leben und er fletscht die Zähne. Dann fällt sein Blick auf mich. Mit einem langgezogenen Jaulen läuft er auf mich zu und springt in meine Arme. Ich lasse mich von seinem Gewicht umwerfen und zu Boden drücken. Seine raue Zunge leckt über meine Wange und die Hitze seines Schuppenpanzers strahlt angenehm auf mich ab. Meine Arme umschlingen ihn in einer verzweifelten Umarmung. Fast ein Monat des Bangens, und nun sind wir wieder vereint. "Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht", murmele ich, überwältigt von dem Moment. Nach einigen Minuten Kuscheleinheit löse ich mich von Gott und untersuche seine ehemaligen Verletzungen. Die Narben in seinem Panzer aus dem Kampf gegen Lambda sind unverändert geblieben, werden nun aber durch die kreisrunden, hellen Flecken an seiner Hüfte und den Gelenken ergänzt, wo die Metallschienen durch seine Haut gebohrt wurden. Die Gliedmaßen selbst scheinen wieder voll beweglich, auch wenn die Muskulatur stark abgenommen hat. "Bist du mit deinem Schmusetier fertig?", fragt Melissa genervt und verschränkt die Arme. "Mir soll es egal sein, aber Nathan hat noch einen langen Aufstieg vor sich, falls dir das entgangen ist." "Denselben wie Abby, Lissa", stöhnt Nathan, während Jayden ein wütendes "Sie hat ihr Pokémon ´nen Monat nicht gesehen, also halt mal die Luft an" in ihre Richtung faucht. Fast amüsiert hebt sie die Arme in einer spöttischen Geste der Unterwerfung. "Der Mob hat gesprochen", murmelt sie. Gott, der in dem Moment von mir abgelassen hat, fährt bedrohlich die Krallen aus und gibt ein ohrenbetäubendes Knurren von sich. "Uhh, gruselig", sagt Melissa. "Was, hat der Welpe etwa Zähne?" Gott springt vor, aber mein kurzer, schriller Pfiff holt ihn zurück. "Lass sie in Ruhe, Gott", sage ich ruhig und lasse Melissa dabei nicht aus den Augen. "Sie provoziert dich absichtlich." Gott spuckt eine kleine Stoßflamme vor ihre Füße, trottet aber gehorsam an meine Seite zurück. Die Erleichterung, die ich fühle, könnte kaum größer sein. Ich war nicht sicher, ob der lange Aufenthalt im Pokécenter sein Training untergraben hat, aber er scheint auf mich zu hören, vielleicht sogar besser als zuvor. Sicher muss er sich daran erinnert haben, dass er das letzte Mal drei Wochen kampfunfähig war, als er meinen Befehl ignoriert hat. "So ungern ich Melissa Recht gebe, wir müssen hoch", sagt Jayden an mich gewandt, während er ein Bonbon aus seiner Lederjacke fördert und sich in den Mund wirft. "Wir haben noch´n ganzes Stück vor uns." Ich nicke, streiche ein letztes Mal über Gotts Kopf und rufe ihn zurück. "Packen wir´s an." Kapitel 115: Teach me, Master (Kampf gegen die Elemente) -------------------------------------------------------- "Hier." Ronya wirft mir einen Hypertrank zu, den ich mit steifgefrorenen Händen auffange und im selben Moment fast wieder fallen lasse. Gott, der sich flach in den Schnee drückt, um den eisigen Winden des Gipfels zu entfliehen, niest herzhaft. Er schlürft den Trank in gierigen Zügen aus der Flasche und schüttelt sich, als die heilende Wirkung der Arznei seinen Körper durchströmt. Ich hopse derweil von einem Bein auf´s andere und friere unauffällig vor mich hin. "K-können wir eine Pause machen?", frage ich hoffnungsvoll und denke an die windgeschützte Höhle, die nur ein paar Minuten von unserem jetzigen Standort zwischen sich wiegenden Nadelbäumen und zugeschneiten Felsbrocken entfernt liegt. Warm ist es dort nicht, aber Gotts Rückenfeuer wird reichen, um die schlimmste Kälte zu vertreiben. Ronyas Blick zerschmettert meine Hoffnungen. "Das ist erst unser zweiter Tag, Abby", sagt sie. "Wir haben noch mindestens drei Wochen Training vor uns. Willst du jetzt schon aufgeben?" "Ich verstehe einfach nicht, warum ich Gott nicht entwickeln soll", entgegne ich und hauche mir in die Hände. "Er gehorcht inzwischen auf´s Wort." Der wahre Grund ist, dass ich mir durch Tornuptos größeren Körper mehr Wärme in diesem eisigen Wetter erhoffe, aber das muss Ronya schließlich nicht wissen. Gott knurrt zustimmend. Seit seiner Rückkehr haben Ronya und ich uns darum bemüht, ihn nur körperlich zu betätigen und nicht aktiv in Kämpfe einsteigen zu lassen, damit seine Muskulatur sich wieder aufbauen kann, aber der Silberberg hat andere Pläne. Nur ein Tag ist vergangen und Gott hat schon Level 38 erreicht, alles durch ungewollte Kämpfe, die Ronya mit Entei oder ihrem Galagladi Arthur beendet. Ronya seufzt und winkt uns nun doch zu sich. Gehorsam wie zwei Baby-Pokémon folgen wir ihrem Signal und lassen uns aus dem tosenden Wind ins Innere der Höhle leiten. Von tief innen kann ich lautes Knurren und das Ratschen von Krallen auf Stein vernehmen. Jayden ist mal wieder voll bei der Sache und hat gleich die gesamte Höhlenpopulation in seine Richtung gezogen. Soll mir Recht sein. "Setz dich", sagt Ronya und lässt sich selbst an einem Felsen nieder. Ich folge ihrem Beispiel. Gott legt sich als mobiler Heizkörper an meine Seite, während Enteis imposante Gestalt sich neben Ronya niederlässt. Auch nach zwei Tagen in seiner Nähe kann ich die Gänsehaut nicht unterdrücken, die mir beim Anblick des Legendären über den Rücken läuft. "Es wird Zeit für etwas Theorie", fährt Ronya fort. "Wenn du meinen Anweisungen nicht folgen willst, erkläre ich dir die Hintergründe und du kannst danach deine eigene Entscheidung treffen." Ich nicke. "Klingt fair." "Gott ist in einer seltenen Phase seiner Entwicklung", beginnt Ronya. "Weißt du, warum?" "Weil er sich theoretisch entwickeln könnte, aber bewusst zurückhält", sage ich sofort. Das ist schließlich das Kernproblem. "Ganz genau." Sie streicht nachdenklich durch Enteis Nackenfell. Das Vulkanpokémon grollt zufrieden, bettet seinen Kopf auf die gewaltigen Pranken und schließt ein Auge. "In deinem Fall wollten wir verhindern, dass du die Kontrolle über Gott verlierst, wenn er sich zu früh in ein Tornupto entwickelt. Deiner Einschätzung nach ist diese Gefahr nun gebannt. Aber es gibt auch nicht-psychologische Vorteile für diese Art des Trainings. Tatsächlich ist die Methode bei vielen Trainern sehr beliebt." Ich runzele die Stirn. Agnes hat in ihren Vorlesungen etwas Ähnliches erwähnt, aber ich kann mich partout nicht mehr an die Feinheiten erinnern. "Geht es darum, dass Pokémon stärker werden, wenn sie länger in einer Entwicklungsstufe bleiben?" "Nicht direkt, aber du kommst der Sache näher." Ronya zieht ihr altes Pokédexmodell aus ihrem Rucksack und durchstöbert einige Sekunden lang ihr Archiv, dann reicht sie mir das klobige Gerät. "Vielleicht ist es dir bisher noch nicht aufgefallen, aber Pokémon erlernen Attacken in ihren Entwicklungsstufen auf unterschiedlichen Durchschnittsleveln. Das bedeutet, dass unterentwickelte Pokémon durch den Nachteil ihrer Grundfähigkeiten diesen schneller ausgleichen müssen, nämlich durch das verfrühte Erlernen von Attacken. Ich habe dir die Karteikarten für Gott geöffnet. Was fällt dir auf?" Ich überfliege die Tabelle. "Als Igelavar erlernt er die nächsten Attacken im Schnitt zwei Level früher!" Ich hebe überrascht den Kopf. "Also willst du, dass Gott erst die nächsten Feuerattacken erlernt, damit er sie als Tornupto früher einsetzen kann?" Sie lächelt. "Richtig. Es ist natürlich deine Entscheidung. Zwei Level sind keine große Sache, aber da wir nicht wissen, wann wir den Silberberg verlassen müssen, halte ich es für keine schlechte Idee, Gott so lange wie möglich den Vorteil seiner Unterentwicklung nutzen zu lassen. Hier hast du die Möglichkeit, schließlich sind wir anderen da, um dich im Training zu unterstützen. Gotts mangelnde Grundfähigkeiten fallen nicht so sehr ins Gewicht, wenn er nicht alleine kämpft." "Was hältst du davon, Gott?", frage ich und schaue zu ihm hinunter. Seine Augen glühen. "Klingt gut, oder?" Er grollt zustimmend und schmiegt sich etwas enger an mein Bein. Ah, die Wärme… Ronya zögert, fährt aber fort. "Da ist noch ein anderer Grund", gibt sie zu. Ich unterbreche das Bauchkraulen und schaue zu ihr auf. "Was meinst du?" "Gott nähert sich dem Levelbereich, in dem die Blockaden ein echtes Problem werden", sagt Ronya. "Wenn er die vierzig überschreitet, hängt alles weitere von euch ab. Ich kann nur bis zu einem gewissen Grad helfen, aber Gott ist dein Pokémon. Du kennst ihn am besten, Abby. Wenn die Zeit kommt, hängt es an dir, ein Trainingsprogramm für ihn zu entwickeln, das ihn voranbringt. Und ich denke, dass es ihm leichter fallen wird, wenn er sich nicht zusätzlich an einen neuen Körper gewöhnen muss." Nachdenklich kraule ich Gotts Nacken. Über den Aspekt seiner Entwicklung habe ich noch gar nicht nachgedacht. Es stimmt natürlich, dass Gott sich erst an den neuen Körperbau gewöhnen muss. Wahrscheinlich hat Ronya mal wieder Recht. Seit ich sie kennen gelernt habe, erscheint sie mir mehr und mehr wie ein wandelndes Lehrbuch. Ronya wirft mir einen Müsliriegel zu und einige Minuten essen wir schweigend. Ihr Blick ruht auf mir, so als warte sie auf irgendeine Reaktion. Seufzend stehe ich auf. „Gott, weiter geht´s“, befehle ich und muss grinsen, als Ronya mir zuzwinkert.   ooo   Nathan tätschelt Washakwils hakenförmigen Schnabel, während er Hunter und mich mustert, wie wir schlotternd vor ihm stehen. Für Silberbergverhältnisse ist das Wetter blendend, was bedeutet, dass die tückischen Winde, die um den Gipfel fegen, nicht mit faustgroßen Hagelkörnern gespickt sind. Trotzdem bin ich nach fast einer Woche Training in diesen Temperaturen nicht sicher, ob meine Nase nicht doch abgefroren ist. „Er hat Agilität gelernt?“, fragt er nach. Ich nicke steif. „G-gestern Abend.“ Nathan Gesicht hellt sich merklich auf. „Das ist super“, erklärt er aufgeregt. „Geronimo hier ist voll auf das Fliegen ausgelegt. Mit Rückenwind kann ich eine ganze Flugtruppe pushen, Wirbelwind macht Gegnern das Fliegen schwer und wenn es wirklich hart auf hart kommt, ist sein Freier Fall erste Sahne.“ Er grinst bis über beide Ohren, hustet verlegen und krault den Adler am Kopfgefieder, bis dieser genießerisch die Augen schließt. „Aus Team Shadow bin ich der erfahrenste und beste Flieger, ohne angeben zu wollen. Du hast mit Ibitak den Nachteil, dass ihm sowohl der Level als auch das Flugtraining fehlt, aber was wir wirklich üben müssen, sind Manöver.“ Ich runzele die Stirn. „Warum?“, frage ich. „Bisher mussten Hunter und ich immer lange Strecken fliegen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir einmal Probleme dabei hatten, wie wir uns in der Luft bewegen.“ „Sicher?“, fragt Nathan und deutet mit dem Daumen auf Hunter Brustgefieder, das nach seinen Verbrennungen nur dünn nachgewachsen ist. „Ich habe gehört, dass ihr geradewegs in eine Explosion geflogen seid. Ich war nicht dabei, ich kann also nicht beurteilen, ob ihr mit meinen Techniken hättet ausweichen können, aber wenn wir gegen Team Rocket ankämpfen, werden wir in der Unterzahl sein, habe ich nicht Recht?“ „Natürlich“, sage ich und füge, etwas zögerlich, hinzu, „Wenn wir vielen Trainern gleichzeitig ausweichen müssen, wären ein paar neue Manöver sicher hilfreich.“ Nathan nickt zufrieden. „Gut. Als erstes musst du lernen, deinem Pokémon blind zu vertrauen.“ Als er passend zu dem Wort blind ein schwarzes Tuch aus seiner Jackentasche zieht, bestätigen sich meine schlimmsten Vermutungen. „Du willst, dass ich blind fliege“, sage ich. „Hier? Am Silberberg?“ „Luft ist überall, Abby“, lacht Nathan. „Du kannst es hier genauso lernen wie woanders. Na komm, an mit der Augenbinde.“ Hunter krächzt aufgeregt, als ich mich neben ihn stelle und mir die Augen verbinde. Absolute Schwärze legt sich über meine Augen. Ich atme nervös aus und versuche nicht daran zu denken, dass der Abgrund nur wenige Meter entfernt ist. „Auf Verfolgungsjagden ist es sinnvoll, wenn du das Lenken übernimmst“, erklärt Nathan. „Aber wenn die Zeit für einen ausgewachsenen Luftkampf kommt, musst du dein Pokémon fliegen lassen, wie es will, damit du dich auf die Attacken und Konterkommandos konzentrieren kannst. Wenn der Reiter lenkt, passt sich das Pokémon an, um seine Befehle zu befolgen, aber wenn ihm die Führung überlassen wird, kann es die besten Winde nutzen. Das bedeutet auch, dass du absolutes Vertrauen in seine Flugkünste haben musst. Und natürlich, dass du in Sekundenbruchteilen Situationen erfassen und dir eine neue Strategie zurechtlegen kannst.“ „Ist ja quasi nichts“, sage ich sarkastisch und taste vorsichtig nach Hunter, der mir seinen Kopf entgegen streckt. „Niemand sagt, dass es leicht ist“, erwidert Nathan. „Luftkämpfe gehören neben Unterwasserkämpfen zu den anspruchsvollsten, die es gibt, weil mehr Dimensionen im Spiel sind und der Trainer das Geschehen nicht in Ruhe aus der Ferne analysieren kann, sondern selbst mitten drin ist. Also, steig auf und dann lass dich ein bisschen spazieren fliegen. Wenn du dich sicher fühlst, gib mir ein Zeichen, dann kommt die nächste Aufgabe.“ Hunters Kopf stupst gegen meine Hand. „Ich mach ja schon“, murmele ich gutmütig, taste mich zu seinem Körper vor und klettere vorsichtig auf seinen Rücken. „Du hast Nathan gehört, Hunter. Lass dich nicht aufhalten.“ Das lässt er sich nicht zweimal sagen. Ich habe gerade genug Zeit für einen erstickten Schrei, da hat er schon abgehoben und lässt Nathan und den Berg unter uns zurück. Ich persönlich verabschiede mich von meinem Magen, der irgendwo unter mir rumschwirrt und schlinge in Todesangst meine Arme um Hunters Hals. Am liebsten würde ich mir sofort die blöde Binde abziehen oder Hunter zurück zu Boden lenken, aber mein Stolz verbietet es mir. Ich habe mich für das Trainingscamp am gefährlichsten Ort Kantos mit den gnadenlosesten Lehrern der Welt entschlossen, also werde ich das Ganze auch durchziehen. Es dauert eine Weile, bis ich meinen Griff lockere. Ohne die visuellen Eindrücke bin ich nicht sicher, was für Manöver wir eigentlich fliegen, nur, dass ich ab und an kopfüber hänge oder der Wind sich dreht. Alles in allem ist es bei weitem nicht so schlimm, wie ich erwartet habe und so gebe ich Nathan das Zeichen, weiterzumachen. Meine geschärften Sinne hören Washakwils Flügelschläge von weitem. Kurze Zeit später meine ich sogar, die veränderten Luftströme auf meinem Gesicht zu spüren. "Was jetzt, Meisterflieger?", rufe ich ihm zu. "Darf ich wieder sehen?" "Noch nicht. Bist du bereit für den ultimativen Vertrauenstest?" "Muss ich wohl, sonst lässt du mich hier oben verrotten!", entgegne ich lachend. Nathan stimmt nicht ein. "Dieses Mal meine ich es ernst, Abby", sagt er. "Vertraust du Hunter voll und ganz? Und vertraust du mir, im Notfall einzugreifen?" Ich muss nicht lange nachdenken. "Sag schon, was ich tun muss, es wird kalt." "Ruf Hunter zurück und beschwöre ihn sofort wieder." "Was?!" "Traust du dich nicht?" Ich beiße mir auf die Lippen. Um Vertrauen geht es nicht. Hunter will mir nichts Böses, das ist gar keine Frage, aber ihn zurückzurufen, wie ein Stein zu Boden zu fallen… Jaydens Stimme hallt in meinen Gedanken wieder, als er mich zum Sprung vom Berg überredet. Darum geht es also. Eine andere Erinnerung nagt unterdessen ihren Weg an mein Bewusstsein. Gold, der Lugia mit eben diesem Trick durch den Maschendraht der Safari-Zone manövriert hat. "Wann kann ich loslegen?", rufe ich schließlich zurück. Nathan lacht und von dem plötzlichen Windstoß, der uns abdriften lässt, nehme ich an, dass er und Washakwil etwas Abstand nehmen, um Hunter Raum zum fliegen zu geben. "Leg los, wenn du bereit bist!" Ich hole tief Luft und fahre durch Hunters Federn, so als wäre es das letzte Mal in meinem Leben. Wenn Nathan mich nicht zu dem Superwichtigen Flugtraining Spezial abgeholt hätte, könnte ich jetzt noch bei Ronya sein, die gerade mit Gott und den anderen trainiert. Meine Finger umschließen Hunters Pokéball und rufe ihn zurück. Ich falle. Kaum eine Sekunde vergeht, da aktiviere ich mit zittrigen Fingern den Ball und warte, während unter mir der Boden immer näher kommt und der Wind schmerzhaft in meinen Ohren rauscht. Alles vergeht in Zeitlupe und obwohl ich absolutes Vertrauen in Hunter habe, frage ich mich plötzlich, ob er mich nicht einfach zu spät erreichen wird oder ob ich vorher auf einem Stein aufschlage, der ungünstig aus der Felswand ragt. Gerade, als ich über meinen Tod nachdenke, packen mich Krallen, ziehen mich schwungvoll auf meinem Fall heraus und wenige Sekundenbruchteile später finde ich mich auf Hunters Rücken wieder, während Adrenalin durch meinen Körper pumpt, so als gäbe es kein Morgen mehr. Ich reiße mir die Binde von den Augen und blinzele gegen den Wind und das Sonnenlicht. Hunter krächzt, hochzufrieden mit seiner Leistung und Nathan fliegt auf Geronimo näher, bis er mir eine Hand entgegenstreckt. Seine Wangen sind rotgefleckt und er grinst breiter, als anatomisch möglich sein sollte. "Hervorragend", sagt er und gibt mir eine High-Five. "Und jetzt üben wir Agilitätspurts!"   ooo   Ronya sitzt im Schneidersitz auf einem verschneiten Felsbrocken und beobachtet mich. Ich spüre ihren Blick im Nacken, als ich mich dem Sniebel entgegenstelle, das bedrohlich mit den fingerlangen Krallen klappert. Gott hat sein Rückenfeuer voll entfacht; auf Level 41 ein beachtliches Schauspiel. Seine Beinmuskulatur ist unter dem vernarbten Schuppenpanzer deutlich erkennbar, denn er hat in der letzten Woche stark an Gewicht und Größe zugelegt. Mit einem herkömmlichen Igelavar ist er lange nicht mehr zu vergleichen. Trotzdem hat er seit zwei Tagen keine Fortschritte mehr gemacht. Ronya ist sicher, dass wir seine Blockade erreicht haben. Nun liegt es an mir. Sein Knurren reißt mich zurück in die Gegenwart. "Du weiß, was zu tun ist", sage ich, als er vortritt und das Klauenwiesel in Augenschein nimmt. "Verschaff dir einen Vorteil mit Rauchwolke, dann starten wir durch mit Nitroladung. Auf geht´s!" Sniebel hat seine Klauen wie Fäuste erhoben und tänzelt von einem Bein auf´s andere. Gott fletscht knurrend die Zähne und presst sich flach in den Schnee, während er Sniebel langsam umrundet. Das Wiesel schärft seine Krallen und knurrt bedrohlich zurück. Plötzlich springt es vor. Gotts Rauchwolke schießt explosionsartig aus den erstickten Flammen auf seinem Rücken und füllt die Luft mit undurchdringlichem, schwarzen Ruß, der Sniebels Schlitzer im Schnee landen lässt. Das Fauchen und Spucken der beiden Kontrahenten hallt am Berghang wieder, als Gotts rot glühender Köper im Rauch sichtbar wird und er in einem Sprint auf Sniebel zu prescht, das sich zur Seite fallen lässt und ihn mit seinen Klauen am Bauch trifft. Ich beiße mir auf die Lippen, während Gott keuchend zurückspringt und sich unter Schmerzen einrollt. Der Einigler wird zumindest seine Verteidigung stärken, aber gewinnen werden wir so nicht. Sniebel keckert selbstgefällig, als der Rauch von dem eisigen Wind davon geweht wird und die Sicht auf die beiden Pokémon freigibt. "Werd kreativ, Abby", ruft Ronya mir zu. "Mit normalen Strategien wirst du nicht gewinnen." "Gott, Planänderung!", rufe ich ihm zu. "Zermürb es mit Sternschauer und warte auf mein Kommando." Gott rappelt sich auf, gerade rechtzeitig, um mit einem Hechtsprung Sniebels Eissplitter auszuweichen, den das Pokémon in Sekundenschnelle aus der Luft kristallisiert und mit geübter Präzision in seine Richtung geschleudert hat. Noch halb im Flug schießen goldene, rotierende Lichter aus seinem Maul und verfolgen Sniebel, das mehrere Meter zurückspringt, bei seinem letzten Rückwärtssalto von dem Sternschauer in die Magengrube getroffen wird und heftig gegen eine Tanne prallt. "Jetzt!", schreie ich und Gott sprintet vor, baut Hitze in seinem Körper auf, bis das Feuer auf seinem Rücken seinen gesamten Schuppenpanzer zu umhüllen scheint und rammt Sniebel, das verdattert vom vorigen Aufprall keine Gelegenheit findet, auszuweichen. Sniebels Körper zischt bei Gotts Körperkontakt und mit einem verzweifelten Hieb seiner Klaue ratscht es einmal Gotts Gesicht entlang. Funken spuckend und keifend springt Gott zurück, halt ein Auge aber geschlossen. Der Schlitzer hat nicht optimal getroffen, aber trotzdem hinterlässt der Kampf seine Spuren. Sniebel schüttelt sich inzwischen und streicht vorsichtig über das versengte Fell an seinem Bauch. Es zischt leise und hebt ruckartig den Kopf. Plötzlich ist es verschwunden. Erschrocken reißt Gott den Kopf herum, während ich mich panisch umsehe. Da fällt ein Schatten auf uns herab. "Über dir!", kreische ich und sehe gerade noch, wie Sniebel seinen Agilitätsschub abbricht, zwei Eissplitter formt und auf Gott herabschleudert. Er reißt das Maul auf und beschwört einen Sternschauer gegen die Eisattacke. Beide zerspringen in einem Meer aus goldenem Glitzern zu kleinsten Fragmenten, die wie Neuschnee zu Boden rieseln. Sniebel landet gekonnt auf beiden Hinterbeinen, schießt vor und schlitzt eine tiefe Wunde in Gotts verwundete Seite. Er schnappt hilflos nach ihr und kugelt sich ein weiteres Mal ein. Mein Blick huscht zu Ronya. Noch eine Attacke und es ist aus, das wissen wir beide, aber sie macht keine Anzeichen, einzugreifen. Entei steht an ihrer Seite. Seine Pfoten haben den Schnee zu einer Wasserpfütze geschmolzen. Plötzlich erklingt das laute Grollen eines Ursarings irgendwo hinter Sniebel. Ronya schnalzt mit der Zunge und Entei trottet davon, um unsere Rücken für den Kampf freizuhalten. Sniebel hält derweil in seinen Angriffen inne, um nach Atem zu schnappen, während Gott mit bebenden Flanken am Boden kauert und auf mein Kommando wartet. Panisch denke ich nach. Meine Gedanken rasen durch meinen Kopf, während ich mir alle Informationen in Erinnerung rufe, die ich aus meinen langen Gesprächen mit Ronya aus ihr heraus gequetscht habe. Eine Blockade ist die Stagnation des Stärker-Werdens, wenn das herkömmliche Training nicht mehr ausreicht. Gott ist stark, aber seine Feuerattacken maximieren nicht seine Fähigkeiten. Was er jetzt braucht, ist eine Spezialattacke, die er auch noch problemlos benutzen kann, wenn sein Körper angeschlagen ist. So wie jetzt. Ich nehme ihn in Visier. Die nächste Attacke, die er lernen sollte, ist Flammensturm. Ein mächtiger Feuerangriff, die seine Stärken voll ausspielen würde. Er muss sie lernen, wenn wir weiter kommen wollen, da bin ich sicher. Was tun, was tun? Ursarings Brüllen verstummt, als es sich für einen Angriff bereit macht, doch das legendäre Wanderpokémon ist schneller. Entei stemmt die Vorderpfoten in den Schnee und holt tief Luft. Eis klettert seine Pfoten empor. In dem Moment, da Ursaring vorspringt, reißt Entei das Maul weit auf und ertränkt den Schläferbären in einem Flammenmeer, das wie ein Sturm um den mannshohen Körper strömt und das Pokémon in Sekundenschnelle brennend und vor Schmerzen brüllend in den Schnee sinken lässt. Meine Gedanken sind blank. Da ertönt Sniebels Fauchen. Ich reiße mich von dem Anblick der beiden anderen Kämpfer los und widme mich unserem Gegner, der keckernd vorgeschossen ist und auf Gott zusprintet. "Rauchwolke und ausweichen", befehle ich, plötzlich ganz ruhig. Gotts Flammen ersticken und schwarzer Rauch hüllt ihn wie ein Mantel ein. Sniebel hustet, als es den dichten Smog einatmet und verfehlt den Schlitzer, der harmlos im Schnee landet. Es zischt und ich kann mir förmlich vorstellen, wie es blind und mit brennenden Augen nach Gott Ausschau hält. "Hast du Entei eben gesehen?", schreie ich Gott zu. "Er ist ein Vulkanpokémon, so wie du! Wenn du nicht genug eigene Hitze für einen Flammensturm generieren kannst, dann zieh sie aus der Erde!" Einige Sekunden herrscht relative Ruhe, in der nur Sniebels Winseln und der pfeifende Wind zu hören sind. Der Rauch lichtet sich und gibt den Blick auf Gott und Sniebel frei, die etwa fünf Meter entfernt voneinander stehen. Sniebel reißt den Kopf herum, kreischt triumphierend und bildet zwei spitzzulaufende Eiszapfen in seinen Händen, die es wie Speere auf Gott zuschleudert. Gott weicht dem ersten aus, in dem er sacht zur Seite wankt. Dann frieren seine Beine zu, seine Kehle beginnt von innen heraus zu glühen und er öffnet sein Maul so weit, wie seine Kiefer erlauben. Eine spiralförmige Feuersbrunst explodiert aus seinem Rachen, schmilzt den Eissplitter zischend zu Wasser, das mit einem lauten Knall verdunstet und umhüllt Sniebel in einem Meer aus Flammen und unerträglicher Hitze. Das Wiesel gibt keinen Laut von sich, als es regungslos in sich zusammensackt. Gott spuckt selbstgefällig eine kleine Flamme in den Schnee, der bei genauerem hinsehen entlang seiner Attacke völlig geschmolzen ist. Einige Momente kann ich nicht glauben, dass wir es tatsächlich geschafft haben. Dann springe ich in die Luft und lasse einen lauten Jubelschrei los, bevor ich zu Gott stürze, ihn emporhebe und im Kreis drehe. "Das war clever", sagt Ronya, die frohen Mutes von ihrem Felsen springt und sich zu uns stellt. Sie tätschelt Gotts Kopf. "Ich habe mich schon gewundert, wann du auf seine Vulkannatur kommen würdest. Enteis Geduld war jedenfalls zu Ende, sonst hätte er dir die Lösung nicht auf dem Silbertablett serviert." Ich strecke ihr verlegen die Zunge heraus. "Ich wäre schon noch alleine drauf gekommen", sage ich und setze Gott neben mir ab, wo ich ihm einen von Ronyas Hypertränken zu trinken gebe. "Aber wir haben keine Zeit und außerdem wollten wir diesen Kampf unbedingt gewinnen." Gott knurrt zustimmend. Als er jetzt sein Rückenfeuer auflodern lässt, ist es fast größer als sein restlicher Körper. Erschrocken springe ich zurück, bevor meine Haare Feuer fangen und schaue ihn fassungslos an. "Das war doch nur ein Level", sage ich an Ronya gewandt. "Warum ist es so ein plötzlicher Schub?" "Blockaden zu überwinden ist der beste Weg, dein Pokémon langfristig stark werden zu lassen", sagt Ronya und tätschelt Enteis Flanke, das in dem Moment zu uns zurückkommt. Es senkt den Kopf und heißer Atem strömt über Gott, der sich klein macht und unterwirft. "Ab jetzt solltest du mit Gotts Training keine großen Probleme mehr haben. Bleib kreativ, nutze deine Vorteile und ihr werden euch hier oben bald alleine austoben können." "Ich habe nachgedacht", sage ich, während wir gemeinsam für unsere Mittagspause zurück zur Höhle stapfen, während der eisige Winds des Silberbergs unser Haar gefriert und unsere Nasen taub werden lässt. "Sku wird bald auch ihre Blockade erreichen. Denkst du, Chris´ Nachtara könnte ihr helfen?" "Skus nächste Attacke ist Nachthieb, oder?", fragt Ronya. Ich nicke missmutig. Wir stehen so kurz vor ihrer ersten Unlichtattacke, aber bislang habe ich es nicht geschafft, sie auf den nötigen Level zu bringen. Ohne Unterstützung durch Gott oder einen der anderen ist sie den Pokémon hier noch nicht gewachsen. "Ich hätte dir Amys Snibunna empfohlen, weil es die gleiche Attacke lernt und mehr auf Angriff getrimmt ist, als ein Nachtara. Leider ist sie nicht hier." "Nachtara ist eher passiv und benutzt viele Statusattacken", überlege ich laut. "Und Skus Verteidigung könnte wirklich besser sein. Einen Versuch ist es wert." "Du kennst dein Pokémon besser als ich, Abby", sagt Ronya und wirft mir ein strahlendes Lächeln zu. "Tob dich aus." "Das werde ich", sage ich grinsend und streiche abwesend über Gotts Kopf, als wir die Höhle betreten und vom Silberberg verschlungen werden. Kapitel 116: Früchte der Arbeit (Ausschwärmen, TS!) --------------------------------------------------- Ich streife meine Handschuhe über und nehme die Gegnerflut von Jayjays Sattel aus in Augenschein. Ronya hat für meine heutige Herausforderung ein ganzes Rudel Sniebel angelockt, sowie zwei Ursaring, die von unterschiedlichen Seiten auf uns zukommen. Einige Morlord und Entoron sind ebenfalls von der Partie, genau wie ein Golbat, das von einer Kiefer zu uns herabschaut und feixend seine Fangzähne abschleckt. Jayjay tänzelt nervös unter mir und peitscht mit seinem Schweif. Es ist sein erster Kampf mit mir auf dem Rücken, aber das ist Teil der heutigen Aufgabe. Hunter gurrt beruhigend zu uns herab. Gott und Sku haben vor uns Stellung bezogen und fletschen bedrohlich knurrend die Zähne, während Priss an Jayjays Seite steht, die Schwimmhäute von ihren Wangen abspreizt und die kräftige Flosse von Seite zu Seite schwenkt. Mein Blick fällt auf Ronya, die etwas abseits auf Enteis Rücken sitzt und uns aus der Ferne im Auge behält. Wyatt hat sich wie ein lebendiger Schild um sie gewunden und schützt seine Trainerin von allen Angriffen. Sie nickt mir zu und ich grinse. Wenn sie glaubt, die heutige Herausforderung ist zu viel für mein Team, wird sie eine Überraschung erleben. Ich nehme die gegnerischen Pokémon in Augenschein, die sich bedrohlich auffächern und näher kommen. Der beißende Wind, der in den letzten Tagen zum ausgewachsenen Blizzard mutiert ist, bombardiert uns alle mit Hagelkörnern und entzieht uns jede Körperwärme. Ich habe mich längst daran gewöhnt. "Priss, unterstütz uns mit Rechte Hand", befehle ich ruhig und korrigiere meinen Sitz auf Jayjays Rücken. Seine Halsmuskulatur zuckt. "Sku, ich brauche deinen Kreideschrei. Konzentrier dich auf die Morlord, sonst kommen wir an ihrer Verteidigung nicht vorbei. Toxin nur, wenn sich die Gelegenheit bietet. Gott, starte mit Einigler. Ich will dich nicht an eins der Ursaring verlieren. Hunter, bereite dich auf deine Agilität vor. Ich will, dass du Sniebels Eisattacken ausweichen kannst, wenn nötig. Jayjay, wir starten sofort durch. Ladevorgang." Noch während ich ein Kommando nach dem anderen runter rattere, folgen meine Pokémon ihren Anweisungen. Ich kann erkennen, wie einige der Sniebel ihre Klauen wetzen. Der erste Angriff kommt jedoch von dem Golbat. Es schießt von der Baumspitze in die Höhe, schlägt kraftvoll mit den Flügeln und schleudert einen Luftschnitt in unsere Richtung, der Gott nur um Haaresbreite verfehlt, als er zur Seite hechtet. Die Attacke hinterlässt einen tiefen Riss im Boden. Feixend flattert es vor und holt zu einem Giftzahn aus. "Hunter!", brülle ich, während ich gleichzeitig meine Schenkel in Jayjays Seiten presse und ihn zum Spurt antreibe. Ibitak hat das Manöver mit Nathan und mir schon viele Male geübt − nun prescht er in einem Agilitätsspurt zwischen Golbat und Jayjay, reißt das Pokémon mit seinen Krallen von der Flugbahn und schleudert ihn von sich, genau dorthin, wo Jayjays Funkensprung landet. Die Fledermaus fiept kläglich, als die Elektroattacke es unter Starkstrom setzt und kracht flugunfähig zu Boden, wo Sku bereits mit ausgefahrenen Krallen wartet. Ein grell leuchtender Aurorastrahl schießt haarscharf an uns vorbei und erledigt den Rest. Ich schiele zu Priss zurück, die mich frech anmaunzt. "Gute Arbeit", lobe ich und lenke Jayjay seitlich, bis er schnaubend zum Stillstand kommt. Das besiegte Golbat liegt in unserer Mitte und rührt sich keinen Millimeter. Zufrieden hebe ich den Kopf. Einige Sekunden lang ist nur der tosende Blizzard zu hören, der meine Finger an ihrem Sattelknauf festfriert und Hagelkörner gegen meine Flugbrille prasseln lässt. Dann bricht Chaos los. In der Flut aus Pokémon und Attacken, die sich über uns ergießt, ist es unmöglich, alle Angriffe laut zu koordinieren, aber das muss ich nicht. Mehrere Wochen auf dem Silberberg haben mein Team zusammengeschweißt und auch, wenn meine Rufe sporadische Wörter oder halbe Sätze sind, weiß jeder instinktiv, was zu tun ist. Gott, der inzwischen bestimmt so schwer wie Sku und ein gutes Stück größer ist, hüllt die Reihen der Gegner in erstickenden, schwarzen Rauch, der für Verwirrung und Orientierungslosigkeit sorgt. Sku speit einige Ladungen Toxin auf ihre Gegner, die kreischen, als die hochgiftige Flüssigkeit sich in ihren Körper frisst, und legt mit einem schrillen Kreideschrei nach, der selbst den Blizzard übertönt. Kaum hat sich der Rauch gelichtet, presche ich auf Jayjay vor. "Funkensprung auf die Entoron", rufe ich ihm gegen den Wind zu. Neben mir springt Gott auf und schießt wie ein Pfeil durch den Schnee, schlägt Haken und kommt schlitternd einige Meter vor den Sniebel zum Stillstand, die rasend vor Wut auf ihn zu springen. Jayjays Funkensprung schlägt krachend in das uns nächste Entoron ein, während Gott im gleichen Moment tief Luft holt und seinen Flammensturm auf zwei Sniebel loslässt, die feixend auseinander stieben. Die übrigen Sniebel springen zurück und fauchen. Gott schnaubt selbstgefällig und dreht sein Rückenfeuer voll auf. Ein tiefes Brüllen wird laut, als eins der Ursaring losläuft und von Sku attackiert wird, deren Klaue von einem alles erstickenden Schatten umhüllt ist. Ihr Nachthieb trifft den Bären in die Magengrube. Der nachfolgende Schlitzer ihres Gegners schleudert sie einige Meter in die Höhe, doch ihr Training mit Nachtara hat ihr einen erheblichen Vorteil in ihrer Verteidigung verschafft. Sie rollt sich gekonnt ab, speit im Vorbeisprinten einem sich nähernden Morlord eine Ladung Toxin ins Gesicht und wirft sich so gut wie unbeschadet zurück ins Getümmel. Jayjay buckelt, als er von einem Zen-Kopfstoß in die Flanke getroffen wird und wirft mich fast ab, doch ich bleibe mit zusammengebissenen Zähnen im Sattel. Wer Hunters Schrauben und Saltos blind ausgleichen kann, der fällt nicht so leicht von einem Zebritz. Bevor das Entoron zu seiner Hydropumpe kommen kann, schießt Hunter aus dem Himmel herab und trifft es mit einer so kraftvollen Flugattacke, dass die Psychoente benommen zurücktorkelt, geradewegs in Gotts Reichweite, der alle Pokémon im Umkreis mit seinem Sternschauer bombardiert. Jayjays Stampfer erledigt den Rest; er bäumt sich auf, bis ich wirklich fast falle, und lässt seine Vorderhufe auf das Entoron niedersausen. Besiegt bleibt das Wasserpokémon liegen. Mein Blick gleitet suchend über das Kampffeld. Hunter hat sich bereits seinen nächsten Gegner gesucht und erledigt zusammen mit Sku das zweite Ursaring, dessen Schnarcherattacke gegen zwei Gegner im Nachteil ist. Noch während ich zuschaue, sinkt der schlafwandelnde Bär stöhnend in sich zusammen. Die Morlord geraten unterdessen durch Priss in Beschuss, die einen Aurorastrahl nach dem anderen abfeuert und sich langsam aber sicher den Entoron nähert, die in einer großen Gruppe auf Jayjay zusteuern. Gott findet sich in der Mitte einer ganzen Sniebelhorde, deren Bewegungen durch die Agilität so gut wie nicht nachvollziehbar sind. Ich gebe Jayjay den Befehl, einige seiner Gegner zu paralysieren, doch auch so prasseln die Strafattacken, Kratzfurien, Finten und Schlitzer unermüdlich auf ihn ein. Nur seine ungewöhnlich guten Ausweichmanöver, die das erste Mal im Kampf gegen Lambda zum Einsatz gekommen sind, bewahren ihn vor einem sofortigen KO. Plötzlich frieren Gotts Beine ein. Ich reiße Jayjay herum, um das Schauspiel besser sehen zu können. Gotts Brust schwillt an, seine Kiefer öffnen sich und ein Flammenwurf schießt aus seinem Rachen. Die Feuersbrunst besiegt zwei der Sniebel augenblicklich, ein weiteres fängt Feuer und der Rest der Gruppierung hechtet zischend zur Seite und gibt ihm so einen kurzen Moment Verschnaufpause. Genug Zeit für ein Morlord, den geschmolzenen Schnee um ihn herum zu manipulieren und in einer gewaltigen Wasserwoge auf Gott zurollen zu lassen. Ich schreie ein Kommando, doch Priss ist schon vorgeprescht und fängt die Lehmbrühe mit ihrem Körper ab. Ein Teil des Wassers wird durch ihre Schuppen absorbiert, den Rest lenkt sie in ihrer eigenen Lehmbrühe auf das Morlord zurück, das von der Attacke zurückgeschwemmt wird. Gott legt fauchend mit einem Sternschauer nach und plötzlich ist auch Hunter zur Stelle, der von dem besiegten Ursaring abgelassen hat und das Morlord nun mit einem perfekt platzierten Fliegen außer Gefecht setzt. Erleichtert atme ich aus und schaue mich um. Gott jagt den Sniebel nach, die versuchen, sich ins verschneite Unterholz zu flüchten, doch sein Flammenwurf hüllt die gesamte Gruppe problemlos in ein loderndes Flammeninferno. Zufrieden mit seiner Arbeitet trottet er zurück an meine Seite, wo ich bereits mit Jayjay damit beschäftigt bin, die restlichen Entoron unter Strom zu setzen. Priss fängt eine Wasserattacke nach der anderen ab und Sku trägt ihren Teil mit Nachthieben und Schlitzern bei. Hunter kreist kreischend über unseren Köpfen und schießt in mächtigen Flugangriffen auf seine Gegner herab. Langsam aber sicher lichtet sich das Kampffeld, bis wir schwer atmend inmitten besiegter Pokémon und großer Schmelzpfützen stehen. "Wir… haben es geschafft", sage ich, ein wenig verdutzt. Ich war zuversichtlich, dass wir gewinnen würden, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir so gut davon kommen würden. Natürlich hat Ronya mit ihren eigenen Pokémon alle anderen Bergbewohner von unserem Kampf ferngehalten, trotzdem erscheint es mir wie ein Traum, mich mit meinem Team alleine gegen so viele Pokémon vom Silberberg behauptet zu haben. "Wir sind die BESTEN!", jubele ich und schwinge mich von Jayjays Sattel. Sku springt mich an und schnurrt hochzufrieden, Hunter landet krächzend und mit den Flügeln flatternd auf Jayjays Rücken und Priss leckt sich delikat eine Pfote. Ich lasse von Sku ab und wende mich Gott zu, der hochzufrieden knurrt. Schon halb in der Hocke, um ihn in meine Arme zu ziehen, halte ich inne. Gott leuchtet. Dieses Mal sehe ich keinen Grund, seine Entwicklung zu unterbrechen. Mit einem Grinsen, das mein Gesicht zu sprengen droht, beobachte ich, wie das silbrige Licht Gotts muskelbepackten Körper einhüllt und wächst. Langsam richte ich mich wieder auf. Als das Lichtspektakel vorüber ist, fallen die Funken wie Neuschnee um Gott zu Boden. Ich hebe den Kopf und finde mich Auge in Auge mit meinem Tornupto. Hitze pulsiert von seinem Körper wie glühende Kohlen und die spitzen Ohren zucken aufgeregt. Ich strecke eine Hand aus und streiche über die türkisfarbene Schnauze. Das tiefe Vibrieren seiner Atemzüge ist bis in meine Finger zu spüren. Als er hechelt, strömt heißer Atem über meinen Arm und er fletscht die Zähne zu einem selbstzufriedenen Grinsen. Seine Rückenflamme, die nun entlang seiner Schulterblätter positioniert ist und fauchend empor zischt, erstickt in Sekundenschnelle, als ich mich um Gotts Hals werfe und mein Pokémon fest drücke. Gotts Pranken legen sich in einer vorsichtigen Umarmung um meine Taille, eindeutig unsicher, wie viel seiner geballten Kraft ich aushalte. Auch so sind seine Muskeln hart wie Stahl. Als ich aufschaue, blicken seine tiefroten Augen in meine. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er als kleines Feurigel in meine Handfläche gepasst hat. Wir sind weit gekommen. Pling. Erschrocken löse ich mich aus der Umarmung und schaue zu Ronya, die schmunzelnd zu uns gestoßen ist und nun ebenfalls die Stirn runzelt. Gleichzeitig greifen wir nach unseren S-Coms. Es ist Wochen her, seit wir von Dark oder einem der anderen kontaktiert wurden.   Von: Ryan_Bittner_05 An: Team_Shadow_00 »Neuigkeiten bezüglich Team Rocket. »Nachrichten laufen in einer halben Stunde an.   "In einer halben Stunde?", fluche ich leise und rufe alle Pokémon außer Hunter zurück. Ronya verzieht genervt das Gesicht. "So schnell kann ich nicht unten sein", sagt sie. "Aber wenn es Neuigkeiten gibt, ist unsere Zeit hier wohl vorbei. Ich komme auf Entei nach." Ich nicke und schwinge mich auf Hunters Rücken. Bevor wir abheben, springe ich noch einmal ab und falle ihr um den Hals. "Falls wir uns nicht mehr sehen…", sage ich und schlucke die Tränen hinunter, "…vielen, vielen Dank. Für alles. Für Gott und das Training und dafür, dass du Louis geholfen hast und… pass einfach auf dich auf." Sie lacht und erwidert meine Umarmung. "Das sollte ich dir sagen. Du hast dich heute sehr gut geschlagen, Abby. Keine Mängel meinerseits." Sie löst sich von mir. "Du bist bereit. Ihr seid bereit." Ich nicke energisch, springe auf Hunters Rücken und hebe augenblicklich mit ihm ab. Der Blizzard hüllt uns in eine Wolke aus Eis und Schnee, aber unser kontinuierliches Training mit Nathan hat Hunter an die schlimmsten Wetterbedingungen gewöhnt. Es gibt nichts, was ihn jetzt noch aufhalten kann. "Los", flüstere ich und drücke mich eng an seinen Körper. Hunter holt Schwung und schießt durch die Lüfte, als die Agilität seine Geschwindigkeit maximiert. Wir rasen mit dem Wind, fliegen über den weißen Berghang unter uns und entdecken nur wenige Sekunden später Jayden, der auf seinem schwarzen Glurak gut erkennbar ist. Kurz darauf tauchen Washakwil und Ho-Oh auf und zu viert fliegen wir in Formation zum Rand des Berges, wo wir bislang unsere Absprünge geübt haben. "Steilflug?", schreie ich den anderen zu. Nathan nickt grinsend, während Jayden ein hallendes OH YEAH in den Himmel brüllt. Ohne auf ein weiteres Kommando zu warten, lehnen wir uns alle so weit zurück, dass wir Rücken an Rücken mit unseren Pokémon liegen. Im nächsten Moment gehen alle Flugpokémon in den Sinkflug, bis sie parallel zum Berg fliegen, legen ihre Flügel an und rasen im Sturzflug nach unten. Der Wind reißt an meinem Gesicht und meinen Haaren, meine Finger frieren selbst unter den Handschuhen ein und meine Beine beginnen nach wenigen Sekunden zu brennen, doch ich halte mich auf Hunters Rücken. Es dauert einige Momente, bevor mit klar wird, dass ich Golds Flugmanöver aus der Safari-Zone imitiere. Ein breites Grinsen schleicht sich auf meine Züge und im nächsten Moment schreie ich in unbändiger Freude. Egal, was Team Rocket getan hat, egal, was uns ab jetzt bevor steht… dieses Erfahrung, diese Zufriedenheit, wird mir niemand jemals nehmen können. Wir erreichen das Pokécenter schneller als je zuvor. Durchgefroren und mit steifen Beinen springe ich von Hunters Rücken und schüttele meine Hände aus. Die anderen Shadows tun es mir gleich, auch wenn sie nicht annähernd so viel stöhnen. Vor dem Eingang wartet bereits Melissa. "Dachte schon, ihr habt verschlafen", sagt sie grinsend und wirft mir einen kurzen Blick zu. Seit ich mich auf dem Silberberg halbwegs selbst behaupten kann, haben ihre schneidenden Kommentare abgenommen, auch wenn sie noch lange nicht nett ist. "Hast du schon einen Fernseher organisiert?", frage ich, ohne auf ihre Worte einzugehen und folge den anderen Mitgliedern ins Pokécenter, wo Schwester Joy in ihrem Haufen Bücher sitzt und erschrocken aufblickt. "Wollt ihr eure Pokémon heilen, während ihr die Nachrichten schaut?", fragt sie nervös. Ein kollektives Nicken geht durch die Runde. Wir lassen unsere Bälle in runden Plastikbehältern bei ihr. Anschließend führt Melissa uns in den Mediaraum, der weiter hinten im Pokécenter liegt. Warum ein Pokécenter am abgelegensten Ort Kantos einen Fernseher besitzt, ist mir zwar unbegreiflich, aber ich will mich nicht beklagen. Wir trollen uns auf den Boden und das einzigen Sofa und schalten auf PCN ein. Da wir uns so beeilt haben, läuft noch Werbung. Jayden stöhnt, springt auf und murmelt etwas von wegen Essen besorgen, dann verschwindet er aus dem stickigen Raum. "Jetzt wird es also ernst", meint Nathan und starrt auf den Fernseher. "Was denkst du, Abby? Wann werden wir uns aufteilen?" "Kommt auf die Nachrichten an", sage ich und ignoriere Melissas Schnauben, so als wäre Nathan bescheuert, ausgerechnet mich deswegen zu fragen. "Aber es ist schon Mai. Ich glaube nicht, dass wir viel mehr Zeit bekommen werden. " Nathan nickt nachdenklich und lässt sich tiefer in die Sofalehne sinken. Jayden kehrt wenige Minuten später mit Armen voller Chipstüten zurück, die er uns nacheinander zuwirft. Ich fange meine aus der Luft und begutachte die Verpackung kritisch. "Was Gesünderes gab´s wohl nicht", murmele ich. Nach sechs Wochen Müsliriegeln und tagealten Sandwiches hatte ich mir etwas frischeres erhofft. Trotzdem öffne ich die Tüte und bediene mich an dem salzigen Inhalt. Während Jayden sich neben Chris auf das Sofa fallen lässt und seinen Kopf auf ihrem Oberschenkel ablegt, nehme ich Melissa in Augenschein, die doch sicher etwas auszusetzen hat. Zu meiner Überraschung hat sie sich auf die Chips gestürzt, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie fängt meinen Blick auf, schluckt runter und grinst mich frech an. "Problem?" Bevor ich mir einen Konter einfallen lassen kann, erklingt PCNs Tonfolge. Alle Augenpaare heften sich auf den kleinen Bildschirm.   "Meine Damen und Herren. In Anbetracht der Meldung, die uns gerade von Rockys Spezialeinheit erreicht hat, wird du heute Nachmittagsshow entfallen. Stattdessen erwartet sie eine Diskussionsrunde mit Alfred Phirello, Noah Reynes und Gold, die sich für ein Interview zur Verfügung gestellt haben."   Noah und Gold? Ich presse die Lippen aufeinander. Auf der einen Seite kann ich es nicht erwarten, Gold wieder zu sehen, wenn auch nur im Fernsehen, andererseits kann das Erscheinen der beiden Profis nichts Gutes bedeuten.   "Nach der Drohung, die vor einigen Wochen in Saffronia Citys Polizeirevier einging und einen Anschlag von Team Rocket im Mai ankündigte, hat die Verbrecherorganisation nun in einer anonym versendeten Nachricht veranlasst, ihren Anschlag Samstag den 19. Mai zu verüben."   "Das ist schon in fünf Tagen", murmelt Chris. Stumm beobachte ich, wie der Nachrichtensprecher weggeschaltet und durch das mir inzwischen sehr bekannte PCN Studio ersetzt wird, in dem alle von Alfreds Interviews stattfinden. Wie angekündigt sitzt er in seinem violetten Streifenanzug auf der roten Couch und lächelt in die Kamera.   "Liebe Zuschauer, wir begrüßen sie herzlich zu unserer Sondersendung hier bei PCN! Ich bin Alfred Phirello und heute haben wir für unsere Diskussion die beiden Asse im Ärmel der Polizei eingeladen. Begrüßen sie mit mir, den amtierenden Champion Noah Reynes und die Trainerlegende, Gold!"    Während beide jungen Männer ihren Auftritt haben, surrt mein S-Com. Ich schiele auf das Display, auf dem mir die Ziffern #01 entgegen leuchten. Ich drücke den grünen Annahmeknopf und hebe den Com an mein Ohr, während ich gleichzeitig Gold und Noah flüchtig in Augenschein nehme. Golds Augen sind tief in ihre Höhlen gesunken und das schwarze Haar, das unter seiner Cappie hervorguckt, ist matt und kraftlos. Noahs schokoladenbraune Haut leuchtet grell im Scheinwerferlicht und sein krauses, schwarzes Haar erinnert mich an Wolle. Er trägt Jeans und einen Strickpullover, der seinen schlanken Körperbau perfekt zu Geltung bringt. Gerade, als die Verbindung zu Dark hergestellt wurde, ertönt Nathans Stimme. "Verdammt, ist der heiß!" Alle Augen wenden sich in seine Richtung. Nathan wird puterrot und rutscht noch tiefer in die Polster, während Melissa ein leises Tsz von sich gibt, die Arme verschränkt und zur Seite guckt. Mir werden plötzlich eine Menge Dinge klar. Dark, der rechtzeitig in der Leitung war, um den Ruf mitzuhören, räuspert sich in mein Ohr.  "Ihr habt die Nachrichten laufen, wie ich höre." "Es sieht ziemlich übel aus", stimme ich zu, ohne Nathan aus den Augen zu lassen. "Fünf Tage reichen kaum, um alle Vorbereitungen abzuschließen." "Keine Sorge", sagt Dark. Alfred begrüßt in der Zwischenzeit enthusiastisch seine beiden prominenten Gäste. "Wir waren in eurer Abwesenheit nicht untätig. Ryan ist kurz davor, den Team Rocket Hauptserver zu knacken und wir hatten mehrere Gespräche mit Rocky. Gold und Noah werden heute Nacht zum ersten Mal in unserem Quartier sein, um die letzten Feinheiten mit uns zu besprechen. Weiterhin habe ich die Favoriten organisiert, wie du vorgeschlagen hast. Sie werden ebenfalls kommen." Ich atme erleichtert aus. Sicher war ich nicht, ob in meiner Abwesenheit alles flüssig ablaufen würde, aber Dark ist nicht umsonst Anführer. Er setzt zu einer Frage an, verstummt aber, als der Smalltalk im Fernsehen abbricht und Alfred sich vorlehnt.   "Gold, du bist seit deiner Rückkehr in die Polizeiarbeit eingebunden worden und patrouillierst Kanto und Johto täglich. Denkst du, Team Rocket wird seine Drohung wahrmachen und am angekündigten Termin seine Anschläge verüben?" "Ich kann es dir nicht sagen, Alfred. Aber wird dürfen Team Rocket unter keinen Umständen unterschätzen. Jetzt ist die Zeit für uns alle gekommen, zusammenzuarbeiten und ihrem verbrecherischen Treiben ein für alle Mal Einhalt zu gebieten." "Das erinnert mich sehr an die Worte unserer jungen Abby Hampton, die seit ihrer Motivationsrede vor über einem Monat verschwunden ist. Was kannst du uns dazu sagen?" "Ich bin Abbygail bereits persönlich begegnet. Sie ist eine mutige und engagierte junge Frau und ich unterstütze ihr Vorhaben, gemeinsam mit Team Shadow vorzugehen. Die Polizei und ich arbeiten bereits eng mit ihnen zusammen und wir sind froh, so starke Trainer an unserer Seite zu wissen. Lugia ist schnell, aber wir können nicht überall gleichzeitig sein." "Selbstverständlich, selbstverständlich. Noah, als Champ der Pokéliga ruhen alle Augen auf dir."   "Wenn er mit alle Nathan meint…", murmelt Jayden und lacht schallend, als Nathan ein Kissen schnappt und ihm damit ins Gesicht schlägt. Einige Sekunden lang herrscht totales Chaos, als Kissen durch das Zimmer fliegen, Melissa sich halb auf Jayden stürzt, auf Nathans Chipstüte ausrutscht und sich der Länge nach hinlegt. Geschockte Stille folgt, nur unterbrochen von dem laufenden Fernsehprogramm.   "−es mir eine Ehre, meiner Region mit meinen Fähigkeiten helfen zu können. Die Verhandlungen mit der Liga haben sich in die Länge gezogen, aber ich bin zuversichtlich, dass wir morgen ein Okay für die Beurlaubung der Top Vier und Arenaleiter erhalten werden, damit diese problemlos ihre lokalen Trainergemeinschaft anweisen und unterstützen können." "Lassen Sie mich diese Gelegenheit nutzen, um erneut unsere Trainer-helfen-Trainern-Kampagne vorzustellen! Getreu dem Aufruf von Team Shadow haben sich in allen Städten Kantos und Johtos Trainergruppierungen gebildet, die von der Polizei Kurse zum Thema Selbstverteidigung und Erste-Hilfe bekommen. Wenn auch Sie sich für ihre Region einsetzen möchten, melden Sie sich bei ihrem lokalen Pokécenter oder der nächsten Arena. Dank Noahs Bemühungen werden die Arenaleiter schon bald ganztägig Hilfe leisten können. Mitglieder von Team Shadow und der Top Vier werden zusätzlich auf die Städte verteilt."   "Das Treffen beginnt um elf Uhr. Könnt ihr bis dahin hier sein?", fragt Dark. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Inzwischen ist es kurz nach sechs. "Wird knapp, aber wir sollten es hinkriegen", sage ich. Dann, mit einem schiefen Blick zum Rest der Truppe, "Warum rufst du nur mich an? Sollen die anderen nicht da sein?" "Die Teilnahme ist freiwillig", erklärt Dark. "Es wird wahrscheinlich keine großen Neuerungen geben, also ist es nicht wichtig, dass alle hier sind. Gerard ist schon nach Dukatia City gereist, wie du vorgeschlagen hast. Amy und Ryan sind noch hier." "Ich kläre das", sage ich, dann, bevor ich es mir verkneifen kann, "Warum ist das Meeting so spät abends?" Darks Stimme nimmt einen amüsierten Unterton an. "Amy wollte dabei sein. Ich werde sie gleich aufwecken. Wir sehen uns später." Ich lege auf und schaue zum Fernseher, doch das wichtigste Gesprächsthema ist vorbei und so gerne ich mich an Gold und Noah sattsehen würde, gibt es dringendere Probleme. Immerhin werde ich die beiden heute Abend noch live zu Gesicht bekommen. Bei dem Gedanken daran zieht sich alles in mir zusammen. Ich kann es kaum noch erwarten!  "Alle mal herhören", rufe ich und warte, bis selbst Melissa den Kopf dreht und mir ihre Aufmerksamkeit schenkt. "Heute Nacht ist im Hauptquartier ein letztes Strategietreffen geplant. Teilnahme ist freiwillig, aber Gold, Noah und die Favoriten werden mit von der Partie sein. Wer Interesse hat, fliegt jetzt mit mir zurück nach Prismania City. Alle anderen steuern ihre zugewiesenen Städte an und machen sich mit den dortigen Sicherheitsmaßnahmen, Trainern und Arenaleitern bekannt." Ein kollektives Stöhnen geht durch die Runde, aber davon lasse ich mich nicht beirren. Es muss ja niemand um einen Orden kämpfen. "Noah war der… Dunkelhäutige?", fragt Nathan mit gespielt desinteressiertem Ton. Melissa schnaubt und Jayden bricht in einen heiseren Lachanfall aus. "Genau der", stimme ich grinsend zu. "Unser amtierender Champion. Willst du ihn kennen lernen?" "Schaden würde es nicht", sagt Nathan und kratzt sich verlegen am Kopf. Melissa springt auf und stapft davon. "Ich komme auch mit!", ruft sie noch, bevor sie aus dem Mediaraum stürmt. "Da ist ja jemand überhaupt nicht eifersüchtig", bringt Jayden mühsam hervor und klopft sich bei Nathans Anblick hemmungslos auf seine Knie. Nathan murmelt etwas, dass sich ganz stark nach immer dasselbe mit ihr anhört. Chris nutzt den Moment, um sich ebenfalls in die Diskussion einzubringen. "Sie ist sehr eifersüchtig", stellt sie Jaydens Aussage richtig. "Das sieht man doch." Jayden schielt zu ihr. "Du hast Recht Chris", meint er und tätschelt liebevoll ihren Kopf. "Mein Fehler." Kapitel 117: Wiedersehen alter Freunde (Pakte, Pläne und Pakete) ---------------------------------------------------------------- Die Nacht liegt wie ein Mantel über Prismania City, als die Lichter der Stadt am späten Abend sichtbar werden. "Teilen wir uns auf!", rufe ich Melissa und Nathan zu, die mit mir gemeinsam zurückgeflogen sind, Nathan, weil er Noah kennen lernen will und Melissa weil, na ja, Nathan. "Wenn wir vor der Spielhalle landen, können wir gleich ein Leuchtschild anbringen!" Chris und Jayden sind am Silberberg geblieben, um Ronya von den Neuigkeiten zu berichten und am nächsten morgen direkt nach Johto aufzubrechen, wo sie sich auf Anemonia City und Teak City aufteilen werden. Die beiden Shadows nicken und schießen auf Washakwil und Altaria davon, während ich Hunter in Richtung der Hochhäuser lenke. Wir landen in einer dunklen Seitengasse, wo ich Ibitaks Hals tätschele und ihn zurückrufe. Ein Blick um die Ecke bestätigt meine Vermutung; die Straßen sind wie leer gefegt. Die Aussicht auf Team Rockets Anschläge hat Kanto in eine bedrückte Stimmung versetzt. Ich schleiche mich nach draußen, ziehe Flugbrille und Handschuhe aus und vergrabe mich unter der Kapuze meiner Hoodie. Um kurz nach elf erreiche ich die Spielhalle. Melissa und Nathan stehen bereits vor dem Geheimeingang. Nathan fährt sich mehrfach durch sein dunkles Haar und pfriemelt nervös an seinem Schal, während Melissa die Augen verdreht, ihm aber nichtsdestotrotz versichert, er sehe blendend aus. Ich muss schmunzeln. Eigentlich sind die beiden ein ziemlich drolliges Pärchen. Gemeinsam treten wir ein, steigen die Treppen hinunter und nehmen den Aufzug in den Seminarraum, wo ich das Meeting vermute. Schon von weitem kann ich Stimmen vernehmen. Schließlich stehen wir vor der Tür. Ich räuspere mich, klopfe und trete ein. Der Raum ist voller bekannter Gesichter. Dark sitzt am Kopfende, so wie immer, Hundemon dicht an seiner Seite und unterhält sich allem Anschein nach eingehend mit Gold, der mit einem Glas Sprudel in der Hand neben ihm steht und die restlichen Teilnehmer beobachtet. Amy sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und schlürft an einer Limonade, während Ryan furios die Tasten seines Laptops bearbeitet und sich von allen potentiellen Gesprächen fernhält. Auf dem Tisch neben ihm steht ein kleiner Karton. Bei unserer Karte am Korkboard stehen Noah, Genevieve und Raphael. "Raphy!", rufe ich aufgeregt und laufe auf ihn zu, doch bevor ich ihn erreiche, fällt mir Amy um den Hals. Ihre blonde Mähne verdeckt meine Sicht. "Abbyyyy!", quengelt sie und zwickt mir liebevoll in die Wangen. "Du bist wieder da! Oh, ich habe dich so vermisst. Außer Dark respektiert niemand hier meinen Schlafrhythmus und Ryan macht sich über meine kreativen Schübe lustig. Hast du Ronya mitgebracht?" "Deine kreativen Schübe sind die Versuche einer künstlerischen Dilettantin mit chronotypischer Anomalie, ihre Einsamkeit unter Kontrolle zu bringen", erschallt es aus Ryans Ecke. Als er die fragenden Blicke aller Anwesenden wahrnimmt, seufzt er. "Vergesst, was ich gesagt habe. Mir war entfallen, dass ich seit Monaten mit Idioten zusammenlebe." "Geez, was für eine Partybombe", schnaubt Genevieve und löst sich aus der Gruppierung an der Karte. "Ich persönlich kann deinen Schlafrhythmus sehr gut nachvollziehen, Amy. Wenn Raph mich nicht jeden Morgen wachklingeln würde, wäre ich sofort dabei." "G-genny…" Amy ist den Tränen nahe, als sie sich von mir löst und stattdessen Gen in die Arme fällt. Die Favoritin zwinkert mir zu und tätschelt Amys Kopf. Ihr silbern gefärbtes Haar ist in einem losen Flechtzopf zusammengefasst und sie trägt ihre geliebten schwarzen Sporthosen samt Tank-Top. Ihre Haut hat die Farbe von Zimt. "Was´n?", fragt sie, als sie meinen Blick bemerkt. "Hast du mich so sehr vermisst? Na los, schau dich satt, es ist genug für alle da." Ich verkneife mir ein Lachen und suche den Augenkontakt mit Raphael, der mich von oben bis untern mustert, so als suche er nach Anzeichen meiner letzten Nahtod-Erfahrung. Sein Blick bleibt unterhalt meines linken Auges hängen und verdüstert sich. Meine Hand huscht zu der Stelle. Die Fäden in meiner Wange hat Schwester Joy mir bei einem unserer Pokécenterbesuche gezogen, aber da wir seit über einem Monat ohne Bad oder Spiegel zugebracht haben, bin ich plötzlich sehr unsicher, wie schlimm die Narbe aussieht. Ich kann eine leichte Furche in meiner Haut ertasten, aber sonst nichts. Nathan räuspert sich und beugt sich zu mir. "Abby, willst du uns nicht vorstellen?" Ich reiße mich aus meinen negativen Gedanken und lasse nochmal den Blick über alle Anwesenden gleiten. Noah beobachtet interessiert unser Grüppchen, Raphael hat seine düstere Miene abgeworfen und lächelt mich stattdessen glücklich an, Amy hängt wie ein Griffel um Genevieves Hals, Ryan ignoriert uns mit einer Aura völliger Überlegenheit und Gold zwinkert mir zu, als mein Blick auf ihn fällt. Dark streicht nur gedankenverloren über Hundemons Kopf, das zur Begrüßung freudig hechelt. Mit einer dramatischen Geste trete ich zur Seite und gebe den Blick auf Nathan und Melissa frei. "Ich darf vorstellen, zwei unserer neusten Mitglieder, Nathan Shuck und Melissa Border. Sie sind aus Einall hierher gereist, um uns zu unterstützen." "Aber Abby, das wissen doch schon alle", schmollt Amy und löst sich nun doch von Gen. "Ich bin auch aus Einall gekommen, schon vergessen?" Verlegen strecke ich ihr die Zunge heraus. "Sorry." "Wann kriege ich meine Umarmung?", fragt jetzt Raphael. Ich grinse, überquere die Distanz zwischen uns und lasse mich in seine Arme fallen. Ist er schon wieder größer geworden? Langsam reicht es wirklich. Als wir uns lösen, streicht er kurz über die Narbe. "Reden wir später?", fragt er tonlos. Ich nicke und wende mich Noah zu. Er streckt mir seine Hand hin und lächelt nervös. "Du bist also Abby", sagt er, als ich die Geste erwidere. "Ich habe deine Rede im Fernsehen verfolgt. Sehr inspirierend." "Danke", sage ich, nun doch verlegen. "Ich habe eben euer Interview gesehen. Vielen Dank, dass du dich mit der Liga rumschlägst. Wir können die Arenaleiter wirklich brauchen." Er nickt und lässt mich los. Unsicher, was er mit seinen freien Händen tun soll, steckt er sie in seine Hosentaschen. Der Saum seines Pullovers rutscht bei der Bewegung hoch und entblößt einen Streifen  muskulösen Bauch, sowie den Pokéballgürtel, der sicher um seine Hüfte geschnallt ist. Ich schiele zu Nathan zurück, dessen Augen auf die nackte Haut fixiert sind und unterdrücke den neckischen Impuls, ihn öffentlich darauf anzusprechen. Stattdessen schaue ich zu Noah zurück. "Ich habe gehört, dass ihr auf dem Silberberg trainiert habt", fährt dieser fort, um die Gesprächspause zu überbrücken. "Wir können uns glücklich schätzen, mit so starken Trainern zusammenarbeiten zu dürfen." "Na, ich gehöre jedenfalls nicht dazu", sage ich lachend. "Ohne Nathan und die anderen wäre ich dort oben gestorben. Mehrmals." "Ich bin jedenfalls froh, dass du meinen Ratschlag befolgt hast und nicht mehr alleine gegen Team Rocket vorgehst", mischt sich Gold ein, bevor Noah antworten kann. "Wie du es geschafft hast, dein eigenes Team zu gründen, ist mir allerdings ein Rätsel." "Gegründet ist übertrieben", erwidere ich hastig und begrüße Gold nun ebenfalls. Meine Hände schwitzen. Seine Worte aus dem Interview kommen mir plötzlich wieder in den Sinn. Sie ist eine mutige und engagierte junge Frau. Ich kann die heiße Freude in meinen Wangen nicht länger unterdrücken. Gold, die Legende nach Red, hat mich öffentlich als mutig bezeichnet und meinen Einsatz gelobt. Mir wird fast schwarz vor Augen. "Dark und die anderen waren sehr zuvorkommend", fährt Gold fort. "Und deine Fehde mit Rocky scheint auch durchgestanden zu sein." "Zuvorkommend sieht Ms. Special Hair aber nicht gerade aus", meint Gen in dem Moment und mustert Melissa skeptisch, die mit mörderischem Blick Noah ins Visier genommen hat. Der Champion schrumpft unter ihrem Blick förmlich zusammen. Schweiß hat sich auf seiner Stirn gebildet. "Das sagt die richtige, Silberköpfchen", entgegnet Melissa schneidend. "Lissa, bitte", murmelt Nathan. "Nicht jetzt." "Mach doch, was du willst", faucht sie, dreht sich um und geht in die hinterste Ecke des Seminarraums, wo sie sich an die Wand lehnt und stumm schmollt. "Geez, solche Leute gibt´s wohl überall", murmelt Gen. "Tut mir ja fast schon leid für euch." Amy schüttelt traurig den Kopf. "Lissa zieht unseren Nettigkeits-Durchschnitt runter", mault sie und versteckt sich schnell hinter Gen, als Melissa ihr einen tödlichen Blick zuwirft. "Sie ist gemein zu mir…" "Da wir ja jetzt alle hier sind…", beginne ich laut, in der Hoffnung, den aufkommenden Streit im Keim zu ersticken, "…sollen wir anfangen, Dark?" Er nickt. "Bitte, setzt euch." Gold nimmt an Darks Seite Platz, neben ihm Noah, Nathan, Melissa und Ryan. Auf seine andere Seite setze ich mich, gefolgt von Raphael, Genevieve und schließlich Amy. Dark räuspert sich und steht auf. "Ich denke, alle hier Anwesenden haben es inzwischen mitbekommen, aber Team Rockets finale Ankündigung beläuft sich auf den 19. Mai. Wir wissen weder, um welche Uhrzeit sie zuschlagen werden, noch wo oder ob ihre Angaben überhaupt verlässlich sind. Da den gesamten April jedoch keine größeren Anschläge verübt wurden, gehen wir derzeit davon aus, dass sie den Termin einhalten werden." Er macht eine Pause und sieht sich in der Runde um. Ryan hört zu, tippt aber gleichzeitig auf seinem Laptop weiter, so als könnten seine Finger die Tasten blind erkennen. Amy wippt auf ihrem Stuhl vor und zurück, aber der Rest lauscht angespannt. "Für Abby und die anderen werde ich kurz zusammenfassen, was sich in ihrer Abwesenheit verändert hat", fährt Dark fort. "Die zurückgebliebenen Mitglieder, also Amy, Gerard und meine Wenigkeit, haben Golds Flugpatrouillen ergänzt, trotzdem hat es weitere Diebstähle gegeben. Wie bisher wurden hauptsächlich Kleinstein, Tannza, Voltobal oder andere Pokémon mit Selbstzerstörungsattacken gestohlen. Die letzten Polizeiuntersuchungen haben zusätzliche Löcher im Eispfad, dem Kesselberg, dem Felstunnel und den bereits bekannten Höhlen gefunden, also dem Einheitstunnel, der Dunkelhöhle und dem Mondberg. Die Polizei geht derzeit davon aus, dass Team Rocket versuchen wird, alle stadtverbindenden Höhlen zu sprengen, um Chaos zu verbreiten und ihren wahren Coup zu vertuschen. Was genau sie wirklich vorhaben, ist bislang unbekannt." Drückende Stille legt sich über unsere Versammlung. Selbst Ryan hält in seiner Computerarbeit inne. Team Rocket hätte seinen Anschlag nicht angekündigt, wenn es uns nicht in eine Falle locken wollte. Aber niemand weiß, was sie wirklich vorhaben. Egal, wie sehr wir ihr Manöver durchschauen, ein Konter bleibt uns verwehrt, bis wir mehr wissen. Ryan räuspert sich und steht auf. "Wenn unser geehrter Anführer mit seiner Ansprache fertig ist, würde ich gerne das Wort übernehmen." Dark nickt und setzt sich. "Nur zu." Ryan greift nach dem Karton, der schon die ganze Zeit neben ihm steht und zieht ein schwarzes Stück Plastik heraus. "Dies ist ein von mir entwickeltes Head-Set, das ich mit euren S-Coms verbunden habe", erklärt er. "Der kleine Knopf dient als Lautsprecher. Mit der Schlaufe, die daran befestigt ist, lässt er sich problemlos an einem Ohr eurer Wahl fixieren, sodass er nicht so leicht verloren geht. Er besitzt ein integriertes Mikrofon, das ihr hier sehen könnt." Er setzt den Ohrstöpsel ein, zieht die Schlaufe um sein Ohr fest und tippt an den kleinen, schwarzen Zusatz, der seine Wange entlang führt und auf halber Strecke zum Mund abbricht. "Mit diesem Gerät steht ihr in ständiger Kommunikation zu euren Teammitgliedern. Selbstverständlich könnt ihr euch oder eure Teammitglieder jederzeit mit einem kurzen Knopfdruck hier hinten stumm schalten. Bei einigen der hier Anwesenden würde ich das als Standard vorschlagen, aber das ist nur meine bescheidene Meinung. Systemnachrichten oder schriftliche Mitteilungen werden euch als Computerstimme vorgelesen." "Was ist mit denjenigen unter uns, die keinen S-Com besitzen?", fragt Gold. "Wie schön, dass du fragst." Ryan greift in den Karton und zieht vier S-Coms heraus, die er Noah, Raphael, Gen und Gold zuwirft. "Diese Schmuckstücke sind nach meinem Design gefertigt und eigentlich Team-Shadow-exklusiv, aber ein gewisser Anführer hat darauf bestanden, dass ihr als fester Bestandteil der Planungen miteinbezogen werden solltet und mich dazu verdonnert, meine kostbare Zeit in die Entwicklung weiterer Geräte zu investieren. Seid dankbar." "Weil wir anderen ja so viel Freizeit haben", murmele ich genervt, gerade laut genug, um von allen gehört zu werden. Ryan kneift die Augen zusammen. "Ich kann mich nicht erinnern, nach deiner Meinung gefragt zu haben, Abby. Soweit ich weiß, waren du und deine Freunde auf Bergtour, während sich der Rest von uns um die Organisation deines Krieges gekümmert hat." "Es ist unser aller Krieg", wirft Gold ein. "Abby ist nicht die einzige, die sich gegen Team Rocket stellen möchte. Vielen Dank für deine harte Arbeit, Ryan, das wissen wir wirklich zu schätzen." "Nun." Ryan schiebt seine Stahlbrille hoch. "Wie dem auch sei, erstellt euren Account, danach könnt ihr die Head-Sets einscannen und sie so automatisch mit eurem Konto verknüpfen." Er verteilt die Head-Sets an alle und setzt sich wieder. "Was ist mit den anderen?", frage ich. "Ihre Head-Sets wurden bereits an die Pokécenter ihrer jeweiligen Stadt geliefert. Wenn sie das nächste Mal dort sind, werden sie ihnen übergeben werden." "Eins muss ich eurem Nerd lassen", flüstert Gen mir nicht gerade leise zu, indem sie sich halb über Raphael lehnt. "Er kann was. Er ist trotzdem ein Arschloch, aber immerhin ist er ein effizientes Arschloch. Die fallen auch nicht vom Himmel." "Gen", sage ich und schiebe sie vorsichtig zurück auf ihre Seite, während Amy kichert, Ryans Blick sich signifikant verdüstert und Noah peinlich berührt den Kopf schüttelt. "Das mit dem Flüstern üben wir nochmal." "Geflüsterte Beleidigungen sind so viel erfreulicher", sagt Ryan. "Ach, das war eine Beleidigung!", ruft Melissa mit gespielt überraschter Stimme. "Ich dachte, das ist ihr Balzverhalten." "Hörst du, Gen?", fragt Raphael und schlägt ihr gegen den Hinterkopf. "Einfach mal die Klappe halten, was hältst du davon?" "Geez, was ist mit euch", entgegnet Genevieve sofort. "Steckt hier jedem ein Stock im Arsch oder was? Also, abgesehen von No−" "Okay, das reicht jetzt", unterbricht Raphael sie, hält ihr den Mund zu und zieht sie mit sich vor die Tür. "Wir kommen gleich wieder." Die beiden verschwinden aus dem Seminarraum und lassen einen sehr nervösen Noah zurück, der auf die Tischplatte starrt, als wäre dort seine Zukunft geschrieben. Ich seufze und erhebe mich. Irgendwer muss das Opfer bringen. "Wenn Raphy und Gen wiederkommen, habe ich einen Vorschlag zu machen." "Na, das wird lustig", murmelt Melissa. Dark schielt zu mir. "Ist es einer deiner berüchtigten Pläne, Abby? Ich grinse. "Gut möglich." "Gott steh uns bei…" "Oh, keine Sorge", sage ich. "Gott ist in Topform. An ihm wird´s nicht hängen." Hundemon schaut zu seinem Trainer, der ergeben den Kopf schüttelt. In dem Moment kehren Raphael und Genevieve zurück, Raphy äußerst zufrieden mit sich und Gen mit dem Blick einer vom Schicksal Gebeutelten. Die beiden nehmen neben mir Platz. "Also dann", sage ich und hole tief Luft. "Erst einmal würde ich gerne jeden, der kein Geheimnis für sich bewahren kann, bitten, den Raum zu verlassen." Alle Augen ruhen auf mir. Normalerweise macht mir diese Art von Aufmerksamkeit nichts aus, aber die Nervosität vor dem, was als nächstes kommen wird, lässt mein Herz schneller schlagen. Mein Blick huscht vor allem zu Noah und Gold, die mich nachdenklich mustern. "Ich glaube, du solltest die Frage umformen", sagt Dark schließlich, als niemand aufsteht. "Jeder, der gegen illegale Handlungen ist, sollte nun den Raum verlassen." "Illegal?", fragt Gold. "Was hast du vor, Abby?" Ich seufze. Los werde ich wohl keinen von ihnen, bevor ich mein Vorhaben publik gemacht habe. Also gut. "Ich will Zach befreien." Stille. "Abby", sagt Gen vorsichtig, ihre normale Quirligkeit vergessen. "Du bist Zach nichts schuldig. Das weißt du, richtig?" "Und du bist Richard noch weniger schuldig", fügt Raphael zu. "Zachs Situation liegt uns allen im Magen, aber du bist nicht dafür verantwortlich, ihn zu retten." "Ich weiß", sage ich. "Es geht nicht darum. Ich glaube, dass wir diesen Krieg nur gewinnen werden, wenn wir jeden starken Trainer an unserer Seite haben, den wir auftreiben können. Und ihr vergesst, dass Zach im Herzen von Team Rocket war. Vielleicht haben sie nicht ihre wahren Pläne mit ihm geteilt, aber er weiß sicherlich mehr als wir. Wenn wir ihn befreien und ihm die Möglichkeit geben, sich an Craig zu rächen, wird er uns ohne Rückhalt unterstützen, da bin ich sicher. Und außerdem… ist er Caros Bruder. Ich will, dass sie ihn wiedersehen kann." "Abby…" Zu meiner Überraschung ist es Gold, der das Wort ergriffen hat. "Nehmen wir an, dass es uns gelingt, Zacharias aus dem Gefängnis zu befreien, was sich als schwieriger herausstellen dürfte, als du dir vorstellst. Was passiert dann? Jeder, der an seiner Befreiung beteiligt ist, macht sich strafbar. Zach ist in allen Städten ein gesuchter Mann, noch dazu war er vor seiner Festnahme ein Favorit und ist bei dem Großteil der Bevölkerung bekannt. Du wirst ihn nicht einfach durch die Gegend schmuggeln können." "Vielleicht müssen wir das nicht", entgegne ich. "Wenn wir es schaffen würden, Zach mitzunehmen, ohne dass es jemandem auffällt, wird es leicht sein, ihn untertauchen zu lassen. Wenn er nach dem Krieg immer noch gesucht wird, kann er einfach die Region wechseln, während ich dafür sorge, dass seine Verbrechen vergeben werden. Er war schließlich nur ein Spion." "Das ist selbst für dich eine hirnrissige Idee", sagt Raphael. "Ich kann dich wirklich verstehen, Abby, aber…" "Aber was?" Ich schaue ihn herausfordernd an. "Zach könnte das letzte Puzzlestück in dieser ganzen Sache sein! Wir haben nur noch fünf Tage. Wenn einer von euch es schafft, Rocky bis dahin zu überzeugen, dass wir ihn brauchen und dass er unschuldig ist, bin ich für Vorschläge offen. Aber solange werde ich Pläne schmieden und nicht tatenlos rumsitzen." Noah schließt die Augen und Gold fährt sich durchs Haar. "Du machst uns alle zu Komplizen", sagt er dann. