Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 109: Sturmwarnung (Hallo Mrs. Hampton) ---------------------------------------------- Am nächsten Morgen mache ich mich in aller Frühe auf den Weg zum Pokécenter, nicht jedoch, bevor ich den Wetterbericht bei PCN verfolgt habe. Zu meiner Überraschung bin ich nicht die einzige, die es sich im Gemeinschaftsraum gemütlich machen will. Nathan sitzt in nichts als Jogginghose und dicken Flauschsocken auf der Couch und schlürft eine Tasse dampfenden Kaffee, während er durch die Kanäle zappt. Als er mich bemerkt, wirft er mir ein Lächeln zu. „Wo hast du deine schlechtere Hälfte gelassen?“, frage ich, bevor ich es mir verkneifen kann und gehe zu einem der an die Wand geschobenen Tische, um mir meinen morgendlichen Tamottee aufzubrühen. Nathan lacht entschuldigend. „Lissa hat keinen guten ersten Eindruck hinterlassen, schätze ich“, sagt er und rutscht zur Seite, um mir Platz zu machen. „Willst du was Spezielles gucken?“ „Wetterbericht“, erwidere ich gähnend und lasse mich neben ihm in die orangeroten Polster plumpsen. „Kanal Sieben.“ „Glückszahl, he?“, fragt er und schaltet um. „Wie man´s nimmt.“ Einige Minuten füllt nur die im Hintergrund plätschernde Werbung den Raum. Schließlich wendet Nathan sich mir zu. „Ich weiß, dass Melissa nicht gerade die netteste Person auf diesem Planeten ist, aber bitte gebt ihr eine Chance“, sagt er und schaut mich ernst an. „Sie ist launisch und ihre Trainingsmethoden sind eher unorthodox, das gebe ich zu, aber ich glaube wirklich, dass sie eine Bereicherung für das Team ist." „Mhm“, stimme ich zu, schlürfe an meinem Tee und verbrenne mir die Zunge. Nathan setzt zu einer weiteren Rechtfertigung an, doch da ertönt schon die PCN-Tonfolge und er hält vorerst den Mund.   „Wir begrüßen sie zum acht Uhr Wetterbericht bei PCN! Ich bin Steve und das erwartet sie in der kommenden Woche: Mit dem nahendem April steigt auch das Niederschlagsrisiko und trotz der warmen Temperaturen nähert sich eine Unwetterfront, deren erste Ausläufer bereits vor Wochen in Kanto eingetroffen sind. Die nächsten Tage werden stürmisch, bereiten Sie sich also auf heftige Gewitter, Niederschläge und Blitzgefahr vor…“   „Nicht die netteste Person…“, murre ich vor mich hin, während ich etwas später durch Prismanias Straßen zum Pokécenter stapfe und an den anderen Passanten vorbeidrängele, die mit Tüten und Schirmen bewaffnet an den hohen Häusern vorbeilaufen. Der Frühling macht sich allmählich an den Blumenkästen bemerkbar, die in allen Geschäften und Wohnungen aufgestellt wurden, aber die Unwetterwarnung hat viele dazu bewogen, ihre geliebten Pflanzen zurück ins Warme zu holen. Regen mag ihnen bekommen, aber die heftigen Stürme, die in Kanto Einzug gehalten haben, sind nichts für die zerbrechlichen Blüten, deren sommerliche Farbenpracht Prismania City ihren Namen verliehen hat. Priss gibt ein undefinierbares Grummeln von sich. Für die Aussicht auf frische Luft hat sie sich von Hundemons Seite gelöst und döst nun zufrieden auf meinem Kopf. Klein, wie sie ist, fällt mir das zusätzliche Gewicht kaum auf. Kein Vergleich zu Sku, wenn sie auf meinen Schultern sitzt. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich meine Ankunft erst bemerke, als die elektrischen Türen des Pokécenters sich sirrend vor mir öffnen und mich mit einer Schar Trainer konfrontieren, die zum Frühstück an den Tischen sitzen und vereinzelt zu mir aufschauen oder Priss neidische Blicke zuwerfen. Schwester Joy winkt mich ungeduldig zu sich und ich folge ihrer Geste zur Theke. „Dein Igelavar ist weiterhin bewusstlos“, informiert sie mich mit geschürzten Lippen. „Wir werden noch einige Tage brauchen, bevor er geweckt werden kann.