Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 120: Geschwisterliebe (Athenas Rätsel) ---------------------------------------------- Genevieve erwartet uns am Waldrand, doch sie ist nicht allein. Hypno hat sie zurückgerufen, aber Gott steht etwas abseits und beobachtet misstrauisch Banette, das Priss´ spielerischen Wasserattacken ausweicht und sich hin und wieder einen Spaß daraus macht, unsichtbar zu werden und ihr in die Flosse zu zwicken. Zu ihren Füßen liegt Zachs Absol. Bei unserem Anblick erhebt das Desaster-Pokémon sich langsam. Sein weißes Fell hängt zerzaust und in filzigen Fetzen seinen Körper herab. Abgemagert ist es nicht, aber seine Beine zittern bei jedem Schritt und noch bevor es die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hat, bricht es entkräftet zusammen. Zach ist in Sekundenschnelle an Absols Seite. Er kniet nieder, bettet den großen Kopf auf seinen Schoß und streicht beruhigend durch das zottige Fell. Seine dunklen Haarsträhnen verdecken sein Gesicht wie ein Vorhang, aber die Anspannung seines Kiefers kann ich auch so gut erkennen. Er murmelt seiner alten Freundin etwas zu, doch seine Worte werden von dem Rauschen der Baumkronen davongetragen. Mir wird mit einem Stich klar, dass Absol sechs Wochen mit uns am Silberberg verbracht haben muss, ohne Trainer, ohne Heilmöglichkeiten. Unsere abrupte Abreise hat das Unlichtpokémon gezwungen, die gesamte Strecke in vierundzwanzig Stunden zu überwinden. Das schlechte Gewissen nagt kurz an mir, aber ich schüttele es schnell wieder ab. Ich wusste nicht, dass Absol uns bis ans andere Ende Kantos folgen würde und selbst wenn, hätte ich sie kaum auf Hunters Rücken schnallen können. Stattdessen lege ich flüchtig eine Hand auf Zachs Schulter, wende mich Gott zu und mache mich daran, ihn zu beruhigen. Als er Zach das letzte Mal gesehen hat, war der noch in eine Rocket-Uniform gekleidet und auch wenn er wissen sollte, dass der ehemalige Favorit auf unserer Seite steht, hält ihn das nicht davon ab, sein Gebiss zu zeigen und das Feuer in seinem Nacken gefährlich auflodern zu lassen. Mein leiser Pfiff und eine kurze Umarmung stellen ihn jedoch ruhig. „Wir sind draußen“, verkünde ich an unsere Mithörer im Head-Set und rufe Gott und Priss zurück. Banette wird unsichtbar, aber an dem Vibrieren an meiner Hüfte merke ich, dass es selbstständig in seinen Pokéball zurückgekehrt ist. Warum es ausgerechnet Ryan ausgesucht haben soll, ist mir schleierhaft, aber vielleicht hat sogar er gute Seiten. „Zach ist eingesammelt, wir starten jetzt Phase Zwei.“ „Na endlich“, murmelt Ryan. „Das hat ja überhaupt nicht lange gedauert.“ „Sehr gute Arbeit, ihr alle“, ertönt Darks Lob. Während der gesamten Mission hat er kein Wort gesagt, aber er hat von Anfang bis Ende alle Gespräche mitverfolgt. „Melissa, Nathan, ihr fliegt auf direktem Wege nach Johto. Sandra und Falk erwarten euch bereits. Wir kontaktieren euch für weitere Details, wenn jeder an seinem Posten ist. Noah, nimm bitte deine reguläre Patrouille wieder auf. Genevieve und Abby, ihr fliegt mit Zacharias zurück nach Saffronia City. Raphael trifft euch am Bahnhof.