Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 103: Therapiestunde (Freitag der 13.) --------------------------------------------- Wir haben kaum unser Zimmer im Pokécenter betreten, da schnappe ich mein Handy und wähle Jacks Telefonnummer. Holly ist noch immer nicht gut auf mich zu sprechen, deshalb gehe ich lieber auf Nummer sicher. „Jack, hier ist Abby“, melde ich mich, kaum dass er abnimmt. „Louis und ich sind eben auf Route 14 Mik über den Weg gelaufen. Er war einer der Bikeranführer in Teak City, der entkommen ist. Erinnerst du dich?“ „Langsam, Abby, langsam.“ Jack lacht, aber seine Stimme ist ernst. „Wo genau auf Route 14? Und bist du absolut sicher, dass es Mik war?“ „Am Ende, in der Senke bei den Windrädern.“ Ich denke an die Augen zurück, die mir am Anfang Vertrauen eingeflößt haben, nur um mich später zu verraten. „Und ja. Ich bin sicher.“ „Wann hast du ihn dort gesehen?“ „Vor etwa drei Stunden“, erwidere ich und lasse mich auf das Bett fallen. Louis und ich sind im Eiltempo zurückgefahren, immer mit dem Gefühl im Nacken, jeden Moment von den Bikern eingeholt zu werden. Mit ihren Motorrädern wäre es ihnen ein leichtes gewesen, uns zu folgen. „Er hat nicht versucht, uns aufzuhalten und ich weiß nicht, ob er mich überhaupt erkannt hat. Aber es gibt auf Route 18 einen Bikertreffpunkt. Vielleicht halten sie sich dort auf.“ „Danke für deinen Anruf“, sagt Jack. „Wir kümmern uns darum. Bleib im Pokécenter, bis du wieder von uns hörst.“ „Ich kann euch Unterstützung schicken“, werfe ich noch schnell ein, bevor er auflegen kann. „Hier sind zwei… drei sehr starke Trainer, die bestimmt helfen würden.“ „Einer von denen reicht“, sagt Jack nachdenklich. „Ich will nicht zu viele Rookies organisieren müssen. Treffpunkt ist das Durchgangshaus vor Route 18.“ „Geht klar.“ Er legt auf und ich springe vom Bett. Louis nickt mir zu und gemeinsam verlassen wir unser Zimmer. Zeit, die Unterstützung zusammenzutrommeln.   „Nein.“ „Bitte, Ronya!“, flehe ich und lehne mich auf dem Stuhl vor, den sie mir in ihrem Zimmer angeboten hat. Gerard, der ebenfalls hier war, steht wie eine gigantische Statue am anderen Ende des Zimmers neben dem Fenster. „Seit ich dich getroffen haben, liegst du mir mit Team Shadow in den Ohren“, sagt sie von ihrem Platz auf dem Bett aus, wo Louis und ich sie in ein dickes Buch vertieft vorgefunden haben. „Ich sagte dir bereits, ich trete euch erst bei, wenn Dark mich in einem Duell besiegt. Vorher lasse ich mich nicht von dir für Missionen anleiern.“ „Ich will dich nicht anleiern“, protestiere ich sofort. Ronya seufzt und lässt ihr Buch sinken. „Denkst du, ich merke nicht, welche Taktik du benutzt?“, fragt sie. „Du willst mir ein schlechtes Gewissen machen, damit ich die Polizei in Team Shadows Namen bei dieser Razzia unterstütze. Die Polizei hat schon vor deiner Existenz gewusst, wie sie mit Bikern umgeht, sie kommen mit Sicherheit sehr gut alleine klar. Außerdem ist niemand in direkter Gefahr und wenn ich dich eben richtig verstanden habe, bist du nur zu mir gekommen, weil du Raphael ersparen willst, seine Tarnung vorzeitig aufzugeben. Wenn er der Polizei jetzt hilft, verbreiten sich die Nachrichten wie ein Lauffeuer und er muss sofort abreisen. Ist doch so, oder nicht?“ Sie verschwindet wieder hinter ihrem Schmöker und ich lese den Titel, der mir in meiner Aufregung zuvor völlig entgangen ist. Pokémon-Erziehung für Fortgeschrittene: Verhaltensmuster erkennen und richtig reagieren Ich schlucke und halte den Mund. Ronya bereitet sich bereits auf ihre Therapiestunde mit uns vor. Freiwillig. Sie hätte bestimmt besseres zu tun, aber sie nimmt sich die Zeit, um Louis und mir zu helfen. Sie tut wirklich schon genug für uns. „Du hast Recht“, sage ich. „Tut mir leid, dass ich gefragt habe.“ „Das Fragen muss dir nicht leid tun“, erwidert Ronya gelassen und blättert eine Seite um. „Ich mach´s.“ Die Stimme erklingt so unerwartet, dass ich erschrocken zusammenzucke, bevor mir einfällt, dass Gerard ja immer noch im Raum ist. „Du?“, fragen Louis und ich wie aus einem Mund. Selbst Ronya hebt überrascht den Kopf. „Es ist dir wichtig, oder nicht?