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "Ihr hattet die Möglichkeit, zu gehen." "Gehe ich Recht in der Annahme, dass ich Teil deines Planes bin?", fragt Ryan mit verschränkten Armen. Ich klimpere mit den Wimpern. Er seufzt. "Solange ich nicht das Hauptquartier verlassen muss, bin ich dabei." "Ich wusste, dass du der Herausforderung nicht widerstehen kannst", rufe ich fröhlich. "Als Herausforderung würde ich es nicht bezeichnen…" "Kann ich mit, Abby?", fragt Amy aufgeregt. "Ich will mithelfen!" "Das kommt darauf an", sage ich und gehe zu unserem Korkboard, wo auf einem kleinen Beistelltisch Papier und Kugelschreiber liegen. "Ich habe zwar eine grobe Idee, aber alle Feinheiten sind davon abhängig, wer mitmacht und welche Pokémon wir zur Verfügung haben." Ich schnappe einen der Zettel und einen Stift und kehre zum Tisch zurück. "Jeder schreibt bitte seinen Namen, sein Pokémonteam und die Fähigkeiten und Attacken auf. Wenn ihr irgendwelche Talente habt, wäre jetzt der Zeitpunkt, uns einzuweihen." "Du meinst es wirklich ernst", sagt Gold fassungslos, so als habe er die ganze Zeit gedacht, ich würde Witze machen. "Attackenbuilds sind eine private Angelegenheit", sagt Noah, als ich ihm die Liste zuschiebe. "Ich weiß, dass ihr Protrainer gerne ein Geheimnis aus euren Strategien macht, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür", kontere ich. "Raphael und Genevieve werden ihre Builds ebenfalls veröffentlichen, ihr habt also gleiche Chancen. Und vom Rest hier brauchst du keine Angst zu haben. Orden und der Championtitel sind das letzte, was wir uns unter den Nagel reißen wollen." "Du kannst ihn nicht dazu zwingen", wendet plötzlich Nathan ein. "Er hat einen Ruf, den er nicht verlieren darf. Und sind Raphael und Gen nicht seine größten Rivalen?" Noah schaut Nat genauso verwirrt an wie ich. "Es… ist schon okay", sagt er dann und nimmt mich in Augenschein. "Wenn Raphael und Genevieve an der Liste teilnehmen, habe ich weiterhin den Vorteil meines doppelten Teams. Außerdem habe ich das Gefühl, dass Ryan und ich diejenigen sind, ohne die der Plan nicht aufgeht, kann das sein?" Ich grinse. "So sieht´s aus. Ich brauche dich, Noah. Vor allem dich." "Noah muss nicht mitmachen, nur weil du ihn brauchst", sagt Nathan leise. Zu meiner großen Überraschung lächelt der Champ ihn an. "Ist schon in Ordnung, Nathan. Ich habe selbst keine Freude daran, Zach in Haft zu wissen. Ich werde mitmachen, solange der Plan sinnig erscheint." "Von sinnig war nie die Rede", murmelt Raphael, sagt aber nichts, als ich den Kugelschreiber zücke und allen zunicke. "Bevor es sich noch jemand anders überlegt, fange ich mit meinem Team an." Gesagt, getan. Meinem Beispiel folgen etwas zögerlich Raphael und Genevieve. Amy stürzt sich förmlich auf das Stück Papier und Ryan kritzelt sein Team desinteressiert in die Liste. Nathan und Melissa tun es ihm gleich. Dann kommt Noah. Er holt tief Luft, überfliegt die Daten der anderen und fügt dann seine eigene, wesentlich längere Liste hinzu. Gold und Dark sind die letzten. Das Papier landet wieder vor mir auf dem Tisch. Aufgeregt durchforste ich die Teams nach etwas, dass mir eine Idee gibt. "Okay, Leute", sage ich nach einer Weile und schaue mit glühenden Wangen auf. Raphael stöhnt, als er meinen Blick sieht. "Wir machen es so…"   Gold hat das Gesicht in seinen Händen vergraben und lacht leise. Noah starrt mit gerunzelter Stirn vor sich hin und Nathan schaut mich entsetzt an. "Das kannst du nicht verlangen, Abby!", sagt er wütend und springt auf. "Ich denke, Noah kann selbst entscheiden, ob er noch mitmachen will oder nicht", erwidere ich kühl. Melissa hat nach ihrer Kette gegriffen, aber sie sieht nicht so aus, als habe sie ein Problem mit meinem Plan. Im Gegenteil. Irgendwie scheint ihr die Idee zu gefallen. "Das Verrückte ist", meint Gold, der sich von seinem Lachen erholt hat und zu uns aufsieht, "dass es tatsächlich klappen könnte." Dark nickt. "Es erfordert herausragende Fähigkeiten und Kontrolle der Pokémon." "Die wir haben", stimmt Noah zu. "Aber Natty hat Recht", murmelt Gen und zeigt ein weiteres Mal, wie gerne sie mit anderer Leuten Spitznamen spielt. "Du verlangst eine ganze Menge von ihm, dafür, dass er Zach nur flüchtig kannte." "Ich bin außerdem der einzige, den sie fragen kann", sagt Noah leise. "Das heißt nicht, dass du es tun musst!", faucht Nathan. Melissa stöhnt und dreht den Kopf zu ihrem Freund. "Jetzt unterdrück mal dein Gluckensyndrom und lass den Jungen selbst entscheiden. Er ist der Champ und ihr behandelt ihn wie ein Baby. Er weiß schon, was er seinen Pokémon zumuten kann und was nicht. Außerdem, und ich sage das nicht gerne, ist der Plan verdammt dreist und waghalsig. Ich mag dreiste Pläne." Nathan lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen. Alle Augen ruhen auf Noah. Der Plan ist allein von ihm abhängig. Schließlich nickt er und sieht auf. "Ich mache es. Aber wenn Zach nach der Befreiung entdeckt wird, bist du allein dafür verantwortlich. Einverstanden?" "Abby…", stöhnt Raphael, doch ich bringe ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen. "Das ist das mindeste Risiko, was ich auf mich nehmen kann", sage ich und reiche Noah über den Tisch hinweg die Hand. "Einverstanden."   Als die Besprechung vorbei ist, verlasse ich gähnend den Seminarraum und warte vor der Tür auf Raphael. Er kommt nur kurze Zeit später mit Gen heraus, verabschiedet sich von ihr und kommt in meine Richtung. Ich hake mich bei ihm unter und gemeinsam schlendern wir durch die verworrenen Gänge des Hauptquartiers. "Wie geht es dir?", fragt er, als wir die Stimmen der anderen nicht mehr hören können. "Blendend", sage ich und grinse ihn an. Mein Gesichtsausdruck verdüstert sich, als ich seine besorgte Miene sehe. "Ist es wegen der Narbe?", frage ich. Ertappt zuckt er zusammen. Er nimmt die runde Brille ab, putzt sie an seinem Shirt und nickt schließlich mit gesenktem Kopf. "Du bist zu Hause von Mel angegriffen worden, wenn Dark mich richtig informiert hat", sagt er. "Selbst du solltest so etwas nicht so leicht wegstecken können. Und die Narbe ist nicht gerade unauffällig." "Wirklich?", frage ich und taste wieder nach der Kerbe in meiner Wange. "Ich hatte nicht viel Gelegenheit, sie mir anzusehen. Silberberg und so." "Sie ist nicht hässlich", wirft Raphael schnell ein. "Nur… schwer zu übersehen." "Das haben Narben im Gesicht so an sich", stimme ich zu und zucke mit den Schultern, als Raphaels besorgter Blick nicht nachlässt. "Ich weiß nicht. In dem Moment hatte ich ziemlich Panik, aber ich bin nur froh, dass die Sache mit Mel jetzt abgeschlossen ist. Außerdem war ich seitdem so gut wie nicht allein. Ich glaube nicht, dass mir nochmal soetwas passieren wird." Er nickt erleichtert und legt einen Arm um meine Schulter. "Ich bin froh, dass du da heil rausgekommen bist. Als ich von Dark davon gehört habe…" "Mir geht´s gut, keine Sorge." Ich grinse zu ihm hoch. "Und mir wird es noch viel besser gehen, wenn Zach wieder hier ist und Team Rocket ausgerottet wurde." Resigniert seufzt er und schüttelt den Kopf. "Hat es einen Sinn, dir diese Sache noch auszureden?" "Nö." "Dachte ich mir." Er macht einen Schritt von mir weg und zieht etwas aus seiner Umhängetasche. Es dauert einen Moment, bevor ich die Scheibe als TM identifiziere. "Was ist das?", frage ich. "TM84. Gifthieb. Ich habe sie noch von meinem Arenakampf gegen Janina übrig.  Eigentlich wollte ich sie dir zu deinem sechzehnten Geburtstag schenken, aber wenn Team Rocket am 19. Mai zuschlägt, kann Sku eine neue Attacke wohl eher jetzt gebrauchen." "Das…" Ich starre die TM an. "Brauchst du sie wirklich nicht?" "Ich habe keinen Gifttyp", entgegnet Raphael. "Und sie ist wie für Sku gemacht. Na los, nimm schon." Vorsichtig nehme ich die TM an mich und betrachte die violette Maschine mit großen Augen. Raphael lacht und wuschelt mir durchs Haar. "Happy Birthday vorträglich." Kapitel 118: Ein trügerisches Unterfangen (Ass im Ärmel) -------------------------------------------------------- Priss´ Pokéball vibriert ungeduldig in meiner Handfläche, während ich an Darks Zimmertür klopfe und mich bemühe, die Augen offen zu halten. Der lange Flug und natürlich die sechs Wochen Training am Silberberg stecken mir noch in den Knochen und ich würde nichts lieber tun, als mich sofort in mein Bett fallen zu lassen, aber eine Einladung vom Boss persönlich schlägt man nicht so einfach aus. Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass Gold mit von der Partie sein wird. Und wenn schon. Niemand kann mir mein Motiv nachweisen. Auf den auffordernden Ruf von innen trete ich ein und entdecke problemlos Dark, der mit Hundemon an seiner Seite auf einem neu angeschafften Sessel sitzt und sich mit Gold unterhält. Bei dem erneuten Anblick der Legende macht mein Herz einen riesigen Satz. Ich werde mich nie daran gewöhnen, in einem Raum mit ihm zu sein. „Abby, setz dich“, begrüßt Dark mich in gewohnt neutralem Ton, aber Hundemons Hecheln verrät seine unterdrückte Aufregung. Apropos Hundemon. Grinsend aktiviere ich den Pokéball in meiner Hand. Priss materialisiert sich in einem Schauer aus roten Funken. Bei ihrem Anblick spitzt Hundemon die Ohren. Es ist das erste Mal, dass er sie seit ihrer Entwicklung gesehen hat. Vorsichtig erhebt der Höllenhund sich und wird im nächsten Moment von Priss in Beschlag genommen, die auf ihn zuläuft, sich an seine Brust schmiegt und neckend über seine Kehle leckt. Gold lacht laut los und ich tausche einen verschwörerischen Blick mit Dark, als die beiden Pokémon es sich in einer Ecke des Zimmers bequem machen und zusammen einrollen. Wenig elegant lasse ich mich auf den letzten freien Stuhl sinken und unterdrücke ein Gähnen. „Da bin ich“, begrüße ich die beiden. „Priss hatte Angst, dass er sich nicht mehr mag, weil sie ein Wasserpokémon ist“, füge ich hinzu, als Dark seinen Blick nicht von den beiden Pokémon abwendet. „Sie ist jetzt wehrhafter, das gefällt ihm“, entgegnet Dark und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf uns. „Wie ich sehe, war dein Training sehr erfolgreich.“ „Kann man so sagen“, stimme ich zu. „Ich will nicht drängen, aber ich bin echt müde. Was gibt es noch zu besprechen?“ „Wir haben während deiner Abwesenheit ein Auge auf deine Familie geworfen, wie du vorgeschlagen hast“, sagt Dark. „Sobald ihr abreist, werden wir deine Eltern und deinen Bruder hierhin evakuieren, um Erpressung von Team Rocket vorzubeugen. Wenn der Anschlag beginnt, haben wir keine Zeit für spontane Rettungsaktionen.“ Ich nicke ihm dankbar zu. Nachdem Mel mich in meinem eigenen Zimmer überrascht hat, gehe ich lieber auf Nummer sicher, aber wie erwartet kann ich mich voll auf Dark verlassen. „Wie sieht es mit unserem Gegenplan aus?“ „Ryan arbeitet daran.“ Frustriert fahre ich mir durch die Haare. „Immer noch? Wir haben nur noch fünf Tage. Wenn er bis dahin nicht fertig ist, werden wir Team Rocket niemals ausrotten können!“ „Wir haben keine Wahl“, sagt Dark. „Wenn Ryan es schafft, sich rechtzeitig in ihr System einzuhacken, werden Gold und ich versuchen, das Hauptquartier zu stürmen und Atlas auszuschalten. Lance auch. Ich bezweifle, dass er Eiland Fünf verlassen wird, um zu kämpfen.“ Gold nickt nachdenklich. „Mit etwas Glück wird Rocky nachkommen, sobald wir weiter vorgedrungen sind. Diesmal werden wir Atlas aus dem Verkehr ziehen, egal wie.“ Sein Blick nimmt grimmige Züge an, die ich sonst nicht von ihm kenne. Dann wiederum ist es nicht verwunderlich. Gold hat bereits als Kind gegen Team Rocket und Atlas kämpfen müssen. Sicher macht es ihn rasend, dass seine damaligen Bemühungen nicht ausgereicht haben, um seine Heimat vor weiteren Anschlägen der Verbrecherorganisation zu beschützen. Dark sucht den Augenkontakt zu mir. Ich versuche, seine ernste Miene durch ein verschmitztes Lächeln aufzulockern. „Du weißt schon, dass du genau das tun wirst, was du mir von Anfang an ausreden wolltest, oder?“, frage ich. „Alleine das Hauptquartier stürmen und all das…“ „Ich werde schließlich nicht alleine sein“, erwidert Dark mit einem schmalen Lächeln, das sich jedoch sofort wieder verflüchtigt. „Hör zu, Abby. Wenn alles nach Plan läuft, wirst du die gesamte Organisation übernehmen müssen. Du bist der beste Kandidat für den Anführerposten, sollte ich nicht zurückkehren.“ Ich lache auf, verstumme jedoch, als er nicht einstimmt. „Was?“, frage ich. „Das meinst du doch nicht ernst. Warum solltest du nicht wiederkommen?“ „Es wird nicht leicht“, sagt Dark leise. „Wir werden uns alle bemühen müssen, aber das Hauptquartier anzugreifen, ist unser riskantestes Manöver. Ich weiß nicht, was passieren wird.“ „Unsinn“, flüstere ich. Ich weiß natürlich, dass Team Rocket gefährlich ist, schließlich habe ich Melissa und den anderen Übereifrigen stetig von dem Risiko gepredigt, bis es allen aus den Ohren kam. Aber Dark habe ich immer für unantastbar gehalten. Über jeden Zweifel erhaben. Ihn Schwäche zeigen zu sehen, liegt mir plötzlich wie ein Block Eis im Magen. „Keine Sorge“, unterbricht Gold meine düsteren Gedankengänge. „Ich werde dafür sorgen, dass wir keine zu großen Risiken eingehen. Dark kennt sich in dem Hauptquartier aus und ich bin in meiner Laufbahn schon in mehr Rocket-Standorte eingedrungen, als mir lieb ist. Im Notfall belagern wir sie, bis Rocky mit der gesamten Liga vor ihrer Tür steht.“ Ich atme tief durch. Er will mich beruhigen. Es fällt mir plötzlich sehr schwer, seine positiven Gedanken zu teilen. „Wird schon schief gehen“, sage ich trotzdem und erhebe mich. „Wir werden uns wohl vorerst nicht mehr wiedersehen. Man hört sich.“ Ich tippe an das kleine Head-Set in meinem Ohr. „Und viel Glück.“ „Dir auch morgen“, sagt Dark und grinst nun doch flüchtig. „Du wirst es brauchen.“ Ich habe Darks Zimmer kaum verlassen, da legt Gold eine Hand auf meine Schulter und hält mich so davon ab, ohne ein weiteres Wort in mein Bett zu kriechen. „Eine Sache noch“, sagt er leise. „Wenn ich mit Dark auf den Eilanden bin, seid ihr mit Noah auf euch allein gestellt. Wenn es nicht mehr anders geht…“ Er zögert, spricht dann aber weiter. Seine Worte waschen über mich. Halb glaube ich, meinen Mund aufklappen zu spüren. Unser letztes Ass. Es war all die Zeit genau vor unserer Nase.   „Kann ich wirklich nicht mit?", fragt Amy zum gefühlt zehnten Mal am nächsten Morgen. Ich schüttele den Kopf und stopfe die frisch gekauften schwarzen Klamotten und einen kleinen Vorrat Masken in meinen Rucksack. „Tut mir Leid, Amy", sage ich. „Die meisten deiner Pokémon sind zu groß und außerdem ist dein Team ziemlich offensiv. Wir brauchen aber Statusattacken." „Sei nicht traurig", murmelt Melissa von ihrem Platz auf dem Sofa aus, wo sie ihre eigene Maske auswählt. „Du bist nutzlos, so wie immer. Sollte dir inzwischen leicht fallen." „Warum hältst du nicht einfach deine Klappe, Melissa?", frage ich bissig und schaue zu ihr. „Spricht man so mit derjenigen, die eins ihrer Pokémon zur Verfügung stellt?", erwidert sie ungerührt und zieht eine Flurmelmaske aus dem Schließfach, die sie probeweise anzieht. „Urgh. Wie ertragt ihr es, diese geschmacklosen Teile zu tragen?" „Sagt diejenige mit der hässlichen Holzkette", entgegne ich genervt. „Das ist eine Gebetskette", sagt Melissa schlicht. „Wenn du wie ich von Dummheit verfolgt wärst, würdest du auch eine tragen. Zum Glück ist es ziemlich schwer, deine Intelligenz zu unterbieten, daher bleibt dir dieses Accessoire erspart." „Sehr witzig…", murre ich und befestige den S-Com an meinem Gürtel, bevor ich das Head-Set anziehe. „Hallo?", frage ich vorsichtshalber, nachdem ich den Stummknopf deaktiviert habe. „Hört mich jemand?" „Klar und deutlich", erschallt Nathans Stimme. „Viel zu deutlich für meine Bedürfnisse. Bitte schalte dich wieder stumm, Abbygail." Ich rolle die Augen. Ryan, wer sonst. Trotzdem folge ich seinen Anweisungen. Ich bin nicht gerade scharf darauf, Ryans Stimme durchgängig in meinem Ohr zu haben. Das wird heute Abend ohnehin unvermeidbar sein. „Aber dann habe ich überhaupt nichts zu tun!", protestiert Amy. „Nicht mal Ronya ist hier. Was soll ich denn machen?" „Du könntest schlafen gehen", schlage ich vor und deute auf die Uhr an der Wand. „Es ist schon zehn Uhr. Selbst für dich ist das ziemlich extrem." Sie verzieht das Gesicht, kann ein Gähnen aber nicht unterdrücken. „Du hast ja Recht. Viel Glück, Abby." Mit hängendem Kopf trottet sie davon und läuft fast in Noah hinein, der in dem Moment in den Gemeinschaftsraum tritt. „Seid ihr bereit?“, fragt er und knetet dabei nervös seine Finger. „Die Taschen sind gepackt“, sage ich und schultere den Rucksack. „Wenn du dein Team zusammengestellt hast, haben wir noch ein letztes Strategietreffen mit Ryan. Wo ist eigentlich Gen?" Bei ihrem Namen muss er lachen. „Sie erholt sich noch von ihrem Kater, nehme ich an." Ihrem… Kater? „Ist nicht ihr Ernst", stöhne ich und laufe Amy hinterher, die voran torkelt und mich zu ihrem Zimmer führt, das sie sich mit der Favoritin teilt. Als ich hineinstürme, entdecke ich Gen inmitten eines Deckenhaufens, der sich um all ihre Glieder gewickelt hat. "Aufwachen!", rufe ich. Genevieve zuckt zusammen, rollt sich stöhnend auf die andere Seite − und fällt vom Bett. "Ouch!", flucht sie und entknotet sich mühsam. Ihr Haar steht in alle Richtungen ab. Amy geht neben ihr in die Knie und tätschelt ihren Kopf. "Arme Genny", sagt sie, steht auf und lässt sich ins zweite Bett des Raumes fallen. Ich schüttele fassungslos den Kopf. "Gen, wir treffen uns in zehn Minuten in Ryans Computerhöhle. Sei pünktlich." "Geez, mach jetzt keinen auf Raph…" Ich bleibe lange genug, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich aufsteht, wende mich aber schließlich ab und gehe zusammen mit Noah und Melissa nach oben. Ryan ist bereits damit beschäftigt, Grundrisse, Arbeitsschichten und Zeitpläne herunterzuladen. Als er uns bemerkt, winkt er uns zu sich. "Wie gestern besprochen werden Dark und Gold planmäßig auf Patrouille gehen", sagt er. "Nachdem ihr wieder draußen seid, fliegen Melissa und Nathan direkt nach Johto. Raphael wartet am Bahnhof auf den Rest von euch. Soweit verständlich?" "Wir haben das schon dreimal durchgekaut", sage ich. "Ich glaube, wir haben es kapiert." Ryan schnaubt. "Bei euch kann man nie sicher sein. Ah, Genevieve, wie schön, dass du auch Zeit gefunden hast, dieser Besprechung beizuwohnen. Ich hoffe, du bereust deinen kleinen Exzess gestern Nacht nicht allzu sehr." "Wenn ich schon mal in Prismania City bin, dann gehe ich auch hier in ´ner Bar trinken", erwidert Gen und reibt sich die Stirn. "Hab nur vielleicht ´n bisschen übertrieben." "Eine weise Erkenntnis", stellt Ryan trocken fest. "Wenn also alle Wahnsinnigen versammelt sind, können wir ja beginnen. Oh, und bevor ich es vergesse…" Er wühlt in einem Haufen Dokumente und fischt einen einzelnen Pokéball heraus, den er mir in die Hand drückt. "Mein Starter. Ich glaube nicht, dass ihr ohne ihn weit kommt."   Das Gefängnis liegt nordwestlich von Saffronia City, abseits der meisten Städte auf unbewaldetem Gelände. Der Flug dorthin erweist sich als der einfachste Teil: Melissa fliegt Altaria mit gewohnt kühler Eleganz, Hunter erfreut sich an dem warmen Klima, das am Silberberg quasi nicht vorhanden war und Noah fliegt auf seinem Fasasnob, dessen tiefgraues Gefieder mich an Sturmwolken erinnert. Nathan, der ebenfalls mit von der Partie ist, treibt uns mit Washakwils Rückenwind voran. Wir müssen ein gutes Stück von dem Gefängnis entfernt landen, denn es gibt Wachtürme und das Gelände um die hohen Mauern und das Luftgitter ist bar jeder Versteckmöglichkeit. Ein einstündiger Marsch durch den sich langsam lichtenden Wald dämpft unsere Stimmung zusehends und außer Ryans spitzen Kommentaren drücken wir uns um Konversation. Erst, als wir den Waldesrand erreichen, kommt die Aufregung zurück. Inzwischen ist es dunkel geworden. Wie Ryan uns bereits zehn Mal versichert hat, wird Zach nach dem Einschluss um 18:00 Uhr mit absoluter Sicherheit in seiner Zelle sein, deren Position er uns anhand der gestohlenen Grundrisse solange eingebläut hat, bis jeder von uns blind dorthin finden würde. Am Waldrand, gerade außerhalb der Sichtweite der Wachposten, halten wir inne. "Gen, hast du den Gürtel?", frage ich ein letztes Mal nach. "Wenn der Austausch nicht klappt, haben wir ein echtes Problem." "Chill, Abby. Ich hab alles dabei." Genevieve schielt zu mir und grinst mich frech an. "Was, hast du jetzt plötzlich Muffensausen?" "Ich will nur, dass wir alle heil da wieder rauskommen." "Wahrscheinlich stellt sie deine Zurechnungsfähigkeit in Frage, nachdem du dich einen Tag vor dem Gefängnisausbruch mit Alkohol zugeschüttet hast", ertönt Ryans höhnende Stimme. "Ich für meinen Teil stimme ihr zu." "Geez, Spaßverderber…" "Ruhe jetzt", flüstere ich. "Ruft eure Pokémon, wir gehen rein." "Genau das wollte ich hören." Melissa greift nach ihrem Pokéball und ruft ein Roserade, dessen Blütenhände einen betörenden Geruch verbreiten. "Roserade, ich erwarte deine volle Unterstützung. Nutz die Erfahrung als Training für deine flächendeckenden Statusangriffe." Das Blumenpokémon schielt zu seiner Trainerin empor, die den Blick gnadenlos erwidert. Es neigt den Kopf in stummer Zustimmung und nimmt neben Melissa Aufstellung. Zu beiden Seiten rufen nun Nathan und Noah ihrerseits ihre Pokémon, dicht gefolgt von Genevieve. Nachdem das rote Licht verblasst ist, finde ich mich Gens Hypno Zero gegenüber, das sein Pendel fröhlich um seine Nase wickelt, sowie einem Somnivora, das schlaftrunken in der Luft schwebt und Noahs Groink. Das Manipulatorpokémon pikst seinen Nachbarn und grinst schelmisch, als es verwirrt grummelt. "Sammy, bitte", murmelt Nathan, als sein Somnivora ein lautes Schnarchen von sich gibt und erschrocken von dem Geräusch die Augen aufreißt. "Blamier mich nicht." Noah kichert und tätschelt seinem eigenen Pokémon den Kopf. Es schließt genießerisch die Augen. Ich selbst schnappe mir Gotts und Priss´ Bälle und rufe das ungleiche Paar. Gott legt kurz die Ohren an, als er sich so vielen Menschen gegenüber sieht, aber Nathan und Melissa kennt er bereits vom Silberberg und Gen ist ihm ebenfalls bekannt. Auf meinen kurzen Pfiff hin fährt er das lodernde Feuer in seinem Nacken herunter und wartet auf mein Kommando. Priss leckt ihre Pfoten, völlig unbeeindruckt von Gotts neuer Statur. "Okay Leute", sage ich und wende mich meiner kleinen Spezialeinheit zu. Noahs Anblick lässt mein Herz höher schlagen. Was mache ich hier eigentlich? Die stärksten Trainer der Regionen und Kantos Champion herumkommandieren? Wie bin ich nur in diese Rolle hineingeraten? "Kommt da noch was in Sachen Ansprache oder sollen wir loslegen?", fragt Melissa und ruiniert jeden Gedankengang, den ich gerade hatte. Ich räuspere mich und werfe ihr einen wütenden Blick zu. "Ich erinnere nochmal alle daran, dass wir kein Aufsehen erregen wollen. Wir sorgen dafür, dass uns niemand bemerkt und wenn doch, dann sorgen wir dafür, dass sich niemand mehr an uns erinnert. Dieser Vorfall darf nicht an die große Glocke gehangen werden, sonst ist diese ganze Operation nutzlos. Verstanden?" "Ja, Captain", stöhnt Gen. "Und jetzt Schluss mit den Motivationsreden, ich will ein paar Wärter hypnotisieren!" "Ganz deiner Meinung", flüstert Melissa und macht einen Schritt vor. "Jetzt Mund halten und rein da." Ich seufze und trete zurück. "Ihr kennt den Plan. Los geht´s!" Melissa winkt Roserade zu sich, die im Schatten der Bäume so nah wie möglich an die flachgerodete Fläche schleicht. Sie hebt ihre Hände vor sich wie Pistolen und spreizt die Blüten weit. Der Geruch von zuvor intensiviert sich, bis ich mir eine Hand vor Mund und Nase halten muss. "Mehr", befiehlt Melissa. Roserade knirscht mit ihren spitzen Zähnen und zwingt die anziehenden Gerüche nun auch aus der Blüte auf ihrem Kopf. Ich verfolge den Weg des Lockdufts mit zusammengekniffenen Augen und kann mit etwas Mühe die goldgelben Schlieren in der Luft erkennen. Trotz aller Bemühungen ist die Reichweite jedoch zu gering. Roserades Lockduft erreicht nicht die Wachtürme und erzielt damit keinerlei Wirkung, außer uns andere benommen werden zu lassen. "Hunter", murmele ich. Der Ball an meiner Hüfte aktiviert sich und befreit meinen krächzenden Chaoten in einem Lichtermeer aus Rot. "Kannst du für ein bisschen Aufwind sorgen?", frage ich. "Roserade braucht Hilfe bei ihrem Lockduft." Hunter legt den Kopf schief und beäugt das Blumenpokémon, dann hoppst er an ihre Seite und schlägt sanft mit den Flügeln. Roserade nimmt ihre Attacke wieder auf und dieses Mal steigen die vernebelnden Düfte bis hinauf in die Wachtürme. "Okay, jetzt ihr", befehle ich. "Gott, ich brauche einen kleinen Waldbrand, ungefähr… dort hinten." Ich deute auf einen Waldabschnitt auf der östlichen Seite des Gefängnisses, gerade weit genug von uns entfernt, um ein wenig Sichtschutz zu bieten. "Übertreib es nicht, dein Flammenwurf hat es inzwischen ziemlich in sich. Wenn das Feuer zu groß wird oder wir sicher drinnen sind, löschst du alles, Priss. Verstanden?" Die beiden nicken und preschen unter dem Schutz der Bäume davon. "Ich habe die Überwachungskameras im Außenbereich mit Stillbildern überlagert", ertönt Ryans markante Stimme. "Ihr solltet ohne Probleme bis zu ihrer Haustür gelangen, sofern die menschlichen Vertreter euch nicht bemerken." "Seid ihr soweit?", frage ich das Hypnoseteam. Genevieve faltet ihre Hände und lässt genüsslich ihre Finger krachen. "Sowas von. Zero und ich werden die Bude rocken." Wir warten, bis die Wachposten eindeutige Symptome von Roserades Lockduft zeigen. Einige bewegen sich schon seit Minuten nicht mehr oder starren verträumt in die Ferne, andere drehen sich verwirrt im Kreis, so als suchten sie nach dem Ursprung des Geruchs. Plötzlich steigt zu unserer Rechten Rauch auf. Ich kann die Flammen nur als helles Flackern ausmachen, aber die Wachmänner schütteln sich aus ihrer Trance, rufen einander Befehle zu und lehnen sich weit über ihre östliche Reling, um den Ursprung des Feuers zu entdecken. Keiner schaut in unsere Richtung. "Jetzt!", zische ich. Nathan und Gen laufen geduckt vor. Die Hypnose der beiden Psychotypen hat keine so große Reichweite wie Roserades Lockduft, aber dank Gotts Ablenkungsmanöver kommen sie nahe genug an das Gefängnis heran, ohne gesehen zu werden und durch die Benommenheit, die sich in den Rängen der Wachen breit gemacht hat, treffen ihre Attacken problemlos. Einer nach dem anderen klappen die Männer in sich zusammen. Als der gesamte äußere Überwachungsring hinter den Mauern weggesackt ist, sprinten Melissa, Noah und ich den anderen beiden hinterher. Hunter rufe ich zurück, bevor sein aufgeregtes Krächzen uns verrät. Die Wachen auf der anderen Seite des Gefängnisses sind schließlich noch hellwach. "Ich habe alle Sicherungen ausgehebelt", kommentiert Ryan, als wir das mit Stacheldraht versehende Tor erreichen, dessen massive Metalltüren unter normalen Umständen das Ende unseres Ausflugs wären. "Rechts ist ein Tastenfeld und der Bestätigungsknopf angebracht. Drückt einfach den Knopf, dann kommt ihr rein." Gen übernimmt die Aufgabe und hämmert auf den grünen Schalter ein. Ich habe nicht an Ryans Hackerfähigkeiten gezweifelt, trotzdem kann ich meinen Augen kaum trauen, als das Tor sich einfach öffnet. Ich werfe einen letzten Blick hinter uns. Noah nickt mir beruhigend zu, während Melissa bereits vorfreudig nach ihrer Gebetskette gegriffen hat. Ich hole ein letztes Mal tief Luft. Dann huschen wir hinein. Kapitel 119: Zacharias (Jungfrau in Nöten) ------------------------------------------ Eine Vielzahl kantiger Betonbauten begrüßt uns im Hof, der bis auf wenige Wachen wie ausgestorben scheint. Grelle Flutlichtscheinwerfer leuchten die karge Fläche völlig aus. Obwohl ich mir die Grundrisse eingeprägt habe, fühle ich mich im Angesicht der lebensechten Vertreter etwas verloren. Zum ersten Mal seit ihrem lebensrettenden Einsatz am Silberberg bin ich froh, Melissa an meiner Seite zu haben, denn ihr Griff um meinen Oberarm reißt mich aus meiner Starre. Sie zieht mich hinter einen großen Lieferwagen, der rechts von uns geparkt wurde. Nathan und Noah haben sich dort bereits versteckt, nur Genevieve ist schon an den vom Feuer abgelenkten Wachen vorbeigesprintet und steuert zielstrebig auf eins der kleineren Gebäude zu. Zero folgt ihr dicht auf den Fersen und hypnotisiert einen Wachmann, bevor der Gelegenheit hat, auch nur einen Warnschrei von sich zu geben. Wir beobachten, wie sie durch die Tür ins Innere verschwindet. "Bin drin", erschallt ihre Stimme Sekunden später. "Danke Ryan." "Gern geschehen." "Jetzt wir", sage ich und nicke den anderen zu. Roserade hebt die Blütenhände und hüllt den gesamten Innenhof in einen betörend süßen Duft, der mir in seiner Intensität halb den Magen umdreht. Ärmel vor Mund und Nase gepresst, warten wir geduldig, bis die Wachmänner in unsere Richtung torkeln. Plötzlich erschallt lautes Kleffen. Ich schaue hastig an dem Lieferwagen vorbei und entdecke zwei Fukano und ein Bissbark, die in unsere Richtung hetzen. "Scheiße", murmele ich und greife nach Skus Pokéball, nur um im letzten Moment inne zu halten. Wir wollen unauffällig sein, keinen ausgewachsenen Pokémonkampf anzetteln. "Abby, mein Pokémon", befiehlt Ryan in mein Ohr. Ohne nachzudenken schnappe ich mir seinen Pokéball und rufe den darin befindlichen Starter. Rotes Licht schießt aus der Öffnung und verdichtet sich zu… nichts. "Er ist leer!", fauche ich. "Sein einmal kein Idiot und tu, was ich dir sage", erwidert Ryan hitzig. "Sag Irrlicht." "Irrlicht?" Kleine, blaue Flammen erwachen in einem Wirbel zum Leben und treiben träge in Richtung der Wachpokémon. Die drei bleiben verwirrt stehen. Der Lockduft, der ununterbrochen aus Roserades Blüten strömt, lullt sie ein und das kleinste der Fukano streckt vorsichtig eine Pfote nach den tanzenden Lichtern aus. Sein Fell fängt Feuer. Die blauen Flammen schießen vor und treffen das Bissbark, dessen dichter Pelz in Sekundenschnelle zu brennen beginnt. Nathans Somnivora schwebt in Richtung der übrigen Wachen, um seine Hypnose zu wirken, während Noah neben mir auftaucht und Groink seinen Konfusstrahl befiehlt. Das Schwein speit eine Woge blinkender Funken in das Pokémongewirr. Das zweite Fukano, das von dem Irrlicht verschont geblieben ist, springt den Funken hinterher, die wie ein Karussell um seinen Kopf huschen und es verwirrt im Kreis springen lassen. Doch nicht nur das. Die Funken treffen auf unsichtbaren Widerstand. Ich kneife die Augen zusammen, als Groink zur Seite springt, um einem Flammenwurf auszuweichen und das jaulende Bissbark mit einer Psychokinese in die Höhe hebt und kraftvoll auf den Boden schleudert. Ich meine, eine Form unter dem Konfusstrahl erkennen zu können. "Dunkelklaue, Abby!", ruft Ryan in mein Ohr. Der Befehl hat kaum meinen Mund verlassen, da wird das bis dahin unsichtbare Geistpokémon sichtbar und entpuppt sich als aschgraues Banette, dessen reißverschlussartiger Mund zu einem unschuldigen Lächeln verzogen ist. Es schießt vor und zerschlägt die wirre Gegenwehr mit zwei gezielten Hieben seiner schwarz umhüllten Hände. Die Fukano und das Bissbark sinken winselnd in sich zusammen. Keckernd wird es wieder unsichtbar. "Ich hätte nie gedacht, dass du einen Geisterstarter hast", murmele ich geschockt und betrachte das Marionettenpokémon mit frischer Neugier. Gemeinsam mit Nathan und Noah überprüfe ich den Innenhof, doch die Wachen schlafen dank Somnivoras Hypnose und die Kameras, die ich an einigen Stellen entdecke, sind hoffentlich immer noch ausgeschaltet. "Sind die für Anfänger nicht total ungeeignet?" "Er hat mich ausgesucht, nicht umgekehrt, glaub mir", erwidert Ryan kühl. "Abby, ich will euren Plausch nicht unterbrechen, aber wir müssen weiter", murmelt Nathan. "Oh bitte, unterbrich dieses Gespräch", ertönt Ryans Stimme. "Ich wäre dir sehr dankbar." "Shit." "Gen?", frage ich und luge am Lieferwagen vorbei, obwohl ich weiß, dass sie längst im Gebäude verschwunden ist und ich sie dort unmöglich sehen kann. "Da ist eine manueller Mechanismus für die Tür", sagt Genevieve und schnalzt unwirsch mit der Zunge. "Deine Hackerkünste bringen hier nichts." "Nimm Banette", sagt Ryan nur. "Schick ihn zu Gen, Abby. Wenn er etwas besser kann, als kämpfen, dann Türen öffnen." "Möchte ich wissen, woher du das weißt?", fragt Melissa grinsend. "Kümmert euch lieber um eure eigene Mission." Sie schnaubt. Ich folge Ryans Anweisungen und schicke das wieder unsichtbare Geistpokémon in Gens Richtung. "Weiter", sage ich und winke den Rest meiner Gruppe vor. "Das Gebäude da vorne muss es sein." Mein Kopf nickt in Richtung des größten der Betonklötze. "Es gibt ein paar Patrouillen", fügt Ryan hinzu, während wir schon in Richtung Eingang joggen. "Wenn sie euch zu nahe kommen, werde ich euren Kurs umdirigieren, aber ihr werdet nicht um weitere Hypnosen herumkommen." Roserade und Somnivora bilden unsere Vorhut. Ihre Kombination aus Lockduft und Hypnose hat bis hierhin gut funktioniert und wir haben kein Bedürfnis danach, unser Glück mit einer ungeübten Strategie auf die Probe zu stellen. Die Tür, die ins Gefängnisinnere führt, lässt sich wieder durch einen von Ryan ausgehebelten Mechanismus öffnen. Der junge Mann am Empfang hat nicht mal Gelegenheit, überrascht zu gucken, da sackt sein Kopf schon schnarchend auf den Schreibtisch vor ihm. Nervös schiele ich zu den Kameras, die überall hängen. Es ist, als würde ich auf Glas gehen. Ich weiß, dass Boden unter mir ist und ich nicht fallen kann, aber sehen kann ich ihn nicht und so bleibt die Unruhe. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Beim kleinsten Knacken aus dem Head-Set oder den Schritten einige Gänge weiter zucke ich zusammen. Trotz aller Nervosität in unserer Gruppe kommen wir überraschend gut voran. Ryans Warnungen geben uns Gelegenheit, Wachen hinter Ecken aufzulauern und sie auszuschalten, bevor sie uns überhaupt bemerken. Einige der Schleusen sind besser bewacht, aber ein Konfusstrahl von Groink reicht oft aus, um für die Verwirrung zu sorgen, die Somnivora für seine Attacke braucht. Langsam aber sicher nähern wir uns Zachs Zelle. "Kann ich das Banette adoptieren?", erklingt Gens Stimme, als wir gerade den finalen Gang betreten. "Seine Knackerfähigkeiten sind echt beachtlich. Könnte man benutzen, um bei den Jungs in die Umkleidekabine zu schleichen und ihre –" "Gen!", flüstere ich entrüstet. Sie lacht. "Geez, man sollte meinen, meine weiblichen Verbündeten hätten nichts dagegen. Wobei, wenn Noah bei euch ist, bleibt sogar nur Nathan, der was anderes bevorzugt." "Da kennst du ihn schlecht, Silberkopf", murmelt Melissa und erwidert Nathans wütenden Blick mit einem Schulterzucken. "Was? Dein Outing bei dem Interview war ziemlich offensichtlich." Ich schiele zu Noah, der im Verlauf der Unterhaltung so rot angelaufen ist, als habe er sich eine Handvoll Chilis in den Mund gestopft. "Welches Outing?", fragt Gen, ohne jegliche Reaktion auf Melissas Spitznamen. "Melissa, wehe du –" "Er steht auf Noah." Stille. Ich muss mich stark zusammenreißen, um mein Lachen zu unterdrücken. Melissa ist wirklich keine nette Person, aber für diesen Moment könnte ich ihr den Rest fast vergeben. Nathans Mund steht in eindeutigen Schock offen, während Noah ihn einfach nur anstarrt. Gen bricht das unangenehme Schweigen mit einem lauthalsen Lachen. "Melli, du bist mein Held. Wir feiern das später, Leute, ich bin am Pokéballlager. Versaut´s jetzt ja nicht." Sie klinkt sich aus der Verbindung und lässt unser Grüppchen in unangenehmem Schweigen zurück. Ich räuspere mich. "Ist der Gang sicher?", frage ich und schiele um die Ecke. Ich kann niemanden entdecken, aber Ryan hat dank der Kameras den besseren Überblick. "Geht rein." Gesagt, getan. Die anderen drei rufen ihre Pokémon zurück und folgen mir. Vor einer der Zellen bleiben wir stehen. Vorsichtig ziehe ich an dem Türgriff. Ein leises Klicken ist zu hören, als Ryan die Sicherung aushebelt und die Tür schwingt auf. Wir huschen hinein, bevor wir von jemandem entdeckt werden können. Erleichtert atme ich aus und schaue mich um. Der Raum sieht aus, wie ich ihn von Ryans gehackten Überwachungskameras in Erinnerung habe. Das einzelne Bett, das leere Regal an der Wand und das Klo sind die einzigen Möbel. Eine Bewegung zieht meine Aufmerksamkeit auf das Bett, dessen Besitzer ich im ersten Moment kaum wahrgenommen habe. Zach hat sich bei unserem Erscheinen aufgesetzt und starrt uns an. Sein langes Haar ist stumpf und wirr und dunkle Ringe untermalen sein normalerweise so attraktives Gesicht. Dichter Bartstoppel bedeckt seinen Kiefer. "Hi", begrüße ich ihn lächelnd und trete vor. "Wir sind hier, um dich zu befreien." "Wovon redest du?", fragt Zach und erhebt sich. Er trägt einen tiefroten Overall und Turnschuhe. Gefängniskleidung, ohne Zweifel. Zum Glück habe ich vorgesorgt. "Noah?" Zach schaut an mir vorbei zu dem Champ. "Wie seid ihr hier rein gekommen?" "Wir haben alle Wachen hypnotisiert und das System gehackt", erkläre ich, ziehe meinen Rucksack aus und krame die schwarzen Klamotten hervor, die ich heute Morgen frisch gekauft habe. "Wenn wir heil rauskommen wollen, müssen wir uns beeilen. Vertrau uns einfach." "Ich würde euch nicht trauen, wenn ich er wäre", sagt Ryan. Ich ignoriere ihn und drücke Zach die Wechselkleider in die Hand. "Zieh dich um", befehle ich. "Wir erklären dir den Rest später." "Ja, zieh dich aus", murmelt Melissa in halb amüsiertem Ton. "Hier sind nur vier Leute, die dich anstarren." "Und wer seid ihr?", fragt Zach, ohne auf meine Bitte einzugehen. "Die Spezialeinheit für riskante Gefängnisausbrüche, also runter mit dem Feuerwehranzug. Wir drehen uns auch um." Zach schaut verwirrt zu Melissa, schlüpft aber tatsächlich aus dem Overall. Ich drehe mich hastig um. Die anderen folgen meinem Beispiel. "Wir werden dich zu Caro bringen", erkläre ich, während Zach sich hinter uns auszieht. "Erinnerst du dich an Dark?" "Der Sohn von Atlas?", fragt Zach nach kurzem Zögern. Ich nicke. "Er hat Team Rocket verlassen und leitet jetzt unser Team. Er war bei der Übergabe dabei, als du…" "Ja. Ich erinnere mich." "Zieh dich noch nicht an", sagt Noah plötzlich und greift nach einem seiner Pokébälle. "Shade kann keine Kleidung imitieren." Rotes Licht erhellt den Raum. Wenige Momente später steht eins von Noahs Zoroark vor uns, dessen dichte rote Mähne wie ein Wasserfall seinen Rücken herabfließt. Die schmale Taille erinnert mich an die eines Bibors. „Shade, wir haben das besprochen“, sagt Noah leise und streckt eine Hand nach dem Fuchs aus. Er legt seine spitze Schnauze in Noahs Handfläche und gibt ein beruhigendes Grummeln von sich. „Benutz dein Trugbild, um Zach zu imitieren.“ Zoroark löst sich aus der Berührung und fixiert seinen stechenden Blick auf Zach, der noch immer unbekleidet hinter uns stehen muss. Das dunkelgraue Fell schmilzt zusammen und formt eine blasse Hautschicht, sein Körper pumpt sich auf und wächst, die Gelenke und Knochen arrangieren sich neu und die lange, blutrote Mähne schrumpft zu Zachs eigenen, schwarzen Haaren. Obwohl ich weiß, dass es nur eine Illusion ist und Zoroark sich nicht wirklich in einen Menschen verwandelt hat, klappt mir der Mund auf. Dann wandert mein Blick tiefer. Ich kreische und halte mir hastig die Augen zu. Zach steht hinter uns, aber sein nacktes Abbild steht sehr deutlich vor uns. „Nein wie süß“, murmelt Ryan. „Bin ich hier der einzige, den männliche Genitalien kalt lassen?“ „Zieht... euch einfach beide wieder an“, bringe ich mühsam hervor. Seit wir älter sind, habe ich nicht mal Tarik nackt gesehen, ganz zu schweigen von Zacharias Stray, den bestaussehendsten Favoriten in Kanto und Johto. Meine Wangen glühen und mein Herz rast. Melissas Lachen hilft nicht gerade dabei, meine Nerven zu beruhigen. „Du kannst gucken, Jungfrau, seine Männlichkeit ist bedeckt.“ „Lass sie in Ruhe, Lissa.“ Vorsichtig schiele ich zwischen meinen Fingern hindurch, halb in Erwartung, dass Melissa gelogen hat, um mich reinzulegen, aber Zoroark-Zach und Echter-Zach sind beide zumindest von der Hüfte abwärts bekleidet. Ich räuspere mich, bin aber froh, dass auch Nathan und Noah unangenehm berührt in gegensätzliche Richtungen schauen. Schließlich halte ich es für sicher, mich umzudrehen und finde Zach in der schwarzen Jogginghose und Kapuzenjacke vor, die ich im Prismania City Kaufhaus mit Darks Geld gekauft habe. Eigentlich wollte ich selbst bezahlen, aber sechs Wochen einsam auf einem Berg zu verbringen, hat mein Vermögen nicht gerade aufgestockt und Dark hat mich zu Recht daran erinnert, dass es eine Gruppenmission ist und ich es damit über ihn finanzieren kann. Meinetwegen. Während er in die Turnschuhe schlüpft, vergleiche ich ihn mit dem Zoroark, das in seine roten Sträflingsklamotten gekleidet ist. Sie sehen absolut identisch aus. Noah betrachtet sein Pokémon mit eindeutigem Schmerz. Nathan tritt an seine Seite und legt eine Hand auf die Schulter des Champs. „Du kannst dich immer noch anders entscheiden“, sagt er, ohne auf Zach zu achten, der hinter den beiden steht. „Abby verlangt von dir, dein Pokémon hier zu lassen. Wir wissen nicht, wie lange das dauern wird. Bist du sicher, dass du es trotzdem tun willst?“ Noah lächelt ihm müde zu, schüttelt aber den Kopf. „Ich habe zugesagt und dabei bleibt es. Außerdem vertraue ich Abby soweit, dass sie alles weitere regeln wird.“ „Darauf kannst du Gift nehmen“, sage ich. Ich weiß ja selbst, was ich von ihm verlange. Bis ich es geschafft habe, Zach offiziell aus dem Gefängnis zu befreien, muss Noahs Zoroark seinen Platz einnehmen. Sie werden sich nicht sehen, vielleicht für Wochen. Der Plan funktioniert ohnehin nur, weil Noah zwei Zoroark hat, sowie zwölf Teampokémon, sodass das Fehlen von einem in seinen Kämpfen nicht weiter auffallen wird. Das ändert aber nichts an der emotionalen Belastung und dem Druck, der auf uns allen liegt. Ich muss Zach in der Öffentlichkeit freisprechen. Und wenn es das letzte ist, was ich tue. „Wenn die Sentimentalitäten dann geklärt sind, könntet ihr euch vielleicht dazu bequemen, die Zelle zu verlassen?“, fragt Ryan genervt. „Ihr seid immer noch in einem Gefängnis.“ Ein leises Klicken ertönt, als Gen sich wieder in die Konversation einklinkt. Ihr Atem geht schnell, so als sei sie gerade vor jemandem weggelaufen. „Hab den Gürtel“, presst sie hervor. „Was ist mit Zach?“ „Steht hier neben uns“, erkläre ich und nicke Zach zu. „Wir verschwinden jetzt. Geh mit Banette vor und halte uns den Innenhof frei.“ „Geht klar, Boss“, lacht sie. Zoroark-Zach nickt Noah aufmunternd zu und bezieht auf dem Bett Stellung. Seine Bewegungen sind etwas zu fließend für einen Menschen, aber ich glaube nicht, dass es jemandem auffallen wird. Zeit, abzuhauen. Wir warten, bis Ryan uns das Signal gibt, dann huschen wir zurück in den Gefängnisgang und laufen so leise es geht zurück in Richtung Ausgang. Es dauert jedoch nicht lange, bis Ryans Stimme uns erstarren lässt. „Zwei Wachen kommen gleich aus dem rechten Gang“, warnt er uns. Ich nicke Nathan zu, dessen Somnivora er wieder gerufen hat. Er gibt mir einen Daumen hoch. Gleichzeitig formt Roserades stechend süßer Lockduft eine dichte Wolke, in die beide Wachen nur wenige Sekunden später hinein tapsen. Somnivora schwankt durch die Luft. Die psychischen Schwingungen, die durch seinen Körper ausströmen, treffen auf die beiden Männer und lassen ihre Augen glasig werden. Sie fallen tonlos in sich zusammen. „Weiter“, murmele ich. Während wir durch das Gefängnis schleichen und immer wieder neue Wege einschlagen müssen, weil uns zu viele Wachen entgegen kommen und Ryans Kontrolle über die Überwachungskameras langsam schwindet, finden wir uns schon bald in einem Gang wieder, der mir vage bekannt vorkommt. Es dauert einige Minuten, bis ich die Türen als jene identifiziere, durch die ich in Ryans erstem Hackmanöver Zach habe gehen sehen. Die Verhörräume. Ich werfe einen Blick hinter mich. Zach bildet mit mir zusammen die Nachhut, Noah, Nathan und Melissa sind schon vorgegangen, um unseren Weg freizumachen. Mein Herz, das sich inzwischen an die Aufregung hätte gewöhnen sollen, pocht weiterhin schmerzhaft in meiner Brust. Dieser Trip kostet mich Jahre meines Lebens, da bin ich ziemlich sicher. „Alles frei“, ertönt Melissas gedämpfte Stimme, halb durch das Head-Set, halb von der nächsten Abbiegung. Ich nicke Zach zu und gemeinsam folgen wir. Eine der Türen hinter uns schwingt quietschend auf. Wie elektrisiert schnappe ich Zachs Handgelenk und ziehe ihn mit mir, aber der Gang erstreckt sich viel weiter vor uns, als ich eben noch dachte und während wir schon Richtung Abbiegung schlittern, erklingt ein alarmierter Ruf. Kurz, bevor wir um die Ecke schlittern, drehe ich den Kopf. Wen sie verhört haben, weiß ich nicht, auch wenn ich ihm Nachhinein von Lambda, Mel oder den Bikern ausgehe. Das einzige, was ich in diesem Moment weiß ist, dass Rocky und Holly mit dem Rücken zu mir stehen – und dass Jack in unsere Richtung gerannt kommt. Er kann uns nicht erkannt haben, nicht von hinten, während unseres Sprints, aber als ich schnaufend um die Ecke schlittere und halb stolpere, steigt Panik wie Galle in meinem Rachen hoch. Es ist aus, denke ich noch. Zach, dem die monatelange Gefangennahme körperlich nicht besonders gut getan hat, richtet sich schweratmend auf, bereit, sich den Konsequenzen entgegenzustellen. Ich fühle mich absolut nicht so weit. Jacks Schritte donnern über das Laminat und obwohl es nur wenige Augenblicke sind, kommt mir der Moment in die Ewigkeit gezogen vor. Da kommt Jack um die Ecke gerannt, Hand an seinen Pokébällen, Mund für einen Warnschrei geöffnet. Der Ruf erstickt bei unserem Anblick. Für einige, grausame Sekunden starren wir uns gegenseitig an. Zach, gekleidet in den schwarzen Jogginganzug, ich mit Head-Set im Ohr und weiter hinter uns sicher Melissa und die anderen, zu weit entfernt für eine gute Hypnose. Was er in meinem Gesicht liest, weiß ich nicht. Vielleicht erinnert er sich an meinen nervlichen Zusammenbruch am Ende der Übergabe, als Zach endgültig festgenommen wurde. Vielleicht auch an unsere zahlreichen Treffen, Telefonate und Gespräche. „Jack! Ist was passiert?“, ertönt Rockys unverkennbar autoritäre Stimme und lässt mir das Mark gefrieren. Es ist vorbei. Aus und vorbei, für immer... „Nein“, ruft Jack zurück, ohne den Blick von mir zu nehmen. „War wohl gestern zu lange auf, ich seh schon Gespenster.“ Meine Schultern sacken nach unten, als die Anspannung sich von mir löst. Zach neben mir geht es nicht anders, egal, wie souverän er sich gegeben hat. Jack nickt mir zu. Sein Lächeln ist gequält, aber in diesem Moment weiß ich mit hundertprozentiger Sicherheit, dass er mir und meinem Urteil vertraut; und dafür sogar seine Vorgesetzte und gute Freundin anlügt. Im Gegensatz zu ihnen weiß er, dass strikte Regeln nicht immer zum gewünschten Ziel führen. „Danke“, flüstere ich tonlos, schnappe mir Zach und laufe mit ihm zu den anderen, die den stummen Austausch wie gebannt verfolgt haben. Als ich mich ein letztes Mal umsehe, ist Jack verschwunden.  Kapitel 120: Geschwisterliebe (Athenas Rätsel) ---------------------------------------------- Genevieve erwartet uns am Waldrand, doch sie ist nicht allein. Hypno hat sie zurückgerufen, aber Gott steht etwas abseits und beobachtet misstrauisch Banette, das Priss´ spielerischen Wasserattacken ausweicht und sich hin und wieder einen Spaß daraus macht, unsichtbar zu werden und ihr in die Flosse zu zwicken. Zu ihren Füßen liegt Zachs Absol. Bei unserem Anblick erhebt das Desaster-Pokémon sich langsam. Sein weißes Fell hängt zerzaust und in filzigen Fetzen seinen Körper herab. Abgemagert ist es nicht, aber seine Beine zittern bei jedem Schritt und noch bevor es die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hat, bricht es entkräftet zusammen. Zach ist in Sekundenschnelle an Absols Seite. Er kniet nieder, bettet den großen Kopf auf seinen Schoß und streicht beruhigend durch das zottige Fell. Seine dunklen Haarsträhnen verdecken sein Gesicht wie ein Vorhang, aber die Anspannung seines Kiefers kann ich auch so gut erkennen. Er murmelt seiner alten Freundin etwas zu, doch seine Worte werden von dem Rauschen der Baumkronen davongetragen. Mir wird mit einem Stich klar, dass Absol sechs Wochen mit uns am Silberberg verbracht haben muss, ohne Trainer, ohne Heilmöglichkeiten. Unsere abrupte Abreise hat das Unlichtpokémon gezwungen, die gesamte Strecke in vierundzwanzig Stunden zu überwinden. Das schlechte Gewissen nagt kurz an mir, aber ich schüttele es schnell wieder ab. Ich wusste nicht, dass Absol uns bis ans andere Ende Kantos folgen würde und selbst wenn, hätte ich sie kaum auf Hunters Rücken schnallen können. Stattdessen lege ich flüchtig eine Hand auf Zachs Schulter, wende mich Gott zu und mache mich daran, ihn zu beruhigen. Als er Zach das letzte Mal gesehen hat, war der noch in eine Rocket-Uniform gekleidet und auch wenn er wissen sollte, dass der ehemalige Favorit auf unserer Seite steht, hält ihn das nicht davon ab, sein Gebiss zu zeigen und das Feuer in seinem Nacken gefährlich auflodern zu lassen. Mein leiser Pfiff und eine kurze Umarmung stellen ihn jedoch ruhig. „Wir sind draußen“, verkünde ich an unsere Mithörer im Head-Set und rufe Gott und Priss zurück. Banette wird unsichtbar, aber an dem Vibrieren an meiner Hüfte merke ich, dass es selbstständig in seinen Pokéball zurückgekehrt ist. Warum es ausgerechnet Ryan ausgesucht haben soll, ist mir schleierhaft, aber vielleicht hat sogar er gute Seiten. „Zach ist eingesammelt, wir starten jetzt Phase Zwei.“ „Na endlich“, murmelt Ryan. „Das hat ja überhaupt nicht lange gedauert.“ „Sehr gute Arbeit, ihr alle“, ertönt Darks Lob. Während der gesamten Mission hat er kein Wort gesagt, aber er hat von Anfang bis Ende alle Gespräche mitverfolgt. „Melissa, Nathan, ihr fliegt auf direktem Wege nach Johto. Sandra und Falk erwarten euch bereits. Wir kontaktieren euch für weitere Details, wenn jeder an seinem Posten ist. Noah, nimm bitte deine reguläre Patrouille wieder auf. Genevieve und Abby, ihr fliegt mit Zacharias zurück nach Saffronia City. Raphael trifft euch am Bahnhof.“ Gen grinst breit und geht auf Zach zu. Sie reicht ihm seinen Pokégürtel, sowie eine Glasflasche, die ich als Hypertrank identifiziere. Kaum dass Absol verarztet und in ihren Pokéball verfrachtet wurde, erhebt Zach sich und wird von Gen in eine grobe Umarmung gezogen. „Hab dich vermisst, du Streuner“, lacht sie und löst sich von ihm. „Mach nicht wieder so einen Einzelgängerscheiß, ist das klar? Wenn Abby gestern nicht noch ihren Plan ausgeheckt hätte, würdest du immer noch hinter Gittern hocken.“ Zach löst sich, unangenehm berührt von dem Körperkontakt und nickt mir dankbar zu. Ich verschränke belustigt die Arme. „So Leute“, sage ich. „Raphi wartet sicher schon sehnsüchtig auf uns. Wir hauen ab.“ „Wir verabschieden uns ebenfalls“, sagt Nathan und wirft einen letzten Blick zu Noah, der ihn kurz erwidert, bevor er verlegen wegschaut. Melissa schnaubt verächtlich, schwingt sich auf ihr gerufenes Altaria und hebt ohne ein weiteres Wort ab. Die beiden Jungen folgen ihrem Beispiel und schon bald sind die drei Trainer im Nachthimmel verschwunden. „Aber was machen wir mit Zach?“, fragt Gen plötzlich. „Swaroness gibt´s hier nicht gerade im Überfluss. Wenn er vom Gefängnis aus damit abfliegt, können wir uns direkt wieder einbuchten lassen.“ „Für den kurzen Flug kann er mit mir auf Hunter reiten“, sage ich und denke an Genevieves farbenfrohes Aeropteryx zurück, das eindeutig nicht groß genug für zwei Personen ist. Hunter hat mit seinem höheren Level hingegen nicht nur an Geschwindigkeit und Ausdauer, sondern auch an Größe zugelegt und mit etwas Kuscheln ist genug Platz für Zach und mich. „Und was seine Verkleidung angeht…“ Zum dritten Mal an diesem Tag krame ich mich durch meinen Rucksack, auf der Suche nach den Masken, die ich aus dem Hauptquartier mitgenommen habe. Kaum habe ich das Feurigelabbild zu Tage gefördert, befestige ich es mit dem Gummiband an meinem Hinterkopf, ziehe meine Kapuze hoch und schnüre sie fest um mein Gesicht zu, bis nur die Maske zu sehen ist. Durch die Augenschlitze erkenne ich Genevieve, deren Augen sich bei meinem vermummten Anblick merklich aufhellen. „Wir geben euch als Shadows aus, ganz einfach. Die Masken sind inzwischen unser Erkennungszeichen. Niemand wird Verdacht schöpfen.“ „Was ist Team Shadow?“, fragt Zach, zu Recht verwirrt. Ich winke ab. „Später. Hier.“ Ich werfe ihm eine Sandanmaske zu, die er geschickt fängt. Gen erhält eine nicht ganz so schöne Traumatomaske, aber ich reiße mich zusammen. Zero hat sich heute eindeutig bewiesen. „Also dann“, rufe ich und klatsche in die Hände. „Auf nach Saffronia City!“   Ich gebe zu, ich hatte mir unseren ersten öffentlichen Auftritt nicht ganz so spektakulär vorgestellt. Kurz bevor wir durch die Eingangstüren des Bahnhofs treten, schaltet Raphael sich in unsere Unterhaltung ein. „Ich muss sagen“, beginnt er langgezogen, „dass ich langsam Gefallen an diesen Masken finde.“ Gen lacht herzhaft und stößt die gläserne Doppeltür auf. „Das glaube ich dir auf´s Wort, Mr. Shy Guy.“ „Ist wie dein Schal, nur besser“, füge ich hinzu und folge Gen hinein. Schon von weitem kann ich den Menschenauflauf ausmachen, der sich im hinteren Teil nahe der Ticketautomaten gebildet hat. Das Stimmengewirr füllt die weitläufige Halle mit angespanntem Tuscheln, nur unterbrochen von der Lautsprecherdurchsage, die das Einfahren des nächsten Magnetzugs ankündigt. Inmitten der Menschentraube, umringt von neugierigen Zuschauern, sitzt Raphael auf einer Bank, Arme zu beiden Seiten über die Lehne gelegt. Die Kapuze verdeckt seine verräterischen roten Locken und die Karnimanimaske sticht hellblau aus dem schwarzen Stoff hervor. Selbst mit dem Wissen, dass es sich bei der Person um Raphi handelt, muss ich zweimal hingucken. Die absolute Anonymität scheint einen ähnlichen Effekt auf ihn zu haben wie sein Kampfmodus, wenn er alles um sich herum ausblendet. Stolz schwillt in meiner Brust auf, doch ich unterdrücke den Impuls, zu ihm zu rennen. Jetzt sind wir dran. Als Raphael uns bemerkt, setzt er sich aufrechter hin und wendet den Kopf langsam in unsere Richtung. Seinem Beispiel folgt ein Großteil der Schaulustigen, deren leises Tuscheln in ungläubige Rufe ausartet, kaum dass ihre Blicke auf drei weitere Team Shadow Mitglieder fallen. Mir war natürlich klar, dass man uns erkennen würde, schließlich haben Dark und die Polizei nach meinem Radioauftritt eng zusammengearbeitet und das Erkennungsmerkmal der Masken ist von Zeugen und Betroffenen mündlich verbreitet worden, bis es laut Ryan in allen Internetforen als offiziell anerkannt wurde. Scheinbar versuchen einige der Fans verzweifelt, die Identität der Maskenträger aufzudecken. Ich bezweifle, dass jemals so viele Shadows auf einmal und an einem so viel besuchten Ort gesehen wurden. Mal abgesehen davon, dass eigentlich nur ich ein Shadow bin, aber das muss schließlich niemand wissen. Ich für meinen Teil genieße die Blicke und gemurmelten Fragen und schlendere gelassen durch die Menschengasse, die sich wie von selbst um uns bildet. „Was genau ist in meiner Abwesenheit passiert?“, murmelt Zach, gerade laut genug, dass ich ihn hören kann. Gen kommt mir mit ihrer Antwort jedoch zuvor. „Nichts“, sagt sie mit hörbarem Grinsen. „Wir sind die geilsten, so wie immer.“ „Schön zu hören, dass der Gefängniseinbruch dich völlig unberührt gelassen hat“, sagt Raphael durch das Head-set. Die Figur auf der Bank erhebt sich gemächlich. Von den Gleisen kündigt das metallische Sirren die Ankunft des Magnetzugs an. Wir schließen zu Raphael auf, ich lasse mich von ihm in eine Umarmung ziehen und beobachte, wie er und Zach zur Begrüßung ihre Unterarme packen, bevor Raphael ihn ebenfalls kurzerhand umarmt. Ich schiele zu Gen, was die Favoritin natürlich nicht bemerkt – sie ist viel zu beschäftigt damit, sich in den Blicken der anderen Fahrgäste zu sonnen. „Phase 2 ist erfolgreich abgeschlossen“, melde ich leise und warte geduldig, bis ein Knacken in meinem Ohr Darks Antwort ankündigt. „Kontaktiere mich wieder, wenn ihr an einem ruhigen Ort seid“, sagt er. Seine Stimme geht im Flugwind fast unter. Inzwischen scheint er seine Nachtpatrouille gestartet zu haben. „Wir haben noch einiges zu besprechen.“ „Geht klar“, verabschiede ich mich und schalte das Head-Set für´s erste stumm. Raphael winkt mit unseren Fahrtickets und unter den Blicken der Bahnhofsbesucher machen wir uns zu viert auf den Weg in den Wagon.   Die Fahrt im Magnetzug stellt sich als ruhiger heraus, als ich gedacht hätte. Trotz der Neugier der anderen Passagiere halten die meisten gebührenden Abstand und so bleibt mir genügend Zeit, Zach in alle Vorkommnisse einzuweihen, die er eingepfercht im Rocket-Hauptquartier und später im Gefängnis nicht mitbekommen hat, unter anderem die Terrorwarnung. Unter der gelbbraunen Sandanmaske kann ich seinen Gesichtsausruck nur erahnen, aber die geballten Fäuste verraten mir genug. „Craig also“, flüstert er grimmig und wendet gezwungen ruhig den Kopf ab, um aus dem Fenster zu schauen. Der schwarze Nachthimmel zieht in Rekordtempo an uns vorbei, die Bäume nur schwach beschienene Flecken, die durch unser Blickfeld rauschen. „Wir wollen dich bei Caro in Dukatia lassen“, erkläre ich. „Ich bin nicht sicher, ob Craig während des Angriffs dort sein wird, aber seine Kontakte sind in jedem Fall im Untergrund unterwegs. Richard und Gerard sind bereits dort, um sich umzuhören.“ Zach nickt abwesend. Ich betrachte ihn eine Weile. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, er habe keinerlei Interesse an dieser Unterhaltung. Stattdessen kann ich mir bildlich vorstellen, wie Zach im Kopf seinen Racheplan durchspielt. Er hat seine Karriere und seinen Traum geopfert, um den Verantwortlichen für Evas Tod ausfindig zu machen, hat sich in das Herz des Feindes begeben und monatelang in einer Zelle ausgeharrt, nur für diesen einen Moment. Ein Gähnen zwängt sich an meinem Kiefer vorbei. Ich merke kaum, wie mein Kopf zur Seite rutscht und auf Raphaels Schulter zum Erliegen kommt. Es war ein langer Tag.   Raphael weckt mich irgendwann nachts, als der Magnetzug im Dukatia City Bahnhof einfährt. Gähnend strecke ich meine Arme durch und folge den anderen dreien nach draußen. Seit ich das letzte Mal hier war, sind schon neun Monate vergangen, trotzdem kann ich mich noch genau daran erinnern, wie ich von Caro durch den Bahnhof und die Straßen Dukatias geführt wurde. Ein nostalgisches Lächeln schleicht sich auf meine Züge, dank der Maske ungesehen von den anderen. Es ist wirklich viel in der Zwischenzeit passiert. Je weiter wir uns von dem Bahnhof entfernen, desto mehr zerstreuen sich die restlichen Passagiere, die mit uns ausgestiegen sind. Dank der fortgeschrittenen Uhrzeit ist die Hauptstraße so gut wie leer, einzig kleinere Trainergruppen, die eine Nachtschicht bei ihrem Training eingelegt haben, schlurfen müde zurück zum Pokécenter oder treffen sich in nahegelegenen Bars. Die Dunkelheit und unsere tiefhängenden Kapuzen schützen uns vor etwaigen Blicken und so erreichen wir Caros Blumengeschäft ohne große Probleme. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, seit ich das letzte Mal hier war. Von der Anspannung, die Zach ausstrahlt, ergeht es ihm nicht besser. „Sollen wir klingeln?“, frage ich und schaue auf die Uhr. Halb zwei Uhr morgens. Morgen ist zwar Samstag, aber Caro wird trotzdem offen haben und schläft wahrscheinlich schon. „Nicht nötig“, erwidert Zach und tritt vor. Er klettert über den Gartenzaun, der das anliegende Grundstück umgibt und winkt uns zu sich. Zu dritt folgen wir ihm durch das feuchte Gras zum Hintereingang, wo er in einem Blumentopf wühlt und einen Zweitschlüssel aus der Erde fischt. Kaum dreht der Schlüssel sich im Schloss, schwingt die Tür auf und ich finde mich schon bald in dem dunklen Flur wieder, der hinter Caros Laden verläuft und ein kleines Treppenhaus nach oben beherbergt, sowie natürlich den berüchtigten Fuck-Raum. Ah… gute alte Zeiten. Ich schalte das Licht an und übernehme mit Zach die Vorhut. Die Treppe weist mehr Kratzspuren auf, als ich in Erinnerung habe und ein Teil des Geländers ist abgebrochen. Unruhig steige ich die Stufen hinauf und klopfe an der Eingangstür. Nichts geschieht. Ich klopfe ein zweites Mal und erschrecke fast zu Tode, als Schlitzer knurrend die Tür aufstößt und sich uns mit gespreizten Stahlscheren entgegen wirft. Ich stolpere zurück, trete ins Leere und falle – geradewegs in Zach hinein, der noch hinter mir steht und mich mit seiner schnellen Reaktion vor einem sehr schmerzvollen Abgang bewahrt. „Wer ist da?“, ertönt Caros unverkennbar rauchige Stimme. Ich rappele mich auf und hebe beruhigend die Hände. „Abby!“, rufe ich zurück. Schlitzer legt den Kopf schief. Seine Augen verengen sich, doch er gibt ein metallisches Grummeln von sich und lässt die Arme sinken. Im selben Moment taucht Caro in der Tür auf. Ihr blauer Sidecut hängt wirr über ihre Schulter und außer einer schlackernden Jogginghose samt Sport-BH ist sie unbekleidet. Der Morgenmantel, den sie sich hastig übergeworfen haben muss, weist mehrere Risse und Brandflecken auf. Tiefe Augenringe zeichnen ihr Gesicht. Ihr Blick schweift knapp über unsere Versammlung. Erst da fällt mir auf, dass wir mit den Masken vielleicht ein bisschen verdächtig aussehen. Ich ziehe schnell meine Kapuze zurück und enthülle mein Gesicht. Caro hebt eine perfekt gezupfte Augenbraue und winkt Schlitzer endlich zurück, sodass wir nicht mehr halb auf der Treppe stehen müssen. „Wenn du mir einen Besuch abstatten willst, hättest du anrufen können“, stellt sie knapp fest. Ich grinse frech. „Wo wäre da der Spaß?“, frage ich und füge ernster hinzu, „Was ist mit der Treppe passiert?“ „Wir hatten ein paar unliebsame Gäste aus dem Untergrund“, sagt sie und tritt zur Seite. „Wollt ihr da draußen Wurzeln schlagen oder kommt ihr rein?“ Wir haben es uns kaum auf dem Sofa bequem gemacht, da kommt Richard ins Wohnzimmer geschlurft. Er sieht noch schlimmer aus als Caro. Von dem aufgeweckten Trainer, den ich damals auf dem Indigo Plateau kennengelernt habe, ist nach Zachs und seiner Festnahme nicht viel übrig geblieben. Er bedenkt uns mit einem misstrauischen Blick, zumindest, bis er mich entdeckt. Er bleckt die Zähne, verschränkt die Arme und lehnt sich an die Wand. „Tut mir leid, dass wir mitten in der Nacht hier auftauchen“, beginne ich. „Ihr scheint den Schlaf zu brauchen und –“ Genevieve reißt sich die Maske vom Gesicht und tritt mir gegen das Schienbein. „Jetzt mach es nicht so spannend, ich will endlich ihre Gesichter sehen!“, sagt sie und wendet sich an Raphael und Zach, die neben ihr sitzen. Raphi seufzt und zieht ebenfalls seine Maske ab. „Na komm“, sagt er und stupst Zach an. „Gen hat Recht. Wir sollten die beiden nicht auf die Folter spannen.“ Zach starrt auf seine gefalteten Hände. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er Caro sofort begrüßen würde, doch er scheint vor irgendetwas Angst zu haben. Oder sich zu schämen. Richards Gesichtszüge sind unterdessen entgleist, als er Genevieve und Raphael erkennt und die Verbindung zwischen dem letzten Unbekannten und unser aller Anwesenheit macht. „Nein“, sagt er plötzlich und löst sich wie in Zeitlupe von der Wand. „Das kann nicht sein.“ Ich beobachte genau, wie Caro verwirrt zwischen den beiden hin- und herschaut. Richard umrundet das Sofa und bleibt vor Zach stehen. Der hebt langsam den Kopf. Mit zittrigen Händen löst Richard die Kapuze und gibt ein undefinierbares Geräusch von sich, als schwarzes Haar zum Vorschein kommt. Zach zögert, schüttelt jedoch alle negativen Gedanken ab und löst die Maske. Sie fällt klappernd zu Boden, dicht gefolgt von Richard, der auf seine Knie sackt. „Scheiße, Mann“, flüstert er. Hilflos ballt er seine Hände zu Fäusten, presst die Augen zu. Tränen bahnen sich ihren Weg zwischen seinen Lidern hindurch. Zach legt eine Hand auf seine Schulter, doch seine Berührung scheint Richard aus seiner ungläubigen Starre zu reißen, denn er schlingt die Arme um Zachs Nacken und zieht ihn so fest er kann an sich. „Ich hab doch gesagt, dass ich ihn zurückhole“, murmele ich lächelnd. Meine Augen brennen. „Zach?“, fragt Caro. Er hebt den Kopf und erwidert zum ersten Mal in dieser Nacht ihren Blick. Die Maske, die Caros Gesichtszüge sonst immer so perfekt unter Kontrolle hält, bricht, als ihr Bruder vor ihr steht. „Fuck, Zach.“ Ihre Hand schießt zu ihrem Mund. Fassungslos schaut sie ihn an. Dann fällt sie ihm ebenfalls um den Hals und verbirgt ihr Gesicht in seiner Halskuhle. „Ich dachte, ich sehe dich nie wieder!“                                      Es dauert eine Weile, bis Caro sich beruhigt hat. Genevieve zeigt erstaunliche Fürsorglichkeit und verschwindet in der Küchenzeile, um Tee für alle aufzubrühen. Tamot, auf meinen Wunsch hin. Trotz der allgemeinen Müdigkeit ist nicht an Schlaf zu denken. Als Gen mit dampfenden Tassen und ein paar Sandwiches zurückkommt, steckt Caro sich gerade mit zittrigen Fingern ihre dritte Zigarette an, die sie in tiefen Zügen aufraucht. Der blaue Dunst füllt inzwischen das gesamte Wohnzimmer. Richard hat sich neben Zach gesetzt und zeigt keinerlei Anzeichen, jemals wieder von seiner Seite zu weichen. Seine Feindseligkeit mir gegenüber ist während meiner Erzählung vollends verflogen. Dankend nehme ich eine der Tassen von Gen an und wärme meine Hände an dem heißen Porzellan. „Ich schulde dir was“, sagt Caro nach einer Weile. Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Ganz sicher nicht. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich meine ersten Nächte in Dukatia im Untergrund verbracht und wäre bei meinem Glück vermutlich von jemandem abgestochen worden.“ Ich schiele zu Zach. „Außerdem gibt es noch andere Gründe, warum wir ihn befreit haben. Gebt mir einen Moment, ich komme gleich wieder.“ Draußen im Flur kontaktiere ich Dark, altmodisch, per S-Com und schließlich per Handy. Einige Minuten später verklingt das Windrauschen, als Dark irgendwo landet und sich dem Telefonat widmet. Wieder im Wohnzimmer angekommen, lege ich das Handy in unsere Mitte auf den kleinen Kaffeetisch und schalte auf Lautsprecher. „Kannst du uns hören?“, frage ich laut. „Klar und deutlich“, ertönt Darks Stimme. Wegen des Lautsprechers schwingt ein unangenehmes Störgeräusch mit, aber mit etwas Glück wird dieses Gespräch nicht allzu lange dauern. Ich wende mich Zach zu. „Wir haben ein paar Fragen“, erkläre ich. „Team Rocket wird in wenigen Tagen seinen Anschlag verüben, aber außer den Löchern in den Höhlen haben wir keinerlei Anhaltspunkte, was sie überhaupt vorhaben. Du warst über ein Jahr bei ihnen, länger noch als Dark. Hast du irgendwelche Ideen, was sie vorhaben?“ „Verhaltensweisen, die sich geändert haben?“, schlägt Dark vor. „Mehr Besprechungen? Zuwachs neuer Mitglieder?“ Zach schüttelt den Kopf. „Sie haben mich schon seit einiger Zeit verdächtigt“, gesteht er mit gesenktem Kopf. „Ich wusste, dass sie mich früher oder später fallen lassen würden und habe deshalb versucht, kein Aufsehen zu erregen. In ihre engeren Pläne haben sie mich nie eingeweiht.“ „Du musst etwas wissen!“, entgegne ich, mit ähnlichem Temperament wie damals bei Dark. Viel hat es auch da nicht gebracht. Doch Zach runzelt die Stirn. „Athena“, sagt er zögernd. „Sie war viel involviert, mehr als noch vor einem Jahr. Und sie hat viele Telefonate geführt.“ „Ist das ungewöhnlich?“, frage ich verwirrt. „Anrufe können zurückverfolgt werden, wenn sie nicht gesichert sind“, erklärt Dark. „Jeder Rocket ist angehalten, nur in Notfällen telefonisch Kontakt aufzunehmen.“ „Also hat es etwas mit Athena zu tun…“, murmele ich. „Ich wünschte, es wäre anders“, sagt Dark leise. „Was meinst du?“  Zuerst sagt Dark nichts. Ich will ihm schon versichern, dass er es uns nicht erzählen muss, wenn er nicht will, da ertönt seine dünne Stimme. „Als ich jünger war, hat Athena sich um mich gekümmert“, sagt er. „Atlas hatte kaum Zeit für mich, die restlichen Rockets haben mich gemieden oder böse Scherze mit mir getrieben. Ich war nicht beliebt. Athena war wie eine… Mutter für mich.“ Schweigen. Genevieve schaut betreten zu Boden, Raphael seufzt und Caro erhebt sich und verschwindet in der Küche, um mehr Tee zu kochen. Ich räuspere mich. „Tut mir leid“, sage ich. „Aber wir müssen sie aufhalten, das weißt du.“ „Ich weiß.“ „Gut. Wir müssen wissen, mit wem sie telefoniert hat. Denkst du, Ryan könnte das irgendwie herausfinden?“ „Ich bezweifle es“, sagt Dark. „Die Handys sind nicht mit dem Rocketserver verbunden. Selbst wenn es ginge, wird er es nicht in drei Tagen schaffen, schließlich brauchen wir zuerst Zutritt zu der Basis. Das ist unsere oberste Priorität.“ Ich beiße auf meinen Fingernagel und denke nach. „Dann eben altmodisches Raten“, sage ich. „Mit wem könnte Athena so viele Telefonate führen? Dark, du sagtest, sie ist Hauptverantwortliche der Infiltrationsphase. Könnte es einer von ihren Kontakten sein?“ „Das ist möglich.“ „Wenn wir nur wüssten, wer…“, fluche ich. „Irgendein Kontakt bringt uns nicht weiter.“ „Nicht ganz“, widerspricht Dark. „Wir wissen nun, dass Athena eine Kernaufgabe in diesem Anschlag ausführt. Wenn wir sie finden, wissen wir, wo Team Rockets wahres Ziel liegt.“ „Und hat vielleicht jemand einen Peilsender an ihr befestigt?“, entgegne ich gereizt. „Ich nämlich nicht. Wir haben nur noch drei Tage und wir haben keine Ahnung, was auf uns zukommt!“ „Daran können wir nichts mehr ändern“, sagt Dark mit scharfer Stimme. „Wir müssen darauf vertrauen, dass wir alles in unserer Macht stehende getan haben und uns spontan auf die Situation einstellen. Ich werde eine Nachricht an die anderen aussenden. Athenas Sichtung ist essentiell für unseren Erfolg.“ Zerknirscht lasse ich mich auf das Sofa plumpsen. „Das schlimmste ist“, sage ich und lehne mich an Raphael, „dass ich das Gefühl habe, ihr schon einmal begegnet zu sein. Noch vor dem Vorfall in Fuchsania. Ich habe keine Ahnung mehr, wann oder wo, aber sie kam mir bekannt vor, da bin ich mir sicher. Wenn ich mich nur erinnern könnte, würde alles Sinn machen, darauf wette ich.“ „Aber das kannst du nicht“, sagt Raphael und legt tröstend einen Arm um meine Schulter. „Dark hat Recht. Wir müssen es auf uns zukommen lassen und darauf hoffen, dass unsere Vorbereitungen genügt haben. Gemeinsam werden wir schon heil aus dieser Sache raus kommen.“ Ich nicke ohne großen Enthusiasmus. Des Rätsels Lösung ist direkt vor meiner Nase und entgleitet mir mit jeder neuen Denkanstrengung. Wo habe ich Athena schon einmal gesehen? Kapitel 121: Der 19. Mai (Vorbereitung und Chaos) ------------------------------------------------- Der Flug nach Azalea City dauert kaum eine Stunde. Nach unserer Verabschiedung von Caro, Richard und Zach, die zusammen mit Gerard den Untergrund und den Radioturm sichern wollen, fliegen Raphael, Genevieve und ich am nächsten Morgen frühzeitig nach Süden. Der Menschenauflauf ist groß, als wir in der Stadtmitte nahe der Arena landen. Ganz Azalea scheint versammelt zu sein, allen voran Kai, der bereits lächelnd auf uns wartet. „Abby“, begrüßt er mich, als ich von Hunter abspringe und meine Maske hochziehe, sodass sie nur noch meine Stirn bedeckt. „Es tut gut, dich wiederzusehen. Und berühmte Verstärkung hast du auch mitgebracht, wie ich sehe.