“ Gen grinst breit und geht auf Zach zu. Sie reicht ihm seinen Pokégürtel, sowie eine Glasflasche, die ich als Hypertrank identifiziere. Kaum dass Absol verarztet und in ihren Pokéball verfrachtet wurde, erhebt Zach sich und wird von Gen in eine grobe Umarmung gezogen. „Hab dich vermisst, du Streuner“, lacht sie und löst sich von ihm. „Mach nicht wieder so einen Einzelgängerscheiß, ist das klar? Wenn Abby gestern nicht noch ihren Plan ausgeheckt hätte, würdest du immer noch hinter Gittern hocken.“ Zach löst sich, unangenehm berührt von dem Körperkontakt und nickt mir dankbar zu. Ich verschränke belustigt die Arme. „So Leute“, sage ich. „Raphi wartet sicher schon sehnsüchtig auf uns. Wir hauen ab.“ „Wir verabschieden uns ebenfalls“, sagt Nathan und wirft einen letzten Blick zu Noah, der ihn kurz erwidert, bevor er verlegen wegschaut. Melissa schnaubt verächtlich, schwingt sich auf ihr gerufenes Altaria und hebt ohne ein weiteres Wort ab. Die beiden Jungen folgen ihrem Beispiel und schon bald sind die drei Trainer im Nachthimmel verschwunden. „Aber was machen wir mit Zach?“, fragt Gen plötzlich. „Swaroness gibt´s hier nicht gerade im Überfluss. Wenn er vom Gefängnis aus damit abfliegt, können wir uns direkt wieder einbuchten lassen.“ „Für den kurzen Flug kann er mit mir auf Hunter reiten“, sage ich und denke an Genevieves farbenfrohes Aeropteryx zurück, das eindeutig nicht groß genug für zwei Personen ist. Hunter hat mit seinem höheren Level hingegen nicht nur an Geschwindigkeit und Ausdauer, sondern auch an Größe zugelegt und mit etwas Kuscheln ist genug Platz für Zach und mich. „Und was seine Verkleidung angeht…“ Zum dritten Mal an diesem Tag krame ich mich durch meinen Rucksack, auf der Suche nach den Masken, die ich aus dem Hauptquartier mitgenommen habe. Kaum habe ich das Feurigelabbild zu Tage gefördert, befestige ich es mit dem Gummiband an meinem Hinterkopf, ziehe meine Kapuze hoch und schnüre sie fest um mein Gesicht zu, bis nur die Maske zu sehen ist. Durch die Augenschlitze erkenne ich Genevieve, deren Augen sich bei meinem vermummten Anblick merklich aufhellen. „Wir geben euch als Shadows aus, ganz einfach. Die Masken sind inzwischen unser Erkennungszeichen. Niemand wird Verdacht schöpfen.“ „Was ist Team Shadow?“, fragt Zach, zu Recht verwirrt. Ich winke ab. „Später. Hier.“ Ich werfe ihm eine Sandanmaske zu, die er geschickt fängt. Gen erhält eine nicht ganz so schöne Traumatomaske, aber ich reiße mich zusammen. Zero hat sich heute eindeutig bewiesen. „Also dann“, rufe ich und klatsche in die Hände. „Auf nach Saffronia City!“   Ich gebe zu, ich hatte mir unseren ersten öffentlichen Auftritt nicht ganz so spektakulär vorgestellt. Kurz bevor wir durch die Eingangstüren des Bahnhofs treten, schaltet Raphael sich in unsere Unterhaltung ein. „Ich muss sagen“, beginnt er langgezogen, „dass ich langsam Gefallen an diesen Masken finde.“ Gen lacht herzhaft und stößt die gläserne Doppeltür auf. „Das glaube ich dir auf´s Wort, Mr. Shy Guy.“ „Ist wie dein Schal, nur besser“, füge ich hinzu und folge Gen hinein. Schon von weitem kann ich den Menschenauflauf ausmachen, der sich im hinteren Teil nahe der Ticketautomaten gebildet hat. Das Stimmengewirr füllt die weitläufige Halle mit angespanntem Tuscheln, nur unterbrochen von der Lautsprecherdurchsage, die das Einfahren des nächsten Magnetzugs ankündigt. Inmitten der Menschentraube, umringt von neugierigen Zuschauern, sitzt Raphael auf einer Bank, Arme zu beiden Seiten über die Lehne gelegt. Die Kapuze verdeckt seine verräterischen roten Locken und die Karnimanimaske sticht hellblau aus dem schwarzen Stoff