Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 125: Zeit für Legenden (Der Wert eines Lächelns) -------------------------------------------------------- Sonnfel benötigt etwa zwei Sekunden, um sich mit Energie aufzuladen, zwei Sekunden, ohne die wir vermutlich alle auf der Stelle gestorben wären. Ich habe keine Zeit zu denken, reagiere nur automatisch. Gott und die anderen sind zurückgerufen, bevor ich überhaupt richtig begriffen habe, was gleich geschehen wird. Louis´ Pokémon geht es genauso, lediglich Garados taucht im Meer unter, bevor es im Pokéball verschwinden kann. Ho-Oh schnellt vor und packt die erstbesten Personen mit seinen Krallen, die es erwischt – Ruth und Minerva. Ich verspüre einen kurzen Sekundenbruchteil an Erleichterung, dass zumindest sie heil davonkommen werden, bevor Sonnfel explodiert. Eine Woge aus Druck, Feuer, Holz- und Metallsplittern breitet sich rasend in unsere Richtung aus. Ein Schatten wirft sich vor uns. Louis reißt mich zu Boden, bleibt auf mir liegen, während um uns herum Chaos und Zerstörung wüten. Ein eindringliches Piepen füllt meine Ohren, blendet alle anderen Geräusche nach dem ersten Knall aus. Es dauert mehrere langgezogene Sekunden, bevor ich es wage, den Kopf unter meinen Armen hervorzuheben. Ich stutze. Warum bin ich nicht tot? Mein Blick folgt Louis, der sich langsam erhebt. Außer einer Schicht aus zerborstenem Holz und Staub, die uns beide bedeckt und Schürfwunden, wo wir über das Deck geschrammt sind, scheinen wir unversehrt. Da erinnere ich mich an den Schatten und sehe mich um. Chris´ Gewaldro steht mit überkreuzten Armen vor uns, sein Scanner noch immer aktiv. Im Licht der glühenden Holzplanken schimmert er als Kuppel, die uns vor dem schlimmsten Effekt der Selbstzerstörungsattacke geschützt hat. Tiefe Erleichterung überkommt mich. Es ist Louis, der mich mit einem Tippen auf die Schulter aus meiner Starre reißt. Seine Lippen bewegen sich, aber ich kann kaum etwas verstehen, so laut ist das Piepen. Als er mein Unverständnis bemerkt, spricht er langsamer, formt die Worte bewusster. „Wenn Gewaldro hier ist…“, übersetze ich seine Worte, als er langsam den Kopf Richtung Tür wendet, „…was ist dann mit Chris?“ „Oh scheiße“, flüstere ich und renne los. Die Tür ist aus der Verankerung gerissen und nach innen gedrückt worden. Als ich mich durch die Holzbretter und -splitter geschlagen habe, entdecke ich Knakrack, das besiegt am Boden liegt, die Arme noch verschränkt. Es muss seine Trainerin mit seinem Körper abgeschirmt haben. Chris liegt ein Stück weiter die Treppe runter. Mir steigt der Geschmack von Galle im Rachen auf, als ich sie entdecke. Aus ihrem Bauch ragt ein gewaltiger Metallsplitter und Blut sickert aus der Wunde, bildet eine kleine Lache unter ihr. Wie betäubt gehe ich neben ihr auf die Knie, tätschele ihre Wange. Ihre Augen bleiben geschlossen. Ich fühle ihren Puls, lausche auf einen Herzschlag. Ich kann nur an Jayden denken, dem ich sagen muss, dass seine beste Freundin, seine zweite Hälfte, tot ist. Tot, weil sie Louis und mich beschützt hat. Tränen steigen in meinen Augen auf, aber ich halte sie zurück, taste nur konzentriert nach dem Puls. Einige Sekunden lang schwebe ich im Nichts. Dann… Da. Schwach, aber vorhanden. Ich spüre die Tränen, die nun doch über meine Wangen sickern, dieses Mal aus Erleichterung. Neben mir taucht Louis auf. „Ist sie… ich meine…“ Seine Stimme dringt nur spärlich zu mir durch, aber zumindest kann ich ihn jetzt verstehen. Ich schüttele den Kopf. „Sie lebt. Aber sie muss sofort in ein Krankenhaus. Ihre Wunde sieht nicht gut aus und sie verliert Blut.“ Louis´ Gesicht wird aschfahl. „Abby, das nächste Krankenhaus ist in Dukatia City. Es dauert fast zwei Stunden, bis wir dort sind.“ Sein Blick gleitet über Chris. „Das schafft sie nie.“ Ich schließe die Augen. „Sie muss“, sage ich steif und stehe auf. „Aber du hast Recht, Dukatia ist zu weit entfernt.