Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 121: Der 19. Mai (Vorbereitung und Chaos) ------------------------------------------------- Der Flug nach Azalea City dauert kaum eine Stunde. Nach unserer Verabschiedung von Caro, Richard und Zach, die zusammen mit Gerard den Untergrund und den Radioturm sichern wollen, fliegen Raphael, Genevieve und ich am nächsten Morgen frühzeitig nach Süden. Der Menschenauflauf ist groß, als wir in der Stadtmitte nahe der Arena landen. Ganz Azalea scheint versammelt zu sein, allen voran Kai, der bereits lächelnd auf uns wartet. „Abby“, begrüßt er mich, als ich von Hunter abspringe und meine Maske hochziehe, sodass sie nur noch meine Stirn bedeckt. „Es tut gut, dich wiederzusehen. Und berühmte Verstärkung hast du auch mitgebracht, wie ich sehe.“ Ich grinse Gen und Raphael zu, die meinem Beispiel folgen und inmitten der Schaulustigen von ihren Pokémon steigen. Mandy knurrt und reckt stolz den Kopf, während Hunter glücklich gurrt und zu einem Kind hopst, das mit einem Stück Brot durch die Luft wedelt. Ehrfürchtig schaut es auf und sieht dabei zu, wie er das Brot aus der kleinen Hand pickt und seinen Hals zum Streicheln hinhält. „Wir geben später Autogramme!“, verkündet Gen lautstark, als die Blicke der Umstehenden an den beiden Favoriten hängen bleiben und die ersten schon unsicher einen Schritt nach vorne machen. „Es ist lange her“, sage ich an Kai gewandt und schüttele seine Hand. „Ich bin Team Shadow Mitglied, die anderen beiden sind als Unterstützung hier.“ „Lasst uns auf dem Weg reden“, sagt Kai und nickt in Richtung Stadtausgang. „Die anderen Trainer warten am Einheitstunnel auf euch.“ Wir rufen unsere Pokémon zurück und verlassen Azalea unter viel Getuschel. Unterwegs unterrichtet Kai uns über die Lage. „Ich bin froh, dass ihr zu dritt seid“, erklärt er, während wir durch feuchtes Gras stapfen. „Meine Vortrainer sind selbstverständlich engagiert worden, aber es sind nur wenige andere Trainer hier vertreten und ihre Pokémon sind zumeist auf sehr geringem Level. Wir sind fürchterlich unterbesetzt.“ „Keine Sorge“, sagt Raphael. „Wir werden uns nicht von Team Rocket schlagen lassen. Die Polizei wird ebenfalls vor Ort sein, wenn es soweit ist, nehme ich an?“ „Der Einheitstunnel ist von den Bohrungen betroffen, daher gehe ich stark davon aus“, stimmt Kai zu. „Aber wie viele es sein werden, ist mir noch nicht mitgeteilt worden.“ Schon bald kann ich die ersten Rufe vernehmen, die uns hinter dem kleinen Waldausläufer entgegenschallen und kurze Zeit später kommen die ersten Trainer in unser Sichtfeld. Ich entdecke Katrina und Joshua, zwei der Vortrainer, gegen die Louis damals kämpfen musste, um gegen Kai antreten zu dürfen. Die beiden sind in ein Duell mit ihren Pokémon Bibor und Yanma vertieft. Ringsum stehen drei weitere Pärchen, die allesamt mit je einem Pokémon gegeneinander antreten. Ich verziehe das Gesicht. Das kann ja noch heiter werden. Als man uns bemerkt, brechen die Kämpfe in Sekundenschnelle ab. Die acht Trainer stoßen zu uns und schauen mit bewundernden Blicken auf die Masken, die wir alle auf der Seite unseres Kopfes oder um den Hals tragen. Wenn ich früher gewusst hätte, dass ein Stück Plastik mich berühmt machen könnte, hätte ich mir schon vor Monaten eines