Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 107: Ungebrochen (Gib niemals auf) ------------------------------------------ „Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seit Mark Eisenthal und Chloe Falkner die Pokémon Championship für sich entscheiden konnten, Alfred, aber noch haben die beiden keinen Gebrauch von ihrem Gewinn gemacht.“ „Noch einmal zur Erinnerung, liebe Zuschauer, der Sieg über ihre Konkurrenten in der PCS gibt den beiden Trainern das Privileg, Noah und die Top Vier bis zum 30. September dieses Jahres herauszufordern!“ „Sie haben drei Versuche, um gegen die fünf hochkarätigsten Trainer unserer Regionen hintereinander zu bestehen, und außer mitgebrachten Arzneien zwischen den Duellen wird es keine Heilmöglichkeiten geben. Es ist seit jeher die ultimative Herausforderung, der nur die stärksten Trainer gewachsen sind.“ „Heute haben wir Chloe Falkner zu Gast, die ihre Gedanken über die bevorstehenden Duelle mit uns teilen wird. Begrüßen Sie sie mit uns! Hallo, Chloe!“ „Hey Alfred, Jessy.“ „Chloe, du gehörst zu den zwei Trainern, die sich letztes Jahr von der Masse abheben konnten, und dabei warst du vorher ziemlich unbekannt! Wie kam es dazu, dass niemand von dir gehört hatte, und wie fühlt es sich an, nun die Augen aller Pokémonfans auf dir zu spüren?“ „Ich hab´ mich immer von dem Medienrummel ferngehalten. Das ist mir auch ganz gut gelungen, finde ich. Aber jetzt so im Mittelpunkt zu stehen, das fühlt sich richtig krass an. Manchmal kann ich es immer noch nicht richtig glauben.“ „Das ist verständlich, Chloe. Sag uns, wann wirst du deinen ersten Versuch wagen? Die letzten Monate hast du nach unseren Angaben in der Siegesstraße verbracht, um dich dort vorzubereiten, nicht wahr?“ „Die Siegesstraße hat ein paar gute Trainingsplätze, aber wenn man immer nur gegen wilde Pokémon kämpft, verliert man irgendwann das Gefühl für echte Kämpfe. Wir sind aber sehr gut vorbereitet, deshalb will ich die Top Vier am 25. März herausfordern, um ein Gefühl für die Kämpfe dort zu kriegen. Das hilft mir auch im Training, meine Schwächen zu erkennen und auszumerzen.“ „Schon nächste Woche?! Oh, Chloe, wie wunderbar! Die Aufregung, ich kann kaum noch an mich halten. Ich werde natürlich live vor Ort sein, um deine Duelle zu moderieren…“   Chloe, ein schmales Mädchen mit braungebrannter Haut und zwei zerrupften Zöpfen, die unter ihrem Beanie hervorgucken und ihre karierte Bluse streifen, sitzt gelassen auf der Couch, während Alfred und Jessy vor Begeisterung kaum noch stillsitzen können. Schmunzelnd lehne ich mich an Louis, der neben mir im Gemeinschaftsraum sitzt und leise schnarcht. Der fünfstündige PCN-Marathon war vielleicht doch zu viel für ihn. Gerade will ich den Fernseher leiser schalten, um Louis nicht zu stören, da läuft ein PCN-Mitarbeiter ins Bild und gibt Alfred eine Karteikarte. Die beiden tuscheln angeregt und ich schalte nun doch lauter. Irgendetwas ist da faul. „LEUTE!“, schreie ich so laut ich kann und warte gebannt, während Alfred sein Taschentuch hervorzieht und sich den Schweiß von der Stirn wischt. Er spricht leise mit Jessy, die kreidebleich wird. Chloe sieht genauso verwirrt aus, wie ich mich fühle, aber als sie sich vorlehnt, scheint sie die beiden zu verstehen. Ihr Gesicht verdüstert sich. Dark ist der erste, der durch die Tür gestürzt kommt. „Was?