Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 105: Zeit für Rache (Das Opfer) --------------------------------------- Es bleiben nur wenige Sekunden, mir eine Strategie zurechtzulegen. Rasch überfliege ich die fünf gegnerischen Pokémon, die angriffslustig auf die Befehle ihrer Trainer warten oder ihrerseits mein Team abschätzen. Mik und Alina besitzen ein sehr stahllastiges Team, aber Bojelin stellt eine große Gefahr für Gott da. Mir bleiben nicht viele Möglichkeiten. „Gott, sorg mit Rauchwolke für Sichtschutz, Sku, Toxin auf Lin-Fu! Jayjay, schalte das Bojelin aus, Ladevorgang, dann Funkensprung. Los!“ Sku springt vor und spuckt eine übelriechende Ladung Toxin in Richtung des Kampfpokémon, dessen komplexes Ausweichmanöver es nicht vor der Attacke schützt. Das Gift erwischt Lin-Fu am Oberschenkel und ätzt sich zielstrebig durch das rosafarbene Fell. Quietschend geht es auf die Knie, atmet gezwungen ruhig aus und schließt zu einer Meditation die Augen. All das sehe ich, bevor Gotts Rauchwolke die Luft mit dichten, schwarzen Rauchschwaden füllt und die Sicht verdeckt. Einzig Jayjays elektrische Entladungen zeigen, wo er sich gerade aufhält. Ich erwarte mit Grauen Bojelins Wasserdüse, doch sie kommt nicht. Stattdessen durchbricht ein Wassersprenkel den Rauch und fällt in einem feinem Niesel zu Boden. Nassmacher… Ich hätte es mir denken können. Alina wird alles tun, um Gotts Feuerattacken so gut es geht zu behindern. „Flunkifer, Knirscher auf das Zebritz, lass es nicht zum Zug kommen! Lucario, Knochenhatz auf das Stinktier, jetzt!“ „Gladiantri, Silberblick auf Igelavar.“ Etwas schießt durch den Rauch auf Sku zu und trifft sie, zweimal, dreimal, bis sie keuchend zur Seite springt und dem vierten Objekt gekonnt ausweicht. Gleichzeitig flackert ein silbernes Augenpaar in der Dunkelheit auf und lässt Gott knurrend einen Schritt zurückweichen. Jayjay leuchtet einmal stärker auf, als er seinen Ladevorgang beendet, macht sich damit aber zu einem leichten Ziel für Flunkifer, das auf ihn zuspringt und sein zum Kiefer ungeformtes Horn in seine Flanke gräbt. Zischend beobachte ich, wie Jayjay zur Seite stolpert, ausschlägt und sich so von dem Stahlpokémon befreit, aber die Bisswunde ist auch im Rauch deutlich zu erkennen und Blut tropft durch sein gestreiftes Fell. „Jetzt Wasserdüse, Bojelin“, ertönt Alinas kontrollierte Stimme. „Lin-Fu, bleib bei Meditation.“ „Nochmal Knirscher. Lucario, Scanner, schütz Bojelin!“ Noch während Bojelin einen Wasserstrahl in Gotts Richtung schießt, der so schnell ist, dass ich ihn fast nicht mehr sehen kann und ihn einige Meter zurückschleudert, rufe ich bereits das nächste Kommando. „Jayjay, attackier Flunkifer, Sku, Säurespeier auf Lin-Fu! Unterbrich die Meditation. Gott, komm schon! Flammenrad auf Flunkifer!“ Skus Giftattacke trifft im selben Moment, da Jayjay seinen Funkensprung in letzter Sekunde von Lucarios Scanner abwendet und auf Flunkifer lenkt. Der Nassmacher, den Bojelin zuvor heraufbeschworen hat, ist jetzt der perfekte elektrische Leiter und die Elektroattacke schüttelt das Stahlpokémon ordentlich durch. Gotts Flammenrad, das wie ein feuriger Wirbelsturm auf Flunkifer zurollt und es mit voller Wucht trifft, erledigt den Rest. Mik zischt, als eins seiner Pokémon besiegt zu Boden taumelt. Ich grinse nur und warte, bis Gott wieder Stellung an meiner Seite bezogen hat, bevor ich ihm ein weiteres Flammenrad befehle, dieses Mal auf Lucario, dessen Scanner abgeklungen ist. Natürlich habe ich nicht mit Alina gerechnet. „Gladiantri, Folterknecht!