besorgt. So erwidere ich lachend die Begrüßungen und tausche mich kurz mit Katrina und Joshua aus, mit denen ich damals am meisten zu tun hatte. Kai räuspert sich. "Alle mal herhören", sagt er. "Ihr habt bisher hervorragende Arbeit geleistet, aber ich gebe euer Training ab jetzt in die fähigen Hände von Abby. Sie wird euch diese letzten Tage unterrichten und Tipps für den Anschlag geben. Bitte respektiert ihre Führungsrolle." Ein schmaler Junge mit vorstehenden Zähnen tritt aus der Gruppe und verschränkt die Arme. „Die Favoriten verstehe ich“, sagt er zu Kai, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Aber was ist mit dieser Abby? Niemand hat vor ihrem Auftritt von ihr gehört und Josh meint, sie hat damals nur ihrem Freund zugeguckt, statt selbst zu kämpfen. Was hat die hier zu suchen?“ „Tristan!“, erwidert Kai scharf und reißt den Kopf herum, sodass ihm das violette Haar um sein Gesicht flattert. „Was bildest du dir ein, so mit jemandem zu reden?“ „Ist doch wahr“, murmelt Tristan, ohne von mir wegzusehen. „Klar können wir jeden gebrauchen, aber sie steht da schon so eingebildet, als gehöre ihr die ganze Welt.“ „Damit hat er nicht Unrecht“, flüstert Raphael hinter meinem Rücken Gen zu, die laut los prustet und sich den Bauch halten muss. Wer braucht schon Feinde, wenn er solche Freunde hat. Ich räuspere mich. „Wenn du willst, können wir uns duellieren“, sage ich. „Eins gegen eins. Der Gewinner übernimmt die Leitung dieser ganzen Truppe, was sagst du?“ „Deal“, verkündet er sofort. Schmunzelnd greife ich nach meinem Gürtel. Meine Wahl steht fest, noch bevor sich das Maskeregen flatternd vor ihm materialisiert. Im Gegenteil, fast entscheide ich mich bei dem Anblick um, doch schließlich siegt das Bedürfnis, die Machtverhältnisse klarzustellen. Ich habe auf dem Silberberg nicht nur Strategie von Ronya gelernt. Meine Finger betätigen blind den Mechanismus des Finsterballs und so kann ich problemlos jede Veränderung auf Tristans Gesicht ausmachen, als er sich plötzlich einem ausgewachsenen und bedrohlich knurrenden Tornupto gegenüber findet. Maskeregen schwenkt unsicher durch die Luft und huscht hinter seinen Trainer, der sich entschlossen schüttelt und es zurück in den Kampf beordert. „Nassmacher!“, befiehlt er laut. Das Augenpokémon flattert empor und speit einen seichten Niesel herab, der zischend in Gotts Rückenflamme verdunstet. „Warte noch“, rufe ich Gott zu. „Lass ihn kommen.“ Er nickt stumm und breitet leicht die Arme aus, um mehr Angriffsfläche zu bieten. Was in einem regulären Kampf eine schlechte Strategie wäre, haben wir uns inzwischen antrainiert, bis es Gott und den anderen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der Schutz des Trainers vor den Angriffen feindlicher Pokémon. Maskeregen befolgt unterdessen Tristans nächsten Befehl und schlägt mit den rot gemusterten Flügeln, um einen Windstoß zu erzeugen. Gott rührt sich nicht von der Stelle, als der kleine Luftwirbel auf ihn trifft. Seine Ausläufer drängen mich einen Schritt zurück und fegen mir das Haar aus dem Gesicht, aber für Gott ist die Attacke wie erwartet ein Kinderspiel. „Sternschauer“, befehle ich. „Triff ja nicht.