“ „Was ist mit Sku?“ „Dein Skuntank erholt sich gut“, erwidert Joy. „Gib ihr noch ein paar Tage Ruhe, dann kannst du sie wieder in dein Team nehmen, auch wenn ich dir empfehlen würde, es mit den Kämpfen vorerst nicht zu übertreiben. Wenn deine Pokémon noch einmal in so großer Zahl bei mir landen, werde ich mich mit der Liga in Kontakt setzen und den Entzug deiner Trainerlizenz vorschlagen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Ich schlucke, nicke aber. Wirklich verübeln kann ich Joy ihre Einstellung nicht. Um ehrlich zu sein, hatte ich bereits dieses Mal mit solchen Folgen gerechnet. Sie seufzt und zieht eine Schale mit sechs runden Einbuchtungen aus einem der Regale hinter sich, die allesamt mit Nummern beschriftet sind. Die beiden Pokébälle drückt sie mir mit hochgezogenen Augenbrauen in die Hände. „Ich werde auf sie aufpassen“, verspreche ich und nehme Hunters und Jayjays Bälle entgegen. Das leicht zerkratzte Plastik liegt perfekt in meinen Händen. Mit der Zusage, Sku in drei Tagen ebenfalls abzuholen, verlasse ich frohen Mutes das Pokécenter. Eigentlich habe ich Lust auf einen Abstecher zu Route 7, aber Dark erwartet mich zurück, um unser weiteres Vorgehen zu planen und ich bin nicht sicher, ob ich ohne Eskorte einen Spaziergang außerhalb der Stadt wagen will. Trotzdem verleiht die Vorfreude auf ein Wiedersehen mit meinen Pokémon meinen Schritten einen freudigen Schwung und ich finde mich im Hauptquartier wieder, bevor ich mich versehe. Ich bin kaum die Treppe hinunter, da rufe ich Hunter. Sein Brustgefieder ist fast vollständig nachgewachsen und als er desorientiert den Kopf schwenkt und mich entdeckt, gibt er ein durchdringendes Krächzen von sich, flattert zu mir und presst seinen Kopf liebevoll an meine Wange. Ich umarme ihn, streiche durch die dunkelbraunen Federn und murmele bedeutungslose Willkommensworte. Er versteht mich auch so. Als wir uns nach minutenlangem Kuscheln endlich voneinander lösen, rufe ich auch Jayjay. Fast bin ich neidisch, denn ich werde links liegen gelassen, während die beiden krächzen und wiehern, umeinander tänzeln und in Jayjays Fall Luftsprünge machen, die seine Hörner an die Decke stoßen lassen. Gutmütig beobachte ich die beiden besten Freunde und lehne mich grinsend an die Wand. Natürlich muss Melissa genau in dem Moment meine Laune ruinieren. „Ist ja süß“, sagt sie, kaum dass ihr Blick auf das Spektakel fällt. Sie nimmt die letzten Stufen die Treppen hinauf und begutachtet Jayjay und Hunter, die sie in ihrer Aufregung nicht bemerkt haben. „Du gehörst also auch zu den Freundschaftsfanatikern“, fährt sie fort und faltet ihre Hände hinter ihrem Kopf. „Ich habe ein gesundes Verhältnis zu meinen Pokémon, wenn du das meinst“, erwidere ich und schiebe Priss´ Schnauze von meinem Ohr weg, in das sie hineinbeißen wollte. „Deine Pokémon können mir leidtun, wenn ich mir dich als Trainerin vorstelle.“ „Meine Pokémon sind nicht verweichlicht“, sagt Melissa. „Sie folgen mir, weil sie stärker werden wollen, nicht, weil ich sie zufällig gefangen habe oder sie mich mögen. Das macht sie nicht stärker.“ „Schwächer macht es sie auch nicht“, entgegne ich säuerlich und rufe die beiden zurück. Priss gähnt auf meinem Kopf, springt zu Boden und verschwindet die Treppen hinunter, auf der Suche nach Hundemon. „Sie ist nichts weiter als dein Kuscheltier“, spottet Melissa und schaut Priss mit offenkundigem Abscheu hinterher. „Dafür, dass du große Reden über Team Rocket schwingst, nimmst du das Training deiner eigenen Pokémon sehr locker. Solltest du sie nicht unermüdlich trainieren, damit sie sich in den Kämpfen nicht verletzen?