hervor. Selbst mit dem Wissen, dass es sich bei der Person um Raphi handelt, muss ich zweimal hingucken. Die absolute Anonymität scheint einen ähnlichen Effekt auf ihn zu haben wie sein Kampfmodus, wenn er alles um sich herum ausblendet. Stolz schwillt in meiner Brust auf, doch ich unterdrücke den Impuls, zu ihm zu rennen. Jetzt sind wir dran. Als Raphael uns bemerkt, setzt er sich aufrechter hin und wendet den Kopf langsam in unsere Richtung. Seinem Beispiel folgt ein Großteil der Schaulustigen, deren leises Tuscheln in ungläubige Rufe ausartet, kaum dass ihre Blicke auf drei weitere Team Shadow Mitglieder fallen. Mir war natürlich klar, dass man uns erkennen würde, schließlich haben Dark und die Polizei nach meinem Radioauftritt eng zusammengearbeitet und das Erkennungsmerkmal der Masken ist von Zeugen und Betroffenen mündlich verbreitet worden, bis es laut Ryan in allen Internetforen als offiziell anerkannt wurde. Scheinbar versuchen einige der Fans verzweifelt, die Identität der Maskenträger aufzudecken. Ich bezweifle, dass jemals so viele Shadows auf einmal und an einem so viel besuchten Ort gesehen wurden. Mal abgesehen davon, dass eigentlich nur ich ein Shadow bin, aber das muss schließlich niemand wissen. Ich für meinen Teil genieße die Blicke und gemurmelten Fragen und schlendere gelassen durch die Menschengasse, die sich wie von selbst um uns bildet. „Was genau ist in meiner Abwesenheit passiert?“, murmelt Zach, gerade laut genug, dass ich ihn hören kann. Gen kommt mir mit ihrer Antwort jedoch zuvor. „Nichts“, sagt sie mit hörbarem Grinsen. „Wir sind die geilsten, so wie immer.“ „Schön zu hören, dass der Gefängniseinbruch dich völlig unberührt gelassen hat“, sagt Raphael durch das Head-set. Die Figur auf der Bank erhebt sich gemächlich. Von den Gleisen kündigt das metallische Sirren die Ankunft des Magnetzugs an. Wir schließen zu Raphael auf, ich lasse mich von ihm in eine Umarmung ziehen und beobachte, wie er und Zach zur Begrüßung ihre Unterarme packen, bevor Raphael ihn ebenfalls kurzerhand umarmt. Ich schiele zu Gen, was die Favoritin natürlich nicht bemerkt – sie ist viel zu beschäftigt damit, sich in den Blicken der anderen Fahrgäste zu sonnen. „Phase 2 ist erfolgreich abgeschlossen“, melde ich leise und warte geduldig, bis ein Knacken in meinem Ohr Darks Antwort ankündigt. „Kontaktiere mich wieder, wenn ihr an einem ruhigen Ort seid“, sagt er. Seine Stimme geht im Flugwind fast unter. Inzwischen scheint er seine Nachtpatrouille gestartet zu haben. „Wir haben noch einiges zu besprechen.“ „Geht klar“, verabschiede ich mich und schalte das Head-Set für´s erste stumm. Raphael winkt mit unseren Fahrtickets und unter den Blicken der Bahnhofsbesucher machen wir uns zu viert auf den Weg in den Wagon.   Die Fahrt im Magnetzug stellt sich als ruhiger heraus, als ich gedacht hätte. Trotz der Neugier der anderen Passagiere halten die meisten gebührenden Abstand und so bleibt mir genügend Zeit, Zach in alle Vorkommnisse einzuweihen, die er eingepfercht im Rocket-Hauptquartier und später im Gefängnis nicht mitbekommen hat, unter anderem die Terrorwarnung. Unter der gelbbraunen Sandanmaske kann ich seinen Gesichtsausruck nur erahnen, aber die geballten Fäuste verraten mir genug. „Craig also“, flüstert er grimmig und wendet gezwungen ruhig den Kopf ab, um aus dem Fenster zu schauen. Der schwarze Nachthimmel zieht in Rekordtempo an uns vorbei, die Bäume nur schwach beschienene Flecken, die durch unser Blickfeld rauschen. „Wir wollen dich bei Caro in Dukatia lassen“, erkläre ich. „Ich bin nicht sicher, ob Craig während des Angriffs dort sein wird, aber seine Kontakte sind in jedem Fall im Untergrund unterwegs. Richard und Gerard sind bereits dort, um sich umzuhören.