“ Ich beiße mir auf die Lippen, fahre mir mit der Hand durchs Haar. Plötzlich fällt mein Blick auf die Brandnarbe an meiner Handinnenseite, die ich mir an Gotts Schuppen geholt habe. „Percy“, flüstere ich und drehe mich abrupt zu Louis um. „Sein Corasonn kann Heilattacken und er hat Zugang zu der Apotheke seiner Eltern. Anemonia City liegt näher, oder?“ Louis nickt, seine Augen blitzen. „Es wird immer noch über eine Stunde dauern, aber es geht definitiv schneller.“ „Gut.“ Entschlossen rufe ich Gott, der sich neben uns auf der Treppe materialisiert und die Situation mit einem einzigen Blick versteht. Er beugt sich vor und hebt Chris behutsam auf. „Wir müssen Ho-Oh klar machen, er fliegt die Strecke sicher in unter einer Stunde, wenn er sich beeilt. Los jetzt!“ Ich rufe Knakrack zurück, dann laufen wir Gott hinterher, der Chris bereits hinaus aufs Deck getragen hat, zumindest auf den Teil, der noch begehbar ist. Die Explosion hat ein riesiges Loch in den Boden gerissen, das nun den Blick auf die Räume unter uns freigibt. Das Holz am Rand ist verkohlt und brüchig und Asche, Staub und Splitter verschiedener Materialien liegen überall verstreut. Ho-Oh ist bereits gelandet und hat Ruth und Minerva abgesetzt. Ruth steht wie benommen neben der Reling und scheint nicht zu wissen, was gerade geschehen ist oder was sie tun soll. Minerva kniet etwas abseits neben einem Schutthaufen aus Dielen und Schiffsutensilien und wühlt verzweifelt darin. Ich ignoriere sie vorerst und helfe Gott und Gewaldro dabei, Chris auf Ho-Ohs Rücken zu hieven. Nachdem das erledigt ist und ich nach etwas Suchen auch Gewaldros Pokéball gefunden habe, wende ich mich Louis zu. „Du musst mit ihr mitfliegen“, sage ich eindringlich und greife seine Hand. „Percy kennt dich und sie braucht jemanden, der bei ihr ist.“ „Und du?“ „Ich kümmere mich um den Rest hier“, sage ich entschieden und schiele dabei zu Ruth, die nun doch einen vorsichtigen Schritt in Richtung ihrer Mutter gemacht hat. Die hat inzwischen wimmernd die Arme um sich selbst geschlungen. Louis sieht so aus, als wolle er wiedersprechen, aber letztlich nickt er nur knapp, küsst mich auf den Mund und schwingt sich hinter Chris auf den Rücken des Legendären. Er ruft Pikachu zurück und keine Sekunde später erhebt sich der Phönix sanft in die Lüfte und schießt davon Richtung Nordwesten, nach Anemonia City. Ich atme tief durch und gehe zu Ruth. Aus der Nähe sieht sie noch schlimmer aus. Schweiß pappt das kurze Haar an ihre Stirn, deren Haut neben dem feurigen Rot so grau wie Asche scheint. Tränenspuren bedecken ihr ganzes Gesicht und ihre Augen sind rot umrandet. Ohne zu wissen, was ich tue, breite ich die Arme aus und umarme sie. Ruth wird stocksteif, entspannt sich jedoch im nächsten Moment und krallt sich an meinen Rücken. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. „Ich dachte, meine Mutter bringt mich um, ich dachte nicht, dass sie jemals… wie konnte sie nur?“ Ich nuschele ein paar unverständliche Worte, die mir unter anderen Umständen zutiefst peinlich gewesen wären und streiche ihr über den Rücken. Ich habe keine Ahnung, was genau ich sagen soll. Ein Alles wird gut oder Jetzt ist es vorbei scheint mir genauso fehl am Platz wie ein Tut mir leid, dass deine Mutter sich als Verräterin herausgestellt hat und deine Tante euch alle in die Luft sprengen wollte. Minervas Schluchzen wird lauter und zieht uns in die Wirklichkeit zurück. Hastig löst Ruth sich von mir und bedenkt mich mit einem wütenden Blick, Schamesröte im Gesicht. Sie wischt mit den Ärmeln ihrer Bluse über ihre Augen und wendet sich ihrer Mutter zu. Ich folge ihrem Beispiel und schlucke, als mir bewusst wird, dass Athena nirgends zu sehen ist. Hat sie es doch geschafft, zu fliehen? Im selben Moment, da der Gedanke durch meinen Kopf schießt, verwerfe ich ihn