“ „Wie ich meine Pokémon trainiere, geht dich nichts an“, fauche ich, nicht zuletzt, weil ihre Worte einen wunden Punkt treffen. Ich weiß ja, dass ich stärker werden muss. Aber ohne Eskorte lässt Dark mich nicht aus der Stadt und ich kann Ronya oder Chris nicht ständig damit auf die Nerven gehen. „Und warum trainierst du nicht?“ Sie reibt sich die Augen und schaut die Treppen hinunter. „Nat hat mich gebeten, die Liga-Herausforderung mit ihm zu gucken. Es schadet nichts, mir eure jämmerlichen Top-Trainer anzusehen, also habe ich zugesagt.“ „Sicher“, sage ich trocken. „Nicht, weil Nathan dich darum gebeten hat.“ Melissas Miene verfinstert sich, doch statt mich anzufahren, greift sie nach der Kette um ihren Hals, murmelt etwas Unverständliches und verschwindet wieder nach unten. Unwillig folge ich ihr, aber ich werde mir von niemandem Chloes Herausforderung versauen lassen, schon gar nicht von ihr. Zu meiner Überraschung ist ganz Team Shadow im Gemeinschaftsraum versammelt, gequetscht auf die Sofas, Tische und teilweise auf dem Boden. Einzig Amy und Ryan fehlen. Ich lasse mich neben Louis nieder, der an die Couchlehne gelehnt sitzt und sich mit  Ronya über das Buch unterhält, das er von ihr geliehen hat. „Geht´s allen gut?“, fragt er, kaum dass ich sitze und küsst mich flüchtig, als ich zustimmend nicke. „Es geht gleich los“, verkündet er dann. Noch übertönen die Gespräche der versammelten Trainer den Fernseher, aber in der oberen rechten Ecke tickt bereits ein Countdown von PCN, der den Beginn von Chloes erstem Kampf gegen Top Vier Mitglied Jolanda ankündigt, eine junge Bodenpokémon-Trainerin, die vor einigen Jahren den bis dahin amtierenden Willi von seinem Posten verdrängt hat. Ich habe damit gerechnet, dass es spannend wird, nicht jedoch damit, dass die Kommentare meiner Team Mitglieder den größeren Unterhaltungswert haben. Alfreds dramatische Stimme wird schon bald von den ersten Zwischenrufen unterbrochen, die mich ein weiteres Mal daran erinnern, dass Team Shadow nicht viel mit der Liga zu tun hat und auf ganz eigenem Niveau spielt. "Was macht sie denn?", stöhnt Jayden, als Chloe einen Sekundenbruchteil zu spät auf Camerupts Geofissur reagiert, nicht rechtzeitig zu einem Flugpokémon wechselt und ihr Tohaido so in der KO-Attacke verliert. Es ist das erste Mal, dass ich die vernichtende Kraft mit eigenen Augen sehe, aber die aufbrechenden Fliesen und darunter liegenden Steinmassive, die das Haipokémon regelrecht verschlucken, jagen mir einen Schauer über den Rücken. "So schnell hätte sie nicht reagieren können", verteidige ich Chloe, die zögerlich zu einem Superball greift und ein Bisofank ruft, dessen Atem Wolken in der staubgefüllten Luft bildet. Seine vorgebogenen Hörner scheinen so schwer, dass es jeden Moment vorkippen müsste, aber es stampft nur schnaubend auf und gibt ein lautes Brüllen von sich, was Alfred sofort mit neuem Elan kommentiert. "Sie hätte die Attacke erahnen müssen", entgegnet Dark. "Jolanda ist ein großes Risiko damit eingegangen, Geofissur zu befehlen, statt ihr Pokémon auszutauschen." "Chloe hätte sie für das Risiko bestrafen müssen", stimmt Ronya zu. "So hat sie ihre beste Chance auf einen Sieg aus dem Fenster geworfen." "Welches Fenster?", fragt Chris, was kollektives Seufzen mit sich bringt. "Hat sie denn keinen Flugtyp?", fragt nun Nathan, der neben Melissa auf einem der anderen Sofas sitzt. "Steinhagel könnte ihr gefährlich werden, aber Bisofank besitzt keinen nennenswerten Vorteil gegenüber Camerupt. Sie sollte ihre Angriffe besser planen." Ich denke kurz nach. "Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie ein Panzaeron", sage ich dann. Melissa lacht schallend. "Sie hat schon verloren", stellt sie mit kaum unterdrückter Schadenfreude fest. "Wenn das eure besten Trainer sind, ist mir klar, warum du uns aus Einall