“ Zach nickt abwesend. Ich betrachte ihn eine Weile. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, er habe keinerlei Interesse an dieser Unterhaltung. Stattdessen kann ich mir bildlich vorstellen, wie Zach im Kopf seinen Racheplan durchspielt. Er hat seine Karriere und seinen Traum geopfert, um den Verantwortlichen für Evas Tod ausfindig zu machen, hat sich in das Herz des Feindes begeben und monatelang in einer Zelle ausgeharrt, nur für diesen einen Moment. Ein Gähnen zwängt sich an meinem Kiefer vorbei. Ich merke kaum, wie mein Kopf zur Seite rutscht und auf Raphaels Schulter zum Erliegen kommt. Es war ein langer Tag.   Raphael weckt mich irgendwann nachts, als der Magnetzug im Dukatia City Bahnhof einfährt. Gähnend strecke ich meine Arme durch und folge den anderen dreien nach draußen. Seit ich das letzte Mal hier war, sind schon neun Monate vergangen, trotzdem kann ich mich noch genau daran erinnern, wie ich von Caro durch den Bahnhof und die Straßen Dukatias geführt wurde. Ein nostalgisches Lächeln schleicht sich auf meine Züge, dank der Maske ungesehen von den anderen. Es ist wirklich viel in der Zwischenzeit passiert. Je weiter wir uns von dem Bahnhof entfernen, desto mehr zerstreuen sich die restlichen Passagiere, die mit uns ausgestiegen sind. Dank der fortgeschrittenen Uhrzeit ist die Hauptstraße so gut wie leer, einzig kleinere Trainergruppen, die eine Nachtschicht bei ihrem Training eingelegt haben, schlurfen müde zurück zum Pokécenter oder treffen sich in nahegelegenen Bars. Die Dunkelheit und unsere tiefhängenden Kapuzen schützen uns vor etwaigen Blicken und so erreichen wir Caros Blumengeschäft ohne große Probleme. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, seit ich das letzte Mal hier war. Von der Anspannung, die Zach ausstrahlt, ergeht es ihm nicht besser. „Sollen wir klingeln?“, frage ich und schaue auf die Uhr. Halb zwei Uhr morgens. Morgen ist zwar Samstag, aber Caro wird trotzdem offen haben und schläft wahrscheinlich schon. „Nicht nötig“, erwidert Zach und tritt vor. Er klettert über den Gartenzaun, der das anliegende Grundstück umgibt und winkt uns zu sich. Zu dritt folgen wir ihm durch das feuchte Gras zum Hintereingang, wo er in einem Blumentopf wühlt und einen Zweitschlüssel aus der Erde fischt. Kaum dreht der Schlüssel sich im Schloss, schwingt die Tür auf und ich finde mich schon bald in dem dunklen Flur wieder, der hinter Caros Laden verläuft und ein kleines Treppenhaus nach oben beherbergt, sowie natürlich den berüchtigten Fuck-Raum. Ah… gute alte Zeiten. Ich schalte das Licht an und übernehme mit Zach die Vorhut. Die Treppe weist mehr Kratzspuren auf, als ich in Erinnerung habe und ein Teil des Geländers ist abgebrochen. Unruhig steige ich die Stufen hinauf und klopfe an der Eingangstür. Nichts geschieht. Ich klopfe ein zweites Mal und erschrecke fast zu Tode, als Schlitzer knurrend die Tür aufstößt und sich uns mit gespreizten Stahlscheren entgegen wirft. Ich stolpere zurück, trete ins Leere und falle – geradewegs in Zach hinein, der noch hinter mir steht und mich mit seiner schnellen Reaktion vor einem sehr schmerzvollen Abgang bewahrt. „Wer ist da?