“ Ich grinse Gen und Raphael zu, die meinem Beispiel folgen und inmitten der Schaulustigen von ihren Pokémon steigen. Mandy knurrt und reckt stolz den Kopf, während Hunter glücklich gurrt und zu einem Kind hopst, das mit einem Stück Brot durch die Luft wedelt. Ehrfürchtig schaut es auf und sieht dabei zu, wie er das Brot aus der kleinen Hand pickt und seinen Hals zum Streicheln hinhält. „Wir geben später Autogramme!“, verkündet Gen lautstark, als die Blicke der Umstehenden an den beiden Favoriten hängen bleiben und die ersten schon unsicher einen Schritt nach vorne machen. „Es ist lange her“, sage ich an Kai gewandt und schüttele seine Hand. „Ich bin Team Shadow Mitglied, die anderen beiden sind als Unterstützung hier.“ „Lasst uns auf dem Weg reden“, sagt Kai und nickt in Richtung Stadtausgang. „Die anderen Trainer warten am Einheitstunnel auf euch.“ Wir rufen unsere Pokémon zurück und verlassen Azalea unter viel Getuschel. Unterwegs unterrichtet Kai uns über die Lage. „Ich bin froh, dass ihr zu dritt seid“, erklärt er, während wir durch feuchtes Gras stapfen. „Meine Vortrainer sind selbstverständlich engagiert worden, aber es sind nur wenige andere Trainer hier vertreten und ihre Pokémon sind zumeist auf sehr geringem Level. Wir sind fürchterlich unterbesetzt.“ „Keine Sorge“, sagt Raphael. „Wir werden uns nicht von Team Rocket schlagen lassen. Die Polizei wird ebenfalls vor Ort sein, wenn es soweit ist, nehme ich an?“ „Der Einheitstunnel ist von den Bohrungen betroffen, daher gehe ich stark davon aus“, stimmt Kai zu. „Aber wie viele es sein werden, ist mir noch nicht mitgeteilt worden.“ Schon bald kann ich die ersten Rufe vernehmen, die uns hinter dem kleinen Waldausläufer entgegenschallen und kurze Zeit später kommen die ersten Trainer in unser Sichtfeld. Ich entdecke Katrina und Joshua, zwei der Vortrainer, gegen die Louis damals kämpfen musste, um gegen Kai antreten zu dürfen. Die beiden sind in ein Duell mit ihren Pokémon Bibor und Yanma vertieft. Ringsum stehen drei weitere Pärchen, die allesamt mit je einem Pokémon gegeneinander antreten. Ich verziehe das Gesicht. Das kann ja noch heiter werden. Als man uns bemerkt, brechen die Kämpfe in Sekundenschnelle ab. Die acht Trainer stoßen zu uns und schauen mit bewundernden Blicken auf die Masken, die wir alle auf der Seite unseres Kopfes oder um den Hals tragen. Wenn ich früher gewusst hätte, dass ein Stück Plastik mich berühmt machen könnte, hätte ich mir schon vor Monaten eines besorgt. So erwidere ich lachend die Begrüßungen und tausche mich kurz mit Katrina und Joshua aus, mit denen ich damals am meisten zu tun hatte. Kai räuspert sich. "Alle mal herhören", sagt er. "Ihr habt bisher hervorragende Arbeit geleistet, aber ich gebe euer Training ab jetzt in die fähigen Hände von Abby. Sie wird euch diese letzten Tage unterrichten und Tipps für den Anschlag geben. Bitte respektiert ihre Führungsrolle." Ein schmaler Junge mit vorstehenden Zähnen tritt aus der Gruppe und verschränkt die Arme. „Die Favoriten verstehe ich“, sagt er zu Kai, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Aber was ist mit dieser Abby? Niemand hat vor ihrem Auftritt von ihr gehört und Josh meint, sie hat damals nur ihrem Freund zugeguckt, statt selbst zu kämpfen. Was hat die hier zu suchen?“ „Tristan!“, erwidert Kai scharf und reißt den Kopf herum, sodass ihm das violette Haar um sein Gesicht flattert. „Was bildest du dir ein, so mit jemandem zu reden?“ „Ist doch wahr“, murmelt Tristan, ohne von mir wegzusehen. „Klar können wir jeden gebrauchen, aber sie steht da schon so eingebildet, als gehöre ihr die ganze Welt.“ „Damit hat er nicht Unrecht“, flüstert Raphael hinter meinem Rücken Gen zu, die laut los prustet und sich den Bauch halten muss. Wer braucht schon Feinde, wenn er solche Freunde hat. Ich räuspere mich. „Wenn du willst, können wir uns duellieren“, sage ich. „Eins gegen eins. Der Gewinner übernimmt die Leitung dieser ganzen Truppe, was sagst du?“ „Deal“, verkündet er sofort. Schmunzelnd greife ich nach meinem Gürtel. Meine Wahl steht fest, noch bevor sich das Maskeregen flatternd vor ihm materialisiert. Im Gegenteil, fast entscheide ich mich bei dem Anblick um, doch schließlich siegt das Bedürfnis, die Machtverhältnisse klarzustellen. Ich habe auf dem Silberberg nicht nur Strategie von Ronya gelernt. Meine Finger betätigen blind den Mechanismus des Finsterballs und so kann ich problemlos jede Veränderung auf Tristans Gesicht ausmachen, als er sich plötzlich einem ausgewachsenen und bedrohlich knurrenden Tornupto gegenüber findet. Maskeregen schwenkt unsicher durch die Luft und huscht hinter seinen Trainer, der sich entschlossen schüttelt und es zurück in den Kampf beordert. „Nassmacher!“, befiehlt er laut. Das Augenpokémon flattert empor und speit einen seichten Niesel herab, der zischend in Gotts Rückenflamme verdunstet. „Warte noch“, rufe ich Gott zu. „Lass ihn kommen.“ Er nickt stumm und breitet leicht die Arme aus, um mehr Angriffsfläche zu bieten. Was in einem regulären Kampf eine schlechte Strategie wäre, haben wir uns inzwischen antrainiert, bis es Gott und den anderen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der Schutz des Trainers vor den Angriffen feindlicher Pokémon. Maskeregen befolgt unterdessen Tristans nächsten Befehl und schlägt mit den rot gemusterten Flügeln, um einen Windstoß zu erzeugen. Gott rührt sich nicht von der Stelle, als der kleine Luftwirbel auf ihn trifft. Seine Ausläufer drängen mich einen Schritt zurück und fegen mir das Haar aus dem Gesicht, aber für Gott ist die Attacke wie erwartet ein Kinderspiel. „Sternschauer“, befehle ich. „Triff ja nicht.“ Nicht nur Tristan stutzt bei diesem Kommando, doch Gott weiß nach einem kurzen Moment, was zu tun ist. Er brüllt, lässt sich auf alle Viere fallen und schleudert eine Ladung gleißender Lichter an Maskeregen vorbei und geradewegs auf Tristan zu, der schockiert die Arme vor das Gesicht hält. Sein Pokémon fiept verzweifelt und eilt zu Hilfe, doch es ist zu spät. Die Normalattacke schießt vor – und bohrt sich wenige Zentimeter neben Tristan in den Boden. Er reißt den Kopf hoch, schaut mich wutentbrannt an. „Was sollte das?!“ „Ich zeige dir, wie Team Rocket kämpfen wird“, sage ich laut. „Euch allen. Deshalb sind wir hier. Wir haben Erfahrung, wir wissen, was auf euch zukommt und glaubt mir, mit geregelten Eins-gegen-Eins-Duellen wird der Anschlag nichts zu tun haben.“ Ungläubige Blicke werden gewechselt. Raphael hustet amüsiert und Gen stellt sich neben mir auf. „Na los!“, rufe ich energischer. „Gott steht noch. Wollt ihr gewinnen oder nicht?“ „Wir sollen… alle gleichzeitig angreifen?“, fragt Katrina langsam. „Jeder?“ „Ruft all eure Pokémon“, stimme ich zu. „Greift uns an. Ihr werdet gegen stärkere Gegner kämpfen müssen, gegen eine Überzahl an Pokémon und gegen Trainer, die euch attackieren werden, wenn ihr ihnen die Möglichkeit gebt.“ Ich werfe Kai einen kurzen Blick zu, der anerkennend nickt und grinse das Grüppchen breit an. „Wir haben nur noch drei Tage. Das echte Training beginnt jetzt!“   Die Tage verstreichen schnell. Zu schnell. Ich stehe unruhig an die Marktfassade gelehnt und warte zusammen mit Raphael auf Kai und Gen, die einen Großteil der Tränke aufkaufen, um ihn unter den Trainern zu verteilen und zu verhindern, dass Team Rocket sich bei unserer Niederlage alle Arzneien unter den Nagel reißt. Das Pokécenter können wir nicht schließen, aber ich hoffe, dass Team Rocket es nicht bis ins Stadtinnere schaffen wird. „Sie sind nicht bereit“, sage ich leise, ohne zu Raphael zu sehen. „Wir haben ihnen gerade erst die alten Gewohnheiten abtrainiert. Sie denken immer noch zu sehr wie Vortrainer.“ „Wir haben getan, was wir konnten“, erwidert Raphael. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, legt er beruhigend eine Hand auf meine Schulter. „Es wird schon gut gehen, Abby. Kai und wir drei sind stark genug, um mit den meisten Rocket-Rängen problemlos fertig zu werden.“ „Ich will einfach nicht, dass es eine Wiederholung von der Safari-Zone gibt“, sage ich und starre dabei in die Ferne. Louis´ emotionsloses Gesicht, Winrys Schrei, das Blut… Meine Finger, die ich unbewusst zu Fäusten geballt habe, lockern sich. Es hat keinen Zweck, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. „Noch sechs Stunden“, sage ich und schaue hinauf in den klaren Maihimmel. Das Wetter ist eindeutig zu schön für den nahenden Kampf; bauschige Wolken ziehen träge durch das Blau und filtern die Sonnenstrahlen zu einem blassgelben Wetterleuchten. „Wir sollten schlafen, solange wir noch können“, sagt Raphael. Sein Blick folgt meinem. „Sie könnten nachts oder tagsüber angreifen, wir haben keine Ahnung.“ Ich nicke, auch wenn ich weiß, dass ich nur wachliegen werde. Mein Kopf spielt alle Szenarien durch, all die Kämpfe, die ich hinter mir habe, die unliebsamen Ausgänge. Alles, was schief gehen kann, wirbelt in voller Farbenpracht durch meine Gedanken, wieder und wieder, bis mir von all den Möglichkeiten übel wird. Aber es hat keinen Sinn mehr. Die Zeit ist um.   Die Baumkronen wiegen sich sacht im Wind, als wir kurz vor Mitternacht Stellung im angrenzenden Wald beziehen. Die Polizisten, zehn auf unserer Seite und acht am Pokécenter hinter dem Einheitstunnel, besprechen ein letztes Mal in gedämpften Stimmen das weitere Vorgehen mit Kai. Wir haben bereits gestern abgesprochen, dass die Vortrainer sich so gut wie möglich im Hintergrund halten sollen. Die Polizisten werden zum Teil am Boden warten, zum Teil Streife fliegen. Genevieve hat sich bereiterklärt, mit ihnen die Lufträume abzusichern. Ich trete von einem Bein auf´s andere und knabbere an dem Müsliriegel, den Raphael mir aufgedrängt hat. Der letzte Blick in die Höhle hat sich als Verschwendung erwiesen. Ich habe keine Ahnung, wie Team Rocket die Pokémon dort platzieren will, ohne dass es uns auffällt, aber wenn ich die Möglichkeit habe, werde ich sie vorher aufhalten. Mit einem letzten Bissen verschwindet der Riegel in meinem Mund. Kauend betätige ich mein Head-Set und klinke mich in die Unterhaltung ein, der ich bislang aus dem Weg gegangen bin. „Alle bereit?“, frage ich leise. Noch sieben Minuten. Meine Finger trommeln über die Pokébälle an meiner Hüfte und Raphael wirft mir ein ermutigend gemeintes Lächeln zu. Es erinnert mich eher an eine Grimasse. „So bereit wie halt bei so ´ner Aktion geht“, verkündet Jayden, der längst in Teak City bei Jens stationiert ist. „Aber ich muss schon sagen, Abby, Wiesel hat hier echt ganze Arbeit geleistet. Ich hab zwanzig Kiddies zur Verfügung, die alle nicht schäbig kämpfen.“ „Wir haben acht“, entgegne ich und lasse den Blick über besagte Trainer schweifen. Die Nervosität ist allen deutlich ins Gesicht geschrieben. Katrina hat ihre Fingernägel in den letzten Tagen auf´s Blut abgekaut, Joshua macht mehr Witze als sonst, die alle nicht lustig sind und Tristan hat sich seit seiner Niederlage gegen mich nicht nur in willigen Gehorsam, sondern auch in stures Schweigen gehüllt. „In Marmoria ist die Hölle los“, verkündet Ronya. Tatsächlich kann ich Hintergrundgeräusche ausmachen, wenn ich genau hinhöre. „Ich bin übrigens deiner Schwester begegnet. Sie sagt, ich zitiere: Bitte stirb nicht, ich will mich nicht mit Mamas Heulerei rumschlagen müssen.“ „Maya…“, murmele ich, halb genervt, halb belustigt. „Charmant wie immer.“ „Wie die Schwester, so die Schwester, habe ich mir sagen lassen“, ertönt Ryans Stimme. Ich seufze und reibe mir die Schläfen. „Alle wissen, was zu tun ist, nehme ich an. Wenn es Probleme gibt, meldet euch. Eventuell können wir Verstärkung schicken. Viel Glück euch allen.“ „Ich brauche kein Glück.“ „Lissa!“ „Viel Glück, Abby.“ „Danke, Chris.“ Ich drehe die Lautstärke runter, um mir Nathans und Melissas Zankerei nicht weiter antun zu müssen und schaue in das Geäst über mir. Vereinzelte Griffel hangeln sich nervös durch die Bäume und Taubsi hüten ihre Nester. „Mitternacht“, verkündet Raphael plötzlich und stößt sich von dem Baumstamm ab, an der er gelehnt hat. „Jetzt heißt es warten.“ Ich nicke seufzend und trete näher an den Waldrand. Mein Blick wandert zum Himmel. Außer den langsam dahinziehenden Wolken und den leuchtenden Sternen am schwarzen Firmament ist nichts zu sehen. Unterdessen springt Genevieve auf Aeropteryx, das mit dem Schnabel klackert und aufgeregt das bunte Gefieder spreizt. Das Vogelpokémon wartet kaum lange genug darauf, dass sie sitzt, bevor es sich kraftvoll vom Boden abstößt und in die Lüfte katapultiert. Drei der Polizisten folgen auf Tauboss, Staraptor und Panzaeron und schießen ihr hinterher. Rotes Licht explodiert von allen Seiten und ich finde mich inmitten unserer Pokémon wieder, die alle gleichzeitig gerufen wurden. Ich folge dem Beispiel der anderen und betätige meine Bälle. Gott stellt sich automatisch schräg hinter mich, sein Feuer zu einem sanften Glühen herabgedreht, um uns nicht zu verraten. Sku, die während ihres Trainings weiter an Gewicht und Größe zugelegt hat, kratzt maunzend an meinem Bein. Ich gehe neben ihr in die Knie und kraule beruhigend ihre Kehle. „Alles wird gut“, sage ich, mehr zu mir selbst, als zu ihr. „Du wirst schon sehen.“   Eine Stunde vergeht. Zwei Stunden. Genevieve und die Polizisten kreisen unermüdlich über uns und die leisen Gesprächsfetzen, die ich von meinem Head-Set mitkriege, vermitteln mir eine ähnlich angespannte Situation an allen Fronten. Jayjay schnaubt nervös, Priss faucht und Hunter flattert unzufrieden mit den Flügeln, eingeengt durch das dichte Gebüsch. Ich lege beruhigend eine Hand auf seinen Hals und überlege, ob die drei nicht doch zurückrufen soll, da steht plötzlich einer der Polizisten, ein junger Typ mit blondem Bärtchen, neben mir. „Meinst du, sie kommen noch?“, fragt er. Ich schiele zu ihm. Seine Stimme ist ruhig, aber ungewöhnlich hoch und seine umherhuschenden Augen verraten mehr als alles andere. An niemandem geht diese endlose Warterei folgenlos vorbei. „Entweder sie zermürben uns“, sage ich, „oder sie attackieren ganz woanders und wir verschwenden hier unsere –“ „Sie kommen!“ Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, wer den Warnschrei abgegeben hat – ich hätte nicht mal mehr beurteilen können, ob es eine männliche oder weibliche Stimme war. Ich weiß nur, dass der Schrei mich vorpreschen lässt, gerade rechtzeitig, um den Nebel zu entdecken, der sich als gewaltige Front nähert. Dann fallen Schüsse. Der zischende Knall hallt in meinen Ohren wieder, als ich mich auf Hunters Rücken schwinge und ihn mit meinen Beinen empor dirigiere. Raphael folgt fluchend. Weitere Kugeln schießen aus dem Dunkelnebel und werfen die Flugformation der Polizisten ins Chaos, als diese verzweifelt versuchen, auszuweichen. Wo die Geschosse aus dem Nebel rasen, hinterlassen sie wabernde Löcher. Der Wind fegt durch mein Haar und bei dem plötzlichen Aufstieg dreht sich mir der Magen um. Die Rockets tauchen aus dem Nebel auf, einer nach dem anderen. Schuss um Schuss fällt und Hunter hat Mühe, mit Spiralen und plötzlichen Kurven auszuweichen. Ein flüchtiger Blick nach unten lässt mich würgen. Einer der Polizisten, der blonde, mit dem ich eben noch geredet habe, trudelt auf seinem Tauboss zu Boden, wo die beiden krachend aufschlagen. Das Pokémon hebt den Kopf, stupst seinen reglosen Trainer an. Ein beißendes Gefühl macht sich in meinen Augen breit, als ich wegschaue, weg von dem Blut, weg von dem Mann. Den herzzerreißenden Schrei des Tauboss´, das seinen Trainer verloren hat, kann ich jedoch nicht ignorieren. Der Wind bläst die Tränen aus meinen Augenwinkeln, während ich die Zähne zusammenbeiße und Hunter weiter emportreibe, sein Agilitätsschub das einzige, was uns vor den Angriffen der Gegner bewahrt, die vereinzelt auf Pokémonattacken umgestiegen sind und auf ihren Golbat, Iksbat und anderen Flugtypen aus den Lüften herabschießen und sich auf die anderen Flieger stürzen. Ihnen folgen mehr und mehr. Hunter schwenkt zur Seite, um dem Flammensturm eines Grillmaks auszuweichen, das mit seinem Trainer auf dessen Fletiamo mitreitet. „Runter“, befehle ich und schnappe mir Priss´ Pokéball von der Hüfte, während ich mich allein durch meine Schenkel an Hunters Körper klammere. Er schießt nahe am Boden vorbei, fliegt fast ein schnaubendes Tauros um und schraubt sich elegant zurück in die Höhe, keine Sekunde, nachdem ich Aquana in ihrem Ball gerufen habe. Kaum sind wir wieder im Luftgeschehen, rufe ich das Wasserpokémon, halte es mit einem Arm fest und steuere auf einen der Rockets zu, der seine Pistole noch erhoben hat und einen Schuss nach dem anderen abfeuert. „Aurorastrahl!“, fauche ich und lenke Hunter schräg zur Seite, um Priss freie Sicht zu geben. Sie bläht die Brust auf und speit eine farbig glühende Eisspirale auf ihren Gegner, der in genau diesem Moment den Abzug betätigt. Sie trifft – das Schwalboss wird von der Eisattacke aus der Luft gerissen, fällt steif und wie ein Stein in die Tiefe. Zufrieden jauchze ich, werde aber von einem Stöhnen aus der Euphorie gerissen und drehe mich wie in Zeitlupe auf Hunter um. Genevieve, die hochgeflogen ist, hängt halb über dem Rücken ihres Pokémon, beide Hände auf die rechte Seite ihres Kopfes gepresst und wimmert. Blut fließt in Strömen zwischen ihren Fingern hindurch. „GEN!“ Hunter macht kehrt und rast mit kräftigen Flügelschlägen an die Seite der Favoritin, die sich bei meinem Anblick zu einem schwachen Grinsen zwingt. „Abby… der Scheißkerl hat mein Ohr erwischt.“ „Zeig her.“ Ich vertraue ganz auf Hunter und Aeropteryx, die so nah beieinander fliegen, dass ihre Federn sich streifen und gleichzeitig noch Ausschau nach Angriffen halten, als Gen ihre Hände sinken lässt. Trotz meiner mentalen Vorbereitung zucke ich bei dem blutigen Anblick zusammen. Es scheint nur ein Streifschuss gewesen zu sein, doch die obere Hälfte ihres Ohrs ist fast völlig abgetrennt und blutet fürchterlich. „Du musst zu Joy“, befehle ich. „Lass dich verarzten, so bist du niemandem eine Hilfe. Deine Pokémon können auch ohne dich kämpfen.“ „Abby, ich kann nicht­–“ „Das ist ein Befehl!“, entgegne ich scharf und ziehe Hunter mit einer Beinbewegung zurück in den freien Luftraum. „Komm wieder, wenn du nicht mehr alles vollblutest.“ Ich kann es fast nicht glauben, als Gen steif nickt, auf Aeropteryx kehrtmacht und zurück Richtung Stadt rauscht, aber ich habe wenig Gelegenheit, über meine neue Führungsposition nachzudenken. Unter uns haben sich inzwischen alle Trainer und Polizisten auf die freie Fläche begeben, um den Luftkampf von unten her zu unterstützen. Nur wenige sind noch mit mir in der Luft, wie ich jetzt feststelle. Raphael ist kurz an Gen vorbei geflogen, um ihre Verletzung zu sehen, steigt aber längst wieder auf Grypheldis in die Höhe, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen und außer einem anderen Polizisten hat Team Rocket uns völlig aus der Luft verdrängt. Mein Blick gleitet über die generischen Pokémon zu der Nebelbank, die sich trotz des vergangenen Überraschungsmoments noch nicht verflüchtigt hat. Ich kneife die Augen zusammen. Was sind das für dunkle Formen? „Scheiße“, erklingt plötzlich Ronyas Stimme. „Passt auf, sonst werdet ihr ­–“ "Was ist das?!", schreit Nathan. Plötzlich fliegen alle Rockets im Steilfug nach oben. Instinktiv folge ich ihrem Beispiel. Hunter schießt empor, vorbei an dem letzten Polizisten, der sich noch wacker in der Luft hält und schraubt sich in einer agilitätsbeschleunigten Spirale zwischen zwei Rockets hindurch und auf den Nebel zu. Sie erscheinen in Scharen. Smettbo, Omot, Papinella, Pudox und Motorpel, Käferpokémon aller Art. Ihnen folgt, gelb, violett und grün, eine Puderwolke. "Hoch!", schreie ich und reiße Hunter mit meinen Beinen empor, höher, höher, bis die Käferflut unter uns entlang schießt, die verwirrten Pokémon und Polizisten trifft und in einer Wolke aus Stachelspore, Giftpuder und Schlafpuder ertränkt. Hunter flattert, traurig krächzend, auf der Stelle . Mein Blick schweift über die Katastrophe unter mir. Stöhnen füllt die Luft. Vergiftete Pokémon fauchen, stampfen, kreischen, attackieren, was immer ihnen in die Quere kommt. Die Gegengifte und Tränke, die wir gekauft haben — nutzlos. Von den Polizisten und Trainern steht fast niemand mehr. Die meisten liegen reglos am Boden oder sind so schwer vergiftet, dass sie sich stöhnend durchs Gras wälzen. Lediglich Kai und Raphael haben in letzter Sekunde Zuflucht gesucht und dirigieren nun die verbliebenen Pokémon gegen die übermächtige Käferarmee. "Das kann nicht wahr sein", flüstere ich. In meinen Ohren duellieren sich das Windrauschen und die chaotischen Rufe aus dem Head-Set mit dem Lachen der Rockets, die auf ihren Pokémon thronen und sich mit gezückten Pistolen auf die hilflosen Trainer stürzen. Mit einem plötzlichen, wilden Energieschub lenke ich Hunter im Sturzflug nach unten - mitten in das Käfergewimmel, deren Puderregen nicht nachlassen will. Mit seinen Krallen packt er ein Pudox und ein Smettbo, schleift die beiden durch die Luft und schleudert sie geradewegs in den nächstbesten Rocket, der mit seiner Waffe bereits auf den sich übergebenden Joshua zielt. Jemand liegt in einer Blutlache neben ihn. Ich schaue nicht genau hin. Ein Flammenwurf rauscht empor und drei der Käferpokémon gleich neben uns fangen schrill kreischend Feuer. Ich lasse Hunter nach unten schießen, wo ich Gott entdecke, den seine Vergiftung rasend gemacht hat. Meine Finger fischen das Gegengift wie von selbst aus meinem Rucksack. Hunter ist noch halb in der Luft, da springe ich schon ab und leere die kleine Flasche hastig in Gotts aufgerissenes Maul. Seine Fänge blinken feucht im Schein der Taschenlampen und Flammenherde, die sich im Gras gebildet haben. Sku reibt sich kurz schnurrend an mein Bein, bevor sie sich zurück ins Getümmel stürzt. Ihr Gifthieb landet einige üble Treffer bei den Pokémon, die Hunter und Mandy aus der Luft gerissen haben und als Jayjay sich mit seinem Funkensprung einmischt, beginnt der großflächige Kampf von neuem. "Versuch, deinen Flammenwurf nach meinen Signalen zu richten", sage ich als Abschied zu Gott, während ich mich schon wieder zu Priss auf Hunters Rücken schwinge. "Hoch jetzt. Wir sitzen hier auf einem Präsentierteller." Hunter folgt meinem Befehl ohne Zögern und katapultiert sich in die Lüfte. "Aurorastrahl!", rufe ich und deute auf den uns nächsten Rocket, der auf seinem Iksbat scharfe Kurven fliegt. Der knackende Strahl zischt wirkungslos an dem Pärchen vorbei und trifft stattdessen ein Smettbo, das sich verwirrt von den anderen Käferpokémon getrennt hat. Ihr zweiter Angriff trifft, aber je weiter wir fliegen, je länger ich den Attacken unserer Gegner ausweiche, Gotts Flammenwürfe lenke, an Raphael und Kai vorbeifliege, desto aussichtsloser erscheint mir unsere Lage. Gut zwei dutzend Rockets rasen durch den Himmel, feuern wahllos Schüsse und Attacken ab und werden zudem von etlichen Käferpokémon abgeschirmt. Wir sind zu dritt. Nicht alle Pokémon sind kampfunfähig, aber Raphaels Impergator ist sichtlich erschöpft und hinkt und obwohl sein Vulnona Gott mit ihrem Feuerattacken unterstützt, kann es sich auch kaum noch auf den Beinen halten. Bei Kais Pokémon sieht es nicht besser aus. "Das wird eine lange Nacht", murmele ich und lehne mich nach links, um einer Bissattacke zu entgehen. "Ich hoffe, Gens Ohr hält sie nicht zu lange zurück." "Was ist mit Gens Ohr?", fragt Noah, den ich schon halb vergessen hatte. Er muss auf dem Weg zu einem der größeren Kämpfe sein, denn ich kann nur Windrauschen aus seiner Verbindung wahrnehmen. "Abgeschossen", sage ich knapp. "Sie ist bei Joy. Vielleicht –", Hunter sackt mehrere Meter ab und dreht scharf ab, um Priss freie Sicht auf einen Rocket zu geben, "­­– vielleicht auch besser so", beende ich den Satz. "Hier ist absolute Apokalypse." "Ich komme in eure Richtung", ertönt Jaydens Stimme. "Wiesel hat hier alles im Griff und es sind noch keine Rockets aufgetaucht. Ich bezweifle, dass wir gebraucht werden." "Verteilt euch, wenn möglich", sage ich und zische, als ein Sternschauer meine Schulter streift und einen tiefen Ratscher hinterlässt. "Wir könnten Hilfe gerade echt gebrauchen. Gerard, bist du da? Schick Richard oder irgendjemanden runter. Wir werden überrannt." Ein zustimmendes Murren erklingt, gerade in dem Moment, als drei Rockets mich als die Abbygail identifizieren und gleichzeitig auf Hunter zurasen. "Ach scheiße", fluche ich und warte, bis die drei nur noch wenige Meter entfernt sind. Ich umklammere Priss und rufe Hunter mit einem kurzen Knopfdruck zurück, gerade lange genug, um zwischen den dreien in die Tiefe zu stürzen. Schreie von oben, ein lautes Zusammenkrachen und mehr Flüche. Mit einem Ruck, der mir die Luft aus den Lungen presst, lande ich auf Hunter, den ich fast im selben Moment wieder gerufen habe und atme tief durch. Das Adrenalin, das durch meinen Körper schießt, lässt mein Herz heftiger schlagen, als angenehm ist. Da klingelt mein Handy. "Wer ruft denn jetzt bitte an?", murmele ich wütend. Mit einer Hand dirigiere ich Gotts nächsten Flammenwurf, mit der anderen nehme ich den Anruf entgegen. "Ich habe gerade echt keine Zeit, also wer auch immer da ist –" "Abby?" Moment. Die Stimme kenne ich. "Ruth?", frage ich ungläubig und lenke Hunter zur Seite, als ein Solarstrahl knapp an uns vorbei zischt. Sie klingt, als wäre sie den Tränen nahe. „Abby?“ Sie stockt. „Ich– ich brauche deine Hilfe.“ Kapitel 122: Team Rockets Plan (Gewitterwolken) ----------------------------------------------- Es dauert einige Sekunden, bis ich meine Fassung wiedererlangt habe, Sekunden, in denen der Kampf unter mir weitertobt. "Ruth, ganz ruhig." Ich ziehe Hunter höher in die Lüfte, reiße im Flug mithilfe seiner Krallen einen Rocket von seinem Golbat und hoffe darauf, dass Gotts Flammenwurf auch ohne mich sein Ziel findet. "Was ist passiert?" "Du warst im Fernsehen, oder? Du bist bei diesem Proteam. Ich… Gott, ich kann nicht glauben, dass ich dich das fragen muss, aber hier ist etwas ganz faul und ich weiß nicht, was vor sich geht." "Ruth, ich kann dir so nicht folgen", sage ich genervt und klemme mir das Handy fester unter das Ohr. Das Head-Set, durch das eine Kakophonie aus Schreien, Attackenbefehlen und noch mehr Windrauschen dröhnt, schalte ich stumm. "Wo bist du gerade? Bist du in Gefahr?" Ich kann hören, wie sie tief Luft holt. "Ich glaube nicht. Aber meine Mutter... irgendetwas wird passieren, Abby. Sie verhält sich schon seit Tagen komisch und jetzt telefoniert sie ständig mit irgendjemandem, sagt mir aber nicht, mit wem und mit den Bediensteten redet sie auch. Das hat sie noch nie getan, Abby, noch nie!" "Deine Mutter?", frage ich und denke an die hochgewachsene Frau vom Indigo Plateau zurück. Wir haben kein einziges Wort gewechselt; ich kann mich kaum noch an sie erinnern. "Seid ihr in eurer Villa in Oliviana?", frage ich verwirrt und weiche dabei fast lässig einem Steinwurf aus, der über meinen Kopf dahin zischt. Priss atmet tief ein und holt ein weiteres Golbat mit ihrem Aurorastrahl vom Himmel, der immer stärker zu werden scheint. Die Fledermaus trudelt als Eisklotz zu Boden, ihr Reiter jault auf, als seine Beine Bekanntschaft mit dem Boden machen. "Was? Wovon redest du?", fragt Ruth empört. "Wir sind auf der M.S. Love, wie hast du davon nichts mitbekommen?" "Ich hatte ein paar andere Sachen um die Ohren, tut mir ja leid", fauche ich. Dann halte ich inne. Blinzele. Werde ganz still, so still, dass Hunters nächster Looping mich fast von seinem Rücken wirft. Etwas in meinen Gedanken macht Klick. "Abby? Abby, bist du noch dran?" "Moment." Ich schalte das Head-Set wieder an. "Leute, wir haben ein Problem." "Nicht nur eins", murmelt Melissa atemlos. "Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir stecken alle bis zum Hals in der Scheiße." „Danke, Melissa, das war mir klar. Ruth hat gerade angerufen.“ „Wer zur Hölle ist Ruth?“ „Ruth ist die Tochter der Zolwyks“, erkläre ich säuerlich. „Ihnen gehört der Hafen in Oliviana City und sie sind Besitzer der M.S. Love.“ „So gerne ich deiner Stimme auch lausche, ich bezweifle, dass das in Anbetracht unserer derzeitigen Situation von irgendeiner Bedeutung ist.“ „Ist es in diesem Falle, liebste Melissa“, sage ich. „Zufällig ist die M.S. Love gerade auf Kurs, mit einem Haufen Superreichen und ihren preisgekrönten und seltenen Pokémon aus der ganzen Welt an Bord.“ „Als wenn du das vorher gewusst hättest“, murmelt Ruth halblaut. Zum ersten Mal in meiner bisherigen Team Shadow-Karriere erlebe ich Melissa sprachlos. Jayden ist dafür nicht im Geringsten auf den Mund gefallen. „Sie wollen ein Schiff stehlen?“, fragt er ungläubig und Melissas Stöhnen nach zu urteilen macht sie einen ähnlichen Gesichtsausdruck wie ich. „Nein, Jayden“, erwidere ich ungeduldig. „Natürlich nicht. Aber warum haben sie wohl diese ganzen Explosionspokémon gestohlen? Ich habe hier bisher kein einziges gesehen und die Höhlen stehen auch noch. Die Löcher waren von Anfang an eine Ablenkung, ein Vorwand, die Polizisten und Trainer über zwei Regionen zu verteilen, möglichst weit weg von ihrem eigentlichen Ziel und jetzt haben sie alle Zeit der Welt, die Passagiere zu erpressen.“ „Bist du sicher?“, fragt Dark durch zusammengebissene Zähne. Ein plötzliches Rauschen und Knistern kündigt von seinem abrupten Abflug. Ich schließe die Augen, während Hunter ohne meine Führung durch die Lüfte schießt und der Kampf unter und über mir weitertobt. Wie sicher bin ich? „Athena“, sage ich langsam. „Sie ist für Kontakte nach außen zuständig. Wenn sie in der Lage war, die Zolwyks zu überreden, ihr zu helfen, wenn sie selbst eine Zolwyk ist, dann…“ „Abby, wovon redest du?“, fragt Ruth hysterisch. „Wer ist Athena?“ „Sie ist Vorstand bei Team Rocket“, sage ich leise. „Und wenn ich mich nicht irre, ist sie deine Tante.“ „Meine… was?“ „Kam sie dir deshalb so bekannt vor?“, fragt Dark. „Weil sie dich an Ruth erinnert hat?“ „An sie und ihre Mutter, ja. Dieselbe arrogante Art, das Gesicht, die roten Haare… Kein Zweifel.“ „Aber wie wollen sie auf das Schiff kommen?“, fragt plötzlich Ruth. „Ich hätte gemerkt, wenn eine Horde Rockets gelandet wäre.“ „Vielleicht sind sie noch nicht da“, schlägt Amy vor. „Wir hätten sie gesehen“, sagt Chris sofort. „Louis und ich beobachten den Himmel seit Stunden.“ „Sie müssen nicht hinfliegen“, sage ich und denke mit einem Knoten in meiner Brust an meine Fahrt auf der M.S. Aqua und meine Gespräche mit den Matrosen dort zurück. Die vielen Neueinstellungen inkompetenter Seeleute erstrahlen nun in einem ganz anderen Licht. „Sie sind schon an Bord.“   Meine Worte begrüßt unbehagliche Stille. Hunter fliegt eine weite Schleife, die von seinem plötzlichen Sturzflug unterbrochen wird. „Oh Gott, Abby, ich muss weg, bitte hilf –“ Bevor ich antworten kann, legt sie auf. „Abby, wir gehen hier gerade ein bisschen unter!“, schreit Raphael, der hinter einem Baum vor den Schüssen der Rockets Zuflucht gesucht hat. „Okay Leute, Planänderung“, rufe ich gegen den heftigen Wind in mein Head-Set. „Die M.S. Love befindet sich derzeit irgendwo südlich von Oliviana City im Meer. Ryan, kannst du uns die genauen Koordinaten durchgeben?“ „Ryan ist gerade beschäftigt, Abby“, erklingt Amys Stimme. „Was soll das jetzt heißen?“, fauche ich. „Sein einziger Job ist es, uns mit seinem Scheißcomputer zu unterstützen und er ist –“ „Es tut mir so leid, Abby, aber die Spielhalle steht gerade ein bisschen unter Beschuss.“ „Die Spielhalle?“ Gotts Flammenwurf schießt an uns vorbei, während Hunter sanft zur Seite schwenkt und im Vorbeifliegen einen Rocket von seinem Pokémon reißt und schreiend in die Tiefe stürzen lässt. Ich zucke bei dem Geräusch zusammen, konzentriere mich aber wieder auf das Head-Set. „Also halten du und Ryan Stellung in Prismania?“ „Oh nein, das hast du missverstanden“, entgegnet sie fröhlich. „Ich kämpfe, Ryan hat sich verbarrikadiert und das Head-Set abgeschaltet.“ Ich blinzele. Atme tief durch. „Chris, schnapp dir Louis und flieg los. Wenn wir uns aufteilen, finden wir die M.S. Love vielleicht auch ohne Ryan. Gerard, wie sieht es bei euch aus?“ „Wir bewachen alle Eingänge. Ich kann hier nicht weg, ohne dass sie uns überrennen. Der ganze Untergrund ist voll mit ihnen. Es gibt Gerüchte, dass Craig auftauchen wird.“ „Warum sagt mir eigentlich niemand, was los ist?“, frage ich genervt.“ Wozu haben wir die Head-Sets, wenn keiner sie benutzt?“ „Es ist auch so schon chaotisch genug, verdammt.“ „Okay, okay.“ Ich reibe mir die Schläfen. „Jayden, flieg nach Azalea City. Melissa, wenn du in Ebenholz City nicht gebraucht wirst, komm nach Süden Richtung Nathan.“ „Geht klar.“ „Dark, bist du schon unterwegs?“ „Gold und ich sind losgeflogen“, stimmt er zu. „Ryan wird sich melden, sobald er in ihr Netzwerk eingedrungen ist.“ „Dann soll er sich langsam mal beeilen“, murmele ich und schalte das Head-Set leiser. Hunter folgt meinem unausgesprochenen Kommando und wirft sich mit einem Sturzflug zurück ins Getümmel. Der Wind peitscht durch mein Haar und Priss krallt sich schmerzvoll in meinem Arm fest. Zwei Rockets kreisen lachend über dem Waldstück, in dem ich Raphael zuletzt gesichtet habe. Grypheldis scheint angeschlagen, Blut tropft aus dem Gefieder ihres linken Flügels und ihre Finsteraura wabert nur noch als schwacher Schein auf ihre Gegner zu. Superschalle und Kreideschreie füllen die Luft mit schrillen Tönen und Vibrationen, die mir die Haare zu Berge stehen lassen und zusammen mit dem Gegenwind in meinen Ohren wiederhallen. Obwohl ich nicht Zielscheibe der beiden Golbat bin, spüre ich merkwürdige Gedanken in meinem Kopf aufkeimen. Wäre ich nicht auch Hunter geritten, hätte ich vielleicht genau dasselbe getan wie Raphael, der in dem Moment zwischen den Bäumen heraustorkelt und sich selbst wieder und wieder gegen den Schädel schlägt. Wie benommen beobachte ich das Geschehen unter mir, die Rockets, die ihre Pistolen ziehen, Kai, der sich die Ohren zuhält und versucht, Raphael zurückzuzerren und warum lässt er ihn nicht einfach gehen? Mein Griff um Priss lockert sich. Sie faucht, tritt nach Hunter, um Halt zu finden und krallt ihre Vorderpfoten in meinen Arm. Der Schmerz weckt mich aus der Verwirrung und ich schüttele desorientiert den Kopf. Plötzlich trifft mich etwas Schweres von hinten und reißt mich von Hunters Rücken. Schmerz explodiert an der Stelle, irgendwo zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt, während ich kopfüber in die Tiefe stürze. Das Skorgla, das mich mit seiner Akrobatik von Hunters Rücken gerissen hat, trudelt unterdessen als Eisklotz an mir vorbei. Priss´ panisches Fauchen hallt in meinen Ohren wieder, als ich zu Boden rase. Instinkt lässt mich mein Gewicht verlagern, gerade genug, dass ich mich in der nächsten Drehung nicht mehr kopfüber befinde. Die Welt rauscht konturlos an mir vorbei, ein Ruck geht durch meinen Körper und im nächsten Moment finde ich mich in Gotts Armen wieder, die er vorgestreckt hat, um mich vor einem sicheren Tod zu bewahren. Erleichtert atme ich aus und presse mich so eng wie möglich an seine Brust. „Flammenwurf“, befehle ich und spüre fast augenblicklich die Feuersbrunst, die über meinen Kopf davon schießt und meine Haarspitzen ansengt. Die Rockets schreien. Als ich den Kopf hebe, entdecke ich ihre Golbat, die mitsamt hilflos fluchenden Trainern auf dem Rücken brennend und schrill kreischen herabstürzen. Rauchfahnen folgen ihrem Fall. „Volltreffer“, stelle ich zufrieden fest und springe aus Gotts Armen. Mein Blick gleitet müde über das Schlachtfeld. Team Rocket hat sich etwas zurückgezogen und kreist träge in der Luft, eindeutig unsicher, wie sie ihre verbliebenen Streitkräfte einsetzen wollen. Von der Käferarmee haben nur etwa zwei Dutzend Gotts Flammenmeer unbeschadet überstanden und Hunter ist bereits dabei, zusammen mit Priss ein Smettbo aus der Gruppe zu reißen und es in den nächstbesten Gegner hinein zu schleudern. Auf unserer Seite sieht es leider nicht viel besser aus. Ich sprinte an den paralysierten und bewusstlosen Trainern vorbei, umgehe die blutigen Pfützen im Gras und versuche, nicht zu genau über die reglosen Körper nachzudenken, die hier und da am Boden liegen, Menschen wie Pokémon. Ich presse meine Lippen aufeinander. Das Stöhnen Verwundeter, das einheitliche Brummen der Käferpokémon und das Pulsieren von Blut in meinen Ohren begleiten mich, während ich die Strecke zu Raphael überbrücke, ihn an einem Arm packe und Kai dabei helfe, ihn zurück in den Schutz der Bäume zu zerren. Grypheldis wirft mir von ihrem Platz am Boden einen matten Blick zu. Fliegen wird sie heute nicht mehr, selbst wenn Raphael Zeit findet, sie ins Pokécenter zu bringen. Ihr Flügel sieht nicht gut aus. „Bist du okay?