wieder. Athenas Pokémon waren besiegt. Ho-Oh hat sie nicht tragen können. Wenn sie nicht in über die Reling ins Meer gesprungen ist, dann muss sie… Mein Blick gleitet über das Loch, das Sonnfell ins Deck gesprengt hat, zu dem Schutthaufen neben Minerva. Eine böse Vorahnung breitet sich in meiner Brust aus. Taub folge ich Ruth zu ihrer Mutter und gehe neben ihr in die Hocke. Minerva hat Athena an den Fußgelenken aus den Überresten der Explosion gezogen. Das rote Haar und Teile ihres schwarzen Hosenkleids sind angesengt, ihr Gesicht und die Hände weisen Brandblasen auf. Einige von ihnen sind aufgeplatzt. All das hätte ich ertragen. Nur nicht Athenas Augen, die offen und leblos in den Himmel starren. Sie ist tot. Ruth gibt ein würgendes Geräusch von sich, sprintet zur Reling und übergibt sich über den Rand ins Meer. Zitternd wende ich den Blick ab und schließe die Augen, atme mehrmals tief durch. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Was wird Dark sagen? Meine Eingeweide verschlingen sich, während ich an seine Worte in Caros Wohnung denke. Nicht darüber nachdenken. Nicht die Fassung verlieren. Neu entschlossen öffne ich die Augen und greife nach meinem Head-Set. Die Gefahr ist gebannt, Athena ist unschädlich gemacht und die MS. Love ist nicht explodiert. Ich muss Jayden über Chris´ Zustand informieren und mir einen Statusbericht von den anderen geben lassen. Seit ich von Louis aufs Schiff geholt worden bin, habe ich nichts mehr mitgehört. Meine Finger finden mit einigem Zittern den On-Schalter und aktivieren den Ton. Mir schlagen Chaos und Schreie entgegen. "NATHAN! NATHAN!" "Was ist passiert?" "Er wurde angeschossen. Nathan, sag was, bitte!" "Jemand schick bitte Verstärkung, wir sind eingekesselt–" "Flammenwurf, verdammt!" "Scheiße, scheiße, schei–" Ich taumele, so überraschend sind die verzweifelten Stimmen, die mir entgegen dringen. Irgendwie hatte ich erwartet, dass die anderen Kämpfe bereits abgeschlossen sind, dass Athena die letzte Bedrohung war, die es zu überwinden galt. Aus dem Tohuwabohu kann ich nur einige Shadows heraushören. Melissa, Ronya, Jayden, Amy. Nathan ist angeschossen. Dark scheint noch mit Atlas zu kämpfen. Vom Rest höre ich gar nichts. Die größte Bedrohung ist ausgeschaltet, aber das ist mir in Angesicht der Tatsache, dass all meine Freunde diese Nacht möglicherweise nicht überleben werden, herzlich egal. "Wo seid ihr?", frage ich schluckend. "Wie kann ich helfen?" "Abby? Gott sei Dank, dir geht es gut", erklingt Raphaels Stimme. Er klingt unendlich erschöpft und heiser. "Jayden ist hier, aber irgendjemand muss Verstärkung gerufen haben. Es kommen immer mehr und inzwischen haben sie das Pokécenter besetzt und wir haben keine kampffähigen Pokémon mehr. Wir verstecken uns derzeit noch im Wald, aber wir halten nicht mehr lange durch." "Zach hat Craig besiegt, aber einige andere haben uns von hinten mit ihren Käfern überrascht", flüstert Richy. Im Hintergrund kann ich Poltern und Klopfen vernehmen. "Wir haben uns im Untergrund verbarrikadiert, aber wir müssen warten, bis Caro von der anderen Seite angreift." "Wer noch?", frage ich matt. "Ryan ist noch dabei, Dark und Gold durch die Fallen im Hauptquartier zu lotsen", meldet sich Amy zu Wort. Ihr verspielter Tonfall ist im Laufe der Nacht verloren gegangen. "Ich halte alleine die Stellung, aber sie rennen uns bald das HQ ein." "Ich bin unterwegs zu ihr, aber ich brauche noch eine Weile", erklärt Ronya schnell. "Einer der Top Vier war in Marmoria und hat uns geholfen. Wir haben dort die Stellung gehalten, aber jetzt verfolgen sie mich. Ich werde sie einfach nicht los und ihr Level ist zu niedrig, um sie zu besiegen." "Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um auf deine Prinzipen wert zu legen!", fauche ich sie an, erhalte als Antwort jedoch nur stoisches Schweigen. "Also brauchen wir Unterstützung