“, ertönt Caros unverkennbar rauchige Stimme. Ich rappele mich auf und hebe beruhigend die Hände. „Abby!“, rufe ich zurück. Schlitzer legt den Kopf schief. Seine Augen verengen sich, doch er gibt ein metallisches Grummeln von sich und lässt die Arme sinken. Im selben Moment taucht Caro in der Tür auf. Ihr blauer Sidecut hängt wirr über ihre Schulter und außer einer schlackernden Jogginghose samt Sport-BH ist sie unbekleidet. Der Morgenmantel, den sie sich hastig übergeworfen haben muss, weist mehrere Risse und Brandflecken auf. Tiefe Augenringe zeichnen ihr Gesicht. Ihr Blick schweift knapp über unsere Versammlung. Erst da fällt mir auf, dass wir mit den Masken vielleicht ein bisschen verdächtig aussehen. Ich ziehe schnell meine Kapuze zurück und enthülle mein Gesicht. Caro hebt eine perfekt gezupfte Augenbraue und winkt Schlitzer endlich zurück, sodass wir nicht mehr halb auf der Treppe stehen müssen. „Wenn du mir einen Besuch abstatten willst, hättest du anrufen können“, stellt sie knapp fest. Ich grinse frech. „Wo wäre da der Spaß?“, frage ich und füge ernster hinzu, „Was ist mit der Treppe passiert?“ „Wir hatten ein paar unliebsame Gäste aus dem Untergrund“, sagt sie und tritt zur Seite. „Wollt ihr da draußen Wurzeln schlagen oder kommt ihr rein?“ Wir haben es uns kaum auf dem Sofa bequem gemacht, da kommt Richard ins Wohnzimmer geschlurft. Er sieht noch schlimmer aus als Caro. Von dem aufgeweckten Trainer, den ich damals auf dem Indigo Plateau kennengelernt habe, ist nach Zachs und seiner Festnahme nicht viel übrig geblieben. Er bedenkt uns mit einem misstrauischen Blick, zumindest, bis er mich entdeckt. Er bleckt die Zähne, verschränkt die Arme und lehnt sich an die Wand. „Tut mir leid, dass wir mitten in der Nacht hier auftauchen“, beginne ich. „Ihr scheint den Schlaf zu brauchen und –“ Genevieve reißt sich die Maske vom Gesicht und tritt mir gegen das Schienbein. „Jetzt mach es nicht so spannend, ich will endlich ihre Gesichter sehen!“, sagt sie und wendet sich an Raphael und Zach, die neben ihr sitzen. Raphi seufzt und zieht ebenfalls seine Maske ab. „Na komm“, sagt er und stupst Zach an. „Gen hat Recht. Wir sollten die beiden nicht auf die Folter spannen.“ Zach starrt auf seine gefalteten Hände. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er Caro sofort begrüßen würde, doch er scheint vor irgendetwas Angst zu haben. Oder sich zu schämen. Richards Gesichtszüge sind unterdessen entgleist, als er Genevieve und Raphael erkennt und die Verbindung zwischen dem letzten Unbekannten und unser aller Anwesenheit macht. „Nein“, sagt er plötzlich und löst sich wie in Zeitlupe von der Wand. „Das kann nicht sein.“ Ich beobachte genau, wie Caro verwirrt zwischen den beiden hin- und herschaut. Richard umrundet das Sofa und bleibt vor Zach stehen. Der hebt langsam den Kopf. Mit zittrigen Händen löst Richard die Kapuze und gibt ein undefinierbares Geräusch von sich, als schwarzes Haar zum Vorschein kommt. Zach zögert, schüttelt jedoch alle negativen Gedanken ab und löst die Maske. Sie fällt klappernd zu Boden, dicht gefolgt von Richard, der auf seine Knie sackt. „Scheiße, Mann“, flüstert er. Hilflos ballt er seine Hände zu Fäusten, presst die Augen zu. Tränen bahnen sich ihren Weg zwischen seinen Lidern hindurch. Zach legt eine Hand auf seine Schulter, doch seine Berührung scheint Richard aus seiner ungläubigen Starre zu reißen, denn er schlingt die Arme um Zachs Nacken und zieht ihn so fest er kann an sich. „Ich hab doch gesagt, dass ich ihn zurückhole“, murmele ich lächelnd. Meine Augen brennen. „Zach?