“, frage ich Raphael. Kai hält seine Handgelenke fixiert und drückt ihn bestimmt gegen den Baumstamm, bis Raphaels Augen nicht mehr panisch in ihren Höhlen rollen. Langsam lässt er seine Hände sinken und schließt die Augen. Sein Kopf muss höllisch wehtun. „Jetzt schon“, sagt er leise und reibt sich die Schläfen. „Hat sich angefühlt, als hätte ich einen Schwarm Bibor im Kopf.“ „Hast du unser Gespräch mitgehört?“, frage ich vorsichtig. Er nickt. „Ich nehme an, du wirst dich wieder mitten ins Chaos stürzen und zu Ruth fliegen?“ „Ich muss“, sage ich. „Chris und Louis können nicht alleine ein ganzes Schiff abdecken und sich um die Explosionspokémon kümmern und Gerard kann Dukatia City nicht verlassen, ohne dass Team Rocket sich auch noch die Spielhalle unter den Nagel reißt. Der Rest ist zu weit weg.“ Ich äuge kritisch zwischen den Baumstämmen hindurch. „Jayden ist unterwegs“, füge ich hinzu. „Ihr müsst nur lange genug durchhalten, bis er hier ist. Kriegt ihr das hin?“ „Wir werden versuchen, sie hinzuhalten, bis einige der Trainer aufwachen“, stimmt Kai nach kurzem Überlegen zu. „Die Pokémon sind fast alle besiegt, aber wenn wir sie ablenken, schaffen wir es vielleicht, einige von ihnen zu heilen.“ „Oder ihr macht einen kurzen Trip ins Pokécenter“, sage ich nickend. „Apropos, was ist mit Gen?“ „Was ist mit mir?“ Erschrocken fahre ich herum, dicht gefolgt von Raphael und Kai. Im Dickicht Richtung Azalea City entdecken wir Genevieve, deren Ohr und Kopf mit dicken, weißen Bandagen verbunden sind. Erleichterung durchflutet mich. Einige rasche Schritte und schon falle ich ihr um den Hals. "Geht es dir besser?", frage ich atemlos. "Bei dem ganzen Blut war ich nicht sicher, ob du nochmal zurückkommen kannst." "Wofür hältst du mich?", fragt sie lachend und schiebt mich von sich weg. Ich folge ihrem Beispiel, als sie sich Raphael und Kai zuwendet. „Also wenn ihr eine Ablenkung braucht“, beginnt sie grinsend und deutet auf die rechte Seite ihres Kopfes, „ein Ohr habe ich noch.“   Danach geht alles ganz schnell. Gen steigt auf Aeropteryx, während ich mich flüchtig von Kai und nicht ganz so flüchtig von Raphael verabschiede und versuche, nicht daran zu denken, dass es vielleicht unsere letzten Momente zusammen sein könnten. Gens Verletzung hat mich wachgerüttelt. Wäre ich eine Sekunde zu spät gewesen, hätte der Rocket etwas besser gezielt, läge sie jetzt blutig und tot neben den anderen, die in dieser Nacht ihr Leben gelassen haben. Es macht mich nervös, aber gleichzeitig spüre ich ein Feuer in mir aufkeimen, einen Drang, diese Nacht so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Und alles zu tun, um Team Rocket ein für alle Mal auszulöschen. Gott tritt als erster aus dem Waldstück. Sein Flammenwurf gibt uns Deckung, während wir uns in die Lüfte katapultieren, Gen in Richtung unserer Gegner, ich in die andere. Zuerst läuft alles nach Plan, doch kaum entdecken sie, dass ich versuche, das Schlachtfeld zu verlassen, lösen sich zwei Rockets aus ihrer Gruppierung und jagen mir nach. Ich schaffe es gerade noch, Gott zurückzurufen, bevor Hunter außerhalb der Pokéballreichweite davon schießt und sich in die Dunkelheit schraubt. Ein lautes Pfeifen ertönt. Als ich mich umsehe, entdecke ich Gen, die schreiend ihr Ablenkungsmanöver beginnt, bestehend aus äußerst kreativen Beleidigungen und gnadenloser Offensive. Ein letzter Blick über meine Schulter bestätigt meine Vermutung. Die Rockets drehen fluchend ab, um ihren Teammitgliedern zu helfen, die jetzt unter Vollbeschuss von X´ Steinhagel stehen. Zufrieden wende ich mich ab und presse mich eng an Hunter, während er höher und höher steigt und schließlich in einen agilitätsbeschleunigten Gleitflug übergeht. Ich schmecke bereits Salz auf der Zunge, als die Kampfgeräusche mich nicht mehr erreichen. Die Nacht schließt sich wie eine Faust um uns, während wir die hell erleuchteten Städte hinter uns lassen. Halb blind lausche ich den Kampfgeräuschen, chaotischen Rufen und zwischenzeitlichen Flüchen durch das Head-Set und benutze einen Großteil meiner Tränke, um Sku und die anderen durch ihre Bälle aufzufrischen. Wenn ich Athena wirklich auf der M.S. Love wiederbegegnen werde, will ich vorbereitet sein. Jaydens klare und eindeutig beunruhigte Stimme reißt mich aus meiner Trance. „Du willst doch alle superwichtigen Infos durchgegeben kriegen, richtig?“ „Schieß los.“ „Es interessiert dich vielleicht“, beginnt er, „dass sich kurz nach meinem Abflug ein Gewitter in Teak City entwickelt hat.“ „Wenn ich den Wetterbericht hören will, mache ich das Radio an“, sage ich. „Ich bin westlich von Azalea, auf der Suche nach einem Schiff mitten im Ozean, auf dem sich Explosionspokémon befinden. Ein Gewitter in Teak ist nun wirklich nicht mein größtes Problem.“ „Es wird dein Problem werden“, entgegnet Jayden ernst. „Es folgt mir schon seit einer guten halben Stunde nach Süden. Und es ist verdammt schnell.“   Jaydens Warnung erweist sich leider als zutreffend. Ich habe das Festland noch nicht hinter mich gebracht, da kann ich schon die tiefvioletten Gewitterwolken erkennen, die sich wie gewaltige Blutergüsse im Himmel zusammenballen, auftürmen und das Licht der Sterne ausblenden. Ich drehe die Lautstärke in meinem Head-Set weiter auf und überprüfe außerdem mein Handy. Ruth hat sich seit ihrem ersten Anruf nicht mehr gemeldet. Langsam mache ich mir Sorgen. Was, wenn sie keine Gelegenheit mehr hatte, mich zu kontaktieren, wenn sie schon gefangen wurde? Würde ihre Mutter ihr etwas antun? Ich bin nicht sicher. "Wir haben sie gefunden." Erschrocken horche ich auf. "Die M.S. Love?", hake ich bei Chris nach, deren Stimme mich gerade aus meinen Gedanken gerissen hat. "Wo ist sie?" Das altbekannte Pling ertönt. Ich schnappe meinen S-Com und entdecke die Koordinaten, die Chris mir zugesendet hat. Laut der Karte bin ich noch etwa eine Stunde Flugzeit entfernt. Eine Stunde, in der Ruth ohne Hilfe durchhalten muss. "Ich brauche noch eine Weile", sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Könnt ihr schon irgendetwas ausmachen?" "Ausmachen? Hier ist kein Licht, ich weiß nicht, was du– hey!" Ich kneife ein Auge zu, als Chris´ Stimme leiser wird und von starken Windrauschen und lautem Knacken übertönt wird. "Abby? Abby, ich bin´s", sagt Louis. "Ich übernehme ab hier, bevor Chris irgendwas falsch versteht." Ich atme lachend aus und lausche Louis´ aufgeregter Stimme. Es ist Wochen her, seit wir das letzte Mal gesprochen haben. "Ich verlasse mich auf dich", sage ich grinsend und sporne Hunter gleichzeitig mit meinen Waden zu noch mehr Geschwindigkeit an. "Es tut so gut, deine Stimme wieder zu hören", lacht er heiser, räuspert sich und fährt seriöser fort. "Pass auf. Wir sehen das Schiff nur aus der Ferne, einige Rockets scheinen vor kurzem angekommen zu sein, oder sie waren schon an Bord und sind jetzt erst rausgekrochen. Sie patrouillieren den Luftraum. Wir können nicht näher ran, ohne dass sie Alarm schlagen und möglicherweise mit der Sprengung loslegen. Ruths Mutter war eben auf dem Deck und hat mit den Leuten dort geredet. Jetzt bringen sie haufenweise Pokébälle an Bord, das ganze Schiff ist wach." "Hast du Ruth gesehen?" "Noch nicht. Würde mich nicht wundern, wenn man sie in irgendeiner Kabine eingesperrt hat, bis alles vorbei ist." "Was, wenn sie das Schiff wirklich sprengen?", frage ich. "Würde Ruths Mutter ihre einzige Tochter sterben lassen?" "Ich weiß es nicht. Zuzutrauen wäre es ihr, sie hat schließlich alles mit Athena ausgeheckt, wenn du richtig liegst. Die hat kein Gewissen. Wahrscheinlich wird sie an dem Profit beteiligt, oder es ist einfach nur reine Geschwisterliebe. Die Zolwyks sind mir alle suspekt. Vertraue keinen Rothaarigen, Abby, das lernen wir daraus. Alina, Athena, Ruth, Gerard… Gefährliche Menschen." "Was ist mit Ginger?", frage ich grinsend. "Oder Wiesel?" "Jetzt ruinier mir nicht meine Theorie!" Ich lache herzlich und presse mich enger an Hunter. Der Wind wird kälter, je weiter wir aufsteigen und das Gewitter zu meiner Rechten nimmt immer gewaltigere Ausmaße an. "Ihr kommt also nicht ran?" "Nicht ohne weiteres. Chris fliegt schon die ganze Zeit Kreise. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns entdecken. Wir bräuchten irgendeinen Sichtschutz." "Was ist mit den Explosionspokémon?", frage ich. "Wo sind sie?" "Nicht an Deck, das hätten wir bemerkt. Vermutlich irgendwo im Buk, aber frag mich nicht, wo. Maschinenraum würde sich anbieten, oder in der Nähe der Schiffsaußenseite, damit das verdammte Ding versinkt. Ich schwöre dir Abby, wenn wir heil aus dieser Sache rauskommen, werde ich graue Haare haben." "Das will ich sehen", sage ich und schaue wieder über meine Schulter. Hunter, der meinen Beinsignalen gefolgt ist, hat seinen Kurs etwas nach Norden verlagert. Das Festland liegt nun endgültig hinter uns, aber ich kann Johtos Küste noch gut erkennen, auch wenn der Wald durch die geschwungene Straße Richtung Dukatia City ersetzt worden ist. Die Wolken brauen sich bedrohlich über der Hauptstadt zusammen. Wie Jayden angekündigt hat, ist das Gewitter schnell – schneller noch als er, denn laut S-Com hat er Dukatia City noch nicht erreicht. Ich will gerade zu einer weiteren Frage ansetzen, da reißt ein gleißend heller Blitz den Himmel entzwei. Erschrocken schwenkt Hunter in die Schräglage, weg von der Entladung, die nahe der Küste ins Meer eingeschlagen ist. Grollender Donner füllt meine Ohren und echot durch mein Head-Set. Der nächste Blitz schlägt weiter im Meer ein, nicht nah genug, um Hunter erneut vom Kurs zu bringen, aber in der Richtung, in die wir gerade fliegen. Richtung M.S. Love. Ein letztes Mal wende ich mich auf meinem Sitzplatz um und spähe durch die Dunkelheit. Das Gewitter zieht weiter, an der Stadt vorbei aufs offene Meer. Blitze schlagen wie Speere in die schwarzen Wellen ein, begleitet von ohrenbetäubendem Donner. Mein Blick wandert die Küste entlang, zu der kleinen, gelb leuchtenden Silhouette. Mein Herz setzt einen Schlag aus, mein Mund öffnet sich in perfekter Verblüffung. Am Rand von Johto, am Rand des Festlands, steht Raikou. Und brüllt. Kapitel 123: Letzter Schachzug (Geständnisse) --------------------------------------------- „Was zur Hölle?“, murmele ich. Das letzte Mal, dass ich das Legendäre gesichtet habe, war vor fast einem halben Jahr in Teak City. Damals war es eindeutig nicht in der Verfassung, ein ausgewachsenes Gewitter heraufzubeschwören und es einmal über ganz Johto zu jagen. Einen kurzen Moment fürchte ich, dass ich damals einen riesigen Fehler begangen und Raikou wütend gemacht habe, sodass es jetzt Rache sucht. Dann schlägt ein dritter Blitz im Meer ein, so weit entfernt, dass der Donner erst kurz darauf folgt. Ich reiße mich aus den negativen Gedanken. Wenn Raikou Rache für seine Rettung wollte, hätte es mich schon dreimal sehr effektiv rösten können. „Ich glaube, es zeigt uns den Weg“, sage ich zu Hunter. Er krächzt euphorisch und schießt ein weiteres Mal mit Agilität davon. Trotz der plötzlichen Geschwindigkeit ist der Gegenwind nicht so stark wie noch zuvor. Die vielen Kämpfe, Luftattacken und Ausweichmanöver machen sich allmählich bemerkbar. Hunter wird müde. Und die Nacht ist noch lange nicht vorbei.   Fast erwarte ich, dass Raikou uns auf´s Meer folgen wird, aber als ich ein letztes Mal den Kopf drehe, steht das legendäre Elektropokémon noch auf festem Boden. Sein Brüllen hallt in meinen Ohren wieder, als wir uns weiter entfernen und den Blitzen auf das offene Meer folgen. Dukatia City ist nur noch ein fahler Lichtfleck am Horizont, als die M.S. Love endlich in Sicht kommt. Trotz der Handschuhe fühlen sich meine Finger steif und wund an und die Ränder meiner Flugbrille haben tiefe Kerben um meine Augen hinterlassen. Als ich mich auf diesen Tag vorbereitet habe, bin ich noch davon ausgegangen, auf dem Boden zu kämpfen, statt Stunden um Stunden in der Luft zu verbringen – und das fast nie in bequemem Gleitflug. Ich lenke Hunter weiter in die Höhe, inzwischen sicher, dass ich von Raikous Blitzen nichts zu befürchten habe. Als wir so weit oben sind, dass Melissa sich über mein lautstarkes Zähneklappern beschwert, aktiviere ich Priss´ Pokéball. „D-dein Dunkelnebel wäre jetzt s-super“, stottere ich und setze sie vor mich auf Hunters Rücken, wo ich trotz Kälte einen Arm um ihren glitschigen Brustkorb schlinge. „Aber mach ihn n-nicht zu dicht, ich will noch etwas sehen k-können.“ Priss gibt ein zustimmendes Grummeln von sich, das im rollenden Donner untergeht und beruhigend in meinen Fingern vibriert. Ich bin über jede Art von Beruhigung dankbar – meine Nerven liegen blank. Trotz der Kondensation um uns herum, die Hunter in einen düsteren Nebel hüllt und bei Nacht und Gewitter so gut wie unsichtbar macht, kann ich das Gefühl nicht unterdrücken, jeden Moment von einem der Rockets entdeckt zu werden. Mein Blick fällt auf das Schiff. Die „Matrosen“ schlittern über das Deck, rufen sich gegenseitig Warnungen zu und sind mit dem unnatürlichen Sturm eindeutig überfordert. Ich kann ein fieses Grinsen nicht unterdrücken. Sie sind eben Verbrecher, keine Seeleute. Vor mir aus darf die ganze Bande gerne etwas ins Schwitzen geraten, bevor der finale Kampf losbricht. Durch das Spektakel an Bord der M.S. Love ein wenig von meiner Paranoia abgelenkt, wage ich es, Hunter herabsinken zu lassen, um nach Chris und Louis Ausschau zu halten, auch wenn ich wette, dass sie genau wie ich den Schutz der Dunkelheit gesucht haben. „Louis“, frage ich in das Head-Set, erst leise, um nicht gehört zu werden, dann, als der Wind mir die Worte von den Lippen weht, lauter. „Louis, wo seid ihr?“ „Auf der anderen Seite vom Schiff“, erschallt seine gedämpfte Stimme. „Wir haben dich eben absinken sehe, aber das Gewitter hat uns abdriften lassen. Warte dort, wir kommen rüber.“ „Bleibt, wo ihr seid“, entgegne ich. „Wenn wir von zwei Seiten angreifen, habe wir eine bessere Chance, sie zu überrumpeln.“ Ich kann hören, wie Louis Luft zum Widerspruch holt, doch schließlich seufzt er nur ergeben. „Dieses Gewitter sieht wirklich übel aus. Aber warum regnet es nicht? Bei all den Wolken erwarte ich eine ausgewachsene Sintflut, nicht nur so ein komisches Geblitze.“ Grinsend verlagere ich meinen Sitz auf Hunter und lenke ihn weiter Richtung Schiff, um einen besseren Überblick zu erhalten. „Raikou hat das Gewitter heraufbeschworen“, erkläre ich, während ich gleichzeitig den Himmel nach Ho-Oh absuche und das Schiff im Auge behalte. „Keine Sorge, es will uns helfen. Glaube ich zumindest.“ „Glaube ich, sehr beruhi –“ Louis´ Stimme bricht ab, als ihm die Bedeutung meiner Worte bewusst wird. „Wo zur Hölle hast du jetzt auf die Schnelle ein Raikou aufgetrieben?“, fragt er perplex. „Warte, hast du ihm nicht in Teak City irgendwie das Leben gerettet? Will es jetzt in dein Team?!“ „Ha, als wenn“, lache ich. „Raikou hat einen besseren Trainer als mich verdient. Es wird seine Schuld begleichen wollen, schätze ich. Das Gewitter hilft uns in jedem Fall dabei, ungesehen auf das Schiff zu kommen. Die Rockets sind gerade mit ganz anderen Sachen beschäftigt.“ „Hat Ruth sich inzwischen wieder gemeldet?“, fragt Louis. „Nicht, dass ich mir Sorgen um sie mache, aber ein paar mehr Infos über ihre Mutter und die Pokémon wären echt hilfreich.“ "Bislang nicht", sage ich und runzele die Stirn. Auf dem Deck kann ich außer den Matrosen niemanden ausmachen, weder Ruth, noch ihre Mutter oder Athena. "Ich hoffe, es geht ihr gut." "Mach dir um sie keine Sorgen, Abby", murrt Louis. "Wir sind eindeutig in größerer Gefahr. Wenn du mit deinen Vermutungen Recht hast, bezweifle ich, dass Athena ihr etwas antun würde, selbst wenn sie sich gegen ihre Eltern stellt." "Ich weiß, ich weiß… Aber ich kann sie nirgends sehen." Louis schweigt, während ich langsam meine Runde drehe. Die Winde treiben Hunter vom Kurs ab und ich kann spüren, wie seine Flügelschläge immer träger werden. Lange wird er nicht mehr durchhalten. Das Training am Silberberg hat ihn gestärkt, aber die stundenlangen Flüge mit Ausweichmanövern und Geschwindigkeitsschüben haben ihn ausgelaugt. Plötzlich zieht Louis scharf die Luft ein. "Louis?", frage ich panisch und halte instinktiv nach ihm Ausschau, auch wenn ich weiß, dass Chris ihr Ho-Oh weiterhin versteckt hält. "Abby, was wenn… was wenn es eine Falle ist?" Es läuft mir kalt den Rücken runter. Mit einem Mal fühle ich mich sehr beobachtet, aber als ich den Kopf drehe, kann ich durch Priss´ Dunkelnebel kaum etwas ausmachen. "Was meinst du?" "Ruth hat dich angerufen, damit du herkommst, um sie zu retten. Was, wenn sie mit ihrer Mutter und Athena gemeinsame Sache macht und dich nur hierhergelockt hat, um dich umbringen zu lassen?" "Unsinn", sage ich automatisch, aber Louis´ Worte erwecken einen kleinen Keim des Zweifels in mir. Wäre Ruth zu so etwas fähig? Ich denke an all unsere Begegnungen zurück. Bei den letzten Treffen hatte ich das Gefühl, ihr näher gekommen zu sein, sie besser zu verstehen. War das alles gespielt? Ein Manöver, um mein Vertrauen zu gewinnen und mich in eine Falle zu locken? "Sie wollte dich in einem Brunnen einsperren, Abby, schon vergessen? Sie hätte dich dort unten verrotten lassen, wenn sie damit durchgekommen wäre!" "Wir wurden beide dort festgehalten", sage ich schwach. "Man hätte sie nicht gefangen genommen, wenn sie mit Team Rocket zusammenarbeiten würde." "Und du denkst wirklich, dass drei normale Mitglieder sie als Athenas Nichte erkennen würden? Sie war als Trainerin unterwegs, mehr oder weniger inkognito. Sie haben sicher nicht in Azalea City mit ihr gerechnet. Und hast du nicht erzählt, dass ihre Eltern ihr das Reisen sofort danach verboten haben?" Ich presse die Lippen aufeinander, starre in die Tiefe, versuche vergebens, durch den Stahl ins Innere des Schiffes zu schauen und Ruth ausfindig zu machen, so als würde der bloße Anblick mich von ihrer Unschuld überzeugen. Ich will nicht, dass sie beteiligt ist, dass ihr langsames Auftauen nur eine Fassade war. Aber Louis´ Argumente ergeben Sinn, zumindest hier, in diesem übernatürlichen Gewitter, über dem Feind, mit einem nagenden Gefühl im Nacken, beobachtet zu werden. Langsam drehe ich den Kopf. Kramshef stürzt auf uns herab, bohrt seine Krallen in Hunters Schulter und Rücken und reißt ihn aus seiner Flugbahn, nur um uns Richtung Schiff zu schleudern. Mein Schrei hallt durch die Nacht, Priss entgleitet meinem Griff und fällt kreischend in die Tiefe, Hunter fängt sich nach mehreren Überschlägen in der Luft, nur um wieder von Kramshef gepackt und zur Seite gerissen zu werden. Panisch klammere ich mich an ihm fest, versuche, irgendwie auf seinem Rücken zu bleiben, aber die nachtblaue Krähe hält uns in festem Griff und krächzt wild, während sie uns von einer Seite zur anderen wirbelt und schließlich mit voller Wucht Richtung Meer wirft. Aus den Augenwinkeln kann ich Athena entdecken, die in Golgantes´ Armen thront. Einen kurzen Moment bin ich überrascht darüber, dass der Golem fliegen kann, bevor mir schwarz vor Augen wird, als Kramshefs Nachtnebel uns verschlingt. Absolute Schwärze lässt mich blind werden, schreien. Hunter kommt abrupt zum Stillstand und krächzt kraftlos. Mir ist eiskalt. Die Nachtnebelattacke hat meinen ganzen Körper steif werden lassen, jede Gliedmaße brennt und pocht und ich fühle mich stark an meinen Sturz auf dem Eis zurückerinnert, als ich in Prismania City von den Trainern überrumpelt wurde. Benommen hebe ich den Kopf. Hunter schlägt verzweifelt mit den Flügeln, als Kramshef sich flatternd in sein Brustgefieder krallt und uns im Kreis wirbelt. Speiübel, wie mir von den schneller werdenden Umdrehungen ist, kann ich kaum noch oben von unten unterscheiden, geschweige denn Hunter helfen, der verzweifelt kreischt, als die Krallen sich tiefer und tiefer in seine Brust bohren, blutige Federn vom Wind davongerissen werden und er zusehends an Kraft verliert. Athenas erfreutes Lachen ringt in meinen Ohren, Kramshef lässt los und gemeinsam mit einem bewusstlosen Hunter stürze ich hinab in die tosende See. Das letzte, was ich wahrnehme, ist der gleißend weiße Blitz, der von ohrenbetäubendem Donner begleitet über Kramshef niedergeht und die Dunkelkrähe rauchend hinter uns her trudeln lässt. Dann waschen die Wellen über uns und das Meer verschlingt uns ganz. Dunkelheit drückt von allen Seiten auf mich ein, entzieht mir jedes bisschen Wärme, zieht mich tiefer, als Salzwasser sich in meine Jacke saugt, meine Hose, meine Schuhe, meinen Rucksack und ich immer schwerer werde, immer schwerer... Ich reiße meine Augen auf, nur um Hunter zu entdecken, der wie ein Stein in die unendliche Schwärze des Meeres sinkt. Meine Flugbrille muss von dem Aufprall abgesprungen sein, denn meine Augen brennen, aber ich halte sie weit geöffnet, um den Blickkontakt zu meinem Pokémon nicht zu verlieren. Mit tauben, steifen Fingern krame ich nach Hunters Pokéball an meinem Gürtel, ignoriere das Gewicht meines Rucksacks und meiner nassen Kleider, das mich stetig tiefer sinken lässt. Verzweifelt lasse ich den Rucksack von meinen Schultern gleiten. Ohne das zusätzliche Gewicht fällt es mir leichter, gegen das Wasser zu treten, auch wenn sich meine Brust schmerzlich bei dem Verlust eines Großteils meines Besitzes zusammenzieht. Der rote Lichtblitz des Pokéballs leuchtet dimm durch die Wogen und zieht Hunter zurück in das schützende Plastikgehäuse. Mit einer prüfenden Bewegung vergewissere ich mich, dass zumindest mein Pokégürtel von dem Tauchgang keinen Schaden davongetragen hat und alle Bälle noch dort sind, wo sie hingehören, da bricht eine Woge Luftblasen aus meiner protestierenden Lunge, die mit jeder vergehenden Sekunde mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Strampelnd kämpfe ich gegen den Sog an, aber neue Wellen schlagen über mir ein, bevor ich mich an die Oberfläche kämpfen kann und spülen mich kopfüber in die Tiefe. Der Reißverschluss meiner Jacke klemmt, als ich versuche, sie ebenfalls auszuziehen, meine Kehle streikt, kontrahiert zwanghaft, so als wolle sie mich zwingen, doch endlich einzuatmen, Luft zu holen, süße Luft, trockene Luft… Ohne Orientierung, ohne Kraft, kämpfe ich gegen die Bewusstlosigkeit an. Meine Beine treten automatisch, aber hinter den sonst so kraftvollen Schwimmbewegungen ist keine Energie, kein System. Meine Sicht verschwimmt, während ich durch die Stille dümpele. Schwärze legt sich über meine Augen – Ein scharfer Schmerz an meinem Handgelenk zerrt mich aus der Taubheit des nahenden Todes. Mein Blick flackert zu meinem Arm, an dem eine verzweifelt aussehende Priss sich festgebissen hat und mich mit kraftvollen Flossenschlägen und strampelnden Beinen durch die Strömung des Meeres zerrt, höher, höher… Luft. Ich huste, spucke, atme verzweifelt ein, alles gleichzeitig. Die kalte Nachtluft ist wie ein Schlag ins Gesicht, geschwängert mit einem seichten Nebel. Sie brennt in meinem Rauchen und meiner Kehle, eisig und süß und mein Husten klingt mit jeder Sekunde an der Oberfläche ab. Priss hält mich über Wasser. Meine Arme und Beine fühlen sich noch immer an wie Gummi, absolut nutzlos. Ihr Dunkelnebel verdeckt die Sicht, doch von weiter oben kann ich wütende Schreie und Athenas herrische Stimme vernehmen. Mir wird mit einem Schlag bewusst, dass ich nur etwas länger als eine Minute unter Wasser gewesen sein kann. „Danke“, flüstere ich heiser und fahre mit zittrigen Fingern einmal über Priss´ Kopf. „ABBY! ABBY?!“ Louis Stimme ist panisch. Schrill. Ich hebe den Kopf und entdecke ihn durch einen schmalen Riss im Dunkelnebel, der den Blick auf den Luftraum über uns freigibt. Wir müssen abgedriftet sein, denn die M.S. Love ist lange nicht mehr so weit entfernt wie noch zuvor. Louis hat sich auf Ho-Ohs Rücken halb aufgerichtet und scheint drauf und dran, mir hinterherzuspringen. Einzig Chris Hand hält ihn zurück, die ihn festhält und nicht loslässt, während der Phönix und Athenas fliegendes Golgantes sich bedrohlich im Himmel umkreisen. Mit zwei Passagieren ist Ho-Oh eindeutig benachteiligt, seine Flugangriffe schlagen fehl, denn trotz seiner Masse bewegt sich der Golem erstaunlich agil. Tief Luft holend tauche ich unter und lasse mich von Priss weiter Richtung Schiff ziehen. Mit ihrer Hilfe dauert es kaum eine Minute, bis wir dem metallischen Schiffsrumpf so nah sind, dass ich den Sog spüre. „ABBY!“ Wieder widme ich meine Aufmerksamkeit Louis, der wie von Sinnen nach mir schreit. Ich schlucke einmal schwer und blicke hinauf zum Schiff. Wenn wir heil aus dieser Sache herauskommen wollen, müssen wir den Luftraum verlassen. Ohne Hunter bin ich dort oben zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich taste nach den letzten Gegenständen, die mir geblieben sind. Plötzlich bin ich froh, meine Jacke nicht losgeworden zu sein, denn in der Tasche stecken noch mein Handy und der S-Com. Das Handy hat dem Salzwasser natürlich nicht standgehalten, aber der Com ist noch einwandfrei, wie von Ryan versprochen. Hoffnungsvoll taste ich nach dem Head-Set, das aus meinem Ohr gerutscht ist und atme erleichtert auf, als das Stimmengewirr nach einigem Antippen knackend wieder beginnt. Louis´ Schreie haben ganz Team Shadow in Aufregung versetzt. Das allgemeine Chaos ist durchsetzt mit Kampfgeräuschen, Schüssen und verwirrten Fragen. „Louis, schrei weiter“, sage ich mit schwacher Stimme, aber laut genug, um zu ihm durchzudringen. Einige Sekunden lang herrscht absolute Stille, dann erklingt sein lautes „ABBY!“ von neuem. Erleichtert atme ich durch und bringe mich zu einem Lächeln. Priss faucht leise, als ein Pokémon sich aus den Tiefen nähert, aber als nur Momente später Louis´ Garados Ethan sanft durch die Oberfläche bricht, tätschele ich erleichtert seinen Kopf und lasse mich auf dem breiten Rücken nieder. Louis muss ihn heruntergeschickt haben, um mich zu retten, auch wenn Priss schneller war. „Abby, geht es dir gut?“, fragt Dark. „Wir dachten, du wärst…“ „Nicht ganz“, entgegne ich und widme mich gedanklich wieder dem Geschehen vor Ort. „Louis, hör zu. Wenn Athena merkt, dass ich nicht ertrunken bin, tötet sie mich sofort. Du musst ein bisschen für mich schauspielern, kriegst du das hin?“ Statt einer Antwort wird Louis´ Schrei nach mir immer verzweifelter. Ich schiele empor und kann sehen, wie er auf Ho-Ohs Rücken zurückgesunken ist, Gesicht in seinen Händen vergraben. „Sprich mir nach. Laut genug, dass Athena dich hören kann. Und halt dich an meine Anweisungen.“ Während ich zitternd meine Befehle durchgebe, verfolge ich das Gespräch über mir mit pochendem Herzen. Das letzte Mal, als Louis lügen musste, hat Rose ihn schnell durchschaut, auch wenn letztlich alles gut gegangen ist. Dieses Mal ist Athena diejenige, die es zu überlisten gilt. Ich kann nur hoffen, dass Louis´ Schauspielkünste sich verbessert haben. Er enttäuscht mich nicht. „Sie ist tot“, sagt er taub. „Du hast sie umgebracht. Du hast meine Freundin umgebracht!“ Mein Herz schlägt schneller. Ich presse den Lautsprecher fester in mein Ohr, um auch keine Nuance der Unterhaltung über mir zu verpassen. Athena lacht süffisant. „Ach Schätzchen, ich hatte sie gewarnt, dass Team Rockets Angelegenheiten eine Nummer zu groß für sie sind. Du musst dich nicht über dieses tragische Ereignis wundern.“ Es fällt mir schwer, Athenas Stimme auszumachen, aber sie muss nah genug sein, dass ich sie durch Louis´ Mikrofon hören kann. Ich schließe die Augen, versuche, mich zu konzentrieren. „Was ist euer Ziel?“, frage ich und lausche Louis´ Wiederholdung, während ich weiterspreche. „Es geht euch doch nicht nur um das Geld und die Pokémon, oder? Die könnt ihr auch woanders bekommen. Das war den Aufwand nicht wert.“ „Du bist klüger, als du aussiehst“, stimmt Athena gelassen zu. „Hast du dir schon einmal die Gästeliste dieser Kreuzfahrt angesehen, hm? Hochrangige Geschäftsleute, Multimilliardäre, politische und wirtschaftliche Größen. Sobald sie unseren Forderungen nachgegangen sind, erwartet sie ein Gratisurlaub in der Tiefsee. Einwegtickets, versteht sich.“ „Ist deine Schwester deshalb noch nicht auf dem Deck aufgetaucht? Weil sie die Pokébälle einsammelt? Wirst du sie auch in die Luft sprengen?“ „Minerva wird vorher natürlich das Schiff verlassen. Sie war eine ganz entzückende Hilfe, auch wenn es eine Weile gedauert hat, ihre moralischen Zweifel aus dem Weg zu räumen. Aber wenn unsere Mitglieder erst einmal in die freigewordenen Positionen geschleust wurden, erwartet auch sie eine hübsche Belohnung. Ich kenne meine Schwester. Sie kann diesen Gelegenheiten nur schwerlich widerstehen.“ „Also sprengt ihr die M.S. Love so oder so in die Luft“, sage ich wütend und vergesse dabei glatt, dass ich nicht persönlich mit Athena rede. „Ihr spielt mit den Ängsten und Leben ganzer Länder und jetzt wollt ihr auch noch in die Politik einsteigen, um euer krankes Treiben fortzusetzen? Das lassen wir nicht zu, Athena. Niemals.“ Louis schmettert meine Worte Athena entgegen, die herzlich lacht, doch ich bin schon damit beschäftigt, auf Louis einzureden. „Chris, flieg zum Schiff“, befiehlt er, als ich geendet habe. „Wir schalten die Pokémon aus. LOS!“ Das Windrauschen nimmt abrupt zu, als Ho-Ohs Flügelschläge kräftiger werden und er sich mit der Geschwindigkeit eines wahren Legendären durch die Lüfte katapultiert. „Ethan, heb mich hoch“, sage ich und klettere weiter auf seinen Kopf, wo ich mich mit den Füßen zwischen seinen abstehenden Schuppen festhake. Die Seeschlange reckt sich aus den aufbrausenden Wellen, der Schädel bedrohlich schwankend. Blitze zerteilen den schwarzen Himmel in tausend Splitter und krachen nicht allzu weit von Athenas Golgantes in die Wogen, das überrascht ausweichen und seine Verfolgung von Ho-Oh unterbrechen muss. „LOUIS!“, schreie ich über die neuen Hintergrundgeräusche hinweg. „HOL MICH AUF´S SCHIFF!“ Ho-Oh ist noch nicht richtig gelandet, da materialisiert sich schon Louis´ Sarzenia Harley und reckt mir seine Ranken entgegen, die mich um die Taille packen und von Garados Nacken reißen. Einen Moment sieht es so aus, als würde ihre Kraft nicht ausreichen und mich geradewegs in die Reling krachen lassen, doch in einer letzten Kraftanstrengung zerrt Harley die Ranken empor und lässt mich haarscharf über das Geländer schrammen. Mit wackligen Knien komme ich zum Stillstand, stolpere und lande geradewegs in Louis´ Armen, der von Ho-Oh gesprungen und auf mich zugesprintet ist. Tränenspuren auf seinen Wangen glänzen im gelegentlichen Schein der Blitze, doch seine Augen sprühen vor neu entfachtem Elan. „Der zeigen wir´s“, knurrt er. Ich nicke grimmig, schiebe ihn von mir und torkele in Richtung Chris. „Worauf wartest du noch?“, frage ich zornig. „Du musst die Pokémon finden und ausschalten, bevor sie explodieren können. Wenn der Plan gefährdet wird, ist es Athena doch egal, ob Minerva noch da unten ist oder nicht!“ Chris Blick huscht zu Golgantes, das einem weiteren Blitz ausweicht und sich wieder in unsere Richtung aufmacht. Athena scheint lautstark auf jemanden einzureden. Wahrscheinlich steht sie in Kontakt zu ihrer Schwester. „Ihr könnt nicht gegen sie gewinnen“, sagt sie bestimmt. „Ich muss-“ „Was wir nicht können, ist Pokémon auf Level 50 mit einer einzigen Attacke ausschalten!“, fauche ich sie an. „Geh runter, bevor es zu spät ist!“ Chris zögert nur noch eine Sekunde, dann springt sie von Ho-Ohs Rücken, wirft mir einen ihrer Pokébälle zu und sprintet zu einer Tür, die ins Innere des Schiffes führt. Ich fange den Ball mit beiden Händen und starre ihn an. Eins von Chris Pokémon als Verstärkung, sowie Ho-Oh, das bei Athenas Näherkommen bedrohlich die Flügel spreizt. Vielleicht können wir die Nacht tatsächlich überleben. „Bereit?“, frage ich an Louis gewandt. Er nickt. Seine Augen glühen. „Wir müssen zusammenarbeiten“, fahre ich fort, während Athena und Golgantes immer näher kommen. „Athena darf auf keinen Fall gewinnen. Wenn wir verlieren, war´s das für Kanto und Johto.“ Von unten kann ich die ersten Schreie hören, gefolgt von lautem Rumpeln und einem Beben. Chris muss auf Widerstand gestoßen sein. „Wir schaffen das“, sagt Louis und drückt kurz meine Hand, während ein weiterer Blitz den Himmel entzwei teilt. „Und Abby?“ „Hm?“, frage ich und greife nach Skus und Gotts Bällen. „Ich liebe dich.“ Kurz erstarre ich. Dann breitet sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus, so breit, das meine Wangen schmerzen. Mein Herz pocht stärker als die gesamte Nacht, als ich den Kopf in seine Richtung drehe und ihm in die Augen sehe. Einige Meter entfernt landet Athena mit Golgantes und greift nach ihren Pokébällen. „Ich dich auch.