“ Nicht nur Tristan stutzt bei diesem Kommando, doch Gott weiß nach einem kurzen Moment, was zu tun ist. Er brüllt, lässt sich auf alle Viere fallen und schleudert eine Ladung gleißender Lichter an Maskeregen vorbei und geradewegs auf Tristan zu, der schockiert die Arme vor das Gesicht hält. Sein Pokémon fiept verzweifelt und eilt zu Hilfe, doch es ist zu spät. Die Normalattacke schießt vor – und bohrt sich wenige Zentimeter neben Tristan in den Boden. Er reißt den Kopf hoch, schaut mich wutentbrannt an. „Was sollte das?!“ „Ich zeige dir, wie Team Rocket kämpfen wird“, sage ich laut. „Euch allen. Deshalb sind wir hier. Wir haben Erfahrung, wir wissen, was auf euch zukommt und glaubt mir, mit geregelten Eins-gegen-Eins-Duellen wird der Anschlag nichts zu tun haben.“ Ungläubige Blicke werden gewechselt. Raphael hustet amüsiert und Gen stellt sich neben mir auf. „Na los!“, rufe ich energischer. „Gott steht noch. Wollt ihr gewinnen oder nicht?“ „Wir sollen… alle gleichzeitig angreifen?“, fragt Katrina langsam. „Jeder?“ „Ruft all eure Pokémon“, stimme ich zu. „Greift uns an. Ihr werdet gegen stärkere Gegner kämpfen müssen, gegen eine Überzahl an Pokémon und gegen Trainer, die euch attackieren werden, wenn ihr ihnen die Möglichkeit gebt.“ Ich werfe Kai einen kurzen Blick zu, der anerkennend nickt und grinse das Grüppchen breit an. „Wir haben nur noch drei Tage. Das echte Training beginnt jetzt!“   Die Tage verstreichen schnell. Zu schnell. Ich stehe unruhig an die Marktfassade gelehnt und warte zusammen mit Raphael auf Kai und Gen, die einen Großteil der Tränke aufkaufen, um ihn unter den Trainern zu verteilen und zu verhindern, dass Team Rocket sich bei unserer Niederlage alle Arzneien unter den Nagel reißt. Das Pokécenter können wir nicht schließen, aber ich hoffe, dass Team Rocket es nicht bis ins Stadtinnere schaffen wird. „Sie sind nicht bereit“, sage ich leise, ohne zu Raphael zu sehen. „Wir haben ihnen gerade erst die alten Gewohnheiten abtrainiert. Sie denken immer noch zu sehr wie Vortrainer.“ „Wir haben getan, was wir konnten“, erwidert Raphael. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, legt er beruhigend eine Hand auf meine Schulter. „Es wird schon gut gehen, Abby. Kai und wir drei sind stark genug, um mit den meisten Rocket-Rängen problemlos fertig zu werden.“ „Ich will einfach nicht, dass es eine Wiederholung von der Safari-Zone gibt“, sage ich und starre dabei in die Ferne. Louis´ emotionsloses Gesicht, Winrys Schrei, das Blut… Meine Finger, die ich unbewusst zu Fäusten geballt habe, lockern sich. Es hat keinen Zweck, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. „Noch sechs Stunden“, sage ich und schaue hinauf in den klaren Maihimmel. Das Wetter ist eindeutig zu schön für den nahenden Kampf; bauschige Wolken ziehen träge durch das Blau und filtern die Sonnenstrahlen zu einem blassgelben Wetterleuchten. „Wir sollten schlafen, solange wir noch können“, sagt Raphael. Sein Blick folgt meinem. „Sie könnten nachts oder tagsüber angreifen, wir haben keine Ahnung.“ Ich nicke, auch wenn ich weiß, dass ich nur wachliegen werde. Mein Kopf spielt alle Szenarien durch, all die Kämpfe, die ich hinter mir habe, die unliebsamen Ausgänge. Alles, was schief gehen kann, wirbelt in voller Farbenpracht durch meine Gedanken, wieder und wieder, bis mir von all den Möglichkeiten übel wird. Aber es hat keinen Sinn mehr. Die Zeit ist um.   