“ Das kleine Stahlklingenpokémon, das sich bis dahin unauffällig am Rande des Geschehens gehalten hat, gibt einige undefinierbare Geräusche von sich. Was genau, kann ich nicht sagen, nur dass Gotts Flammenrad im letzten Moment durch einen Sternschauer ersetzt wird, den er fauchend geradewegs in Lucarios Gesicht schleudert. Das Aurapokémon zeigt sich von der Normalattacke selbstverständlich völlig unberührt und macht sich stattdessen bereit für eine weitere Knochenhatz, die Sku dieses Mal zweimal erwischt und schnaufend zu Boden gehen lässt. „Sku, halte durch!“, rufe ich ihr zu, während ich gleichzeitig Jayjays zweiten Funkensprung auf Bojelin dirigiere, das Gott erneut mit einer Wasserdüse attackieren will, sich im Rauch aber verschätzt und ihn nur streift. Jayjay hingegen trifft. Der Ladevorgang ist aufgebraucht, aber die Elektroattacke richtet trotzdem erheblichen Schaden an, als sie das Wasserpokémon unter Starkstrom setzt. Sku, die sich wieder aufgerappelt hat, setzt dem Ganzen mit einem wohlplatzierten Schlitzer ein Ende. Mit Bojelins Niederlage kommt auch der Nassmacher zum Erliegen. „Gott, jetzt kannst du durchstarten!“, rufe ich ihm zu, während er durch den sich langsam lichtenden Rauch jagt und scheinbar neue Energie getankt hat. Könnte es sein… „Lin-Fu, beende es mit Ableithieb!“, befiehlt Alina mit kalter Stimme. Das Kampfpokémon reißt die Augen auf, rast vor und trifft Sku mit einer Faust tief in der Magengrube. Nicht nur fällt Sku bewusstlos zu Boden, ein Teil der Energie kommt auch noch Lin-Fu zu Gute. „Lucario, Kraftwelle auf Zebritz!“ „Komm ihm zuvor, Jayjay! Funkensprung auf Lin-Fu!“ Beide Attacken treffen gleichzeitig, doch während Jayjay besiegt zu Boden geht, hält Lin-Fu sich geradeso auf den Beinen. Ich atme einmal tief durch. Lin-Fu ist so gut wie erledigt. Lucario und Gladiantri haben noch fast volle Kraftreserven und Gott musste bereits eine sehr effektive Attacke einstecken. Es sieht nicht gut aus. „Gott, jetzt wird es ernst“, sage ich. „Lass dich nicht treffen und schalte zuerst Lin-Fu mit deinem Sternschauer aus, danach Feuer auf alles, was dir in die Quere kommt!“ Er faucht zustimmend, fährt sein Rückenfeuer weiter auf und rast geradewegs an Lucario und Gladiantri vorbei und auf das Kampfpokémon zu, dessen Verteidigung dem sicheren Normaltreffer nicht mehr standhält. Skus Toxin erledigt den Rest und das Pokémon geht tonlos zu Boden. Gott brüllt und fährt zu seinen beiden übrigen Gegnern herum, Zähne gefletscht. Kommt es mir nur so vor, oder sieht er… bedrohlicher aus? Mik und Alina werfen sich einen schnellen Blick zu. Sicher wollten sie schon längst über alle Berge sein, aber so leicht lässt sich Abbygail Charlotte Hampton eben nicht besiegen. „Knochenhatz!“ „Gewissheit!“ Gott reißt den Kopf herum, als die fünf Bodengeschosse auf ihn zurasen, windet sich aber im letzten Moment zur Seite und entgeht so den Attacken. Sein Körper beginnt, rot zu glühen, dann schießt er auf Gladiantri zu und trifft seinen Gegner mit voller Wucht. Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Flammenrad war das nicht. Es sah eher aus wie… „Nitroladung?