“ Kapitel 124: Duell der Entscheidung (Ruths Widerstand) ------------------------------------------------------ "Du willst einfach nicht sterben, nicht wahr?" Athena lächelt, aber es erreicht nicht ihre Augen, als sie langsam auf uns zukommt. Aus der Nähe kann ich endlich das kleine Head-Set ausmachen, das an ihrem Ohr befestigt ist. Golgantes, das neben ihr landet, rollt die Schultergelenke, als bereite es sich auf einen Faustkampf vor. "Ich kann mir Lustigeres vorstellen", gestehe ich. Louis macht einen Schritt nach vorne und streckt schützend einen Arm vor mir aus. "Du wirst ihr nicht nochmal wehtun", sagt er, seine Stimme bebend mit unterdrückter Wut. Ich habe nur flüchtig mit ihm über unsere letzte Begegnung mit Athena und Craig gesprochen, aber dass er damals fast sofort ausgeknockt wurde, hat ihn ziemlich mitgenommen. "Und wir werden uns nicht raushalten, falls du das vorschlagen willst", fährt er fort. Athena lacht. "Oh, keine Sorge." Das Trappeln von Füßen schwillt an und plötzlich finden Louis und ich uns umringt von zwei Dutzend Rockets, die ihre kläglichen Versuche aufgegeben haben, das Schiff durch Raikous Sturm zu lenken und nun mit funkelnden Augen ihre Pokébälle zücken. "Dafür ist es ohnehin zu spät." Golgantes holt mit dem rechten Arm aus und schlägt so hart gegen die Luft, dass diese in sichtbaren Wellen von seiner Hand abgeht, gefolgt von einer schwarzvioletten Faust, die auf uns zurast. Ich werfe mich zur Seite und reiße Louis mit mir zu Boden, aus der Flugbahn der Finsterfaust, die uns sonst vom Schiff gerissen hätte. Stattdessen rauscht sie über uns hinweg und verflüchtigt sich in der Nacht. Als wäre der Angriff des Golems ein geheimes Zeichen, füllen Sekunden später rote Lichtblitze, Schreie und Kommandorufe die Luft. Ich ignoriere meine aufgeschürften Knie und Ellenbogen, rappele mich hastig auf und ziehe Louis mit mir auf die Füße. "Wir müssen ihre Kommunikation abschneiden", befehle ich halblaut. Louis wirft mir einen schnellen Blick zu, nickt und wendet sich an Harley. Währenddessen erwidere ich die Pokémonflut, die nun auf uns zukommt, mit meiner eigenen. Gott, Jayjay und Sku materialisieren sich vor mir und aus dem Meer ertönen, unaufgefordert, Priss´ gurgelnde Jubellaute, die ich mit ihrer Rechten Hand in Verbindung bringe. Gotts Knurren verwandelt sich rasch in ein ausgewachsenes Brüllen, als ein Rattikarl und zwei Hundemon auf uns zurasen, doch bevor er zu einem Flammenwurf ansetzen kann, rauscht eine golden leuchtende Silhouette auf die drei Pokémon herab, schlägt mit den gewaltigen bunten Schwingen und entfacht eine blau lodernde Feuerwand, vor der die drei schlitternd zum Halt kommen. Funken stieben in alle Richtungen und im nächsten Moment fängt das Rattikarl quietschend Feuer. "Ho-Oh, halt uns die Rockets vom Leib!", rufe ich dem Legendären zu, das einen Augenblick lang verwundert zu mir zurückschaut, als wäre es nicht ganz sicher, ob ich gerade tatsächlich in die Rolle seines Trainers geschlüpft bin. "Bitte", füge ich hastig hinzu. Ho-Oh schüttelt sich in einer amüsierten Geste und fliegt vor, um die Gegner abzufangen, die einer nach dem anderen hinter Athena auftauchen und ihre Pokémon in unsere Richtung hetzen. Fehlen nur noch die Rockets, die sich seitlich angeschlichen haben. Auf Chris vertrauend aktiviere ich den Pokéball, den sie mir zugeworfen hat, während Harley gleichzeitig tanzend einer weiteren Finsterfaust ausweicht und die Ranken an Athenas Gesicht vorbeischnellen lässt. Ruths Tante faucht, als die grünen Lianen ihr das Head-Set aus dem Ohr reißen und auf dem Deck zerschmettern. Noch während ich Chris´ Pikachu anfeuere, das sich mit einem gewaltigen Satz vom Boden abdrückt und inmitten eines Donnerblitzgewitters ins Getümmel stürzt, schnalzt sie mit der Zunge. Golgantes hechtet an seiner Trainerin vorbei und greift Harleys Ranken aus der Luft, bevor sie diese zurückziehen kann. Louis schreit und macht Anstalten, sein Sarzenia zurückzurufen, doch der Golem holt mit der freien Hand weit aus, zurrt Harley an ihren Ranken in seine Richtung und schlägt sie mit seinem Hammerarm aus der Luft. Sie bleibt reglos am Boden liegen. Louis ruft sie wortlos zurück, Lippen bebend. Er schaut zu mir. Ich gebe mir eine Sekunde, um mich zu beruhigen und atme einmal tief durch. Wir kämpfen gemeinsam, aber ich bin diejenige mit der Strategieerfahrung, diejenige, die wochenlang auf dem Silberberg trainiert und Athenas Kampfstil über Tage hinweg analysiert hat. Louis vertraut mir, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich werde ihn nicht enttäuschen. Gleißendes Sonnenlicht blendet mich, als Ho-Oh über seinen Gegnern emporsteigt, die Schwingen ausbreitet und einen Sonnentag heraufbeschwört, der die Nacht in die hintersten Winkel des Schiffs vertreibt. Gleichzeitig materialisiert sich Athenas Team vor ihr. Kleoparda sträubt keifend das gelbgemusterte Fell, ein Giflor atmet grüne Sporen aus, während es schwerfällig von Seite zu Seite wiegt und ihr Guardevoir, in Eleganz auf einer Stufe mit Athena, schwebt eine Handbreit über dem Deck, ohne den Blick von mir zu nehmen, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Mir entgeht nicht, dass ein Pokéball noch unbenutzt an ihrer Hüfte hängt. Meine Notizen klingen in meinem Hinterkopf nach, während ich mit meinen Befehlen die von Athena übertöne. "Gott, nimm dir das Giflor vor, der Sonnentag sollte dich durchbringen, lass dich nur nicht von dem Schlafpuder erwischen.“ Kleoparda, schmal, schlank, guter Geruchssinn, gebaut für Agilität und Initiative. „Jayjay, Donnerwelle auf Kleoparda, Louis, ich brauche Hariyama! Und schick Sku Hilfe für Guardevoir, Georok, Girafarig, wen immer du entbehren kannst!" Athena, die eindeutig nicht vorhat, ihren Vorteil durch eine Aufteilung der Kämpfe zu verlieren, dirigiert ihre Pokémon bereits in einer gemeinsamen Attacke, allen voran der Golem. Golgantes, größer als gewöhnlich, physischer Angreifer, Freude an der Jagd… Ich schiele hinter mich zu Priss und Ethan. Zeit für ein bisschen Kombinatorik. Als hätte Louis meine Gedanken gelesen, weiten sich plötzlich seine Augen in Verständnis. "Ethan, Surfer auf das Schiff!", donnert er, während ich Priss gleichzeitig einen Aurorastrahl befehle. Golgantes kommt in weiten Schritten auf uns zugerannt, macht jedoch abrupt Halt, als ihm ein gewaltiger Schwall Meerwasser entgegenflutet und das Deck unter Wasser setzt. Priss´ Strahl aus buntem Eis trifft nur einen Sekundenbruchteil später auf das feuchte Holz und plötzlich findet sich der Bodenriese auf einem glattgefrorenen Eisteppich wieder. Ein vorsichtiger Schritt lässt den Golem ausrutschen und mit einem lauten Krachen aufs Deck stürzen. Ich kann unseren Sieg nicht lange genießen, denn Athena hat bereits ihr ungläubiges Zischen unterbrochen und ergreift nun die Offensive. "Flieg, wenn du dich nicht bewegen kannst!", faucht sie, dicht gefolgt von einer Befehlskaskade für den Rest ihres Teams. "Kleoparda, Ränkeschmied, dann Tiefschlag auf das Zebritz, Guardevoir, Gedankengut und Psychokinese, halt dir alle Gegner fern, Giflor, benutz Egelsamen und Mondschein, wenn du das Tornupto nicht einschläfern kannst und attackier die Wasserpokémon mit deinem Gigasauger, na los!" "Hariyama, Louis!" "Sofort!" Ich ducke mich aus dem Weg, als Ethan eine weitere Surferattacke auf alle Beteiligten loslässt und bin heilfroh, dass er Gott dabei außen vor lässt. Rotes Licht explodiert neben mir und ich reiße den Kopf zu den drei Pokémon herum, die Louis gerufen hat. Hariyama klatscht begeistert in die Hände, Georok stützt sich auf zwei seiner wulstigen Steinarme und Girafarig tänzelt nervös umher. "Bauchtrommel, Klaus", befehle ich und atme erleichtert aus, als Hariyama mich als den Geber seines geliebten Spitznamens erkennt und ohne Zögern reagiert. Mit seinen tellergrößen Händen schlägt es sich rhythmisch auf den Bauch, bis eine rote Aura um das Kampfpokémon herum in die Höhe steigt. Girafarig trabt zu Sku, die fauchend und Toxin spuckend durch die gegnerischen Reihen flitzt und es sogar schafft, Kleoparda einen schrillen Kreideschrei zu verpassen, der alle Beteiligten zusammenzucken lässt, bevor die Raubkatze mit einem gewaltigen Schlitzer nach ihr ausholt und sich dann wieder keifend Jayjay zuwendet, der auf die Hinterbeine steigt, losgaloppiert und sein Glück mit einer Donnerwelle versucht. Die Katze wirft sich zur Seite und entgeht der Statusattacke um Haaresbreite. So aus dem Gleichgewicht gebracht merkt sie jedoch nicht, dass Georok in Ermangelung eines Steins für seinen Felswurf kurzerhand Schwung genommen hat und sie nun von hinten umwalzt. Eis zersplittert knackend unter seinem Gewicht und spritzt in alle Richtungen davon. Die Attacke selbst hat nur wenig Effekt, aber Georok setzt bereits zu einer weiteren Runde an, während Kleoparda frustriert herumfährt und mit tödlich ausgestreckten Pranken auf ihren nächstbesten Gegner zuspringt – Klaus. Ich befinde den Moment für ideal, um meine Strategie aufgehen zu lassen. "Donnerwelle und Riechsalz auf Kleoparda, jetzt!", befehle ich lautstark. Aus den Augenwinkeln kann ich wahrnehmen, wie Louis´ Girafarig ihren Krafttausch auf Guardevoir befiehlt und dem Psychopokémon so sein Gedankengut streitig macht. Stolz schwillt in meiner Brust an, doch ich habe keine Zeit, ihm irgendetwas zuzurufen. Jayjays Donnerwelle trifft Kleoparda im selben Moment, da Klaus das Riechsalz aus den Tiefen seiner bauschigen Hose schüttelt und Kleoparda ins Gesicht schleudert. Die Leopardin kreischt verzweifelt, als ihre empfindliche Nase plötzlich von dem durchdringenden Riechsalzgeruch durchzogen wird. Selbst mir brennen die Schleimhäute, und ich stehe gute fünf Meter entfernt. Winselnd kommt Kleoparda zum Straucheln, rutscht auf dem vereisten Deck aus und stürzt unsanft, überschlägt sich mehrmals. Ich halte den Atem an, während sie zuckend liegen bleibt, zumindest einige Sekunden, bevor das Riechsalz die Wirkung der Paralyse aufhebt. Ohne auf mein Kommando zu warten, packt Hariyama die Katze und schmettert sie mit einem gekonnten Überwurf aufs Eis. Winselnd bleibt sie liegen. Athena gibt herrische Kommandos, aber ich höre ihr nicht zu, lausche nur meiner eigenen Stimme, als ich Jayjay und Klaus befehle, das Manöver zu wiederholen und gleichzeitig versuche, Sku und Georok zu dirigieren, die sich gemeinsam mit Girafarig auf Guardevoir gestürzt haben. Das Psychopokémon schwebt ausweichend von Seite zu Seite und macht wie nebenbei Gotts Bemühungen mit einer Heilwoge auf Giflor ungeschehen. Ich schaffe es nicht, verzweifelt zu werden, zu aufgeregt bin ich, zu sehr hämmert mein Herz von innen gegen meine Rippen. Kleopardas geschwächte Verteidigung durch Skus Kreideschrei, der doppelte Effekt des Riechsalzs wegen der Paralyse, die Effektivität des Überwurfs und natürlich Hariyamas Bauchtrommel, die zwar ein gutes Stück seiner Energie gefordert, dafür aber seinen Angriff maximiert hat, müssen Athenas Lieblingspokémon zugesetzt haben. Zum ersten Mal seit Beginn des Kampfes habe ich das Gefühl, tatsächlich gewinnen zu können. Ich schaue blitzschnell zu Louis, mein Mund zu einem grimmigen Lächeln verzogen, während ich dabei zusehe, wie er versucht, Garados´ Biss auf Guardevoir umzulenken, sodass die Seeschlange nicht versehentlich Sku beißt, die flink wie ein Blitz um das Psychopokémon huscht und ihr Toxin auf die feenhafte Gestalt herabregnen lässt. Er schaut zu mir, erwidert mein Lächeln.  Da donnert Golgantes mit seiner Fliegenattacke herab und trifft Klaus in den Bauch. "NEIN!", schreien Louis und ich wie aus einem Mund, aber es ist zu spät. Hariyama wird von der Wucht der Attacke von den Füßen gerissen, fliegt mehrere Meter durch die Luft und kracht mit einem widerlichen Geräusch gegen die Wand der Aufbauten. Röchelnd schlittert es herab und bleibt schließlich besiegt liegen. Gleichzeitig reißt Guardevoir sich von den vier Angreifern los, gerade lang genug, um eine weitere Heilwoge heraufzubeschwören, die das geschwächte Kleoparda zurück auf die Pfoten hebt. Die Raubkatze faucht rachsüchtig. Golgantes landet neben ihr und erwartet mit blitzenden Glyphen Athenas nächste Befehle. Ich darf nicht den Überblick verlieren, denke ich panisch und zwinge mich, alle Kämpfe gleichzeitig wahrzunehmen. Es reicht nicht, wenn ich alle Pokémon in Duelle unterteile, solange Athena Möglichkeiten findet, andere Kampfkombinationen auszunutzen, die vorteilhafter für sie sind. Alle Müdigkeit verfliegt. Ich reiße die Augen auf, sehe das Kampffeld zum ersten Mal richtig. Kleoparda ist noch immer geschwächt, genau wie Golgantes. Sarzenia und Hariyama sind besiegt und während ich noch versuche, den Überblick zurückzugewinnen, hebt Guardevoirs Psychokinese Georok empor, das gerade mit seiner Walzerattacke weiterwüten wollte und lenkt das Gesteinspokémon in Gina hinein, die von der Attacke umgeworfen wird. Sie hat gerade noch genug Kraft, einen Psystrahl auf Guardevoir abzuschießen, der zwar trifft, aber fast keinen Effekt hat. Ihr Kopf sackt schwer und leblos zu Boden, ihre Augen sind geschlossen. Hinter mir brüllt Garados und überschwemmt das Deck ohne Rücksicht auf Verluste mit einem weiteren Surfer – einer Welle, die Priss reitet, als hätte sie nie etwas anderes getan. Hinter ihr steigt, zu meiner größten Verblüffung, eine weitere Welle empor, die sie geschickt lenkt und auf Golgantes und Kleoparda zudonnern lässt. Golgantes überkreuzt die Arme, stellt sich schützend vor Kleoparda, die sich noch nicht ganz von den Angriffen erholt hat und scheint bereit, gegen die Surfer-Lehmbrühen-Kombination auszuharren. Stattdessen treffen zwei Attacken gleichzeitig, noch bevor das Wasser über ihnen zusammenbricht. Priss schafft es irgendwie, einen Aurorastrahl abzufeuern, der Golgantes mit den Füßen auf dem Deck festfriert. Im gleichen Moment reißt Gott sich aus seinem Duell mit Giflor los, das ohne Guardevoirs Heilwoge letztlich nicht gegen seinen durch Sonnentag gestärkten Flammenwurf angekommen ist und speit eben diesen auf den Golem, der überrumpelt zurückweichen will. Wären da nicht seine festgefrorenen Füße. Die Zeit scheint still zu stehen. Ich schaue gebannt dabei zu, wie Golgantes Gewicht sich nach hinten verlagert, die Feuersbrunst aus Gotts Rachen ihn weiter zurückdrängt, weiter, bis er das Gleichgewicht verliert und nach hinten fällt, genau im selben Moment, da die beiden Wellen über ihm zusammenkrachen. Kleoparda springt zur Seite, versucht sich zu retten, doch die Ausläufer des Surfers erwischen sie, durchnässen sie, bis sie trieft und sich zornig schüttelt. Jayjays Ladevorgang samt Funkensprung trifft, noch während ich den Befehl gebe. Die Elektrizität leitet sich durch das Wasser, und auch wenn Golgantes als Bodentyp gegen die Attacke immun ist, so gilt dies nicht für Kleoparda. Sie wird durchgeschüttelt, kreischt und geht ein weiteres Mal zuckend zu Boden. Gott schnaubt zufrieden, Funken stieben aus seinen Nüstern und sein Nackenfeuer lodert bedrohlich auf. Egelsamenreste bedecken seinen gesamten Körper, doch sie glühen rot auf und fallen als Asche zu Boden. Plötzlich ist es ganz still. Außer dem Schwappen der Wellen, dem schweren Atem aller Beteiligten und den entfernten Blitzen ist nichts zu hören. Fast zaghaft drehe ich mich um. Ho-Oh schwebt mit weit ausgebreiteten Flügeln über Athena, Pikachu auf seinem Rücken. Die Rockets, gegen die sie eben noch gekämpft haben, liegen inmitten ihrer besiegten Pokémon am Boden, die meisten von ihnen paralysiert oder ohnmächtig. Golgantes rührt sich nicht. Kleoparda macht Anstalten, sich zu erheben, aber Gott holt tief Luft und badet sie in einem Meer aus Flammen, so heiß, dass sie fast blau glühen. Besiegt bleibt die Raubkatze liegen. Guardevoir weicht—langsam schwebend—zu seiner Trainerin zurück. Sku, Georok und Priss folgen bedrohlich, sie knurrend, er mit kaum unterdrücktem Rachedurst. Ethans tiefes Brüllen hallt über dem Schiff wieder. Mein Blick gleitet über Athena. Ihr feuerrotes Haar hängt strähnig in ihr verschwitztes Gesicht, der Zopf hat sich aufgelöst. Sie ist kreidebleich. „Unmöglich“, sagt sie und starrt mich an, als würde sie mich das erste Mal richtig wahrnehmen. „Das ist unmöglich… du kannst nicht–“ „Du hast verloren“, zische ich. Meine Beine zittern, aber Louis ist sofort zur Stelle und zieht meinen Arm über seine Schulter, um mich zu stützen. Düstere Freude leuchtet aus seinen Augen. Ich weiß noch nicht genau, wie wir es geschafft haben, aber wir haben gewonnen. „Oh nein. Nein, das habe ich nicht.“ Athenas Augen huschen zu der Tür, durch die Chris vor Beginn unseres Kampfes geflohen ist. Jetzt, da die Luft nicht mehr von wildem Fauchen und Kreischen erfüllt ist, kann ich von unten das Rumpeln und weitere Schreie vernehmen. „Es ist noch nicht vorbei“, fährt Athena fort. Guardevoir schwebt an ihrer Seite. „Du magst mich geschlagen haben, aber Team Rocket wird nicht aufgeben. Atlas wird sich rächen, er wird sich deiner persönlich annehmen, Abby, wenn das hier vorbei ist. Du wirst niemals mehr sicher sein, egal wohin du fliehst. Team Rocket wird nicht untergehen. Nicht noch einmal.“ „Dark kämpft gerade gegen ihn“, sage ich, obwohl ich seit Beginn des Kampfes nicht mehr das Head-Set benutzt habe und keine Ahnung habe, wie weit die Infiltration inzwischen fortgeschritten ist. „Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass der Junge, den du aufgezogen hast, euch zerstören wird?“ Athenas Lächeln verbittert sich, doch sie hat sich schnell wieder unter Kontrolle. Das Rumpeln unter uns wird lauter. „Er ist weit gekommen“, sagt sie leise. Ich bin unsicher, ob ihre Worte für mich bestimmt waren oder nicht, aber ich lasse mich nicht aus dem Konzept bringen. „Dark ist auf unserer Seite. Er und Gold werden euer Hauptquartier dem Erdboden gleich machen. Ihr werdet nie wieder jemandem wehtun, wenn wir mit euch fertig sind.“ Dieses Mal lacht sie schallend, krümmt sich vor, eine Hand um den Bauch geschlungen und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Du bist noch jung, Abbygail“, sagt sie und nimmt mich in Augenschein. „Naiv. Trotz allem, was dir geschehen ist. Eigentlich sollte ich beeindruckt sein, aber in einer Anführerin ist Naivität fehl am Platz. Ich bemitleide deine Freunde, die sich auf dich verlassen müssen.“ Louis macht einen bedrohlichen Schritt nach vorne, genau wie Sku und Gott, die beide gleichzeitig zu knurren beginnen. Ich unterdrücke das Bedürfnis, mich klein zu machen, ihre Worte gegen meine eigenen Selbstzweifel abzugleichen. Dafür ist später noch Zeit. „Abby ist das Beste, was den Regionen passieren konnte!“, faucht Louis. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist furchteinflößend – es hätte mich nicht gewundert, wenn sein blonder Haarschopf sich wie bei einem wilden Pokémon aufstellen würde. „Es ist egal, was du denkst“, sage ich ruhig, gerade laut genug, dass Athena mich problemlos verstehen kann. „Es ist aus, Athena. Stell dich, dann werden wir dir nicht wehtun müssen.“ Gott grollt zustimmend. „Oh, aber ich sagte doch bereits“, beginnt Athena und schielt wieder zu der Tür. „Ich habe noch nicht verloren.“ Guardevoir strafft sich, Sku macht einen bedrohlichen Schritt vor, Louis pfeift Garados zu sich. Ich fixiere Athena, öffne meinen Mund. Die Tür springt auf und heraus kommt, schwer atmend und mit rot geränderten Augen, Ruth. Nur dass sie nicht alleine ist. Ihre Mutter, Minerva, hält sie am Handgelenk fest, schleift sie förmlich hinter sich her. Ruth kreischt und tobt, wehrt sich wie eine Besessene gegen ihre Mutter. Dann sieht sie mich. Unsere Blicke treffen aufeinander, einige Sekunden, in denen wir zu einem stummen Einverständnis kommen. Jede Art von Zweifel, die ich hatte, verraucht. Es ist wie immer, nichts hat sich geändert. Waffenstillstand, bis der gemeinsame Feind geschlagen ist. Athena streckt ihre Hand nach Minerva aus, die weiterhin mit Ruth rangelt und sie mit sich zerrt. Mein Blick gleitet von Athena zu Guardevoir, das neben seiner Trainerin schwebt, angespannt, so als warte es auf etwas. Warum hat sie nicht weiter mit ihm gekämpft? Und wie hatte Athena vor, nach der Explosion auf dem Schiff mit Minerva und Ruth zu fliehen? Die Antwort trifft mich wie ein Schlag. „SKU, NACHTHIEB!“, schreie ich, während Athenas Hand blitzschnell an ihren Pokégürtel schnellt und den letzten, unbenutzten Pokéball packt. Gleichzeit packt sie Minervas Hand. „Telepor-“ Ruth reißt sich mit einem Verzweiflungsschrei los und springt Athena an, die so verdutzt ist, dass sie zurückstolpert und Minerva, die immer noch an ihrer Hand ist, mit sich zu Boden reißt. Guardevoir schießt zu ihnen, streckt einen schmalen weißen Arm aus, flimmert… und wird von Skus Nachthieb in den Rücken getroffen, dicht gefolgt von einer Feuersbrunst, wie Gott sie nur sehr geschwächt zustande bringt. Die Flammen umhüllen Guardevoir in gleißendem orange und blau und entlocken ihm einen heiseren Schrei. Louis fackelt nicht lange und bevor das Psychopokémon sich fangen kann, ist Ethan schon aus den Tiefen des Meeres aufgetaucht, bäumt sich über die Reling der M.S. Love und umschließt Guardevoir mit seinen massigen Kiefern. Die Bissattacke hält es fest und gibt Sku die Möglichkeit, mit einer Kombination aus Kreideschrei und Nachthieb nachzulegen. Gotts Sternschauer schießt durch die Luft wie ein Kometenschauer und durchbricht die letzte Verteidigung. Guardevoir streckt eine Hand nach Athena aus, aber die ist zu weit weg, blickt geschockt auf ihr Pokémon, dessen Augen glasig werden, bevor es schlaff in Ethans Biss zusammensackt und zu Boden gleitet, als er die Kiefer weitet. Minerva schlägt kreischend auf Ruth ein, die ihre Handgelenke packt und sich so gut es geht wehrt. Athena starrt einfach nur ihr Pokémon an. Schließlich, Sekunden später, hebt sie den Kopf und unsere Blicke treffen sich. Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Ihre Augen sind hasserfüllt, so voller Verachtung und Ungläubigkeit, dass mir halb schlecht wird. Erst in diesem Moment verstehe, was ich getan habe. Athenas Loyalität für Team Rocket hat sie dazu veranlasst, ihr gesamtes Leben auf die Verbrecherorganisation auszurichten. Sie hat fünf Jahre damit verbracht, ihr geliebtes Syndikat zurück an die Macht zu bringen, hat Dark an mich verloren, der für sie wie ein Sohn gewesen sein muss. Und nun habe ich ihr ihren Stolz genommen, all ihre Pläne durchkreuzt. Ihr Lebenswerk zerstört. Das Gesicht des Polizisten, der blutig und tot irgendwo auf der Lichtung vor Azalea City im Gras liegt, blitzt vor meinem geistigen Auge auf und vertreibt jegliches Mitgefühl, das ich hatte. Athena hat mich entführt, meine Pokémon ins Krankenhaus befördert, mich und meine Freunde fast getötet, mich verhöhnt und unterschätzt. Entschlossenheit wie Stahl macht sich in mir breit. Sie hat nichts anderes verdient. In bin kaum zu dem Entschluss gekommen, da poltert jemand die Treppe empor. Im nächsten Moment steht Chris in der Tür zum Deck, schweißgebadet und mit elektrisiertem Haar. Gewaldro und Knakrack flankieren sie. Rotes Licht erhellt die Nacht und ich reiße den Kopf herum, zurück zu Athena, die endlich den letzten Pokéball aktiviert hat. In unserer Mitte schwebt ein Sonnfel, leuchtend und mit traurigem Ausdruck im Gesicht. Ich schaue zu Athena. Sie schaut zurück und mir wird klar, dass sie nichts mehr zu verlieren hat. Ihre Stimme ist ruhig, als sie das Kommando gibt. „Explosion.“ Kapitel 125: Zeit für Legenden (Der Wert eines Lächelns) -------------------------------------------------------- Sonnfel benötigt etwa zwei Sekunden, um sich mit Energie aufzuladen, zwei Sekunden, ohne die wir vermutlich alle auf der Stelle gestorben wären. Ich habe keine Zeit zu denken, reagiere nur automatisch. Gott und die anderen sind zurückgerufen, bevor ich überhaupt richtig begriffen habe, was gleich geschehen wird. Louis´ Pokémon geht es genauso, lediglich Garados taucht im Meer unter, bevor es im Pokéball verschwinden kann. Ho-Oh schnellt vor und packt die erstbesten Personen mit seinen Krallen, die es erwischt – Ruth und Minerva. Ich verspüre einen kurzen Sekundenbruchteil an Erleichterung, dass zumindest sie heil davonkommen werden, bevor Sonnfel explodiert. Eine Woge aus Druck, Feuer, Holz- und Metallsplittern breitet sich rasend in unsere Richtung aus. Ein Schatten wirft sich vor uns. Louis reißt mich zu Boden, bleibt auf mir liegen, während um uns herum Chaos und Zerstörung wüten. Ein eindringliches Piepen füllt meine Ohren, blendet alle anderen Geräusche nach dem ersten Knall aus. Es dauert mehrere langgezogene Sekunden, bevor ich es wage, den Kopf unter meinen Armen hervorzuheben. Ich stutze. Warum bin ich nicht tot? Mein Blick folgt Louis, der sich langsam erhebt. Außer einer Schicht aus zerborstenem Holz und Staub, die uns beide bedeckt und Schürfwunden, wo wir über das Deck geschrammt sind, scheinen wir unversehrt. Da erinnere ich mich an den Schatten und sehe mich um. Chris´ Gewaldro steht mit überkreuzten Armen vor uns, sein Scanner noch immer aktiv. Im Licht der glühenden Holzplanken schimmert er als Kuppel, die uns vor dem schlimmsten Effekt der Selbstzerstörungsattacke geschützt hat. Tiefe Erleichterung überkommt mich. Es ist Louis, der mich mit einem Tippen auf die Schulter aus meiner Starre reißt. Seine Lippen bewegen sich, aber ich kann kaum etwas verstehen, so laut ist das Piepen. Als er mein Unverständnis bemerkt, spricht er langsamer, formt die Worte bewusster. „Wenn Gewaldro hier ist…“, übersetze ich seine Worte, als er langsam den Kopf Richtung Tür wendet, „…was ist dann mit Chris?“ „Oh scheiße“, flüstere ich und renne los. Die Tür ist aus der Verankerung gerissen und nach innen gedrückt worden. Als ich mich durch die Holzbretter und -splitter geschlagen habe, entdecke ich Knakrack, das besiegt am Boden liegt, die Arme noch verschränkt. Es muss seine Trainerin mit seinem Körper abgeschirmt haben. Chris liegt ein Stück weiter die Treppe runter. Mir steigt der Geschmack von Galle im Rachen auf, als ich sie entdecke. Aus ihrem Bauch ragt ein gewaltiger Metallsplitter und Blut sickert aus der Wunde, bildet eine kleine Lache unter ihr. Wie betäubt gehe ich neben ihr auf die Knie, tätschele ihre Wange. Ihre Augen bleiben geschlossen. Ich fühle ihren Puls, lausche auf einen Herzschlag. Ich kann nur an Jayden denken, dem ich sagen muss, dass seine beste Freundin, seine zweite Hälfte, tot ist. Tot, weil sie Louis und mich beschützt hat. Tränen steigen in meinen Augen auf, aber ich halte sie zurück, taste nur konzentriert nach dem Puls. Einige Sekunden lang schwebe ich im Nichts. Dann… Da. Schwach, aber vorhanden. Ich spüre die Tränen, die nun doch über meine Wangen sickern, dieses Mal aus Erleichterung. Neben mir taucht Louis auf. „Ist sie… ich meine…“ Seine Stimme dringt nur spärlich zu mir durch, aber zumindest kann ich ihn jetzt verstehen. Ich schüttele den Kopf. „Sie lebt. Aber sie muss sofort in ein Krankenhaus. Ihre Wunde sieht nicht gut aus und sie verliert Blut.“ Louis´ Gesicht wird aschfahl. „Abby, das nächste Krankenhaus ist in Dukatia City. Es dauert fast zwei Stunden, bis wir dort sind.“ Sein Blick gleitet über Chris. „Das schafft sie nie.“ Ich schließe die Augen. „Sie muss“, sage ich steif und stehe auf. „Aber du hast Recht, Dukatia ist zu weit entfernt.“ Ich beiße mir auf die Lippen, fahre mir mit der Hand durchs Haar. Plötzlich fällt mein Blick auf die Brandnarbe an meiner Handinnenseite, die ich mir an Gotts Schuppen geholt habe. „Percy“, flüstere ich und drehe mich abrupt zu Louis um. „Sein Corasonn kann Heilattacken und er hat Zugang zu der Apotheke seiner Eltern. Anemonia City liegt näher, oder?“ Louis nickt, seine Augen blitzen. „Es wird immer noch über eine Stunde dauern, aber es geht definitiv schneller.“ „Gut.“ Entschlossen rufe ich Gott, der sich neben uns auf der Treppe materialisiert und die Situation mit einem einzigen Blick versteht. Er beugt sich vor und hebt Chris behutsam auf. „Wir müssen Ho-Oh klar machen, er fliegt die Strecke sicher in unter einer Stunde, wenn er sich beeilt. Los jetzt!“ Ich rufe Knakrack zurück, dann laufen wir Gott hinterher, der Chris bereits hinaus aufs Deck getragen hat, zumindest auf den Teil, der noch begehbar ist. Die Explosion hat ein riesiges Loch in den Boden gerissen, das nun den Blick auf die Räume unter uns freigibt. Das Holz am Rand ist verkohlt und brüchig und Asche, Staub und Splitter verschiedener Materialien liegen überall verstreut. Ho-Oh ist bereits gelandet und hat Ruth und Minerva abgesetzt. Ruth steht wie benommen neben der Reling und scheint nicht zu wissen, was gerade geschehen ist oder was sie tun soll. Minerva kniet etwas abseits neben einem Schutthaufen aus Dielen und Schiffsutensilien und wühlt verzweifelt darin. Ich ignoriere sie vorerst und helfe Gott und Gewaldro dabei, Chris auf Ho-Ohs Rücken zu hieven. Nachdem das erledigt ist und ich nach etwas Suchen auch Gewaldros Pokéball gefunden habe, wende ich mich Louis zu. „Du musst mit ihr mitfliegen“, sage ich eindringlich und greife seine Hand. „Percy kennt dich und sie braucht jemanden, der bei ihr ist.“ „Und du?“ „Ich kümmere mich um den Rest hier“, sage ich entschieden und schiele dabei zu Ruth, die nun doch einen vorsichtigen Schritt in Richtung ihrer Mutter gemacht hat. Die hat inzwischen wimmernd die Arme um sich selbst geschlungen. Louis sieht so aus, als wolle er wiedersprechen, aber letztlich nickt er nur knapp, küsst mich auf den Mund und schwingt sich hinter Chris auf den Rücken des Legendären. Er ruft Pikachu zurück und keine Sekunde später erhebt sich der Phönix sanft in die Lüfte und schießt davon Richtung Nordwesten, nach Anemonia City. Ich atme tief durch und gehe zu Ruth. Aus der Nähe sieht sie noch schlimmer aus. Schweiß pappt das kurze Haar an ihre Stirn, deren Haut neben dem feurigen Rot so grau wie Asche scheint. Tränenspuren bedecken ihr ganzes Gesicht und ihre Augen sind rot umrandet. Ohne zu wissen, was ich tue, breite ich die Arme aus und umarme sie. Ruth wird stocksteif, entspannt sich jedoch im nächsten Moment und krallt sich an meinen Rücken. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. „Ich dachte, meine Mutter bringt mich um, ich dachte nicht, dass sie jemals… wie konnte sie nur?“ Ich nuschele ein paar unverständliche Worte, die mir unter anderen Umständen zutiefst peinlich gewesen wären und streiche ihr über den Rücken. Ich habe keine Ahnung, was genau ich sagen soll. Ein Alles wird gut oder Jetzt ist es vorbei scheint mir genauso fehl am Platz wie ein Tut mir leid, dass deine Mutter sich als Verräterin herausgestellt hat und deine Tante euch alle in die Luft sprengen wollte. Minervas Schluchzen wird lauter und zieht uns in die Wirklichkeit zurück. Hastig löst Ruth sich von mir und bedenkt mich mit einem wütenden Blick, Schamesröte im Gesicht. Sie wischt mit den Ärmeln ihrer Bluse über ihre Augen und wendet sich ihrer Mutter zu. Ich folge ihrem Beispiel und schlucke, als mir bewusst wird, dass Athena nirgends zu sehen ist. Hat sie es doch geschafft, zu fliehen? Im selben Moment, da der Gedanke durch meinen Kopf schießt, verwerfe ich ihn wieder. Athenas Pokémon waren besiegt. Ho-Oh hat sie nicht tragen können. Wenn sie nicht in über die Reling ins Meer gesprungen ist, dann muss sie… Mein Blick gleitet über das Loch, das Sonnfell ins Deck gesprengt hat, zu dem Schutthaufen neben Minerva. Eine böse Vorahnung breitet sich in meiner Brust aus. Taub folge ich Ruth zu ihrer Mutter und gehe neben ihr in die Hocke. Minerva hat Athena an den Fußgelenken aus den Überresten der Explosion gezogen. Das rote Haar und Teile ihres schwarzen Hosenkleids sind angesengt, ihr Gesicht und die Hände weisen Brandblasen auf. Einige von ihnen sind aufgeplatzt. All das hätte ich ertragen. Nur nicht Athenas Augen, die offen und leblos in den Himmel starren. Sie ist tot. Ruth gibt ein würgendes Geräusch von sich, sprintet zur Reling und übergibt sich über den Rand ins Meer. Zitternd wende ich den Blick ab und schließe die Augen, atme mehrmals tief durch. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Was wird Dark sagen? Meine Eingeweide verschlingen sich, während ich an seine Worte in Caros Wohnung denke. Nicht darüber nachdenken. Nicht die Fassung verlieren. Neu entschlossen öffne ich die Augen und greife nach meinem Head-Set. Die Gefahr ist gebannt, Athena ist unschädlich gemacht und die MS. Love ist nicht explodiert. Ich muss Jayden über Chris´ Zustand informieren und mir einen Statusbericht von den anderen geben lassen. Seit ich von Louis aufs Schiff geholt worden bin, habe ich nichts mehr mitgehört. Meine Finger finden mit einigem Zittern den On-Schalter und aktivieren den Ton. Mir schlagen Chaos und Schreie entgegen. "NATHAN! NATHAN!" "Was ist passiert?" "Er wurde angeschossen. Nathan, sag was, bitte!" "Jemand schick bitte Verstärkung, wir sind eingekesselt–" "Flammenwurf, verdammt!" "Scheiße, scheiße, schei–" Ich taumele, so überraschend sind die verzweifelten Stimmen, die mir entgegen dringen. Irgendwie hatte ich erwartet, dass die anderen Kämpfe bereits abgeschlossen sind, dass Athena die letzte Bedrohung war, die es zu überwinden galt. Aus dem Tohuwabohu kann ich nur einige Shadows heraushören. Melissa, Ronya, Jayden, Amy. Nathan ist angeschossen. Dark scheint noch mit Atlas zu kämpfen. Vom Rest höre ich gar nichts. Die größte Bedrohung ist ausgeschaltet, aber das ist mir in Angesicht der Tatsache, dass all meine Freunde diese Nacht möglicherweise nicht überleben werden, herzlich egal. "Wo seid ihr?", frage ich schluckend. "Wie kann ich helfen?" "Abby? Gott sei Dank, dir geht es gut", erklingt Raphaels Stimme. Er klingt unendlich erschöpft und heiser. "Jayden ist hier, aber irgendjemand muss Verstärkung gerufen haben. Es kommen immer mehr und inzwischen haben sie das Pokécenter besetzt und wir haben keine kampffähigen Pokémon mehr. Wir verstecken uns derzeit noch im Wald, aber wir halten nicht mehr lange durch." "Zach hat Craig besiegt, aber einige andere haben uns von hinten mit ihren Käfern überrascht", flüstert Richy. Im Hintergrund kann ich Poltern und Klopfen vernehmen. "Wir haben uns im Untergrund verbarrikadiert, aber wir müssen warten, bis Caro von der anderen Seite angreift." "Wer noch?", frage ich matt. "Ryan ist noch dabei, Dark und Gold durch die Fallen im Hauptquartier zu lotsen", meldet sich Amy zu Wort. Ihr verspielter Tonfall ist im Laufe der Nacht verloren gegangen. "Ich halte alleine die Stellung, aber sie rennen uns bald das HQ ein." "Ich bin unterwegs zu ihr, aber ich brauche noch eine Weile", erklärt Ronya schnell. "Einer der Top Vier war in Marmoria und hat uns geholfen. Wir haben dort die Stellung gehalten, aber jetzt verfolgen sie mich. Ich werde sie einfach nicht los und ihr Level ist zu niedrig, um sie zu besiegen." "Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um auf deine Prinzipen wert zu legen!", fauche ich sie an, erhalte als Antwort jedoch nur stoisches Schweigen. "Also brauchen wir Unterstützung an drei Fronten, sehe ich das richtig?" "Vier, wenn du Viola mitzählst", murmelt Jayden. Seine Stimme bricht am Ende, so als hätte er Schmerzen. "Drei", sagt Melissa scharf. "Sobald ich… Nathan ins… Pokécenter gebracht habe… nehme ich mir den Rest dieser Bagage vor. Alleine", fügt sie hinzu, als wolle sie das ein für alle Mal klarstellen. "Ich- ich lass mir was einfallen", flüstere ich und schalte das Head-Set leiser. Ruth, die sich von der Reling gelöst hat, kommt in meine Richtung. "Du siehst schlimm aus", stellt sie fest, ungeachtet dessen, dass sie selbst kein Stück besser aussehen kann. Ich verkneife mir die scharfe Bemerkung und schaue zu Minerva hinüber, die noch immer neben Athenas Leiche kniet und hilflos weint. "Hast du Heiltränke dabei?", frage ich. "Beleber, irgendetwas in der Richtung." Sie betrachtet mich kritisch. "Wir haben eine mobile Heilmaschine unten im Schiff", sagt sie schließlich naserümpfend. "Willst du die benutzen?" Erleichtert nicke ich und lasse mich von Ruth an der Hand packen und unter Deck zerren. In Angesicht der Kämpfe, die noch überall stattfinden, habe ich nur noch eine Hoffnung. Und für die brauche ich Hunter. Es dauert nicht lange, bis wir das Zimmer finden, in dem einige Heilmaschinen in Regalen stehen. "Die waren dafür, um Pokémon vor ihrem Auftritt bei den Wettbewerben ein letztes Mal aufzupäppeln", erklärt Ruth, während sie mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelegt steht und mir dabei zusieht, wie ich mein gesamtes Team heile. Ich muss mich beeilen, aber zumindest hierfür kann ich mir die Zeit nehmen. Kaum bin ich fertig, laufen wir durch die Gänge zurück hinauf aufs Deck. Den Schiffspassagieren, die sich in ihren jeweiligen Zimmern verbarrikadiert haben, begegnen wir nicht, worüber ich dankbar bin. Ich will gerade mit niemandem reden, schon gar nicht mit reichen Schnöseln, die sich womöglich noch darüber beschweren, dass ihre Rettung so unangenehm verlaufen ist. Vielleicht sind es Vorurteile, aber meine Bekanntschaft mit Ruth hat mich eindeutig geprägt. Auch wenn sie sich gebessert hat. Ich schiele anerkennend zu ihr. Athenas Tod hat sie mitgenommen, trotzdem läuft sie jetzt mit erhobenem Kopf die Treppen hinauf, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Draußen angekommen schlägt mir salzige Nachtluft entgegen. Ich aktiviere Hunters Pokéball und steige ohne große Umschweife auf seinen Rücken. Ruth schaut mich entsetzt an. "Und was wird das, wenn´s fertig ist?", fragt sie kühl. "Ich muss weg", erkläre ich. "Meine Teammitglieder sind eingekesselt. Ich kann sie nicht alleine lassen." "Und was willst du alleine ausrichten?", faucht Ruth zurück. "Das ist so typisch für dich", fährt sie fort. "Du rennst Kopf voran in alle Wände, die du finden kannst. Was willst du denn jetzt noch machen? Dort aufkreuzen und die Welt retten? Ich dachte, du hättest endlich begriffen, dass Team Rocket… dass nicht immer alles so läuft, wie du es dir wünschst." Statt ihrer gewünschten Wirkung bringen Ruths Worte mich einfach nur zum Lachen. "Keine Sorge", sage ich und presse meine Schenkel gegen Hunters Brustkorb. "Ich weiß sehr genau, dass nicht immer alles nach Plan läuft.