an drei Fronten, sehe ich das richtig?" "Vier, wenn du Viola mitzählst", murmelt Jayden. Seine Stimme bricht am Ende, so als hätte er Schmerzen. "Drei", sagt Melissa scharf. "Sobald ich… Nathan ins… Pokécenter gebracht habe… nehme ich mir den Rest dieser Bagage vor. Alleine", fügt sie hinzu, als wolle sie das ein für alle Mal klarstellen. "Ich- ich lass mir was einfallen", flüstere ich und schalte das Head-Set leiser. Ruth, die sich von der Reling gelöst hat, kommt in meine Richtung. "Du siehst schlimm aus", stellt sie fest, ungeachtet dessen, dass sie selbst kein Stück besser aussehen kann. Ich verkneife mir die scharfe Bemerkung und schaue zu Minerva hinüber, die noch immer neben Athenas Leiche kniet und hilflos weint. "Hast du Heiltränke dabei?", frage ich. "Beleber, irgendetwas in der Richtung." Sie betrachtet mich kritisch. "Wir haben eine mobile Heilmaschine unten im Schiff", sagt sie schließlich naserümpfend. "Willst du die benutzen?" Erleichtert nicke ich und lasse mich von Ruth an der Hand packen und unter Deck zerren. In Angesicht der Kämpfe, die noch überall stattfinden, habe ich nur noch eine Hoffnung. Und für die brauche ich Hunter. Es dauert nicht lange, bis wir das Zimmer finden, in dem einige Heilmaschinen in Regalen stehen. "Die waren dafür, um Pokémon vor ihrem Auftritt bei den Wettbewerben ein letztes Mal aufzupäppeln", erklärt Ruth, während sie mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelegt steht und mir dabei zusieht, wie ich mein gesamtes Team heile. Ich muss mich beeilen, aber zumindest hierfür kann ich mir die Zeit nehmen. Kaum bin ich fertig, laufen wir durch die Gänge zurück hinauf aufs Deck. Den Schiffspassagieren, die sich in ihren jeweiligen Zimmern verbarrikadiert haben, begegnen wir nicht, worüber ich dankbar bin. Ich will gerade mit niemandem reden, schon gar nicht mit reichen Schnöseln, die sich womöglich noch darüber beschweren, dass ihre Rettung so unangenehm verlaufen ist. Vielleicht sind es Vorurteile, aber meine Bekanntschaft mit Ruth hat mich eindeutig geprägt. Auch wenn sie sich gebessert hat. Ich schiele anerkennend zu ihr. Athenas Tod hat sie mitgenommen, trotzdem läuft sie jetzt mit erhobenem Kopf die Treppen hinauf, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Draußen angekommen schlägt mir salzige Nachtluft entgegen. Ich aktiviere Hunters Pokéball und steige ohne große Umschweife auf seinen Rücken. Ruth schaut mich entsetzt an. "Und was wird das, wenn´s fertig ist?", fragt sie kühl. "Ich muss weg", erkläre ich. "Meine Teammitglieder sind eingekesselt. Ich kann sie nicht alleine lassen." "Und was willst du alleine ausrichten?", faucht Ruth zurück. "Das ist so typisch für dich", fährt sie fort. "Du rennst Kopf voran in alle Wände, die du finden kannst. Was willst du denn jetzt noch machen? Dort aufkreuzen und die Welt retten? Ich dachte, du hättest endlich begriffen, dass Team Rocket… dass nicht immer alles so läuft, wie du es dir wünschst." Statt ihrer gewünschten Wirkung bringen Ruths Worte mich einfach nur zum Lachen. "Keine Sorge", sage ich und presse meine Schenkel gegen Hunters Brustkorb. "Ich weiß sehr genau, dass nicht immer alles nach Plan läuft.“ Ruth schaut mich an, als hätte ich gerade etwas sehr verstörendes gesagt. "Und ich?", fragt sie. "Was soll ich machen? Hier alleine rumsitzen?" "Du könntest dafür sorgen, dass deine Mutter keinen Ärger mehr macht", erwidere ich ungeduldig. "Und die Passagiere ruhigstellen. Und die Polizei anrufen und Bescheid sagen, dass sie so bald wie möglich Hilfe schicken sollen. Oder das Deck fegen. Was weiß ich." „Das ist nicht witzig", murmelt Ruth, nickt aber und wendet sich ab. „Viel Glück bei was auch immer für einen wahnsinnigen Plan du jetzt wieder ausgeheckt hast. Ich schreibe eine Rede für deine Beerdigung, wenn etwas schief geht." „Zu gütig", rufe ich zurück, doch meine Worte gehen in Hunters wildem Krächzen und Flügelschlagen unter. Er scheint unzufrieden, den Großteil des Kampfes verpasst zu haben, denn er gibt sofort mit seiner Agilität Gas. „Alles klar, Hunter“, murmele ich gegen den Wind. "Zeit für uns, mal wieder allen den Arsch zu retten. Du weißt, wohin wir müssen?" Hunter schwenkt den Kopf in meine Richtung und schaut mich fragend an. Ich lache. "Nimm Kurs auf den Felsenherzturm", sage ich. "Es wird Zeit, unser letztes Ass aus dem Ärmel zu schütteln."   