Die Baumkronen wiegen sich sacht im Wind, als wir kurz vor Mitternacht Stellung im angrenzenden Wald beziehen. Die Polizisten, zehn auf unserer Seite und acht am Pokécenter hinter dem Einheitstunnel, besprechen ein letztes Mal in gedämpften Stimmen das weitere Vorgehen mit Kai. Wir haben bereits gestern abgesprochen, dass die Vortrainer sich so gut wie möglich im Hintergrund halten sollen. Die Polizisten werden zum Teil am Boden warten, zum Teil Streife fliegen. Genevieve hat sich bereiterklärt, mit ihnen die Lufträume abzusichern. Ich trete von einem Bein auf´s andere und knabbere an dem Müsliriegel, den Raphael mir aufgedrängt hat. Der letzte Blick in die Höhle hat sich als Verschwendung erwiesen. Ich habe keine Ahnung, wie Team Rocket die Pokémon dort platzieren will, ohne dass es uns auffällt, aber wenn ich die Möglichkeit habe, werde ich sie vorher aufhalten. Mit einem letzten Bissen verschwindet der Riegel in meinem Mund. Kauend betätige ich mein Head-Set und klinke mich in die Unterhaltung ein, der ich bislang aus dem Weg gegangen bin. „Alle bereit?“, frage ich leise. Noch sieben Minuten. Meine Finger trommeln über die Pokébälle an meiner Hüfte und Raphael wirft mir ein ermutigend gemeintes Lächeln zu. Es erinnert mich eher an eine Grimasse. „So bereit wie halt bei so ´ner Aktion geht“, verkündet Jayden, der längst in Teak City bei Jens stationiert ist. „Aber ich muss schon sagen, Abby, Wiesel hat hier echt ganze Arbeit geleistet. Ich hab zwanzig Kiddies zur Verfügung, die alle nicht schäbig kämpfen.“ „Wir haben acht“, entgegne ich und lasse den Blick über besagte Trainer schweifen. Die Nervosität ist allen deutlich ins Gesicht geschrieben. Katrina hat ihre Fingernägel in den letzten Tagen auf´s Blut abgekaut, Joshua macht mehr Witze als sonst, die alle nicht lustig sind und Tristan hat sich seit seiner Niederlage gegen mich nicht nur in willigen Gehorsam, sondern auch in stures Schweigen gehüllt. „In Marmoria ist die Hölle los“, verkündet Ronya. Tatsächlich kann ich Hintergrundgeräusche ausmachen, wenn ich genau hinhöre. „Ich bin übrigens deiner Schwester begegnet. Sie sagt, ich zitiere: Bitte stirb nicht, ich will mich nicht mit Mamas Heulerei rumschlagen müssen.“ „Maya…“, murmele ich, halb genervt, halb belustigt. „Charmant wie immer.“ „Wie die Schwester, so die Schwester, habe ich mir sagen lassen“, ertönt Ryans Stimme. Ich seufze und reibe mir die Schläfen. „Alle wissen, was zu tun ist, nehme ich an. Wenn es Probleme gibt, meldet euch. Eventuell können wir Verstärkung schicken. Viel Glück euch allen.“ „Ich brauche kein Glück.“ „Lissa!“ „Viel Glück, Abby.“ „Danke, Chris.“ Ich drehe die Lautstärke runter, um mir Nathans und Melissas Zankerei nicht weiter antun zu müssen und schaue in das Geäst über mir. Vereinzelte Griffel hangeln sich nervös durch die Bäume und Taubsi hüten ihre Nester. „Mitternacht“, verkündet Raphael plötzlich und stößt sich von dem Baumstamm ab, an der er gelehnt hat. „Jetzt heißt es warten.