hierher bestellst." "Sie sind nicht schwach", erwidere ich hitzig und denke dabei an Raphael, der dieses Jahr sein Glück bei der Pokémon Championship versuchen will. Melissa sagt nichts, wirft mir nur bei jedem weiteren besiegten Pokémon, das Chloe zerknirscht zurückrufen muss, einen eindeutigen Blick zu. Als schließlich ihr Starter, ein Meganie, mit letzter Kraft an seinen Egelsamen festhält und doch besiegt durch Rabigator zu Boden geht, klatscht sie zufrieden in die Hände, steht auf und verlässt den Gemeinschaftsraum. In meiner Ehre gekränkt bleibe ich noch eine Weile sitzen und lasse mir von Louis einen Arm um die Schultern legen. "Was hast du erwartet?", fragt er. "Sie hat selbst gesagt, dass sie nur ein Gefühl für die Kämpfe dort bekommen will. Niemand hat erwartet, dass sie gewinnt." "Nicht gegen Noah vielleicht", murmele ich. "Aber ich dachte, nach fünf Monaten Training würde sie wenigstens die ersten Kämpfe gewinnen. Jolandas Levelbeschränkung sollte 50 sein, oder nicht?" "Jolanda ist keine gute Gegnerin für ihr Team", sagt Dark. "Es kann sein, dass sie gegen die übrigen Top Vier ein leichteres Spiel gehabt hätte, aber ihr Team hat eine chronische Boden- und Gesteinschwäche." "Dazu kommt, dass ihre Pokémon schlecht trainiert ist", sagt Ronya, die zu den wenigen Mitgliedern gehört, die noch bei uns sitzen. Der Rest hat sich während der PCN-Nachbesprechung langsam verflüchtigt. "Weißt du, warum so wenige Trainer sehr starke Pokémon haben?" "Weil sie nicht genug trainieren?" "Oh, sie trainieren", entgegnet sie. "Aber theoretisch sollten alle älteren Trainer Teams auf Level 100 haben, oder nicht? Wenn sie ihr gesamtes Leben lang trainieren, würden die stärksten Trainer gleichzeitig die ältesten sein." Ich nicke stumm. Bisher habe ich nie darüber nachgedacht, aber sie hat natürlich Recht. "Es liegt an den Blockaden", erklärt Dark. Ronya lächelt ihm zu. "Stimmt genau. Die meisten Pokémon erreichen nie diesen Punkt, weil sie nicht intensiv genug trainiert werden. Aber die Pokéliga ist darauf ausgelegt, jeden Herausforderer in einen Levelbereich zu bringen, in dem er Blockaden überwinden muss, um zu gewinnen. Die meisten Pokémon erreichen zwischen Level 40 und 50 einen Punkt, an dem sie durch ihr normales Training nicht mehr stärker werden, egal, wie viele Gegner sie besiegen." "Es gibt noch eine zweite Blockade", fährt Dark fort. "Zwischen Level 70 und 80." Ronya nickt und deutet zum Fernseher. "Chloe wird gespürt haben, dass sie mit dem Training in der Siegesstraße nicht mehr weiterkommt. Deswegen hat sie sich entschieden, die Top Vier herauszufordern, in der Hoffnung, das Problem zu erkennen, das sie am stärker werden hindert. Sie wusste, dass sie nicht weit kommen würde, aber der Versuch war es ihr wert. Ob sie jemals Champion werden kann, hängt einzig und allein davon ab, ob sie die Blockaden ihres gesamten Teams überwinden kann. Wenn nicht…" "…wird sie niemals stärker werden", sage ich entsetzt. "Wissen alle von diesen Levelblockaden?" "Nein." Sie schüttelt den Kopf. "Aber wer das Zeug dazu hat, überwindet sie auch, ohne davon zu wissen. Wenn nicht, hat er es nicht verdient, sich Pokémonmeister zu nennen." Nachdenklich bleibe ich im Gemeinschaftsraum sitzen, während Ronya und Louis sich zu einer Therapiebesprechung für Winry verabschieden. Dark bleibt. "Worüber denkst du nach?", fragt er. Hundemon winselt und legt seinen schwarzen Kopf auf das Sofapolster neben mir. "Ich denke an all die Trainer, die niemals diese Blockaden überwinden werden", sage ich langsam. "Und an diejenigen, die es geschafft haben. Red. Gold. Du." "Vielleicht kannst du mich Gold eines Tages vorstellen", sagt Dark und krault Hundemon dabei abwesend zwischen den Ohren. "Ich war zu jung, um mich an seinen Sieg gegen meinen Vater zu erinnern, aber auch wenn Atlas damals noch nicht so stark war wie heute, war es kein Leichtes. Er muss ein formidabler Trainer sein, wenn die Gerüchte über ihn wahr sind." "Sind sie", sage ich ohne zu zögern. "Gold ist der stärkste Trainer, dem ich je begegnet bin, dich eingeschlossen. Aber ich denke, ihr werdet euch schon bald begegnen." Dark grinst flüchtig. "Mit deiner Einmischung, nehme ich an." Ich grinse ebenfalls. "Mit wessen sonst?"   