Vielleicht liegt es daran, dass Hunter die Wichtigkeit unserer Mission begreift, oder vielleicht kommt mir sein Flug auch nur deshalb schneller als sonst vor, weil er vor unserem Absturz zu erschöpft war und ich mich an sein langsames Tempo gewöhnt habe, doch wir erreichen die Steilklippe vor der Safari nur knappe vierzig Minuten nach unserem Start. Ich weiß, dass in dieser Zeit viel passiert sein kann, aber über das Head-Set bin ich in Kontakt mit den anderen geblieben und weiß zumindest, dass niemand gestorben ist, auch wenn die Situation sich von Minute zu Minute zuspitzt. Dark und Gold scheinen gerade Atlas gefunden zu haben, denn ich kann ein Kommando nach dem anderen vernehmen, die mir allesamt ein grobes Bild von dem sich abspielenden Kampf liefern. Trotzdem lasse ich mich nicht ablenken und leite Hunter in sanften Kurven Richtung Westen, zu dem Felsvorsprung, von dem aus ich damals Gold und Lugia habe abheben sehen. Zu dem Zeitpunkt glaubte ich noch, dass Team Rocket dort sicher ein Quartier eingerichtet haben muss. Nach Golds Hinweis vor wenigen Tagen weiß ich es besser. Seine Worte hallen schon seit Beginn unseres Flugs wie ein Echo in meinen Gedanken wieder. Red versteckt sich im Felsenherzturm. Wenn alles andere fehlschlägt, versuch dein Glück bei ihm. "Versuch dein Glück", murmele ich missmutig und presse mich enger an Hunters Rücken, um ihn durch die nahenden Habitak und Ibitak zu lenken, deren Revier wir inzwischen durchqueren. Nach dem, was Gold mir von Red erzählt hat, bin ich nicht mal sicher, ob er sich mir, einer unbedeutenden Trainerin, zeigen wird. Aber ich habe keine Wahl. Ich muss es versuchen. Den ersten Bohrschnäbeln weicht Hunter mit seiner Agilität spielend aus, dreht sich im Flug auf den Rücken und attackiert einen Artgenossen von unten mit seinen Klauen, bevor er sich herabsinken lässt und zu einer Fliegenattacke ansetzt. Ungeachtet seiner Flugmanöver rufe ich Priss, die sich im Laufe der Nacht als perfekte Flugpartnerin entpuppt hat und aus meiner engen Umarmung einen Vogel nach dem anderen mit ihrem Aurorastrahl abschießt. Flügel und Beine frieren ein, Habitak trudeln krächzend ins Meer oder schleppen sich mit letzter Kraft zu ihrem Horst. Ich bleibe völlig ruhig. Meine Gedanken sind bereits bei dem Gespräch mit Red, in dem ich die Legende irgendwie davon überzeugen muss, sein selbstauferlegtes Exil zu beenden und in die Zivilisation zurückzukehren, wenn auch nur für eine Nacht. Ich bin realistisch genug, meine Chancen gering einzuschätzen. Das heißt jedoch nicht, dass ich kampflos aufgeben werde. Als wir endlich durch den Vogelschwarm hindurch sind und Hunter hochzufrieden auf dem Vorsprung landet, wird mir vage bewusst, dass ich nervös bin. Red ist meine letzte Hoffnung, aber er ist immer noch… Red. Die Legende. Mein größtes Idol. Ich bin nicht sicher, ob sich das in ein paar Stunden bestätigt haben wird, oder ob ich ihn verfluchen werde. Mit einem Kloß in der Kehle und viel zu schnell klopfendem Herzen rufe ich meine Pokémon zurück und laufe die Felswand ab. Auf den ersten Blick scheint sie unberührt, ohne Eingang, doch als ich mit beiden Händen über den Stein fahre und sanft drücke, entdecke ich weit am Rand ein Stück Fels, das sich nach hinten schieben lässt. Ich drücke dagegen und finde mich nur Sekunden später in einem stockdusteren Höhlengewölbe wieder. Stille umfängt mich in einer kalten Umarmung. Meine Schuhe schrammen über den schroffen Untergrund, als ich mich Schritt für Schritt in den Felsenherzturm vorwage. Kleine Steinchen kullern über den Boden. Von der Art, wie selbst mein nervöses Atmen in der Höhle wiederhallt, muss ich mich in einem weitläufigen Raum befinden. „Hallo?