“, frage ich und sehe nur, wie Gott zufrieden nickt. Gladiantri liegt besiegt zu seinen Füßen. Bleibt nur noch Lucario. Alina gibt einen undefinierbaren Laut von sich, ruft ihre Pokémon zurück und springt auf ihr Bike, um zu verschwinden, aber Gott schleudert ohne Zögern einen Sternschauer in ihre Richtung, der die Reifen mühelos zerschlitzt. Ich kann mein Grinsen kaum noch unterdrücken und das Genugtun, selbst auf Miks Gesicht einen fassungslosen Ausdruck zu sehen, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Gott und Lucario umkreisen sich langsam. Der Schakal hat noch mehr Energie übrig, aber Gotts Typvorteil ist eindeutig. Die beiden springen aufeinander zu, doch Gotts Initiative ist durch die vorige Nitroladung erhöht und er trifft Lucario mit solcher Wucht, dass das gegnerische Pokémon zurückgeschleudert wird, über die Straße schlittert und zum Stillstand kommt. Erst einige Sekunden später hebt es erschöpft den Kopf, ein letzter, verzweifelter Kraftakt. Gott gibt ein gewaltiges Fauchen von sich und Lucario lässt besiegt seinen Kopf zurück in den Staub fallen. Wir haben gewonnen. Ein drei vs. fünf Kampf, und wir haben tatsächlich gewonnen. Sprachlos und mit weichen Knien rufe ich Sku und Jayjay zurück, die noch immer besiegt am Boden liegen. Gott bleckt selbstgefällig die Zähne. Dann beginnt er, zu leuchten. Nein, nein, doch nicht schon jetzt! Ich werfe einen raschen Blick zu Mik und Alina, die kehrtmachen und das Weite suchen. Ich will sie verfolgen, aber wenn Gott sich entwickelt, war es das mit meinem Therapietraining. Ich gehe vor Gott in die Knie und schaue ihn eindringlich an. Noch ist die Entwicklung nicht fortgeschritten, doch sobald er die Veränderung zulässt, wird es sich nur um Sekunden handeln. „Gott“, sage ich und zwinge ihn, mir in die Augen zu sehen. „Keine Entwicklung. Ich verbiete es.“ Ein frustriertes Winseln erklingt aus dem weißen Leuchten, das Gott inzwischen völlig umhüllt hat. „Ich meine es ernst“, fahre ich fort und durchbohre ihn mit meinem Blick. „Wir haben das besprochen, Gott. Brich die Entwicklung ab. Sofort.“ Gott macht einen Schritt zurück. Das Licht fällt wie Schuppen von einigen Stellen seines Körpers ab, aber es verblasst nicht gänzlich. Ich hatte nicht darauf zurückgreifen wollen. Aber es scheint, als hätte ich keine Wahl. Wie Ronya, als sie Gott zu Boden gerungen hat, fletsche ich meine Zähne. „Stopp“, presse ich hervor und halte dabei den Blick zu Gott aufrecht. In all unseren Versuchen, diesen Befehl in einer Übung einzusetzen, hat es nicht funktioniert. Er hat mich stets belustigt angehechelt oder als Antwort selbst geknurrt. Mein Herz schlägt schneller in meiner Brust, während ich darauf warte, wie Gott sich entscheiden wird. Es sind einige der angespanntesten Sekunden meines Lebens. Dann erlischt das Licht und Gott steht weiterhin als Igelavar vor mir, Kopf gesenkt, so als schäme er sich dafür, solange für die Entscheidung gebraucht zu haben. Tiefe Erleichterung überkommt mich, als ich die Arme ausbreite und Gott sich grummelnd in meine Umarmung schmiegt. Unsere Probleme sind noch nicht beseitigt. Aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. „Abby!“ Ich hebe den Kopf und entdecke eine dunkle Silhouette, die sich auch aus dieser Entfernung schnell als Louis entpuppt. Er kommt in meine Richtung gejoggt und bleibt schwer atmend vor mir stehen. Mein Blick wandert über das Veilchen unter seinem linken Auge, seine aufgeschrammten Fingerknöchel und das zerzauste Haar. Kein Zeichen von Folter oder ähnlichem. Ein erleichtertes Aufatmen überkommt mich. Im nächsten Moment bin ich schon in seine Umarmung geflüchtet, wo ich mich an ihm festkralle, so als könnte er mir jeden Moment entrissen werden. „Ich dachte… da waren diese Schreie und ich… ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen!“ „Abby, shhh, ganz ruhig.“ Beruhigend streicht er mir über den Kopf. „Alles ist gut. Das war nicht ich, der so geschrien hat.“ „Was ist überhaupt passiert?“, frage ich und atme mehrere Male tief ein und aus, bevor ich mich bereit fühle, meinen Griff zu lockern. „Nein, erzähl es mir gleich“, unterbreche ich Louis, der schon den Mund zu einer Erklärung geöffnet hat. „Mik und Alina sind noch auf freiem Fuß. Wir müssen sie einfangen.“ „Bezweifle ich“, meint er grinsend und dreht sich mit mir gemeinsam zurück Richtung Route 18, die in der Dunkelheit still vor uns liegt. Oder auch nicht ganz so still. Jetzt, da meine Ohren sich nicht auf Gespräche oder Kampfgeräusche konzentrieren müssen, kann ich von weiter südlich Schreie, Flüche und Befehle hören. Taschenlampen blitzen hier und da auf und als ich den Kopf hebe, kann ich einige dunkle Gestalten entdecken, die über den Hügeln ihre Kreise ziehen. „Die Polizei?“, frage ich und kneife die Augen zusammen, um Mik und Alina in den Grüppchen auszumachen. Es gelingt mir nicht. „Sie sind eingetroffen, kurz nachdem du abgehauen bist, um die beiden einzufangen“, erklärt Louis. „Die Biker im Treffpunkt haben sie sofort eingesackt, danach sind sie ausgeschwärmt, um die Entflohenen einzusammeln. Mik und Alina werden nicht weit kommen.“ Ich nicke und beobachte aus der Ferne, wie zwei Figuren von einer Gruppe Feuerpokémon zu Boden gerissen werden. Rockys Fukano? Aber wenn Rocky hier ist, dann heißt das… „Ist Holly auch da?“, frage ich panisch, aber Louis lacht nur, hakt sich bei mir unter und zieht mich mit zurück in Richtung der Polizisten. „Keine Sorge. Ich glaube, dieses Mal hast du keine Standpauke zu befürchten.“ Er runzelt die Stirn. „Was ist passiert, Abby? Ich bin aus dem Restaurant gekommen und du warst einfach verschwunden! Es gab nicht mal Anzeichen eines Kampfes, geschweige denn von dir. Ich bin durchgedreht, weil ich nicht wusste, wo ich anfange soll, zu suchen! Etwas später hat sich dann Ronya bei mir gemeldet, weil Dark einen Notruf von dir bekommen hat. Er hat sie kontaktiert, weil er wusste, dass sie hier bei uns ist und zusammen mit ihr und Gerard haben wir die Polizei gerufen und sind dem Funksignal von deinem S-Com gefolgt.“ „Sie haben mir aufgelauert“, erkläre ich. Einen Moment überlege ich, Louis nicht zu sagen, dass ich die Wahl zwischen Kämpfen und Hilfe rufen hatte, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder. Wir sind beide heil aus der Sache rausgekommen. Das letzte, was ich will, ist eine Lüge, die spätestens bei genauerem Hinterfragen auffliegt. „Ich hatte nur einen kurzen Moment zu entscheiden, was ich tun soll, deswegen habe ich den SOS-Knopf aktiviert, statt zu kämpfen. Ich dachte, wenn ihr dem Signal folgt, kann die Polizei dieses Mal alle auf einmal festnehmen.“ „Das ist mal wieder sehr nobel von dir“, stellt Louis trocken fest. „Und sehr dumm und selbstzerstörerisch und riskant und… ach verdammt, Abby! Ich will nicht sagen, du hättest es nicht tun sollen, schließlich hat es ja geklappt. Aber als wir vor dem Treffpunkt standen und ich höre von drinnen diese… diese Schreie, da bin ich wahnsinnig geworden!