Die nächsten drei Tage verbringe ich mit Telefonaten. Meine Mutter ist die erste, als ich sie über meinen Besuch mit Louis informiere. Sie klingt regelrecht euphorisch, als sie von meinem Plan erfährt und lädt uns für den 28. März in Orania City ein. Meine Telefonate mit Alfred und Rocky sind so zahlreich, dass mir ihre Stimmen in meinen Träumen erscheinen und Wiesel aus Teak City freut sich, nach so langer Zeit wieder meine Stimme zu hören. Die letzte Gesprächspartnerin, die schon am ersten Morgen nach Chloes Kampf von mir hört, ist niemand anderes als die Königin von Dukatias Untergrund persönlich. "Hey Caro", begrüße ich sie, kaum dass sie abnimmt. Zuerst erklingt das metallische Klackern ihres Feuerzeugs, gefolgt von dem Ausatmen von Rauch. "Abby", begrüßt sie mich. "Ich hatte nicht so früh mit deinem Anruf gerechnet." "Hör zu, Caro", beginne ich, stocke und beginne von Neuem. "Es tut mir wirklich leid, wie alles gelaufen ist", sage ich dann. "Nachdem ich im Oktober vom Plateau zurückgekommen bin, ist mir alles um die Ohren geflogen. Das entschuldigt nicht, dass ich mich solange nicht gemeldet habe und ich weiß, dass es schwer ist, mit mir befreundet zu sein, wenn ich immer nur bei schlechten Neuigkeiten anrufe, aber ich hoffe, du kannst mir vergeben. Ich vermisse dich. Und wenn du wissen willst, was alles in der Zwischenzeit passiert ist, kann ich dir stundenlang das Ohr abkauen." Sie lacht heiser. "Verschon meine Ohren, bitte. Aber auf die Geschichte bin ich gespannt." Wir telefonieren über drei Stunden. Meine Erzählung wird regelmäßig von nicht gerade jugendfreien Kommentaren seitens Caro unterbrochen, Louis stolpert ins Zimmer und wird an sie weitergereicht, nur um mir eine Minute später mit hochrotem Kopf das Handy wieder in die Hand zu drücken und zu flüchten und als ich schließlich bei meinen letzten Abenteuern in Fuchsania City ankomme und Craigs und Athenas Gespräch so wortgetreu wie möglich wiedergebe, fühlt es sich fast so an, als hätten wir all die Monate in engem Kontakt gestanden. Caros Wut ist verpufft, nachdem sie von all den Gefahren erfährt, durch die ich mich schlagen musste. Mein Bericht über Craig und Athena lässt sie lange verstummen. "Denkst du dasselbe, was ich denke?", frage ich. Es war einer der Gründe, weshalb ich Caro angerufen habe, auch wenn mir wichtig war, unsere Beziehung wieder geradezubiegen. "Wenn dieser Craig Kontakte zum Untergrund hat…" "…ist höchstwahrscheinlich er für Evas Tod verantwortlich", beende ich den Gedankengang für sie. Caro gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. "Nicht unbedingt er persönlich, aber wenn dieser Typ den Befehl gegeben hat… Fuck!" "Ich kann ihn dir beschreiben", sage ich. "Seine Stimme, seine Pokémon, sein Aussehen, seine Art. Aber du bist diejenige mit den Kontakten im Untergrund. Du musst herausfinden, ob er dort Verbündete hat, wer sie sind, was sie machen und wie wir ihm Steine in den Weg legen können." "Das ist−" Caros Stimme bricht. "Danke, Abby. Du weißt nicht, wie sehr ich mich darauf freue, diesen Wichser dranzukriegen." "Erst müssen wir herausfinden, ob ich richtig liege", beschwöre ich sie. "Halte dich bedeckt, sofern möglich. Wenn er die Verbindung