“ Kein Pokémon, keine Menschenseele, ist in Sicht, oder zumindest erahnbar. Meine Nackenhaare stellen sich auf. „Red?“, versuche ich es erneut. „Gold hat mich geschickt. Bitte, zeig dich.“ Über mir, am anderen Ende der Höhle, flackert ein Licht auf. Eine schwarze Silhouette erhebt sich langsam gegen den Schein und schwingt sich ohne Zögern von dem Vorsprung. Sie landet hockend auf dem Steinboden, richtet sich sofort wieder auf und kommt mit bedächtigen Schritten auf mich zu. Das Feuer, das die Person eben noch erleuchtet hat, erlischt, bevor das Rascheln von ledrigen Flügeln und der aufkommende Wind ein Pokémon ankündigen, das von dem Vorsprung herabgleitet und auf dem Höhlenboden landet. Feuer lodert auf und ich erkenne zum ersten Mal die Umrisse eines Gluraks, dessen muskulöser Schweif sanft emporgereckt ist. Die Flamme an seinem Ende flackert und zischt und ihr Licht füllt fast die gesamte Höhle aus. Mein erster Gedanke ist, dass Gluraks nicht so groß werden. Selbst Jaydens Glurak, dessen Level ich auf 75 schätze, misst von Kopf bis Schwanz nur etwa drei Meter. Der Körper dieses Exemplars ist nicht nur mit orangeroten Schuppen besetzt, die im Feuerschein von innen heraus zu glühen scheinen, es muss fünf Meter lang sein. Das längliche Maul ist gespickt mit blinkenden Fängen und die Augen leuchten rot und misstrauisch aus seinem Schädel. Die Länge seines Körpers umschlingt seinen Trainer in einem Halbkreis, schützend wie ein Leibwächter. Mein Blick gleitet von dem Feuerdrachen zu der Figur in seiner Obhut. Red ist kleiner, als ich erwartet hatte. Kleiner in jedem Falle als Gold, der mich weit überragt. Seinen Körperbau kann ich unter dem zerschlissenen T-Shirt und der schmutzstarrenden Hose nur erahnen, doch seine Figur erinnert mich an einen Ausdauerläufer, nur Sehnen und seilartige Muskelstränge. Auch sonst hat Red nicht viel mit der Person gemein, als die ich ihn mir immer vorgestellt habe. Sein dunkelbraunes Haar ist stumpf und in einem wirren Knoten an seinem Hinterkopf befestigt und ein ungepflegter Bart bedeckt sein Kinn, einige Flecken dichter bewachsen als andere, so als hätte Red versucht, sich mit einem stumpfen Messer zu rasieren. Das Schockierendste ist jedoch sein Blick. Seine Augen, grün oder blau oder grau, scheinen kraftlos, betäubt. Wie ein trüber Tümpel in der Dunkelheit, eine vergriffene Münze, die ihren Glanz lange eingebüßt hat. Am liebsten hätte ich geweint. „Red“, wiederhole ich seinen Namen. Er starrt mich nur an und ich erinnere mich an Golds Worte, damals am Strand von Anemonia City. Er spricht nicht. Schon seit Jahren nicht mehr. Er isst kaum. Er lebt wie ein Einsiedler, immer wartend. Auf irgendjemanden, der ihn besiegen kann. Ich hole tief Luft. „Mein Name ist Abbygail, Abbygail Hamp– nein, lassen wir das, mein Nachname interessiert dich sicher herzlich wenig. Ich bin Abby. Einfach nur Abby.“ „…“ „Ja. Also.“ Ich schlucke. Noch nie in meinem Leben haben mir die Worte so sehr gefehlt wie in diesem Moment. Wenn er mich zumindest auslachen würde, wenn er irgendeine Regung in seinem Gesicht zeigen würde, außer diesem… diesem verlorenen Blick. „Team Rocket ist zurück“, sage ich und bin erleichtert, dass meine Stimme bei diesen altbekannten Worten an Festigkeit gewinnt. „Sie haben heute Nacht in mehreren Städten gleichzeitig angegriffen und versucht, ein Schiff voller reicher Schnösel zu entführen, die Passagiere umzubringen und sich so politische Positionen zu sichern. Ich habe sie aufgehalten, aber meine Freunde kämpfen noch immer. Team Rocket hat Käferpokémon benutzt, um sie alle zu paralysieren und jede Sekunde, die wir warten, könnte jemand von ihnen sterben. Ich brauche deine Hilfe. Bitte.