“, fragt er und bleibt neben dem Sofa stehen, Hundemon und Priss dicht auf seinen Fersen. Keine paar Sekunden später tauchen Ronya, Gerard und sogar Ryan auf. Chris und Jayden sind die letzten. Sie sind kaum alle versammelt, da räuspert Alfred sich und nimmt Position vor der Kamera auf. „Wir unterbrechen die Abendshow für eine Eilmeldung“, sagt er mit der nüchternen Stimme, die ich nur sehr selten von ihm höre. „Gerade hat uns eine Nachricht von Rockys Spezialeinheit erreicht. Team Rocket warnt vor einem Anschlag auf Kanto und Johto, der im Mai stattfinden wird.“ „Unmöglich“, verkündet Ryan. „Ich überwache alle Polizeiserver, es kann nicht sein, dass-“ Wir alle wenden uns zu ihm, doch er schaut nur gedankenverloren geradeaus. Ärger  und Fassungslosigkeit festigen sich in seinen Gesichtszügen, dann macht er kehrt und rauscht aus dem Gemeinschaftsraum. „Wohl doch nicht alle“, ruft Jayden ihm hinterher. Ronya grinst schwach, aber es erreicht nicht ihre Augen. Gerards Fluchtirade ignorieren wir geflissentlich. „Sie werden die Höhlen sprengen“, sage ich automatisch. „Das war von Anfang an ihr Plan.“ Chris nickt. „Wenn sie im Mai angreifen, haben wir Zeit, uns vorzubereiten." Ich schiele zu Dark, der nachdenklich Hundemon zwischen den zurückgebogenen Hörnern krault. "Was meinst du, Anführer?", frage ich. Eigentlich soll der Titel ironisch klingen, aber in dieser Situation hat es eher etwas von Hilflosigkeit. "Es sind nur einige Tage vergangen, seit Team Rocket die Biker verloren hat und Abby ihnen entwischt ist", sagt er langsam. "Sie wollen ein Statement abgeben. Aber…" "Aber was?", hakt Louis nach, der bei Dark noch nie ein Blatt vor den Mund genommen hat. "Sie könnten uns bis Mai in Sicherheit wiegen wollen und früher zuschlagen", erklärt Dark. "Oder sie attackieren im Mai. Sie machen uns nervös und lassen sich alle Möglichkeiten offen. Es ist kein schlechter Zug." "Dann müssen wir einfach flexibel bleiben", meine ich. "Am besten verteilen wir uns so bald wie möglich über Kanto und Johto, sodass jeder Ort abgedeckt ist." Hundemon knurrt zustimmend, während Priss sich zwischen seinen Vorderbeinen hindurch schlängelt. Ein kollektives Nicken geht durch unsere Runde. "Wenn das geklärt ist", beginnt Ronya grinsend, "können wir ja jetzt kämpfen, Dark." Er wirft ihr einen kurzen Blick zu, nickt aber dann. "Komm", sagt er. "Es gibt eine abgelegene Wiese hinter der Stadt." Ich schnappe mir Louis und gemeinsam mit allen anderen Mitgliedern, Ryan einmal ausgeschlossen, machen wir uns auf den Weg zu dem Loch im Maschendrahtzaun, der die Wildwiese und die dahinter liegenden Wälder von dem Südviertel der Stadt trennt.   "Ich wähle zuerst", sagt Dark, als die beiden sich etwa dreißig Meter voneinander entfernt aufgestellt haben. Gerard steht bei Ronya, der Rest von Team Shadow findet sich hinter seinem Anführer ein. "Weißt du was?", ruft Ronya. "Ich trete euch bei, egal wie das hier ausgeht. Aber wenn ich gewinne, dann bin ich die Anführerin. Was sagst du?" "Der Stärkste sollte in jedem Falle die Führung übernehmen", entgegnet Dark. "Ich bin einverstanden." Hundemon löst sich von seiner Seite und nimmt vor ihm Stellung. Ronya zögert nur kurz, dann greift sie an ihren Gürtel und beschwört ihr erstes Pokémon. Luxtras dichtes, nachtschwarzes Nackenfell sträubt sich und wird vom Wind aufgewühlt. Der elektrisierte gelbe Schweif peitscht aufgeregt von links nach rechts. "Du weißt, was zu tun ist, Sibyll", ruft Ronya. Hundemon dreht den Kopf flüchtig zu seinem Trainer, der ihm zunickt. Es wendet sich Luxtra zu, das abwartend über das Gras schleicht, und hüllt sich in eine düstere, schwarzrote Aura. "Ränkeschmied?", frage ich unsicher. Bisher