“, fragt Caro. Er hebt den Kopf und erwidert zum ersten Mal in dieser Nacht ihren Blick. Die Maske, die Caros Gesichtszüge sonst immer so perfekt unter Kontrolle hält, bricht, als ihr Bruder vor ihr steht. „Fuck, Zach.“ Ihre Hand schießt zu ihrem Mund. Fassungslos schaut sie ihn an. Dann fällt sie ihm ebenfalls um den Hals und verbirgt ihr Gesicht in seiner Halskuhle. „Ich dachte, ich sehe dich nie wieder!“                                      Es dauert eine Weile, bis Caro sich beruhigt hat. Genevieve zeigt erstaunliche Fürsorglichkeit und verschwindet in der Küchenzeile, um Tee für alle aufzubrühen. Tamot, auf meinen Wunsch hin. Trotz der allgemeinen Müdigkeit ist nicht an Schlaf zu denken. Als Gen mit dampfenden Tassen und ein paar Sandwiches zurückkommt, steckt Caro sich gerade mit zittrigen Fingern ihre dritte Zigarette an, die sie in tiefen Zügen aufraucht. Der blaue Dunst füllt inzwischen das gesamte Wohnzimmer. Richard hat sich neben Zach gesetzt und zeigt keinerlei Anzeichen, jemals wieder von seiner Seite zu weichen. Seine Feindseligkeit mir gegenüber ist während meiner Erzählung vollends verflogen. Dankend nehme ich eine der Tassen von Gen an und wärme meine Hände an dem heißen Porzellan. „Ich schulde dir was“, sagt Caro nach einer Weile. Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Ganz sicher nicht. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich meine ersten Nächte in Dukatia im Untergrund verbracht und wäre bei meinem Glück vermutlich von jemandem abgestochen worden.“ Ich schiele zu Zach. „Außerdem gibt es noch andere Gründe, warum wir ihn befreit haben. Gebt mir einen Moment, ich komme gleich wieder.“ Draußen im Flur kontaktiere ich Dark, altmodisch, per S-Com und schließlich per Handy. Einige Minuten später verklingt das Windrauschen, als Dark irgendwo landet und sich dem Telefonat widmet. Wieder im Wohnzimmer angekommen, lege ich das Handy in unsere Mitte auf den kleinen Kaffeetisch und schalte auf Lautsprecher. „Kannst du uns hören?“, frage ich laut. „Klar und deutlich“, ertönt Darks Stimme. Wegen des Lautsprechers schwingt ein unangenehmes Störgeräusch mit, aber mit etwas Glück wird dieses Gespräch nicht allzu lange dauern. Ich wende mich Zach zu. „Wir haben ein paar Fragen“, erkläre ich. „Team Rocket wird in wenigen Tagen seinen Anschlag verüben, aber außer den Löchern in den Höhlen haben wir keinerlei Anhaltspunkte, was sie überhaupt vorhaben. Du warst über ein Jahr bei ihnen, länger noch als Dark. Hast du irgendwelche Ideen, was sie vorhaben?“ „Verhaltensweisen, die sich geändert haben?“, schlägt Dark vor. „Mehr Besprechungen? Zuwachs neuer Mitglieder?“ Zach schüttelt den Kopf. „Sie haben mich schon seit einiger Zeit verdächtigt“, gesteht er mit gesenktem Kopf. „Ich wusste, dass sie mich früher oder später fallen lassen würden und habe deshalb versucht, kein Aufsehen zu erregen. In ihre engeren Pläne haben sie mich nie eingeweiht.“ „Du musst etwas wissen!