“ Ruth schaut mich an, als hätte ich gerade etwas sehr verstörendes gesagt. "Und ich?", fragt sie. "Was soll ich machen? Hier alleine rumsitzen?" "Du könntest dafür sorgen, dass deine Mutter keinen Ärger mehr macht", erwidere ich ungeduldig. "Und die Passagiere ruhigstellen. Und die Polizei anrufen und Bescheid sagen, dass sie so bald wie möglich Hilfe schicken sollen. Oder das Deck fegen. Was weiß ich." „Das ist nicht witzig", murmelt Ruth, nickt aber und wendet sich ab. „Viel Glück bei was auch immer für einen wahnsinnigen Plan du jetzt wieder ausgeheckt hast. Ich schreibe eine Rede für deine Beerdigung, wenn etwas schief geht." „Zu gütig", rufe ich zurück, doch meine Worte gehen in Hunters wildem Krächzen und Flügelschlagen unter. Er scheint unzufrieden, den Großteil des Kampfes verpasst zu haben, denn er gibt sofort mit seiner Agilität Gas. „Alles klar, Hunter“, murmele ich gegen den Wind. "Zeit für uns, mal wieder allen den Arsch zu retten. Du weißt, wohin wir müssen?" Hunter schwenkt den Kopf in meine Richtung und schaut mich fragend an. Ich lache. "Nimm Kurs auf den Felsenherzturm", sage ich. "Es wird Zeit, unser letztes Ass aus dem Ärmel zu schütteln."   Vielleicht liegt es daran, dass Hunter die Wichtigkeit unserer Mission begreift, oder vielleicht kommt mir sein Flug auch nur deshalb schneller als sonst vor, weil er vor unserem Absturz zu erschöpft war und ich mich an sein langsames Tempo gewöhnt habe, doch wir erreichen die Steilklippe vor der Safari nur knappe vierzig Minuten nach unserem Start. Ich weiß, dass in dieser Zeit viel passiert sein kann, aber über das Head-Set bin ich in Kontakt mit den anderen geblieben und weiß zumindest, dass niemand gestorben ist, auch wenn die Situation sich von Minute zu Minute zuspitzt. Dark und Gold scheinen gerade Atlas gefunden zu haben, denn ich kann ein Kommando nach dem anderen vernehmen, die mir allesamt ein grobes Bild von dem sich abspielenden Kampf liefern. Trotzdem lasse ich mich nicht ablenken und leite Hunter in sanften Kurven Richtung Westen, zu dem Felsvorsprung, von dem aus ich damals Gold und Lugia habe abheben sehen. Zu dem Zeitpunkt glaubte ich noch, dass Team Rocket dort sicher ein Quartier eingerichtet haben muss. Nach Golds Hinweis vor wenigen Tagen weiß ich es besser. Seine Worte hallen schon seit Beginn unseres Flugs wie ein Echo in meinen Gedanken wieder. Red versteckt sich im Felsenherzturm. Wenn alles andere fehlschlägt, versuch dein Glück bei ihm. "Versuch dein Glück", murmele ich missmutig und presse mich enger an Hunters Rücken, um ihn durch die nahenden Habitak und Ibitak zu lenken, deren Revier wir inzwischen durchqueren. Nach dem, was Gold mir von Red erzählt hat, bin ich nicht mal sicher, ob er sich mir, einer unbedeutenden Trainerin, zeigen wird. Aber ich habe keine Wahl. Ich muss es versuchen. Den ersten Bohrschnäbeln weicht Hunter mit seiner Agilität spielend aus, dreht sich im Flug auf den Rücken und attackiert einen Artgenossen von unten mit seinen Klauen, bevor er sich herabsinken lässt und zu einer Fliegenattacke ansetzt. Ungeachtet seiner Flugmanöver rufe ich Priss, die sich im Laufe der Nacht als perfekte Flugpartnerin entpuppt hat und aus meiner engen Umarmung einen Vogel nach dem anderen mit ihrem Aurorastrahl abschießt. Flügel und Beine frieren ein, Habitak trudeln krächzend ins Meer oder schleppen sich mit letzter Kraft zu ihrem Horst. Ich bleibe völlig ruhig. Meine Gedanken sind bereits bei dem Gespräch mit Red, in dem ich die Legende irgendwie davon überzeugen muss, sein selbstauferlegtes Exil zu beenden und in die Zivilisation zurückzukehren, wenn auch nur für eine Nacht. Ich bin realistisch genug, meine Chancen gering einzuschätzen. Das heißt jedoch nicht, dass ich kampflos aufgeben werde. Als wir endlich durch den Vogelschwarm hindurch sind und Hunter hochzufrieden auf dem Vorsprung landet, wird mir vage bewusst, dass ich nervös bin. Red ist meine letzte Hoffnung, aber er ist immer noch… Red. Die Legende. Mein größtes Idol. Ich bin nicht sicher, ob sich das in ein paar Stunden bestätigt haben wird, oder ob ich ihn verfluchen werde. Mit einem Kloß in der Kehle und viel zu schnell klopfendem Herzen rufe ich meine Pokémon zurück und laufe die Felswand ab. Auf den ersten Blick scheint sie unberührt, ohne Eingang, doch als ich mit beiden Händen über den Stein fahre und sanft drücke, entdecke ich weit am Rand ein Stück Fels, das sich nach hinten schieben lässt. Ich drücke dagegen und finde mich nur Sekunden später in einem stockdusteren Höhlengewölbe wieder. Stille umfängt mich in einer kalten Umarmung. Meine Schuhe schrammen über den schroffen Untergrund, als ich mich Schritt für Schritt in den Felsenherzturm vorwage. Kleine Steinchen kullern über den Boden. Von der Art, wie selbst mein nervöses Atmen in der Höhle wiederhallt, muss ich mich in einem weitläufigen Raum befinden. „Hallo?“ Kein Pokémon, keine Menschenseele, ist in Sicht, oder zumindest erahnbar. Meine Nackenhaare stellen sich auf. „Red?“, versuche ich es erneut. „Gold hat mich geschickt. Bitte, zeig dich.“ Über mir, am anderen Ende der Höhle, flackert ein Licht auf. Eine schwarze Silhouette erhebt sich langsam gegen den Schein und schwingt sich ohne Zögern von dem Vorsprung. Sie landet hockend auf dem Steinboden, richtet sich sofort wieder auf und kommt mit bedächtigen Schritten auf mich zu. Das Feuer, das die Person eben noch erleuchtet hat, erlischt, bevor das Rascheln von ledrigen Flügeln und der aufkommende Wind ein Pokémon ankündigen, das von dem Vorsprung herabgleitet und auf dem Höhlenboden landet. Feuer lodert auf und ich erkenne zum ersten Mal die Umrisse eines Gluraks, dessen muskulöser Schweif sanft emporgereckt ist. Die Flamme an seinem Ende flackert und zischt und ihr Licht füllt fast die gesamte Höhle aus. Mein erster Gedanke ist, dass Gluraks nicht so groß werden. Selbst Jaydens Glurak, dessen Level ich auf 75 schätze, misst von Kopf bis Schwanz nur etwa drei Meter. Der Körper dieses Exemplars ist nicht nur mit orangeroten Schuppen besetzt, die im Feuerschein von innen heraus zu glühen scheinen, es muss fünf Meter lang sein. Das längliche Maul ist gespickt mit blinkenden Fängen und die Augen leuchten rot und misstrauisch aus seinem Schädel. Die Länge seines Körpers umschlingt seinen Trainer in einem Halbkreis, schützend wie ein Leibwächter. Mein Blick gleitet von dem Feuerdrachen zu der Figur in seiner Obhut. Red ist kleiner, als ich erwartet hatte. Kleiner in jedem Falle als Gold, der mich weit überragt. Seinen Körperbau kann ich unter dem zerschlissenen T-Shirt und der schmutzstarrenden Hose nur erahnen, doch seine Figur erinnert mich an einen Ausdauerläufer, nur Sehnen und seilartige Muskelstränge. Auch sonst hat Red nicht viel mit der Person gemein, als die ich ihn mir immer vorgestellt habe. Sein dunkelbraunes Haar ist stumpf und in einem wirren Knoten an seinem Hinterkopf befestigt und ein ungepflegter Bart bedeckt sein Kinn, einige Flecken dichter bewachsen als andere, so als hätte Red versucht, sich mit einem stumpfen Messer zu rasieren. Das Schockierendste ist jedoch sein Blick. Seine Augen, grün oder blau oder grau, scheinen kraftlos, betäubt. Wie ein trüber Tümpel in der Dunkelheit, eine vergriffene Münze, die ihren Glanz lange eingebüßt hat. Am liebsten hätte ich geweint. „Red“, wiederhole ich seinen Namen. Er starrt mich nur an und ich erinnere mich an Golds Worte, damals am Strand von Anemonia City. Er spricht nicht. Schon seit Jahren nicht mehr. Er isst kaum. Er lebt wie ein Einsiedler, immer wartend. Auf irgendjemanden, der ihn besiegen kann. Ich hole tief Luft. „Mein Name ist Abbygail, Abbygail Hamp– nein, lassen wir das, mein Nachname interessiert dich sicher herzlich wenig. Ich bin Abby. Einfach nur Abby.“ „…“ „Ja. Also.“ Ich schlucke. Noch nie in meinem Leben haben mir die Worte so sehr gefehlt wie in diesem Moment. Wenn er mich zumindest auslachen würde, wenn er irgendeine Regung in seinem Gesicht zeigen würde, außer diesem… diesem verlorenen Blick. „Team Rocket ist zurück“, sage ich und bin erleichtert, dass meine Stimme bei diesen altbekannten Worten an Festigkeit gewinnt. „Sie haben heute Nacht in mehreren Städten gleichzeitig angegriffen und versucht, ein Schiff voller reicher Schnösel zu entführen, die Passagiere umzubringen und sich so politische Positionen zu sichern. Ich habe sie aufgehalten, aber meine Freunde kämpfen noch immer. Team Rocket hat Käferpokémon benutzt, um sie alle zu paralysieren und jede Sekunde, die wir warten, könnte jemand von ihnen sterben. Ich brauche deine Hilfe. Bitte.“ Red blinzelt nicht mal, legt nur den Kopf leicht schief. Glurak grollt bedrohlich. „Ich weiß, dass du dich versteckt hältst, damit eines Tages ein Trainer herkommt, der dir ebenbürtig ist und dich herausfordert“, fahre ich fort, langsam unruhig. Red sieht nicht so aus, als würde er sein Exil aufheben wollen, um mir zu helfen. Er sieht nicht mal so aus, als würde er begreifen, wovon ich überhaupt rede, und wie sollte er auch? Er war nicht da. Er hat Team Rockets Auferstehung nicht miterlebt, war nicht an den Kämpfen beteiligt, die wir gefochten haben, hat niemanden verloren… „Was soll das hier überhaupt?“, frage ich, plötzlich wütend. Meine Geste umfasst Red, Glurak, die gesamte Höhle, seine gesamte Existenz. „Was für eine hirnrissige Idee war es, dich hier zu verkriechen, nur weil du zu stark geworden bist! Wer soll dich denn hier bitte finden? Ein Trainer, der dir ebenbürtig ist? Kanto und Johto mögen dich nicht vergessen haben, aber was ist mit Trainerin in anderen Regionen? Hast du deine Heimat je verlassen, bist du je losgeflogen, um andere Herausforderungen zu suchen?“ „…“ Sein Schweigen irritiert mich nur noch mehr und meine nächsten Worte durchschneiden die angespannte Stille. „Deine Mutter vermisst dich, Gold und Blue vermissen dich, deine Fans vermissen dich und du besuchst niemanden, hältst dich nur aus allen Angelegenheiten raus! Gold hat uns geholfen. Er fliegt seit Monaten unermüdlich über Kanto und Johto, benachrichtigt die Polizei, wenn er Rockets findet, kämpft an unserer Seite. Er hat Leben gerettet, verstehst du? LEBEN!“ „…“ Mir steigen die Tränen in die Augen. Nicht, weil ich verzweifelt bin. Sondern weil mir plötzlich und völlig ungeschont bewusst wird, wie enttäuscht ich von meinem Idol bin. Red hat keine Ausreden. Egal, was er fühlt, er hat keine Ausrede dafür, uns alle im Stich gelassen zu haben. „Du bist stärker als Gold“, fauche ich. „Der stärkste Trainer aller Zeiten und du bläst Trübsal, weil du zu stark bist? Hast du je gegen einen Schwarm Käferpokémon gekämpft, die dich von allen Seiten mit Statusattacken angreifen? Hast du je gegen dreißig Rockets gleichzeitig gekämpft, einen Luftkampf geführt, während du kopfüber hängst und Pistolenschüssen ausweichen musstest? Gewusst, dass jeden Moment jemand stirbt, weil du deinen Gegner nicht schnell genug besiegt hast?!“ Mir ist vage bewusst, dass Glurak sich erhoben hat und auf mich zugetrottet ist. Sein Atem ist heiß und stinkt nach Verwesung, als er den Kopf senkt und die Nüstern bläht, nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Mein Herz setzt einen Schlag aus, dann übernimmt wieder die Wut und ich drücke seine Schnauze kurzerhand zur Seite, stapfe an Glurak vorbei und auf Red zu. Er rührt sich nicht, auch nicht, als ich kaum eine Armlänge von ihm entfernt stehenbleibe. Gluraks Grollen erstickt in seiner Kehle, als Red ihm einen kurzen Blick zuwirft, nur um im nächsten Moment seine leeren Augen auf mich zu fixieren. Kommt es mir nur so vor, oder wirkt er wacher? „Da draußen“, fahre ich atemlos fort, „wartet die größte Herausforderung, der du dich seit Jahren gestellt hast. Azalea City steht unter der Kontrolle von Team Rocket, niemand dort ist mehr kampffähig, das Pokécenter ist blockiert. Dukatia und Prismania City sind kurz davor, überrannt zu werden und in Viola City sieht es auch nicht gerade rosig aus. Gold und Dark sind auf Eiland Fünf, im Rocket Hauptquartier und kämpfen dort gegen ihren Anführer. Ich habe keine Ahnung, ob sie die Nacht überleben werden oder ob dort drin irgendwelche Fallen sind, die Ryan nicht ausschalten konnte, oder ob Atlas Verstärkung hat oder ob sonst etwas schiefgegangen ist.“ Reds Augen blitzen bei dem bekannten Namen auf. Hoffnung macht sich in mir breit, wie eine warme Hand, die sich um mein Herz schließt. „Bitte“, sage ich und schließe die Augen. „Wir brauchen dich.“ Einige Sekunden passiert nichts. Dann umfassen seine Finger die meinen und drücken zu, ganz leicht nur, wie ein Lufthauch. Ich hebe den Kopf, suche sein Gesicht nach einer Antwort ab. Seine Züge sind ausdruckslos, aber seine Augen leuchten ein bisschen mehr als noch zuvor und er nickt mir flüchtig zu. Ich sinke auf die Knie. „Danke“, flüstere ich. „Danke, Red.“ Red lässt meine Hand los, wirft Glurak einen Blick zu und verlässt die Höhle. Als wir nach draußen treten, atmet er tief durch, so als wäre es Jahre her, seit er das letzte Mal frische Luft geatmet hat. Mir wird unwohl bei dem Gedanken, dass das gar nicht mal so abwegig ist. Den Blick nach Osten gewendet folge ich Red und Glurak zum Rand des Felsvorsprungs. Der Feuerdrache bewegt sich auf allen Vieren vorwärts, bedächtig und mit tödlicher Effizienz. Die Habitak und Ibitak, die bei meiner Ankunft verrückt gespielt haben, sind verstummt und aus dem Himmel geflohen. Ich schmunzele. Sie scheinen keine guten Erfahrungen mit Reds Glurak gemacht zu haben. Apropos Red. Er ist auf Gluraks Rücken geklettert, dessen blaue Schwingen von den ersten Sonnenstrahlen durchleuchtet werden. Adern durchziehen das dünne Gewebe wie kleine Flussläufe. Ich bin so fasziniert von dem Anblick, dass ich den Abflug fast verpasse. Im einen Moment streckt Glurak noch die Glieder, im nächsten nimmt es schon Anlauf und katapultiert sich in die Lüfte. „RED, WARTE!“, schreie ich und renne hinterher, bis ich halb von der Klippe stolpere. Nur mit Mühe behalte ich die Balance, als Glurak inne hält und genervt schnaubt, während Red sich auf dem Rücken zu mir umdreht und fragend anschaut. „…?“ „Eine neue Generation Trainer ist auf dem Vormarsch!“, rufe ich und denke an Dark, an Melissa, an Chris, an all die anderen Verrückten aus Team Shadow, die ihr Leben dem Training ihres Teams gewidmet haben. „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber sie werden dich einholen und sie werden gewinnen, verlass dich drauf!“ Der Sonnenaufgang am Horizont verblasst neben Reds Lächeln. Der Anblick bewegt etwas in mir, von dem ich nicht wusste, dass es existiert. Mein Herz pocht in meiner Brust, während ich der Legende dabei zusehe, wie sie Richtung Festland verschwindet, inzwischen nur noch ein roter Punkt gegen die dunstigen Morgenwolken. Mit dem Gefühl, alles in meiner Macht Stehende getan zu haben, rufe ich Hunter und aktiviere das Head-Set, um den anderen von der nahen Hilfe zu berichten. Hunter krächzt glücklich und reibt seinen fedrigen Kopf an meine Wange, während ich mich auf seinen Rücken schwinge. Er nimmt Anlauf und wirft sich vom Felsenherzturm, schießt in einem euphorischen Sturzflug in die Tiefe und zieht erst hoch, als ich schon das Salz des Meeres auf den Lippen schmecke. Ohne auf mein Kommando zu warten, nimmt er Kurs auf Anemonia City, wo Louis sicher schon auf mich wartet. Mit etwas Glück können wir zusammen weiterfliegen bei der Versorgung der Verletzten helfen. „Abby?“ „Dark?“, frage ich aufgeregt und presse das Head-Set fester in mein Ohr. Es hat heute Nacht einiges durchstehen müssen und die Soundqualität ist nicht mehr ganz die alte. Umso weniger verwunderlich ist es, dass ich Darks Worten keinen Glauben schenke, bis er sie für mich wiederholt. „Atlas ist besiegt, Abby“, sagt er, während im Hintergrund Hundemons lautes, freudiges Bellen zu hören ist. „Das Hauptquartier steht unter unserer Kontrolle. Wir haben gewonnen.“ Ich kann es nicht ganz fassen, aber die Worte sickern in mein Bewusstsein, tiefer und tiefer, bis mir ihre Bedeutung vollends bewusst wird. Lachen schüttelt mich, hilfloses, erleichtertes Lachen. Atlas ist besiegt. Wir haben gewonnen. Es ist vorbei. Epilog: Die Pokémon Championship (Versprechen) ---------------------------------------------- Das kalte Metall des Geländers presst sich von unten in meine Rippen, während um mich herum die Zuschauer toben. Dieses Jahr bestreite ich die Pokémon Championship nicht von der VIP-Box aus, auch wenn Alfred mir das Angebot gemacht hat. Stattdessen haben Team Shadow, Louis und ich unsere Plätze weit vorne, so nah an den Kampfplätzen wie möglich. Ich bin bereits zweimal durchnässt worden und Melissa musste fluchend einem Steinbrocken ausweichen, der in ihre Richtung abgesplittert ist, aber davon lassen wir uns nicht beirren. Meinem Beispiel folgend feuert unser Grüppchen Raphaels Finalkampf an, den letzten, den er gewinnen muss, um sich wie Genevieve das Recht zu sichern, Noah im nächsten Jahr herausfordern zu dürfen. Nach dem alles andere als ereignislosen Jahr bin ich trotz der Fluggeschosse froh, hier zu sein und ein bisschen zu entspannen. Den Großteil des Sommers habe ich damit verbracht, die Polizei weichzuklopfen, bis sie Zachs Vergehen unter neuen Gesichtspunkten betrachten wollten. Mein Wort hat lange nicht gereicht. Letztlich war es Julius´ höchst ausführlicher Bericht im Radio, der das Ganze wieder ins Rollen gebracht hat. Sein Schwur, Zachs Geheimnis aufzudecken, und wenn es das letzte ist, was er tue, hat bewerkstelligt, was mir alleine nie gelungen wäre, auch wenn das sicher nicht seine Absicht war. Ich grinse schelmisch bei dem Gedanken daran, dass seine Rache so nach hinten losgegangen ist. Eins muss ich Julius lassen, seine Recherchefähigkeiten sind nicht von schlechten Eltern. Schließlich wurde Zach, mit Jacks unauffälliger Unterstützung, freigesprochen. Oder zumindest Zoroark, das nun wieder im rechtmäßigen Besitz seines Trainers ist. Ich schiele zu dem Champion hinüber. Noah sitzt vornübergebeugt neben Melissa und unterhält sich mit Nathan, den wir in seinem Rollstuhl zwischen den Sitzreihen hindurch gezwängt haben. Als ich ihn das erste Mal so gesehen habe, ist mir halb schlecht geworden – nach Melissas Aussage, er sei angeschossen worden, habe ich nicht mit einer vorübergehenden Lähmung seiner Beine gerechnet. Nun hat er bereits vier Monate Physiotherapie hinter sich und scheint auf dem Weg der Besserung, doch laut der Ärzte wird es noch eine ganze Weile dauern, bis er nicht mehr nach wenigen Sekunden zusammenklappt.  Chris hat sich besser erholt. Sie und Jayden unterhalten sich auf meiner anderen Seite leise miteinander, ohne Zweifel über Raphaels Kampfstrategie. Der Stahlsplitter hat keine lebenswichtigen Organe erwischt und dank Percys schneller erster Hilfe war sie schon bald fit genug, um sich über die vergeudete Trainingszeit zu beschweren. Jayden ist ihr während des Krankenhausaufenthalts nicht von der Seite gewichen. Die Menge wird lauter, als Raphaels Impergator das gegnerische Wielie mit einem Dreschflegel lahmlegt. Ich grinse, ziemlich sicher, dass Raphi eigentlich einen Eiszahn befohlen hat. Cosmo war noch nie das gehorsamste Pokémon. „Abby?“ Ich drehe den Kopf zu Louis, der gerade von der Toilette zurückkommt und sich nun mit verschmitzten Ausdruck neben mir über das Geländer hängt. „Rate, wer mich gerade angerufen hat.“ „Ruth?“, schlage ich ohne viel Hoffnung vor. „Hat sie sich endlich entschlossen, Danke zu sagen oder erwarte ich zu viel?“ Er hält mir eine Hand auf die Stirn. „Du solltest dich mal von Schwester Joy durchchecken lassen“, sagt er. „Hast du dir den Kopf gestoßen, während ich weg war?" Ich schiebe seine Hand weg und strecke ihm die Zunge heraus. „Also, wer war es? Mach´s nicht so spannend.“ Er lehnt sich zu mir, bis sein Mund ganz nah an meinem Ohr ist. Ich kann seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren und ein Kribbeln wandert durch meinem Magen hinauf in meine Brust. Obwohl wir schon über ein halbes Jahr zusammen sind, bin ich nicht sicher, ob ich mich jemals an dieses Gefühl gewöhnen werde, zumal wir uns die letzten Monate kaum gesehen haben. Louis war die meiste Zeit in Anemonia City in der Safari, um dort seine Ausbildung zum Ranger zu machen und ich hatte in Kanto mit Zachs Freispruch und anderen Dingen genug zu tun. Ein Biss in mein Ohr holt mich in die Wirklichkeit zurück. „Rose hat angerufen“, sagt er und zieht den Kopf zurück, um meinen Blick zu genießen. Ich blinzele. „Und Rose würde dich nur anrufen, weil…“ „…weil ihre Eltern zugesagt haben!“, stimmt Louis breit grinsend zu. Mit einem Jauchzen springe ich in seine Arme und lasse mich einmal im Kreis drehen, bevor er mich wieder absetzt. „Ich werde nach Fuchsania versetzt. Liz hat schon zugesagt und Rose hat angedeutet, dass sie uns bald besuchen kommt.“ Ich mache einen kleinen Freudentanz. „Kein Grund, schon zu feiern!", ruft Gen mir aus der Reihe hinter uns zu. "Noch hat Raphi den Titel nicht.“ „Louis darf nach Kanto!“, entgegne ich voller Vorfreude. „Das heißt, dass wir endlich –“ Weiter komme ich nicht, denn Wasser ergießt sich in einem kalten Schwall über die gesamte Tribüne und durchnässt alle Zuschauer in der ersten Reihe, Louis und mich eingeschlossen. „Dass ihr endlich eure Hochzeit planen könnt?“, schließt Gen gehässig und weicht geschickt aus, als ich mit meinen nassen Händen Wasser nach ihr spritze. "Du weißt, was ich meine." Louis hatte mir nach dem Team Rocket Anschlag angeboten, mit ihm nach Anemonia City zu kommen, aber ohne viel Erfolg. So sehr ich das Meer liebe und gerne mehr Zeit mit dem ASV, Rose und ihm verbracht hätte, so bin ich letztlich doch ein Stadtkind. Die unendlichen Möglichkeiten, die kleinen Intrigen, die Vernetzung mit Radio und Fernsehen und letztlich auch die Nähe zu meinen Idolen haben mich zurück nach Kanto gezogen. Die meiste Zeit habe ich in Prismania City verbracht, wo die Übernachtung im Hauptquartier umsonst war und Priss kein schlechtes Gewissen haben musste, den ganzen Tag mit Hundemon herumzustromern. Aber auch Alfred hat mich auf Trapp gehalten. Mit glühendem Stolz denke ich an die Interviews, die ich mit jedem der TS-Mitglieder und sogar mit Gold geführt habe, um meinen Bericht über Team Shadow und ihre Rolle im Kampf gegen Team Rocket für PCN auszubauen. Es ist nicht verwunderlich, dass ich zeitweise in seinem Anwesen in Lavandia einquartiert war und den Radioturm so lange in Beschlag genommen habe, bis ich dort jeden Winkel und jedes Gesicht kannte. Bei dem Gedanken an Alfred runzele ich die Stirn. Sein Zuvorkommen diesbezüglich ist mir bereits am Anfang merkwürdig vorgekommen, aber ich war zu heiß auf die Gelegenheit, um ihm viele Fragen zu stellen. Kurz vor der Championship haben sich jedoch nicht nur er, sondern die gesamte Belegschaft auffällig verhalten. So als wüssten sie etwas, dass ich nicht weiß. Eigentlich habe ich nichts gegen Geheimnisse, allerdings gehöre ich meistens zu dem Kreis der Eingeweihten. Und von der Art, wie Louis mich gerade doof von der Seite angrinst, kann ich das Gefühl nicht abschütteln, er wisse dieses Mal mehr als ich. Es ist wirklich zum Verrücktwerden. "Hast du was zu sagen?", frage ich brüsk. Er lacht nur und widmet sich wieder dem Kampf. Ich schüttele die letzten Gedanken ab und folge seinem Beispiel. Ich habe Darks Bezahlung der Tickets nicht stundenlang vor mir selbst gerechtfertigt, nur um Raphaels Kampf wegen ein paar dummer Monologe zu verpassen. Die nächste halbe Stunde schreie ich mich mit den anderen heiser, bis Raphaels Kapilz in einer letzten Anstrengung und mit einem geschickt platzierten Himmelhieb das Duell für sich gewinnt und das Stadion in heillosen Beifall ausbricht. Ohne mich groß um Konventionen zu scheren, schwinge ich mich gekonnt über die Reling und sprinte über den Kampfplatz, ducke mich unter dem Arm einer Security weg und werfe mich in Raphaels Arme, der gerade von seinem Freudentanz mit Penny abgelassen hat. Sein Haar ist windzerzaust, die Vorderseite seines Turniertrikots ist durchtränkt, seine Brille sitzt schief und er hat Tränen in den Augen. Von überall her kann ich Alfreds laute Stimme vernehmen, die das Ende des Turniers ankündigt und abrupt in erstickte Lobhuldigungen der rührenden Szene auf dem Kampffeld umschwenkt. "Herzlichen Glückwünsch, Champ", murmele ich in seine Schulter hinein und drücke ihn fester. "Danke, Abby. Wirklich." Er schiebt mich auf Armeslänge von sich. "Ich weiß nicht, ob ich heute hier stände, wenn du mich damals in Orania nicht gecoacht hättest." "Ach was…", lache ich. "Du wärst auch so gut genug gewesen." Er schüttelt den Kopf. "Du hast mir zu Murphy verholfen und zu meiner Position in den Favoriten. Aber viel wichtiger als das… du warst meine erste echte Freundin. Vielen Dank." "Ich werde ja ganz rot", murmele ich und reibe mir die glühenden Wangen. "Wir sind wirklich weit gekommen, oder?", frage ich dann und schaue mich um. Die Sicherheitsleute sind dabei, kreischende Fans davon abzuhalten, mein Manöver nachzuahmen und halten eine Schar Mädchen davon ab, sich auf Raphael zu stürzen. Louis und Genevieve winken uns fröhlich von der Tribüne aus zu und selbst Noah ist aufgestanden. Er lächelt scheu, klatscht und nickt Raphael zu, als dieser seinen Blick auffängt. Eine Herausforderung, gegeben und angenommen. "Es tut mir leid um Richy", sagt Raphael, als ich ihn zu dem Ausgang begleite, durch den die Turnierteilnehmer gekommen sind. "Wenn er nicht so viele Monate im Gefängnis gesessen hätte, wäre er vielleicht weitergekommen. Gleich im ersten KO-Kampf auszuscheiden, muss ziemlich an seinem Stolz gekratzt haben, sonst wäre er heute hier." "Er wird bei Zach und Caro sein", sage ich und folge Raphael durch den schwach beleuchteten Gang ins Innere des Stadions. "Außerdem hatte er genug Zeit, ernsthaft zu trainieren. Er ist nur deshalb nicht weitergekommen, weil ihm Zach und andere Sachen wichtiger waren. Du musst dir keine Vorwürfe machen." Raphael hebt eine Augenbraue. "Ich bin ziemlich sicher, dass ich das zu dir sagen sollte", meint er. Ich zucke die Achseln. "Ich hatte genug Zeit, über alles nachzudenken", sage ich. "Nicht alles, was in diesem Krieg passiert ist, geht auf meine Kappe. Ich habe getan, was ich für Richard und Zach tun konnte, der Rest liegt nicht in meiner Hand. Ich kann mir nicht ewig die Schuld für das Schicksal der beiden geben." Raphael legt einen Arm um meine Schulter und zieht mich weiter Richtung Ausgang. "Du hast Recht", sagt er leise und drückt mich fester. "Wir sind wirklich weit gekommen."   Die Party in Genevieves Hotelzimmer geht bis tief in die Nacht. Mit allen Anwesenden ist ihre Suite proppenvoll. Sekt, Saft und Limo füllen die Gläser, die überall auf Tischen und in Händen verteilt sind, Amy hat Ronya bei den Händen gepackt und hüpft mit ihr auf einem Sofa, Noah und Nathan knutschen in einer Ecke und Melissa hockt am anderen Ende des Raumes und tötet jeden mit Blicken, der ihr zu nahe kommt. Zusammen mit Louis winde ich mich durch die restlichen Menschengrüppchen, die sich geformt haben. Selbst Ruth ist kurz reingeschneit, wenn auch nur lang genug, um Raphael und Genevieve zu gratulieren und Noah einen herausfordernden Blick zuzuwerfen.  Jetzt, da ihre Mutter im Gefängnis sitzt und niemand sie mehr davon abhalten kann, hat sie ihre Pokémonreise ernsthaft begonnen und staubt seit einigen Monaten Orden um Orden ab. Ihr Evoli, das sich inzwischen zu einem Psiana entwickelt hat, folgt ihr auf Schritt und Tritt, eindeutig froh über die Änderung ihres Lebensstils. Selbst Ruth ist nicht mehr ganz so unausstehlich, auch wenn ich immer noch auf ein Danke warte. Danke Abby, dass du mein Leben gerettet hast. Danke Abby, dass du bis zum Schluss an mich geglaubt hast. Sowas in der Richtung. Ist ja nicht zu viel erwartet, finde ich. Seufzend lasse ich mich in ein Gespräch mit Jayden, Chris und Raphael verwickeln, die seine Strategie für das kommende Training und die späteren Kämpfe mit Noah planen. Genevieve sitzt auf dem Sofa daneben und unterhält sich mit Ryan, der das Hotel für die Turnierkämpfe nicht verlassen und sich stattdessen alle Duelle über die diversen Kameraeinstellungen von PCN zu Gemüte geführt hat. Wie legal das war, sei dahingestellt. Von der Art, wie Gens Blick immer wieder in unsere Richtung huscht, bin ich jedoch sehr sicher, dass sie den Strategiebesprechungen genau zuhört. "Du solltest deine Pokémon nicht zu stark spezialisieren", sagt Chris gerade. "Noah hat mehr Auswahl als du. Deine einzige Chance ist es, ihm mit Versatilität und Levelüberlegenheit entgegenzutreten." "Jetzt wirf hier nicht mit so großen Wörtern um dich, Chris, du wirst noch so schlimm wie Ryan", lacht Jayden herzlich und tätschelt ihren Kopf. Ich höre gerade noch, wie sie etwas von Ich habe nichts geworfen sagt, als sich eine Hand auf meine Schulter legt und mich sanft aus dem Kreis zieht. Zuerst denke ich, dass es Louis ist, der sich eine ruhigere Ecke suchen will, doch als ich mich umdrehe, stehe ich Alfred gegenüber, der verschwörerisch in Richtung von Gens Schlafzimmer nickt. Zusammen mit Louis folge ich ihm durch das Gedränge der anderen und weiche nebenbei einem Kissen aus, das Amy nach Gerard geworfen hat, dicht gefolgt von der Sektflasche, die Gerard zurückschleudert. Kaum fällt die Tür hinter uns zu, breitet Alfred feierlich die Arme aus. Ich schiele zu Louis, der sich sein Kichern nun kaum mehr verkneifen kann. "Okay", sage ich. "Ich gebe es zu, ich habe keine Ahnung, was hier abgeht. Bitte, klärt mich auf." Louis prustet los und wischt sich die Tränen aus den Augen, während Alfred nur väterlich lächelt. "Ach Abby, meine Liebe, ich dachte eigentlich, dass du es dir schon längst gedacht hast. Gerade der gute Mr. Kale hier war nicht gerade subtil." Ich runzele die Stirn. Gut, Louis hat mehr gekichert und gegrinst als sonst und jetzt ist klar, dass er irgendein Geheimnis vor mir hat, aber was genau das sein soll… Wobei es stimmt, dass er den Transfer nach Kanto recht plötzlich vorgeschlagen hat. "Nicht nur Louis", sage ich, um Zeit zu schinden. "Der ganze Radioturm verhält sich merkwürdig, du mit eingeschlossen, Alfred." Er reibt sich die Hände. "Oh, aber natürlich tue ich das! Ich konnte die letzten Wochen kaum an mich halten, aber Louis – ich darf dich doch Louis nennen, nicht wahr – hat mir versichert, der Moment wäre heute am günstigsten." "Also ist das, was auch immer es ist, auf deinem Mist gewachsen?", hake ich bei meinem Freund nach. Er grinst nur beharrlich weiter. "Nun, nicht gänzlich. Aber es war eine ganz fabelhafte Idee, die wir hatten. Abby, erinnerst du dich an unserer erstes Gespräch?" Ich nicke, ein wohliges Gefühl in meiner Brust. Wie könnte ich das jemals vergessen? Kreischende Wingull, Eis an einem viel zu heißen Sommertag, Alfreds Worte… So jung, und schon so ein guter Instinkt für Drama, für das gewisse Etwas. Und erst deine Attitude, wenn die Kamera auf dich zeigt… Lass es dir von einem Profi gesagt sein: Du bist Reportermaterial! "Du hast mir damals das Empfehlungsschreiben versprochen", sage ich und denke wieder mit Schmerz daran, dass es nun zusammen mit dem Rest meines Rucksackinhalts irgendwo auf dem Grunds des Meeres liegt. "Das war natürlich nur für den Fall gedacht, dass du in vielen Jahren bei uns auftauchen würdest und man dich nicht zu mir durchlassen würde, aber wie das Schicksal es so will, kennen wir beide uns nun so gut, dass du ohnehin ein willkommener Gast im Radioturm bist. Deshalb meine Frage: Hättest du Interesse daran, den Titel Gast abzulegen und dich offiziell zu unserem Team zu zählen?" Ich starre ihn an. "Wabits?", frage ich, was mein Gehirn als Mischung aus Was und Wie bitte übersetzt. Ich werde knallrot und räuspere mich. "Bitte was?" Alfred tritt näher und legt beide Hände auf meine Schultern. "Es ist dir natürlich nicht aufgefallen, weil du dich so voller Elan hineingesteigert hast, aber die Erlaubnis, dich im Radioturm umzusehen und natürlich die Interviews mit Team Shadow waren für uns wie ein sehr langes Bewerbungsverfahren. Ich nehme nicht jede Sechszehnjährige auf, die ein bisschen Talent zeigt, Abby. Aber ich bin der Ansicht, und dank deiner harten Arbeit wird diese in unseren gesamten Team geteilt, dass dein Charisma, deine Neugierde und deine Furchtlosigkeit und Lebensfreude eine Bereicherung für PCN wären. Ich biete dir offiziell eine Ausbildung zur Reporterin und Moderatorin an. Wie du dich spezialisierst, ist deine Entscheidung, aber so wie ich dich kenne, wirst du schon bald andere Regionen bereisen, dich ins Getümmel stürzen und alles aufdecken oder interviewen, was nicht niet und nagelfest ist." "Ich… darf bei PCN mitmachen?", frage ich. Er nickt. "Ich darf eine Ausbildung machen?" Er nickt. "Bei dir?", frage ich. "Bei Alfred Phirello persönlich, im Radioturm in Lavandia. Natürlich kannst du so lange in meinem Anwesen wohnen, das Gästezimmer steht dir zur freien Verfügung, unser Garten ist groß genug, um deinen Pokémon Auslauf zu geben und Route 8 liegt nah genug, um dir Training zu verschaffen, solltest du es brauchen." Ich weiß nicht, wann es passiert ist, aber plötzlich finde ich mich in Alfreds Armen wieder, lachend und weinend und ohne irgendeine Ahnung, wie ich meine Dankbarkeit ausdrücken soll, außer immer wieder Danke zu sagen. Alfred umarmt mich lange und tätschelt meinen Rücken, schiebt mich aber schließlich von sich und zwinkert mir zu. "Natürlich sind Saffronia, Orania und Prismania nur wenige Stunden entfernt." "Und Fuchsania", fügt Louis hinzu. Ich wende mich zu ihm. "Das war also dein Plan", sage ich leise. Louis´ wartet nicht lange, er zieht mich in seine Arme und küsst mein Haar. "Das war der Plan", stimmt er zu. "Du und ich, wir sind bestimmt drei Jahre mit unserer Ausbildung beschäftigt. So können wir zumindest unsere Freizeit miteinander verbringen, und wer weiß…" Die nächsten Worte flüstert er in mein Ohr. "In drei Jahren reisen wir vielleicht schon nach Hoenn oder Sinnoh oder sogar noch Einall, du als freiberufliche Reporterin und ich als Wildranger, auf der Suche nach Pokémon für die Safari-Zone. Das wäre das Leben, oder?" Schluchzend nicke ich und grabe meine Finger in seinen Pullover. "Ich liebe dich, Louis", flüstere ich und verberge mein Gesicht in seiner Schulter. Die blöden Tränen hören einfach nicht auf. "Ich kann mir keine bessere Zukunft vorstellen, also versprich mir, dass wir sie wahrmachen." Ich spüre sein Lächeln, als seine Mundwinkel an meinem Haar ziepen. "Versprochen." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)