“ Ich nicke seufzend und trete näher an den Waldrand. Mein Blick wandert zum Himmel. Außer den langsam dahinziehenden Wolken und den leuchtenden Sternen am schwarzen Firmament ist nichts zu sehen. Unterdessen springt Genevieve auf Aeropteryx, das mit dem Schnabel klackert und aufgeregt das bunte Gefieder spreizt. Das Vogelpokémon wartet kaum lange genug darauf, dass sie sitzt, bevor es sich kraftvoll vom Boden abstößt und in die Lüfte katapultiert. Drei der Polizisten folgen auf Tauboss, Staraptor und Panzaeron und schießen ihr hinterher. Rotes Licht explodiert von allen Seiten und ich finde mich inmitten unserer Pokémon wieder, die alle gleichzeitig gerufen wurden. Ich folge dem Beispiel der anderen und betätige meine Bälle. Gott stellt sich automatisch schräg hinter mich, sein Feuer zu einem sanften Glühen herabgedreht, um uns nicht zu verraten. Sku, die während ihres Trainings weiter an Gewicht und Größe zugelegt hat, kratzt maunzend an meinem Bein. Ich gehe neben ihr in die Knie und kraule beruhigend ihre Kehle. „Alles wird gut“, sage ich, mehr zu mir selbst, als zu ihr. „Du wirst schon sehen.“   Eine Stunde vergeht. Zwei Stunden. Genevieve und die Polizisten kreisen unermüdlich über uns und die leisen Gesprächsfetzen, die ich von meinem Head-Set mitkriege, vermitteln mir eine ähnlich angespannte Situation an allen Fronten. Jayjay schnaubt nervös, Priss faucht und Hunter flattert unzufrieden mit den Flügeln, eingeengt durch das dichte Gebüsch. Ich lege beruhigend eine Hand auf seinen Hals und überlege, ob die drei nicht doch zurückrufen soll, da steht plötzlich einer der Polizisten, ein junger Typ mit blondem Bärtchen, neben mir. „Meinst du, sie kommen noch?“, fragt er. Ich schiele zu ihm. Seine Stimme ist ruhig, aber ungewöhnlich hoch und seine umherhuschenden Augen verraten mehr als alles andere. An niemandem geht diese endlose Warterei folgenlos vorbei. „Entweder sie zermürben uns“, sage ich, „oder sie attackieren ganz woanders und wir verschwenden hier unsere –“ „Sie kommen!“ Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, wer den Warnschrei abgegeben hat – ich hätte nicht mal mehr beurteilen können, ob es eine männliche oder weibliche Stimme war. Ich weiß nur, dass der Schrei mich vorpreschen lässt, gerade rechtzeitig, um den Nebel zu entdecken, der sich als gewaltige Front nähert. Dann fallen Schüsse. Der zischende Knall hallt in meinen Ohren wieder, als ich mich auf Hunters Rücken schwinge und ihn mit meinen Beinen empor dirigiere. Raphael folgt fluchend. Weitere Kugeln schießen aus dem Dunkelnebel und werfen die Flugformation der Polizisten ins Chaos, als diese verzweifelt versuchen, auszuweichen. Wo die Geschosse aus dem Nebel rasen, hinterlassen sie wabernde Löcher. Der Wind fegt durch mein Haar und bei dem plötzlichen Aufstieg dreht sich mir der Magen um. Die Rockets tauchen aus dem Nebel auf, einer nach dem anderen. Schuss um Schuss fällt und Hunter hat Mühe, mit Spiralen und plötzlichen Kurven auszuweichen. Ein flüchtiger Blick nach unten lässt mich würgen. Einer der Polizisten, der blonde, mit dem ich eben noch geredet habe, trudelt auf seinem Tauboss zu Boden, wo die beiden krachend aufschlagen. Das Pokémon hebt den Kopf, stupst seinen reglosen Trainer an. Ein beißendes Gefühl macht sich in meinen Augen breit, als ich wegschaue, weg von dem Blut, weg von dem Mann. Den herzzerreißenden Schrei des Tauboss´, das seinen Trainer verloren hat, kann ich jedoch nicht ignorieren. Der Wind bläst die Tränen aus meinen Augenwinkeln, während ich die Zähne zusammenbeiße und