zwischen dir und Zach erkennt, wird es eng." "Mach dir da mal keine Sorgen, Abby", erwidert Caro und ich kann das raubtierhafte Grinsen in ihrem Gesicht förmlich sehen. "Der Untergrund gehört immer noch mir."   ooo   Skus tiefes Schnurren zerstreut meine Nervosität und ich lasse mich auf die Knie sinken, um sie in meine Arme zu schließen. Ihr weiches, warmes Fell verdeckt meine Sicht und ihre Krallen ziepen schmerzhaft in meine Schultern, aber mir ist alles gleich. Ich habe sie wieder. Louis steht grinsend hinter mir und wirft Amy vielsagende Blicke zu. Der blonde Wirbelwind hat sich bereiterklärt, uns gleich nach dem Aufwachen − sprich fünf Uhr nachmittags − nach Orania City zu eskortieren. Ich hatte zuerst Ronya gefragt, doch ohne Flugpokémon ist sie für den Job ungeeignet und Amy ist voller Tatendrang. Ein loser Flechtzopf bändigt ihre goldene Lockenpracht und pinke Weste hält sie gegen die abendliche Kälte warm. Ich löse mich aus Skus Umarmung, kraule sie ein letztes Mal unter der Schnauze und rufe sie zurück. Louis hat sich bereits mit seiner Kletterausrüstung an Kramurx Joey befestigt und auch Amy steht startbereit neben ihrem Brutalanda, dessen bulliger Körperbau über seine Flugkünsten hinwegtäuscht. Dem Beispiel der beiden folgend, rufe ich Hunter, stülpe meine Handschuhe und die Pilotenbrille über, die ich seit meinem Kauf noch nicht oft benutzen konnte und schwinge mich auf Hunters Rücken. Wir heben von Route 7 aus ab und steigen in kraftvollen Luftströmen hinauf in den Himmel. Zuerst fliege ich vorsichtig, unsicher, wie sich die lange Pause auf Hunters Flugkünste ausgewirkt hat, aber schon nach der ersten Viertelstunde sind wir wieder ein eingespieltes Team. Meine Oberschenkel leiten ihn, während seine Flügel uns stets in die beste Position bringen und als der Höhenwind uns übermütig werden lässt, fliegen wir unseren ersten richtigen Salto. Amy schießt auf Brutalanda unter uns entlang, zieht hoch und umrundet uns in zahlreichen Spiralen und Saltos, die meine eigenen Manöver wie Spielerei aussehen lassen. Louis segelt unterdessen unter uns entlang und schüttelt ob unseres aufgeregten Jauchzens amüsiert den Kopf. Orania City kommt eine knappe Stunde später in Sicht. Amy fliegt niedrig, landet aber nicht, sondern schießt zurück in die Lüfte, kaum dass wir festen Boden unter den Füßen haben. Ich winke ihr zum Abschied, aber sie ist schon so weit entfernt, dass ich Brutalandas rote und blaue Färbung nur noch als dunklen Punkt am bewölkten Horizont erkennen kann. Wir rufen unsere Pokémon zurück und gehen die letzten Meter zu unserem Haus zu Fuß. "Ich bin aufgeregt", sagt Louis, kurz bevor wir die Tür erreichen. Ich schiele zu ihm. Sein Gesicht hat alle Farbe verloren und seine Finger sind ineinander verknotet. Belustigt hebe ich eine Augenbraue. "So schlimm wird es nicht", beruhige ich ihn. "Für dich vielleicht nicht… oh Gott, Abby, was wenn−" Ich lasse ihn nicht zu Ende reden, sondern betätige die Klingel. Eine nette Freundin hätte ihm vielleicht Zeit gegeben, sich vorzubereiten, aber ich bin nicht unbedingt als nett bekannt. Die Tür schwingt noch im selben Moment auf und ich bezweifle nicht, dass Mama schon auf die Klingel gelauert hat. "Hi Mama", begrüße ich sie grinsend und lasse mich von ihr in eine Umarmung ziehen, die meine Knochen knirschen lässt. "Ich habe dich so vermisst, Abby", flüstert sie und drückt mich von sich, Hände auf meinen Schultern. "Du weißt nicht, wie erleichtert ich bin, dich in einem Stück wieder hier zu haben." "Es war knapp", sage ich grinsend und trete zur Seite. "Darf ich vorstellen, das ist Louis Kale, mein Freund." "Freund?", fragt Mama mit hochgezogenen Augenbrauen und schaut zu Louis, der sie noch nicht