habe ich die Attacke noch nie gesehen. Ihre Schwesterattacke Schwerttanz wird sehr viel häufiger verwendet. Dark hat keine Zeit zu antworten, denn Luxtra prescht auf Hundemon zu, Zähne gebleckt, springt ab und wirft sich mit aller Kraft auf seinen Gegner, der von der Kraftkoloss-Attacke zurückgerissen wird. Beide Pokémon kugeln über den Boden, Grasbüschel fliegen durch die Luft und das Knurren, Fauchen und Schnappen der beiden Pokémon durchbricht die abendliche Stille. "Jetzt hast du ihn", ruft Dark. Hundemon, dessen Gliedmaßen in denen seines Gegners verkeilt sind, reißt seinen Rachen auf. Das altbekannte Glühen beginnt in seinem Brustkorb, wandert seine Kehle hinauf und trifft Luxtra als lodernd weißer Flammenwurf mitten ins Gesicht. Das Kreischen erfüllt meine Ohren, erinnert mich an die Nacht vor Saffronia City, als Hundemon seine Gegner mit dieser Attacke in Scharen überwältigt hat. Ein roter Lichtstrahl zieht Luxtra zurück in seinen Pokéball, noch bevor die Flammen erlöschen. Ronyas Augen sind auf Hundemon fixiert, das sich feixend die Lefzen leckt und erwartungsvoll eine Schneise ins verkohlte Gras läuft. Es hinkt von dem Gefecht, scheint sonst aber weitestgehend unverletzt. Ihr nächstes Pokémon ist ein Galagladi, das zunächst desinteressiert über seine klingenförmigen Arme streicht, bevor es den Geruch von verbranntem Gras wahrnimmt, den Kopf hebt und seinen Gegner entdeckt. Eine Tirade unverständlicher Laute ergießt sich über Ronya, die in einem ähnlichen Ton antwortet. Ob sie wirklich versteht, was ihr Pokémon sagt, weiß ich nicht, aber sie verschränkt zuversichtlich die Arme. "Nahkampf." "Nochmal Flammenwurf." Die beiden Pokémon rasen aufeinander zu. Erde spritzt zu beiden Seiten empor, als Hundemon durch das Gras prescht, einen Angriff antäuscht und Galagladi von der anderen Seite aus nächster Nähe mit der Feuersbrunst erwischt, doch das Pokémon hat beide Arme zum Schutz gekreuzt und bleibt bei Bewusstsein, obwohl es kurz in die Knie geht. Hundemon knurrt bedrohlich, doch da hat das Klingenpokémon sich schon wieder aufgerafft und begräbt seinen Gegner unter mächtigen Tritten und Schlägen, die Hundemon immer weiter zurückdrängen, bis es einknickt und winselnd zu Boden geht. Schwer atmend hält Galagladi in seiner Bewegung inne. "Los", befiehlt Dark, und obwohl ich geglaubt hatte, so wieder jeder andere vermutlich auch, dass diese Runde an Galagladi geht, bäumt Hundemon sich ein letztes Mal auf. Statt einem Flammenwurf geht eine schwarze, wabernde Nebelwand von ihm aus, die das keuchende Psychopokémon umhüllt, bis es nicht mehr sichtbar ist. Eine merkwürdige Stille tritt ein. Als die Finsteraura sich verflüchtigt, liegt Galagladi besiegt am Boden. Ronya flucht leise, ruft ihr Pokémon aber zurück. Einige Momente lang wandert ihre Hand von Ball zu Ball, unschlüssig, wen sie als nächstes in den Kampf schicken soll. Dann seufzt sie und kratzt sich am Kopf. "Du hast gewonnen!", ruft sie Dark zu, der überrascht aufschaut. "Bist du sicher?" "Entei hat noch keinen nennenswerten Level und der Rest meines Teams ist anfällig für Feuerattacken. Mit Ränkeschmied und dem Erstschlagvorteil auf deiner Seite, habe ich keine Chance." Dark nickt und ruft sein erschöpftes Pokémon zurück. "Ich begrüße dich in Team Shadow, Ronya." "Na, dann her mit dem S-Com." Sie lacht. "Wenn Abby sich das nächste Mal in Lebensgefahr bringt, will ich sofort davon erfahren."   