Hunter weiter emportreibe, sein Agilitätsschub das einzige, was uns vor den Angriffen der Gegner bewahrt, die vereinzelt auf Pokémonattacken umgestiegen sind und auf ihren Golbat, Iksbat und anderen Flugtypen aus den Lüften herabschießen und sich auf die anderen Flieger stürzen. Ihnen folgen mehr und mehr. Hunter schwenkt zur Seite, um dem Flammensturm eines Grillmaks auszuweichen, das mit seinem Trainer auf dessen Fletiamo mitreitet. „Runter“, befehle ich und schnappe mir Priss´ Pokéball von der Hüfte, während ich mich allein durch meine Schenkel an Hunters Körper klammere. Er schießt nahe am Boden vorbei, fliegt fast ein schnaubendes Tauros um und schraubt sich elegant zurück in die Höhe, keine Sekunde, nachdem ich Aquana in ihrem Ball gerufen habe. Kaum sind wir wieder im Luftgeschehen, rufe ich das Wasserpokémon, halte es mit einem Arm fest und steuere auf einen der Rockets zu, der seine Pistole noch erhoben hat und einen Schuss nach dem anderen abfeuert. „Aurorastrahl!“, fauche ich und lenke Hunter schräg zur Seite, um Priss freie Sicht zu geben. Sie bläht die Brust auf und speit eine farbig glühende Eisspirale auf ihren Gegner, der in genau diesem Moment den Abzug betätigt. Sie trifft – das Schwalboss wird von der Eisattacke aus der Luft gerissen, fällt steif und wie ein Stein in die Tiefe. Zufrieden jauchze ich, werde aber von einem Stöhnen aus der Euphorie gerissen und drehe mich wie in Zeitlupe auf Hunter um. Genevieve, die hochgeflogen ist, hängt halb über dem Rücken ihres Pokémon, beide Hände auf die rechte Seite ihres Kopfes gepresst und wimmert. Blut fließt in Strömen zwischen ihren Fingern hindurch. „GEN!“ Hunter macht kehrt und rast mit kräftigen Flügelschlägen an die Seite der Favoritin, die sich bei meinem Anblick zu einem schwachen Grinsen zwingt. „Abby… der Scheißkerl hat mein Ohr erwischt.“ „Zeig her.“ Ich vertraue ganz auf Hunter und Aeropteryx, die so nah beieinander fliegen, dass ihre Federn sich streifen und gleichzeitig noch Ausschau nach Angriffen halten, als Gen ihre Hände sinken lässt. Trotz meiner mentalen Vorbereitung zucke ich bei dem blutigen Anblick zusammen. Es scheint nur ein Streifschuss gewesen zu sein, doch die obere Hälfte ihres Ohrs ist fast völlig abgetrennt und blutet fürchterlich. „Du musst zu Joy“, befehle ich. „Lass dich verarzten, so bist du niemandem eine Hilfe. Deine Pokémon können auch ohne dich kämpfen.“ „Abby, ich kann nicht­–“ „Das ist ein Befehl!“, entgegne ich scharf und ziehe Hunter mit einer Beinbewegung zurück in den freien Luftraum. „Komm wieder, wenn du nicht mehr alles vollblutest.“ Ich kann es fast nicht glauben, als Gen steif nickt, auf Aeropteryx kehrtmacht und zurück Richtung Stadt rauscht, aber ich habe wenig Gelegenheit, über meine neue Führungsposition nachzudenken. Unter uns haben sich inzwischen alle Trainer und Polizisten auf die freie Fläche begeben, um den Luftkampf von unten her zu unterstützen. Nur wenige sind noch mit mir in der Luft, wie ich jetzt feststelle. Raphael ist kurz an Gen vorbei geflogen, um ihre Verletzung zu sehen, steigt aber längst wieder auf Grypheldis in die Höhe, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen und außer einem anderen Polizisten hat Team Rocket uns völlig aus der Luft verdrängt. Mein Blick gleitet