“ Red blinzelt nicht mal, legt nur den Kopf leicht schief. Glurak grollt bedrohlich. „Ich weiß, dass du dich versteckt hältst, damit eines Tages ein Trainer herkommt, der dir ebenbürtig ist und dich herausfordert“, fahre ich fort, langsam unruhig. Red sieht nicht so aus, als würde er sein Exil aufheben wollen, um mir zu helfen. Er sieht nicht mal so aus, als würde er begreifen, wovon ich überhaupt rede, und wie sollte er auch? Er war nicht da. Er hat Team Rockets Auferstehung nicht miterlebt, war nicht an den Kämpfen beteiligt, die wir gefochten haben, hat niemanden verloren… „Was soll das hier überhaupt?“, frage ich, plötzlich wütend. Meine Geste umfasst Red, Glurak, die gesamte Höhle, seine gesamte Existenz. „Was für eine hirnrissige Idee war es, dich hier zu verkriechen, nur weil du zu stark geworden bist! Wer soll dich denn hier bitte finden? Ein Trainer, der dir ebenbürtig ist? Kanto und Johto mögen dich nicht vergessen haben, aber was ist mit Trainerin in anderen Regionen? Hast du deine Heimat je verlassen, bist du je losgeflogen, um andere Herausforderungen zu suchen?“ „…“ Sein Schweigen irritiert mich nur noch mehr und meine nächsten Worte durchschneiden die angespannte Stille. „Deine Mutter vermisst dich, Gold und Blue vermissen dich, deine Fans vermissen dich und du besuchst niemanden, hältst dich nur aus allen Angelegenheiten raus! Gold hat uns geholfen. Er fliegt seit Monaten unermüdlich über Kanto und Johto, benachrichtigt die Polizei, wenn er Rockets findet, kämpft an unserer Seite. Er hat Leben gerettet, verstehst du? LEBEN!“ „…“ Mir steigen die Tränen in die Augen. Nicht, weil ich verzweifelt bin. Sondern weil mir plötzlich und völlig ungeschont bewusst wird, wie enttäuscht ich von meinem Idol bin. Red hat keine Ausreden. Egal, was er fühlt, er hat keine Ausrede dafür, uns alle im Stich gelassen zu haben. „Du bist stärker als Gold“, fauche ich. „Der stärkste Trainer aller Zeiten und du bläst Trübsal, weil du zu stark bist? Hast du je gegen einen Schwarm Käferpokémon gekämpft, die dich von allen Seiten mit Statusattacken angreifen? Hast du je gegen dreißig Rockets gleichzeitig gekämpft, einen Luftkampf geführt, während du kopfüber hängst und Pistolenschüssen ausweichen musstest? Gewusst, dass jeden Moment jemand stirbt, weil du deinen Gegner nicht schnell genug besiegt hast?!“ Mir ist vage bewusst, dass Glurak sich erhoben hat und auf mich zugetrottet ist. Sein Atem ist heiß und stinkt nach Verwesung, als er den Kopf senkt und die Nüstern bläht, nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Mein Herz setzt einen Schlag aus, dann übernimmt wieder die Wut und ich drücke seine Schnauze kurzerhand zur Seite, stapfe an Glurak vorbei und auf Red zu. Er rührt sich nicht, auch nicht, als ich kaum eine Armlänge von ihm entfernt stehenbleibe. Gluraks Grollen erstickt in seiner Kehle, als Red ihm einen kurzen Blick zuwirft, nur um im nächsten Moment seine leeren Augen auf mich zu fixieren. Kommt es mir nur so vor, oder wirkt er wacher? „Da draußen“, fahre ich atemlos fort, „wartet die größte Herausforderung, der du dich seit Jahren gestellt hast. Azalea City steht unter der Kontrolle von Team Rocket, niemand dort ist mehr kampffähig, das Pokécenter ist blockiert. Dukatia und Prismania City sind kurz davor, überrannt zu werden und in Viola City sieht es auch nicht gerade rosig aus. Gold und Dark sind auf Eiland Fünf, im Rocket Hauptquartier und kämpfen dort gegen ihren Anführer. Ich habe keine Ahnung, ob sie die Nacht überleben werden oder ob dort drin irgendwelche Fallen sind, die Ryan nicht ausschalten konnte, oder ob Atlas Verstärkung hat oder ob sonst etwas schiefgegangen ist.