“, entgegne ich, mit ähnlichem Temperament wie damals bei Dark. Viel hat es auch da nicht gebracht. Doch Zach runzelt die Stirn. „Athena“, sagt er zögernd. „Sie war viel involviert, mehr als noch vor einem Jahr. Und sie hat viele Telefonate geführt.“ „Ist das ungewöhnlich?“, frage ich verwirrt. „Anrufe können zurückverfolgt werden, wenn sie nicht gesichert sind“, erklärt Dark. „Jeder Rocket ist angehalten, nur in Notfällen telefonisch Kontakt aufzunehmen.“ „Also hat es etwas mit Athena zu tun…“, murmele ich. „Ich wünschte, es wäre anders“, sagt Dark leise. „Was meinst du?“  Zuerst sagt Dark nichts. Ich will ihm schon versichern, dass er es uns nicht erzählen muss, wenn er nicht will, da ertönt seine dünne Stimme. „Als ich jünger war, hat Athena sich um mich gekümmert“, sagt er. „Atlas hatte kaum Zeit für mich, die restlichen Rockets haben mich gemieden oder böse Scherze mit mir getrieben. Ich war nicht beliebt. Athena war wie eine… Mutter für mich.“ Schweigen. Genevieve schaut betreten zu Boden, Raphael seufzt und Caro erhebt sich und verschwindet in der Küche, um mehr Tee zu kochen. Ich räuspere mich. „Tut mir leid“, sage ich. „Aber wir müssen sie aufhalten, das weißt du.“ „Ich weiß.“ „Gut. Wir müssen wissen, mit wem sie telefoniert hat. Denkst du, Ryan könnte das irgendwie herausfinden?“ „Ich bezweifle es“, sagt Dark. „Die Handys sind nicht mit dem Rocketserver verbunden. Selbst wenn es ginge, wird er es nicht in drei Tagen schaffen, schließlich brauchen wir zuerst Zutritt zu der Basis. Das ist unsere oberste Priorität.“ Ich beiße auf meinen Fingernagel und denke nach. „Dann eben altmodisches Raten“, sage ich. „Mit wem könnte Athena so viele Telefonate führen? Dark, du sagtest, sie ist Hauptverantwortliche der Infiltrationsphase. Könnte es einer von ihren Kontakten sein?“ „Das ist möglich.“ „Wenn wir nur wüssten, wer…“, fluche ich. „Irgendein Kontakt bringt uns nicht weiter.“ „Nicht ganz“, widerspricht Dark. „Wir wissen nun, dass Athena eine Kernaufgabe in diesem Anschlag ausführt. Wenn wir sie finden, wissen wir, wo Team Rockets wahres Ziel liegt.“ „Und hat vielleicht jemand einen Peilsender an ihr befestigt?“, entgegne ich gereizt. „Ich nämlich nicht. Wir haben nur noch drei Tage und wir haben keine Ahnung, was auf uns zukommt!“ „Daran können wir nichts mehr ändern“, sagt Dark mit scharfer Stimme. „Wir müssen darauf vertrauen, dass wir alles in unserer Macht stehende getan haben und uns spontan auf die Situation einstellen. Ich werde eine Nachricht an die anderen aussenden. Athenas Sichtung ist essentiell für unseren Erfolg.“ Zerknirscht lasse ich mich auf das Sofa plumpsen. „Das schlimmste ist“, sage ich und lehne mich an Raphael, „dass ich das Gefühl habe, ihr schon einmal begegnet zu sein. Noch vor dem Vorfall in Fuchsania. Ich habe keine Ahnung mehr, wann oder wo, aber sie kam mir bekannt vor, da bin ich mir sicher. Wenn ich mich nur erinnern könnte, würde alles Sinn machen, darauf wette ich.“ „Aber das kannst du nicht“, sagt Raphael und legt tröstend einen Arm um meine Schulter. „Dark hat Recht. Wir müssen es auf uns zukommen lassen und darauf hoffen, dass unsere Vorbereitungen genügt haben. Gemeinsam werden wir schon heil aus dieser Sache raus kommen.“ Ich nicke ohne großen Enthusiasmus. Des Rätsels Lösung ist direkt vor meiner Nase und entgleitet mir mit jeder neuen Denkanstrengung. Wo habe ich Athena schon einmal gesehen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)