über die generischen Pokémon zu der Nebelbank, die sich trotz des vergangenen Überraschungsmoments noch nicht verflüchtigt hat. Ich kneife die Augen zusammen. Was sind das für dunkle Formen? „Scheiße“, erklingt plötzlich Ronyas Stimme. „Passt auf, sonst werdet ihr ­–“ "Was ist das?!", schreit Nathan. Plötzlich fliegen alle Rockets im Steilfug nach oben. Instinktiv folge ich ihrem Beispiel. Hunter schießt empor, vorbei an dem letzten Polizisten, der sich noch wacker in der Luft hält und schraubt sich in einer agilitätsbeschleunigten Spirale zwischen zwei Rockets hindurch und auf den Nebel zu. Sie erscheinen in Scharen. Smettbo, Omot, Papinella, Pudox und Motorpel, Käferpokémon aller Art. Ihnen folgt, gelb, violett und grün, eine Puderwolke. "Hoch!", schreie ich und reiße Hunter mit meinen Beinen empor, höher, höher, bis die Käferflut unter uns entlang schießt, die verwirrten Pokémon und Polizisten trifft und in einer Wolke aus Stachelspore, Giftpuder und Schlafpuder ertränkt. Hunter flattert, traurig krächzend, auf der Stelle . Mein Blick schweift über die Katastrophe unter mir. Stöhnen füllt die Luft. Vergiftete Pokémon fauchen, stampfen, kreischen, attackieren, was immer ihnen in die Quere kommt. Die Gegengifte und Tränke, die wir gekauft haben — nutzlos. Von den Polizisten und Trainern steht fast niemand mehr. Die meisten liegen reglos am Boden oder sind so schwer vergiftet, dass sie sich stöhnend durchs Gras wälzen. Lediglich Kai und Raphael haben in letzter Sekunde Zuflucht gesucht und dirigieren nun die verbliebenen Pokémon gegen die übermächtige Käferarmee. "Das kann nicht wahr sein", flüstere ich. In meinen Ohren duellieren sich das Windrauschen und die chaotischen Rufe aus dem Head-Set mit dem Lachen der Rockets, die auf ihren Pokémon thronen und sich mit gezückten Pistolen auf die hilflosen Trainer stürzen. Mit einem plötzlichen, wilden Energieschub lenke ich Hunter im Sturzflug nach unten - mitten in das Käfergewimmel, deren Puderregen nicht nachlassen will. Mit seinen Krallen packt er ein Pudox und ein Smettbo, schleift die beiden durch die Luft und schleudert sie geradewegs in den nächstbesten Rocket, der mit seiner Waffe bereits auf den sich übergebenden Joshua zielt. Jemand liegt in einer Blutlache neben ihn. Ich schaue nicht genau hin. Ein Flammenwurf rauscht empor und drei der Käferpokémon gleich neben uns fangen schrill kreischend Feuer. Ich lasse Hunter nach unten schießen, wo ich Gott entdecke, den seine Vergiftung rasend gemacht hat. Meine Finger fischen das Gegengift wie von selbst aus meinem Rucksack. Hunter ist noch halb in der Luft, da springe ich schon ab und leere die kleine Flasche hastig in Gotts aufgerissenes Maul. Seine Fänge blinken feucht im Schein der Taschenlampen und Flammenherde, die sich im Gras gebildet haben. Sku reibt sich kurz schnurrend an mein Bein, bevor sie sich zurück ins Getümmel stürzt. Ihr Gifthieb landet einige üble Treffer bei den Pokémon, die Hunter und Mandy aus der Luft gerissen haben und als Jayjay sich mit seinem Funkensprung einmischt, beginnt der großflächige Kampf von neuem. "Versuch, deinen Flammenwurf nach meinen Signalen zu richten", sage ich als Abschied zu Gott, während ich mich schon wieder zu Priss auf Hunters Rücken schwinge. "Hoch jetzt. Wir sitzen