“ Reds Augen blitzen bei dem bekannten Namen auf. Hoffnung macht sich in mir breit, wie eine warme Hand, die sich um mein Herz schließt. „Bitte“, sage ich und schließe die Augen. „Wir brauchen dich.“ Einige Sekunden passiert nichts. Dann umfassen seine Finger die meinen und drücken zu, ganz leicht nur, wie ein Lufthauch. Ich hebe den Kopf, suche sein Gesicht nach einer Antwort ab. Seine Züge sind ausdruckslos, aber seine Augen leuchten ein bisschen mehr als noch zuvor und er nickt mir flüchtig zu. Ich sinke auf die Knie. „Danke“, flüstere ich. „Danke, Red.“ Red lässt meine Hand los, wirft Glurak einen Blick zu und verlässt die Höhle. Als wir nach draußen treten, atmet er tief durch, so als wäre es Jahre her, seit er das letzte Mal frische Luft geatmet hat. Mir wird unwohl bei dem Gedanken, dass das gar nicht mal so abwegig ist. Den Blick nach Osten gewendet folge ich Red und Glurak zum Rand des Felsvorsprungs. Der Feuerdrache bewegt sich auf allen Vieren vorwärts, bedächtig und mit tödlicher Effizienz. Die Habitak und Ibitak, die bei meiner Ankunft verrückt gespielt haben, sind verstummt und aus dem Himmel geflohen. Ich schmunzele. Sie scheinen keine guten Erfahrungen mit Reds Glurak gemacht zu haben. Apropos Red. Er ist auf Gluraks Rücken geklettert, dessen blaue Schwingen von den ersten Sonnenstrahlen durchleuchtet werden. Adern durchziehen das dünne Gewebe wie kleine Flussläufe. Ich bin so fasziniert von dem Anblick, dass ich den Abflug fast verpasse. Im einen Moment streckt Glurak noch die Glieder, im nächsten nimmt es schon Anlauf und katapultiert sich in die Lüfte. „RED, WARTE!“, schreie ich und renne hinterher, bis ich halb von der Klippe stolpere. Nur mit Mühe behalte ich die Balance, als Glurak inne hält und genervt schnaubt, während Red sich auf dem Rücken zu mir umdreht und fragend anschaut. „…?“ „Eine neue Generation Trainer ist auf dem Vormarsch!“, rufe ich und denke an Dark, an Melissa, an Chris, an all die anderen Verrückten aus Team Shadow, die ihr Leben dem Training ihres Teams gewidmet haben. „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber sie werden dich einholen und sie werden gewinnen, verlass dich drauf!“ Der Sonnenaufgang am Horizont verblasst neben Reds Lächeln. Der Anblick bewegt etwas in mir, von dem ich nicht wusste, dass es existiert. Mein Herz pocht in meiner Brust, während ich der Legende dabei zusehe, wie sie Richtung Festland verschwindet, inzwischen nur noch ein roter Punkt gegen die dunstigen Morgenwolken. Mit dem Gefühl, alles in meiner Macht Stehende getan zu haben, rufe ich Hunter und aktiviere das Head-Set, um den anderen von der nahen Hilfe zu berichten. Hunter krächzt glücklich und reibt seinen fedrigen Kopf an meine Wange, während ich mich auf seinen Rücken schwinge. Er nimmt Anlauf und wirft sich vom Felsenherzturm, schießt in einem euphorischen Sturzflug in die Tiefe und zieht erst hoch, als ich schon das Salz des Meeres auf den Lippen schmecke. Ohne auf mein Kommando zu warten, nimmt er Kurs auf Anemonia City, wo Louis sicher schon auf mich wartet. Mit etwas Glück können wir zusammen weiterfliegen bei der Versorgung der Verletzten helfen. „Abby?“ „Dark?“, frage ich aufgeregt und presse das Head-Set fester in mein Ohr. Es hat heute Nacht einiges durchstehen müssen und die Soundqualität ist nicht mehr ganz die alte. Umso weniger verwunderlich ist es, dass ich Darks Worten keinen Glauben schenke, bis er sie für mich wiederholt. „Atlas ist besiegt, Abby“, sagt er, während im Hintergrund Hundemons lautes, freudiges Bellen zu hören ist. „Das Hauptquartier steht unter unserer Kontrolle. Wir haben gewonnen.“ Ich kann es nicht ganz fassen, aber die Worte sickern in mein Bewusstsein, tiefer und tiefer, bis mir ihre Bedeutung vollends bewusst wird. Lachen schüttelt mich, hilfloses, erleichtertes Lachen. Atlas ist besiegt. Wir haben gewonnen. Es ist vorbei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)