Während die anderen ins Hauptquartier zurückkehren, um Ronya und Gerard ihre S-Coms zu überreichen und Ryan wegen des Servers zu piesacken, mache ich den Umweg zum Pokécenter. Die elektrischen Türen öffnen sich sirrend und ich trete ein. Dank der fortgeschrittenen Uhrzeit ist das Pokécenter so gut wie ausgestorben. Schwester Joy steht am Schalter und schaut aus den Augenwinkeln zu einem Pärchen, das heftig miteinander flirtet. Ihre Augen gleiten zu mir, als sie mich bemerkt und ihr Gesichtsausdruck verdüstert sich. Dann schüttelt sie ihren Kopf und winkt mich zu sich. "So sieht man sich also wieder", sagt sie und bedeutet mir mit einer Geste, ihr in die hinteren Behandlungsräume zu folgen. "Dein Arm ist gut verheilt, wie ich sehe." "Ja, der Gips hat gut gehalten", sage ich, während ich ihr durch die beleuchteten Gänge folge. Vor einer Tür mit der Aufschrift Intensivstation bleibt sie stehen. "Vor ein paar Tagen sind mir drei Pokémon aus Fuchsania zugesendet worden", sagt sie und nimmt mich in Augenschein. "Alle von derselben Person. Stell dir meine Überraschung vor, als ich erfuhr, dass eins meiner Pokémon hier ebenfalls dieser Person gehört. Und dass ich schon ein Evoli von ihr in Behandlung hatte. Die betreffende Person ganz zu schweigen." "Ich weiß", sage ich. "Es tut mir leid." "Entschuldige dich nicht bei mir, Abbygail", sagt sie und stößt die Tür auf. "Entschuldige dich bei ihnen." Es ist das erste Mal, dass ich meine Pokémon seit dem Kampf mit Craig und Athena wiedersehe. Jayjay wirkt schon wieder relativ fit. Fäden durchziehen sein Fell an mehreren Stellen und er ist etwas wacklig auf den Beinen, aber sonst scheint es ihm gut zu gehen. Er steht neben einem Kronjuwild und einem Ponita, die allesamt an einem großen Heuballen knabbern. Als er mich entdeckt, wiehert er freudig, löst sich aber nicht von der Gruppe. Ich schaue genauer hin und entdecke das lose Halfter, das ihn an der Wand befestigt. "Da lang", sagt Joy und deutet nach rechts. Ich folge ihr, vorbei an Pokémon, die offensichtlich gerade ihre abendliche Fütterung haben und an denen ich nur geringfügige Verletzungen entdecken kann. Doch das muntere Schnurren, Fauchen, Wiehern und Zischen verebbt, je lauter das Piepen wird, das mir aus den hinteren Teilen der Intensiv entgegen schallt. Container unterschiedlichster Form und Größe reihen sich an die linke Wand, sind mit dicken Kabeln und Monitoren verbunden und besitzen eine kuppelförmige Glas- oder Plastikabdeckung, durch die ich in die Behälter hineinschauen kann. Darin liegen Pokémon. Genau wie die Maschinen sind sie regelrecht verkabelt. Atmung, Herzschlag und jede Menge mir unbekannte Raten werden auf den Bildschirmen über den Containern dargestellt. Außer dem Piepen kann ich nur die röchelnde Atmung wahrnehmen, die überall wiederhallt. "Was ist das?", frage ich tonlos. "Stationäre Pokébälle ", sagt Joy und nimmt neben mir Stellung. Gemeinsam betrachten wir das Piepi, das auf dem Polster liegt und zu schlafen scheint. "Eine künstliche Replikation der Pokéballumgebung, in der die Heilprozesse beschleunigt sind. Sie benötigen keine Nahrung und sind nicht bei Bewusstsein, aber wir können ihren körperlichen Zustand besser im Auge behalten, als in Bällen." "Wo sind meine Pokémon?", frage ich. Sie nickt zu zwei der hinteren Maschinen. Ich folge ihrer Geste, atme tief durch und schaue hinein. Im ersten entdecke ich Sku, die mit Schläuchen und Atemmaske in einer Art Schaumkissen fixiert liegt, Augen geschlossen. Ihr Atem geht rasselnd und flach, so als habe sie große Schmerzen. Meine Finger gleiten über die Glasoberfläche. Mein Starter. Meine