“ „Ich auch, Louis“, flüstere ich und klammere mich enger an ihn. Wir kommen den Polizisten näher, aber noch sind wir außer Hörweite. „Die ganze Zeit dachte ich, du würdest gefoltert werden! Und es wäre meine Schuld gewesen, eben weil ich dieses Risiko eingegangen bin.“ Ich seufze und schaue zu ihm. „Also, was hat uns denn nun gegenseitig so gekonnt imitiert?“ „Ein Plaudagei, dieses Drecksvieh“, murrt Louis. „Hat natürlich aufgehört, sobald wir reingestürmt sind. Sie müssen es darauf abgerichtet haben, solche Geräusche von sich zu geben, gesprochen hat es jedenfalls nicht.“ „Klingt ganz nach etwas, das Mik machen würde“, sage ich bitter und denke an mein Gespräch mit ihm zurück. Wahrscheinlich hat er Louis´ Auftauchen und den Kampf inszeniert, als er merkte, dass ich nicht reden würde und sich dann einen Spaß daraus gemacht, mich mit der Vorstellung in den Wahnsinn zu treiben. Vielleicht hätte mir klar sein sollen, dass Mik wieder die Manipulationsmasche durchziehen würde, aber ich war zu dem Zeitpunkt nicht gerade in meiner besten geistigen Verfassung. Und, wenn ich ehrlich bin, hätte ich Louis´ Wohl nicht auf eine Theorie gestützt, selbst wenn ich auf die Idee gekommen wäre. „Ah, da seid ihr ja“, ruft eine Polizistin und kommt mit auf und ab hüpfender Taschenlampe zu uns gejoggt. Zwei Fukano folgen ihr auf dem Fuß, daher weiß ich, um wen es sich handelt, noch bevor ich ihr Gesicht sehen kann. „Hallo, Rocky“, begrüße ich sie und löse mich von Louis. „Sind Mik und Alina erwischt worden?“ Sie nickt andächtig. „Dank dir, Abby. Deine Methoden sind bisweilen sehr fragwürdig, aber du hast schon viele Vorfälle melden können und uns in Kontakt mit Team Shadow gebracht. Ihnen verdanken wir einen Großteil der neueren Festnahmen und heute Nacht hast du uns über zwanzig Biker auf dem Silbertablett serviert, ihre Anführer mit eingeschlossen. Ich muss mich bei dir bedanken.“ „Ach was…“, murmele ich, kann die Zufriedenheit aber nicht zurückhalten. Lob von Rocky bedeutet mir sehr viel, vor allem, da meine Beziehung mit der Polizei in letzter Zeit auf Messers Schneide lag und ich bis vor einer halben Stunde noch glaubte, alles falsch gemacht zu haben. „Entschuldigt mich jetzt“, sagt sie und nickt in Richtung ihrer Kollegen, die versuchen, Mik und Alina auf die bereitstehenden Tauboss zu hieven. „Meine Hilfe wird benötigt. Wenn du jemals wieder Hinweise hast, zögere nicht, dich bei uns zu melden“, fügt sie in meine Richtung zu, salutiert und kehrt zu dem Polizistengrüppchen zurück. „Siehst du, lief doch perfekt“, meint Louis grinsend, küsst mich auf den Kopf und zieht mich mit Richtung Bikertreffpunkt. „Ronya und Gerard warten bestimmt schon. Und mit Holly willst du dich sicher auch noch unterhalten.“ Ich lache. „Verschon mich.“ Fast gelingt es mir, Alinas tobende Schreie zu ignorieren, die aus dem Himmel zu uns herabschallen und uns den gesamten Rückweg begleiten. Sie werden dich kriegen. Sie werden dich kriegen. Aber nur fast.   Am nächsten Nachmittag finde ich mich mit Louis auf Route 15 ein, wo wir uns von Gerard und Ronya verabschieden. Meine Augen brennen noch von den Albträumen, die mich die ganze Nacht über aus dem Schlaf gerissen haben, bis ich mit Sku in den Armen endlich fest eingeschlafen bin. „Ihr müsst nicht heute schon abreisen“, versuche ich es ein letztes Mal. Jetzt, da Gott offiziell seinen Entwicklungslevel erreicht hat, bin ich plötzlich sehr unsicher, wie es weitergeht. Ronya scheint meine Zweifel zu spüren, denn sie klopft mir flüchtig