überragt, aber ziemlich nah dran ist. "Oder Freund?" "H-hallo Mrs. Hampton!", stottert Louis und ergreift ihre Hand. "Ich fühle mich geehrt, Abbys Mutter kennenzulernen!" "Ignorier ihn", meine ich lachend, packe seine Hand und ziehe ihn hinter Mama hinein ins Haus. "Sonst ist er nicht so nervös." "Also doch Freund", murmelt Mama und zwinkert mir zu. Am Esstisch erkenne ich schon Papa, der seine aufgeschlagene Zeitung auf die weiße Tischdecke legt und sich erhebt, Arme ausgebreitet. Ich werfe mich in seine Umarmung und lasse mich drücken, fester noch als von Mama. Wir mögen unseren Streit beigelegt haben, aber ich werde nie vergessen, dass Papa es war, der mich damals hat ziehen lassen und mir seitdem stets den Rücken gestärkt hat. "Schöne Frisur", stellt er fest und lässt mich wieder zu Boden. Angenehm überrascht fahre ich durch meine rotblonden Strähnen, die inzwischen wieder auf Schulterlänge sind und um die ich mich eindeutig nicht genug gekümmert habe. "Los, legt eure Jacken ab, Mamas Gemüselasagne ist fast fertig." Wir folgen seinen Anweisungen und hängen unsere Jacken, Handschuhe und Brillen in der Garderobe auf. Unsere Pokéballgürtel behalten wir selbstverständlich an. Außer nachts oder in der Dusche lasse ich meine Pokémon seit Monaten nicht mehr von meiner Seite weichen. Mama hat die Lasagne kaum aus dem Ofen gezogen, da donnert Tarik schon mit großen Sprüngen die Treppen herunter und kommt grinsend vor mir zum Stehen. "Willkommen zurück, Abs", begrüßt er mich und zerzaust mein frisch gerichtetes Haar. "Und du bist dann?" "Louis", stellt er sich vor und reicht ihm die Hand. Obwohl Tarik seit meinem letzten Besuch weiter gewachsen ist und Louis überragt, scheint er weniger einschüchternd zu wirken als meine Eltern. Na ja, wer kann es ihm verübeln. Wir schlendern zurück zum Tisch und Tarik lehnt sich zu mir. "Wie weit seid ihr schon gegangen?", flüstert er und als ich hochrot werde, lacht er schallend und klopft mir auf den Rücken. "Kommt schon noch, Abby", sagt er lachend. "Gar nichts kommt", murmele ich und setze mich so weit von meinem Bruder entfernt, wie ich nur kann. Ich bin perverse Kommentare von Caro gewöhnt, aber von meinem Bruder muss ich sie eindeutig nicht auch noch haben. Mama tischt die Lasagne auf, während der Sturm draußen an Kraft zunimmt. Langsam frage ich mich, ob unser Plan, noch heute Abend zurückzufliegen, so eine gute Idee ist. "Louis, erzähl uns von dir", beginnt Papa das Gespräch. "Wie haben du und Abby sich kennengelernt?" Ein breites Grinsen macht sich auf Louis´ Gesicht breit und auch ich muss mit Melancholie an unser ersten Treffen im Dukatia City Pokécenter denken. Wie viel seitdem passiert ist, macht mir ein bisschen Angst. Aber es ist auch… aufregend. "Das ist tatsächlich eine lustige Geschichte", sagt Louis und erwidert schelmisch meinen Blick. "Ich muss ein bisschen ausholen, aber alles begann damit, dass ich mich verlaufen habe…"   Die Unterhaltung plätschert problemlos dahin. Außer dem ein oder anderen Fußtritt, den ich Tarik unter dem Tisch verpassen muss, um ihn in kritischen Moment zum Schweigen zu bringen, genieße ich die Gelegenheit, meinen Eltern von meinen Reisen zu erzählen, und dieses Mal nicht nur von all den Situationen, in denen ich beinahe umgekommen bin. Louis berichtet, mit meiner Unterstützung, von unserer Zeit in Azalea City und wie ich ihn gegen alle Vernunft im Wald vor Hypno gerettet habe, wie wir der Polizei helfen wollten und doch nur mehr Arbeit für Holly gemacht haben und wie ich in Anemonia City bei dem Strudelrennen den dritten Platz gemacht habe. Je länger er von meinen Abenteuern schwärmt, desto mehr vergesse ich, was mich in den letzten Wochen an meiner Aufgabe hat zweifeln