älteste, beste Freundin. Einige Minuten stehe ich einfach nur da. Joy bleibt an meiner Seite, beobachtet jede meiner Bewegungen. Irgendwo in meinem Hinterkopf weiß ich, dass sie meine Reaktionen abschätzen möchte. Sie will sehen, ob die Verletzungen meiner Pokémon mir nahe gehen oder mich kalt lassen. Ob ich trotz der hohen Verletzungsrate eine gute Trainerin bin. Schließlich hole ich tief Luft, presse meine Augen zu und vertreibe das Brennen und den Schmerz in meinem Rachen, der sich dort breit macht. Das schlimmste liegt noch vor mir. Überraschender Weise legt Joy eine Hand auf meine Schulter, als ich mich abwende, um zu Gotts Container zu gehen. "Du musst nicht… es wäre vielleicht besser, wenn du dein Igelavar später besuchst." "Nein." Ich mache mich von ihr los. "Es ist meine Schuld, dass er in diesem Zustand ist. Das mindeste, was ich tun kann, ist nicht wegzusehen." Joy schweigt, während ich mich Gotts Container nähere. Als ich hineinsehe, schnappe ich nach Luft. Metallkonstruktionen durchbrechen den Gips, der beide seiner Hinterbeine umschließt, und scheinen in seinen Beinen befestigt zu sein. Auch er ist in einem Schaumkissen fixiert, um seine gebrochenen Rippen zu schützen. Die Atemmaske bedeckt sein Maul und sein Rückenfeuer ist erloschen. Immer wieder zieht die Metallvorrichtung meinen Blick auf sich und ich muss eine Hand vor meinen Mund pressen, um nicht… ich weiß nicht mal mehr, wie mir zu Mute ist. "Er ist unruhig", sagt Joy leise neben mir. "Trotz des Containers zeigt er regelmäßig starke Gehirnaktivitäten. Wir glauben, dass er eine starke Emotion durchmacht, die ihn nicht loslässt. Hast du eine Idee, was es ist?" Ich zögere, bin nicht sicher, ob ich sprechen kann. Doch die Antwort liegt mir im Magen. "Er wollte mich beschützen", sage ich und lasse die Hand sinken. "Er hat sich zwischen mich und ein Golgantes geworfen und ist zerdrückt worden. Er weiß vielleicht nicht mal, ob ich noch lebe, oder ob ich entkommen bin." "Schuldgefühle also", murmelt Joy und macht sich auf einem Klemmbrett Notizen. "Nun, das muss warten, bis er wieder bei Bewusstsein ist. Wenn du ihn dann besuchen könntest, würde uns das sehr helfen." "Natürlich", murmele ich und streiche ein letztes Mal über die Glasoberfläche, bevor ich mich abwende und Joy aus der Intensiv nach draußen folge. "Wenn du in drei Tagen wiederkommst, kannst du dein Ibitak und den Zebritz mitnehmen", sagt sie zur Verabschiedung. Der Gedanke, zumindest einen Teil meines Teams wieder bei mir zu haben, lässt mich innerlich aufatmen. Mir ist nie bewusst geworden, wie verletzlich und alleine ich mich ohne meine Partner fühle. Priss ist zwar da, aber ich habe sie von all meinen Pokémon als letzte bekommen und sie ist weiterhin keine Kämpferin. "Werde ich", sage ich und nicke ihr dankbar zu. "Auf Wiedersehen." "Komm bald wieder", sagt Joy. Während ich schon halb zur Tür hinaus bin, höre ich ihr fassungsloses Murmeln. Was hat dieses Kind nur durchgemacht…   Der Weg zurück zur Spielhalle vergeht wie im Traum. Ich bin wacklig auf den Beinen, merke gar nicht, wo ich abbiege, welchen Menschen ich begegne. Erst, als ich vor dem Geheimgang stehe, das Passwort eintippe und in den dunklen Gang dahinter trete, trifft mich alles wie ein Schlag. Ich erinnere mich an Gott, der mir zahllose Male den Weg geleuchtet hat, als die Stromkreise noch nicht wieder aktiv waren. Der flackernde Schein seines Rückenfeuers, das an den Wänden reflektierte. Ein ersticktes Geräusch entweicht mir und ich lasse mich, wo