hier auf einem Präsentierteller." Hunter folgt meinem Befehl ohne Zögern und katapultiert sich in die Lüfte. "Aurorastrahl!", rufe ich und deute auf den uns nächsten Rocket, der auf seinem Iksbat scharfe Kurven fliegt. Der knackende Strahl zischt wirkungslos an dem Pärchen vorbei und trifft stattdessen ein Smettbo, das sich verwirrt von den anderen Käferpokémon getrennt hat. Ihr zweiter Angriff trifft, aber je weiter wir fliegen, je länger ich den Attacken unserer Gegner ausweiche, Gotts Flammenwürfe lenke, an Raphael und Kai vorbeifliege, desto aussichtsloser erscheint mir unsere Lage. Gut zwei dutzend Rockets rasen durch den Himmel, feuern wahllos Schüsse und Attacken ab und werden zudem von etlichen Käferpokémon abgeschirmt. Wir sind zu dritt. Nicht alle Pokémon sind kampfunfähig, aber Raphaels Impergator ist sichtlich erschöpft und hinkt und obwohl sein Vulnona Gott mit ihrem Feuerattacken unterstützt, kann es sich auch kaum noch auf den Beinen halten. Bei Kais Pokémon sieht es nicht besser aus. "Das wird eine lange Nacht", murmele ich und lehne mich nach links, um einer Bissattacke zu entgehen. "Ich hoffe, Gens Ohr hält sie nicht zu lange zurück." "Was ist mit Gens Ohr?", fragt Noah, den ich schon halb vergessen hatte. Er muss auf dem Weg zu einem der größeren Kämpfe sein, denn ich kann nur Windrauschen aus seiner Verbindung wahrnehmen. "Abgeschossen", sage ich knapp. "Sie ist bei Joy. Vielleicht –", Hunter sackt mehrere Meter ab und dreht scharf ab, um Priss freie Sicht auf einen Rocket zu geben, "­­– vielleicht auch besser so", beende ich den Satz. "Hier ist absolute Apokalypse." "Ich komme in eure Richtung", ertönt Jaydens Stimme. "Wiesel hat hier alles im Griff und es sind noch keine Rockets aufgetaucht. Ich bezweifle, dass wir gebraucht werden." "Verteilt euch, wenn möglich", sage ich und zische, als ein Sternschauer meine Schulter streift und einen tiefen Ratscher hinterlässt. "Wir könnten Hilfe gerade echt gebrauchen. Gerard, bist du da? Schick Richard oder irgendjemanden runter. Wir werden überrannt." Ein zustimmendes Murren erklingt, gerade in dem Moment, als drei Rockets mich als die Abbygail identifizieren und gleichzeitig auf Hunter zurasen. "Ach scheiße", fluche ich und warte, bis die drei nur noch wenige Meter entfernt sind. Ich umklammere Priss und rufe Hunter mit einem kurzen Knopfdruck zurück, gerade lange genug, um zwischen den dreien in die Tiefe zu stürzen. Schreie von oben, ein lautes Zusammenkrachen und mehr Flüche. Mit einem Ruck, der mir die Luft aus den Lungen presst, lande ich auf Hunter, den ich fast im selben Moment wieder gerufen habe und atme tief durch. Das Adrenalin, das durch meinen Körper schießt, lässt mein Herz heftiger schlagen, als angenehm ist. Da klingelt mein Handy. "Wer ruft denn jetzt bitte an?", murmele ich wütend. Mit einer Hand dirigiere ich Gotts nächsten Flammenwurf, mit der anderen nehme ich den Anruf entgegen. "Ich habe gerade echt keine Zeit, also wer auch immer da ist –" "Abby?" Moment. Die Stimme kenne ich. "Ruth?", frage ich ungläubig und lenke Hunter zur Seite, als ein Solarstrahl knapp an uns vorbei zischt. Sie klingt, als wäre sie den Tränen nahe. „Abby?“ Sie stockt. „Ich– ich brauche deine Hilfe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)