auf die Schulter. „Du hast ihn schon im Griff“, versichert sie mir und zieht einen blau-gelb gemusterten Ball von ihrem Gürtel, den ich nach kurzem Überlegen als Flottball identifiziere. Sie wird doch nicht… Ein roter Lichtstrahl schießt aus dem Ballgehäuse und verdichtet sich zu einer grobschlächtigen Raubkatze, deren zottig braunes Fell nur von den Musterungen im Gesicht und dem aufgebauschten, weißen Fell auf ihrem Rückgrat unterbrochen wird. Enteis Brüllen ringt in meinen Ohren nach, als das Legendäre seinen gewaltigen Kopf in unsere Richtung dreht und uns unbeeindruckt mustert. Ronya tätschelt seinen Hals und steigt auf den breiten Rücken. Gerard schüttelt von Tropius´ Rücken aus fassungslos den Kopf. „Angeberin.“ „Wir treffen uns in etwa einer Woche in Prismania City, Abby“, sagt Ronya und winkt zum Abschied. „Bis dahin steht hoffentlich fest, ob ich bei euch einsteige oder nicht. Man sieht sich.“ Entei schüttelt seine Mähne, wendet sich ab und springt den Steilhang hinauf, der von dieser Seite eigentlich nicht zugänglich ist. Gerard hebt wortlos auf seinem Pokémon ab und nimmt direkten Kurs auf Prismania City. Auch er will sich erst einen Eindruck von Team Shadow machen, bevor er beitritt, aber seit seinen beiden Einsätzen wirkt er sehr viel williger. Irgendwie scheint ihm der Gedanke zu gefallen, anderen Menschen zu helfen. „Wow“, stellt Louis fest, der noch immer Entei hinterherschaut, obwohl es längst auf dem oberen Routenabschnitt verschwunden ist. „Wow“, stimme ich zu und fahre mit den Fingern über meine wunden Handgelenke, die Schwester Joy noch gestern Nacht mit einer intensiv riechenden Kräutersalbe eingeschmiert hat. Plötzlich halte ich in der Bewegung inne. Mein Herz setzt einen Schlag aus. „Das Armband!“ Ungläubig betaste ich meine Handgelenke, aber natürlich ist es nicht da. „Ich hab total vergessen, dass es mir bei meinen Fluchtversuchen kaputt gegangen ist“, fluche ich und steige auf mein Fahrrad. „Viel Glück hat es dir ja nicht gebracht“, gibt Louis zu bedenken, steigt aber ebenfalls auf sein Fahrrad und folgt mir zurück in die Stadt. Als wir an der Kreuzung vorbeifahren, die zum Pokécenter führt, holt er jedoch mit einigen kräftigen Pedalentritten zu mir auf. „Und wo genau willst du hin?“ „Zum Bikertreffpunkt natürlich“, erwidere ich sofort. „Es muss noch in dem Keller liegen. Wenn einer der Polizisten es gefunden hätte, würde Rocky sich bei mir melden.“ „Du willst ernsthaft dahin zurück?“, fragt Louis. „Nach gestern Nacht macht dir niemand Vorwürfe, wenn du dort nie mehr rein möchtest, Abby. Ich am allerwenigsten.“ „Ich weiß“, rufe ich gegen den Fahrtwind. „Aber es war ein Geschenk von dir und ich möchte es zurück.“ Louis seufzt, belässt es aber dabei. Er kennt mich inzwischen gut genug, um zu wissen, wann er einen Streit nicht gewinnen kann. Als wir Fuchsania City etwas später mit unseren Fahrrädern verlassen, kommt der Gebäudekomplex in Sicht, den Mik und Alina als ihr Hauptquartier verwendet haben. Absperrband ist um das gesamte Gebiet gespannt, aber von Polizisten ist keine Spur zu sehen. Sie müssen ihre Ermittlungen beendet haben, als wir noch im Bett lagen. Inzwischen ist es schließlich schon sechs Uhr. Wir stellen unsere Fahrräder etwas abseits ab und klettern unter den gelben Absperrungen hindurch. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst den Haupteingang benutze und kaum dass wir den Gemeinschaftsraum betreten, wird mir klar, wie viel Schaden Ethan und die anderen eigentlich angerichtet haben. Das dunkle Parkett ist zerkratzt, verkohlt und teilweise eingebrochen, einer der Pfeiler, der die Decke stützt, liegt zerschmettert über umgekippten Sofas und ein Kronleuchter hat seine Kristalle beim Herunterkrachen auf dem gesamten Stockwerk verteilt. Zersprungene Fenster, aufgeplatzte Kissen, halb demolierte Treppen, die auf einen höheren Level mit Balkon führen… Es ist ein wahres Schlachtfeld. „Was ist da oben?“, frage ich leise, obwohl wir alleine sind. Die Atmosphäre ist so erdrückend, dass ich nicht wage, laut zu reden. „Wir waren nicht dort“, flüstert Louis zurück, angesteckt von meiner Vorsicht. „Schlafzimmer, Badezimmer, Büros, sowas in der Art, denke ich. Die haben hier schließlich gelebt.“ Nickend mache ich mich auf die Suche nach der Treppe, die hinunter in den Keller führt. Es dauert nicht sehr lange, denn die geheime Regalvorrichtung, die den Eingang vermutlich verstecken soll, ist zu Boden gerissen und zu Kleinholz zertrümmert worden. Von den Büchern bleiben nur verkohlte Seiten und Asche zurück. Ein bisschen tut es mir um den Treffpunkt leid. Das Gebäude konnte schließlich nichts dafür, wer sich hier eingenistet hat. Gemeinsam steigen wir die Stufen hinunter. Es sind mehr, als ich gedacht hatte, und je tiefer wir uns auf der Wendeltreppe bewegen, desto düsterer und feuchter wird es. Schließlich platschen die kleinen Wasserpfützen unter unseren Schuhen und auch ohne Licht weiß ich, dass wir da sind. Ich trete in den Kellerraum und taste blind nach dem Lichtschalter, der die nackte Glühbirne an der Decke flackernd zum Leben erweckt. Trübes Licht erfüllt das steinerne Gefängnis. Louis schaudert neben mir, als er die Vorrichtung entdeckt, an der ich gestern noch gefesselt von der Decke hing. „Das ist krank“, flüstert er, während ich schon den Boden absuche. Das Armband ist im gestrigen Tumult zur Wand geschlittert, aber ich entdecke es auf den ersten Blick. Als ich es hochhebe, begutachte ich bedauernd den kaputten Verschluss. „Meinst du, der Laden, wo du es gekauft hast, kann es reparieren?“, frage ich. Louis nickt nur. „Bitte, Abby“, meint er und macht einen Schritt zurück zur Treppe. „Ich will hier einfach nur weg.“ „Wer hat jetzt Angst?“, frage ich spöttisch, folge ihm aber nach oben. Gestern hatte ich Bedenken wegen des Tunnels, aber der Kellerraum ist auch nicht gerade der geräumigste. Schweigend klettern wir die Stufen hinauf zurück zum Gemeinschaftsraum, doch Louis, der vorgeht, bleibt abrupt stehen und presst sich gegen die Wand. „Was?“, frage ich so leise, dass Louis mir das Wort von den Lippen ablesen muss. Er legt einen Finger auf die Lippen und deutet die letzten Stufen hinauf zum Ausgang. So vorsichtig, wie es mir möglich ist, steige ich zwei Stufen höher und an ihm vorbei. Dort, inmitten des zerstörten Mobiliars, stehen ein Mann und eine Frau, beide schwarz gekleidet. Feuerrotes Haar fällt der Frau um die Schultern und spiegelt sich in dem gleichfarbigen R wieder, das auf ihrer Brust prangt. Etwas in ihrem Gesicht kommt mir sehr, sehr bekannt vor. Der Mann kommt mir auch bekannt vor, aber bei ihm weiß ich genau, wo ich ihn schon einmal gesehen habe. Der Hüne dreht sich bedächtig in seinem schwarzen Anzug und als das Licht sein Gesicht trifft, festigt sich meine Vermutung. Craig blockiert unseren Ausgang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)