ich stehe, an der Wand herunter sinken, bleibe im Dunkeln auf der Treppe sitzen, Gesicht in meinen Händen vergraben. Ich weine nicht. Meine Gedanken wandern lediglich in immer düsterer werdenden Spiralen, tiefer und tiefer. Dieses Mal sind wir noch davongekommen. Was wäre geschehen, wenn Craig und Athena sich nicht von mir hätten manipulieren lassen? Wären Gott und Sku rechtzeitig in ein Pokécenter gekommen? Oder wären sie in ihren Bällen verrottet, vielleicht von Team Rocket aussortiert, weil sie nichts mehr nützen. Werden sie beim nächsten Kampf gegen die Vorstände sterben? Schritte. Erschrocken will ich aufspringen, doch da geht schon das Licht an. Ronya steht am Fuß der Treppe und schaut überrascht zu mir hoch. "Wieder zurück?", fragt sie. "Was machst du da oben?" "Nichts", sage ich schnell und stehe auf. "Habe nur nachgedacht." Sie zieht eine Augenbraue hoch. "Wie geht es deinen Pokémon?" Natürlich merkt sie sofort, wo das Problem liegt, denke ich missmutig. Als ich nichts sage, steigt Ronya die Stufen zu mir hinauf, drückt mich zurück in eine sitzende Position und lässt sich neben mir nieder. "Na los", sagt sie, ohne zu mir zu schauen. "Dir liegt was im Magen. Spuck´s aus." "Ich…" Meine Stimme bricht ab und ich setze neu an, spreche, ohne den Blick von meinen Händen zu nehmen. "Was, wenn ich mir zu viel zumute?", frage ich leise. Zweifel, Zweifel an mir, der Sache, für dich kämpfe, haben sich tief in mir verankert. Vielleicht brauche ich jemanden, der mir sagt, dass alles gut wird, dass ich nicht verantwortlich bin. "Ich bin keine besonders starke Trainerin. Besser als viele, aber lange nicht gut genug, um gegen Team Rocket anzukämpfen. Und wenn ich in Schwierigkeiten gerate, sind es meine Pokémon, die es ausbaden. Ich frage mich einfach, ob… ob ich so weiter machen kann." "Wirklich." Ronya rührt sich nicht, aber ihre Stimme ist kühl. "Und ich dachte, du hättest auf unserer Rückreise neue Motivation gefasst." Sie steht auf. "Scheint, als hätte ich mich geirrt. Versteck dich ruhig, während wir die Arbeit machen. Aber wenn du denkst, deine Pokémon macht das glücklicher, dann liegst du falsch." "Was soll ich denn bitte machen?", frage ich wütend und springe auf. Ronya dreht sich um, beobachtet mich wachsam. "Alles, was ich tue, befördert mich oder meine Pokémon ins Krankenhaus. Es geht immer irgendetwas schief, ganz Team Rocket ist auf mich eingeschossen, Trainer, die ich nicht mal in meinen Träumen besiegen könnte! Nicht jeder ist so stark wie ihr, okay? Ich wollte nie in diesen… diesen Krieg reingezogen werden! Ich bin entführt worden, bin gerade so abgehauen und danach habe ich einfach nur die Polizei angerufen und jetzt schau mich an! Ich habe euch alle zusammengebracht, ich bin diejenige mit dem Kopfgeld, die dauernd von Bikern oder Vorständen oder irgendwelchen anderen Fanatikern angegriffen wird und das alles nur, weil ich mir in den Kopf gesetzt habe, Team Rocket zu stoppen!" "Willst du sie denn stoppen?", fragt Ronya, ungerührt meines Wutausbruchs. "Natürlich will ich sie stoppen, verdammt!", fluche ich. "Sie sind miese Verbrecher und ich will, dass sie ein für alle Mal aus Kanto verschwinden." "Und du willst helfen?" "Wenn ich helfen kann, werde ich das natürlich. Aber…" "Kein Aber." Ronya deutet mit einem Finger auf mich, Gesicht nun wutverzerrt. "Du bist nicht jemand, der sich irgendwo verkriecht, während andere deine Arbeit machen. Du hast dir etwas in den Kopf gesetzt, hast etwas in diesem Krieg bewirkt, was niemand sonst hätte schaffen