lassen. Sicher, ich bin in Gefahr. Meine Pokémon werden weiterhin an der Front stehen. Aber was ich bisher erreicht habe, ist zu wichtig, um es rückgängig machen zu wollen, und meine Erfahrungen in Johto und auch kürzlich in Kanto haben mich wachsen lassen. Ich werfe Louis einen schiefen Blick zu. Nicht nur mich. Was mich jedoch am meisten freut, ist das Leuchten in Mamas Augen, als sie von meinen Erfolgen erfährt. Ich meine sogar, etwas wie Stolz in ihrem Blick aufblitzen zu sehen, als Louis Rockys Lob in Fuchsania City wiederholt und mich dabei ansieht, als hätte ich Team Rocket bereits im Alleingang besiegt. Ich spüre ein Brennen in meinen Augen, als alle Blicke auf mir ruhen, stehe hastig auf und entschuldige mich auf die Toilette. Es ist alles zu viel. Zitternd sitze ich auf dem Klodeckel und tippe eine Nachricht an Amy, damit sie uns erst am nächsten Tag hier abholt. Der Sturm hat an Gewalt zugenommen und ich fühle mich zu gut und trocken, um jetzt noch einen Flug durch das Frühlingsgewitter zu wagen. Als ich zu den anderen zurückkehre, drückt Louis unter dem Tisch flüchtig meine Hand. "Wir würden gerne doch übernachten", sage ich an Mama gewandt, die sofort enthusiastisch nickt. "Bei dem Wetter solltet ihr schön im Haus bleiben", stimmt sie zu, ihre Stimme begleitet von dem rhythmischen Trommeln der Regentropfen auf die Fensterscheiben und dem ein oder anderen Donnergrollen. "Louis kann in Mayas Zimmer schlafen", schlägt Papa vor. Ich nicke und muss mir ein Grinsen verkneifen. Meine Eltern müssen ja nicht unbedingt wissen, dass wir schon oft in einem Bett geschlafen haben, ganz zu schweigen vom selben Zimmer. Besser, sie erfahren nicht alles auf einmal. Der Abend vergeht in entspannter Runde und als wir uns schließlich alle ins Bett verabschieden, fühle ich mich seltsam. Es dauert eine Weile, bis ich das Gefühl als Glück identifiziere. Wenn mir vor zwei Monaten jemand gesagt hätte, dass ich jemals wieder freiwillig einen Fuß in dieses Haus setzen und meinen Aufenthalt sogar genießen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Aber endlich kann ich hier wieder atmen. Es macht einen größeren Unterschied, als ich je erwartet hatte. "Gute Nacht", sage ich zu Louis, der mich schnell am Hals küsst und dann in Mayas Zimmer verschwindet. "Oh, oh, oh", meint Tarik, der natürlich in genau dem Moment den Flur betritt. "Wann soll denn die Hochzeit stattfinden, liebste Schwester?" "Oh, verpiss dich doch, Riki", sage ich und genieße sein Zusammenzucken bei dem alten Spitznamen. "Schlaf gut, Abs", sagt er, piekt mich in die Seite und verschwindet in seinem eigenen Zimmer. Erleichtert atme ich aus, mache mich im Bad bettfertig und verkrieche mich anschließend im letzten Zimmer des Gangs. Meinem Zimmer. Es sieht noch genau so aus, wie ich es verlassen habe. Einzig das Bett ist frisch bezogen. Ich stelle meinen Rucksack unter den Schreibtisch, schnalle meinen Gürtel ab und lege ihn neben meinen seit Ewigkeiten unbenutzten Computer. Ich will schon unter die Laken kriechen, da beginnt einer der Bälle zu vibrieren. Ich weiß anhand seiner Position sofort, dass es sich um Priss handelt und befreie sie mit einem schlecht unterdrückten Seufzen. Meine kleine Prinzessin ist launisch, was ihre Zeit im Pokéball betrifft und heute hatte sie wahrlich wenig Ausgang. "Willkommen in meinem Zimmer", sage ich und klopfe auf die Decke neben mir. "Schläfst du heute bei mir?" Sie gibt ein würdevolles Schnauben von sich, springt aber neben mir auf die Matratze und rollt sich auf dem Kissen neben meinem Kopf zusammen. Mit ihrem wohligen Brummen im Ohr und ihrem flauschigen Fell zwischen den Fingern schlafe ich problemlos ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)