können, und jetzt heulst du rum und bedauerst deine Entscheidungen, die so viel Gutes gebracht haben, nur weil du einen kleinen Rückschlag einstecken musstest! Du bist nicht stark genug? Dann werde stärker, verdammte scheiße. Was denkst du denn, warum wir besser sind als du? Wir haben trainiert, jahrelang. Wir haben Rückschläge eingesteckt, aber haben wir nach einer Niederlage je gesagt, Mensch, vielleicht sollte ich lieber aufgeben, bevor noch etwas Schlimmes passiert?" Schwer atmend hält sie inne, Finger bebend auf mich gerichtet. "Wir haben weitergemacht. Jemand hat uns besiegt? Wir haben trainiert, bis wir stärker waren, bis niemand uns mehr etwas anhaben konnte. Und selbst jetzt hören wir nicht auf. Du denkst, du erreichst irgendwann einen Punkt, an dem alles gut ist? Nein, tust du nicht. Es wird immer etwas schief gehen, deinen Pokémon und dir wird immer etwas passieren und du wirst jedes Mal die Verantwortung tragen. Wenn Gott dich so hören würde, würde er sich fragen, wofür er all diese Zeit gekämpft hat. Das ist nicht die Abby, für die er sein Leben riskiert hat. Du bist nur eine feige Attrappe." „So redest du nicht mit mir“, flüstere ich drohend. Ronya legt eine Hand hinter ihr Ohr. „Was war das? Ich konnte deine feige Stimme nicht hören.“ „So redest du nicht mit mir, verdammt!“, schreie ich. „Weißt du, wie viel ich schon für diesen Kampf riskiert habe? Wie oft ich fast gestorben bin? Du denkst, nur weil eins deiner Pokémon in einem Kampf schwer verletzt wurde, kannst du unsere Situationen vergleichen? Ich bin diesen ganzen Dreck so leid! Zach ist im Gefängnis, Richard und Absol erwarten von mir, dass ich ihn da irgendwie rauskriege, vier meiner Pokémon liegen auf der Intensivstation und ich bin innerhalb von zwei Tagen zweimal von Team Rocket entführt und fast umgebracht worden! Und das sind nur meine letzten drei Wochen! Ich will einfach nur, dass dieser Albtraum vorbei geht, ist das zu viel verlangt?“ „Abby“, unterbricht Ronya mich. Ihre Stimme ist bei weitem nicht sanft oder beruhigend, aber sie hat die Härte von zuvor verloren. Meine Kehle ist trocken vom vielen Schreien. „Du hast mehr Scheiße hinter dir als ich. Mehr als wir alle. Aber du hast so viel aus alldem mitgenommen. Die Trainerin, die direkt nach ihrer Gefangennahme im Alleingang beide Bikeranführer gleichzeitig besiegt hat? Die hat mich beeindruckt. Die Trainerin, die gefesselt von einem Trikephalo ins Meer gesprungen ist und mir vertraut hat, in letzter Sekunde ihre Fesseln zu lösen? Die hat mich überzeugt, Team Shadow eine echte Chance zu geben. Wenn das schwächste Glied der Gruppe so viel Mumm hat, was ist dann mit dem Rest? Also zeig mir, dass ich Recht hatte.“ Sie kommt näher, legt eine Hand auf meine Schulter. „Du bist unglaublich, Abby. Lass dich von diesen Rocket-Verlierern nicht runterziehen. Deine Pokémon werden sich erholen und bis dahin lassen wir niemanden an dich ran. Also mach dein Ding, lauf nicht weg, und zeig der Welt, was für eine wahnsinnig gute Trainerin du bist. Du bist nicht allein.“ Sie wuschelt mir durchs Haar und verschwindet die Treppen hinauf. Die Geheimtür fällt schwer hinter ihr ins Schloss und lässt mich in dem hell erleuchteten Gang zurück, das Echo ihrer Stimme im Ohr. Kopfschüttelnd reibe ich mir die Augen, kann ein schwaches Grinsen aber nicht unterdrücken, als ich mich auf den Weg nach unten zu den anderen mache. Ryan verdient noch eine Runde Ärgern, und zwar von mir höchstpersönlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)