“, fragt er kurz angebunden und greift nach seinem Pokégürtel, den er sich lässig um die Hüfte schlingt. „Du hast eben gesagt, Mik hätte deine Freunde gegen dich aufgehetzt und die Biker in Teak City angestiftet. Wird er das hier wieder tun?“ Ich nicke. „Er arbeitet mit Team Rocket zusammen. Wenn er nicht hier ist, um Ärger zu machen, esse ich meinen Pokédex.“ „Dann ist das geklärt. Ronya wäre euch ohnehin keine Hilfe. Sie fliegt nicht und mit dem Fahrrad ist sie zu langsam.“ Seine Freundin streckt ihm die Zunge heraus und beobachtet gemeinsam mit uns, wie Gerard das Zimmer verlässt. Ich stehe einige Sekunden regungslos da, dann laufe ich zum Fenster, schiebe die weißen Vorhänge bei Seite und drücke meine Nase gegen die kalte Glasscheibe. Gerard steigt im Schein des roten Neonschilds auf Tropius´ braunen Rücken und erhebt sich schwerfällig mit ihm in die Lüfte. „Er ist nett, wenn er nicht gerade Wutanfälle hat“, erklärt Ronya hinter ihrer Lektüre. „Regelrecht hilfsbereit. Ich hoffe nur, die Polizisten sagen nichts Falsches, sonst wird dieser Abend böse enden.“   Wie erwartet ist der Drang, Gerard zu folgen und vor Ort des Geschehens zu sein, fast überwältigend, aber Louis weist mich geduldig darauf hin, dass Hunter noch immer im Pokécenter ist und ich wahrscheinlich ohnehin nur im Weg stehen würde. Trotzdem kann ich mich nicht dazu durchringen, schlafen zu gehen, und so verläuft sich der Abend in angespannten Kartenspielen mit Louis auf Ronyas Fußboden, während die unermüdlich durch das Buch blättert, einzelne Passagen liest und sich auf einem kleinen Block Notizen macht. Gegen Mitternacht klingelt mein Handy.                „Wie ist es gelaufen?“, frage ich aufgeregt, kaum dass ich Jacks Namen auf dem Display erkenne. „Dachte ich´s mir doch, dass du noch wach bist“, lacht Jack. „Dein Freund hat hier für ziemliches Aufsehen gesorgt, aber er war sehr hilfreich. Auch wenn er mich ein paar Mal angeschrien hat, aber hey, soll mir egal sein.“ „Habt ihr Mik festgenommen?“, frage ich ungeduldig. Das folgende Schweigen reicht als Antwort und ich lasse mich resigniert auf einen Stuhl sinken. „Was ist passiert?“ „Wir haben ihn und die anderen Biker gesehen, als sie durch die Stadt und zum Bikertreffpunkt gefahren sind“, erklärt Jack. „Einer von ihnen entsprach deiner Beschreibung aus dem Teak City Verhör, daher bin ich ziemlich sicher, dass es Mik war, wie du sagtest. Wir sind ihnen mit Abstand gefolgt. Kaum, dass sie alle im Treffpunkt waren, haben wir das Gebäude umstellt und es mit Gerard gestürmt.“ „Und? Wo lag das Problem?“, frage ich. „Gerard sollte stark genug sein, sie alle zu besiegen.“ „Mik und die anderen waren verschwunden.“ Jacks Stimme klingt frustriert. „Wir haben den gesamten Treffpunkt auf den Kopf gestellt, aber außer einer Handvoll Biker war niemand dort. Wir konnten ihnen nichts vorwerfen, schließlich haben sich nur Mik und Alina bisher etwas zu Schulden kommen lassen.“ „Verdammt!“, fluche ich. „Mik muss gemerkt haben, dass er verfolgt wurde und hat sich irgendwie versteckt.“ „Wir konnten ihn nicht finden“, wiederholt Jack. „Tut mir leid, Abby. Aber bis die regulären Biker negativ auffallen, dürfen wir das Gebäude nicht erneut durchsuchen.“ Ich verabschiede mich und lasse seufzend das Handy sinken. Wäre ja auch zu schön gewesen.   Pünktlich um zehn Uhr morgens erwarten Louis und ich Ronya an einem der Tische im Erdgeschoss des Pokécenters. Für einen Freitagmorgen ist es gut besucht, trotzdem ist ein Großteil der eingecheckten Trainer schon auf dem Weg zum Training oder zur Arena, die nur ein paar Minuten Fußmarsch vom Pokécenter entfernt liegt. Ronya kommt ein paar Minuten nach uns die Treppe hinunter, bestellt etwas bei Schwester Joy und lässt sich schwungvoll an unserem Tisch nieder. Ihre Augen wirken wach, aber die roten Ränder und dunklen Schatten zeugen von einer langen Nacht, die sie höchstwahrscheinlich über ihrem Erziehungsschmöker gebrütet hat. „Also dann“, sagt sie und nimmt mich ins Visier. „Ich habe mich gestern bereits mit Louis unterhalten. Jetzt bist du dran. Ich will alles über deine Beziehung zu Gott erfahren, wie du ihn getroffen und gefangen hast, sein Verhalten damals und heute und wie du auf seine Aggressionen reagierst, wenn sie gelegen kommen und wenn nicht. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.“ Ich beginne, zunächst stockend, bei unserer Verschüttung in den Alph-Ruinen, wie ich Gott dort gefangen habe und er uns geholfen hat, den Weg zurück nach draußen zu finden. Anfangs fällt es mir schwer, meine Gedanken zu ordnen, aber Ronya hört aufmerksam zu und schon bald sprudeln die Erinnerungen nur so aus mir heraus und ich rede und rede und rede. Irgendwann während meines Berichts vom Indigo Plateau, als Gott mich in der Männertoilette vor Richard verteidigt hat, kommt Schwester Joy mit drei Portionen ausladendem Frühstück an unseren Tisch und wir beginnen zu essen, aber mein Redeschwall hört auch dabei nicht auf. Schließlich, über eine Stunde später, komme ich zum Ende meines Berichts und fühle mich völlig ausgelaugt. Ronya schaut mich aufmerksam an, Kinn auf eine Hand gestützt. „Louis, warum gehst du mit Winry nicht raus und tust, was ich dir gestern vorgeschlagen habe?“ Er dreht überrascht den Kopf in ihre Richtung, nickt aber langsam und erhebt sich. „Bis später, Abby“, sagt er, wirft uns einen letzten Blick zu und verlässt das Pokécenter. Schwester Joy kommt an unserem Tisch vorbei und sammelt murrend unsere leeren Teller ein. Ich warte gespannt auf Ronyas Urteil. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und kratzt sich am Kopf. „Jetzt ist mir alles klar.“ „Was ist dir klar?“, frage ich verwirrt und überfliege meine Erzählung flüchtig im Kopf. Habe ich irgendetwas übersehen? Gibt es eine ganz einfache Lösung für Gotts Problem? „Du bist vollkommen inkonsistent“, sagt Ronya und schaut mich ernst an. „Mal rufst du ihn ohne Umschweife zurück, wenn er sich deiner Meinung nach falsch verhält, mal lässt du ihn draußen. Du wirst wütend, wenn er sich aggressiv verhält, lobst ihn aber gleichzeitig für genau dieses Verhalten, wenn es gerade passt. Gott kann deine Gedanken nicht lesen, Abby, auch wenn du dir das wünschst. Er muss sich an deinen Reaktionen orientieren und die sind völlig durcheinander.“ Sie nimmt einen Schluck ihres Pirsifsaftes und stellt das Glas wieder auf dem Tisch ab. Das leise Klirren ist das einzige Geräusch, das zu mir durchdringt. Ich fühle mich, als hätte sie mich unter Wasser getaucht. „Aber… das kann nicht sein…“, protestiere ich. Ronyas Worte haben mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ist es meine Schuld, wie Gott sich verhält? „Dazu kommt euer Misstrauen“, fährt Ronya geduldig fort. „Gott verhält sich nicht so, wie du möchtest, deswegen willst du ihn an der kurzen Leine halten. Aber dafür fehlt dir der Überblick und die Autorität. Du sagst selbst, dass es viele Situationen gab, in denen Gott die Gefahr erkannt hat, in die du ahnungslos hineingelaufen bist. Er vertraut deinem Urteil nicht, und weil er dich beschützen will, nimmt er alles selbst in die Hand. In Kämpfen scheinst du dich für ihn bewiesen zu haben, schließlich respektiert er deine Kommandos, auch wenn er sie nicht mag. Aber Menschen richtig einschätzen… das ist eine ganz andere Sache.“ „Ich hatte nie solche Probleme mit Sku und den anderen“, sage ich. „Warum ist es bei Gott so wichtig, wie konsistent ich mich verhalte?“ „Das Buch, das ich gestern noch gelesen habe, ist mein Lieblingsband“, erklärt Ronya und nimmt noch einen Schluck Saft. „Er befasst sich nicht mit der allgemeinen Aufzucht und Erziehung von Pokémon, sondern geht auf spezifische Charakteristika von Pokémon ein, die es Trainern schwer machen, sie unter Kontrolle zu bringen. Aggressionen, Ungehorsam, Panikattacken… viele dieser Verhaltensweisen können auf eine oder zwei Kerneigenschaften des Pokémon zurückgeführt werden. Das Verhalten unerfahrener Trainer verstärkt sie in vielen Fällen. „Skuntank ist dein Starter, und du besitzt sie, seit sie ein Jungpokémon ist. Das stärkt das Band zwischen dem Pokémon und dir und macht es leichter für euch, auf einer Wellenlänge zu kommunizieren. Deine anderen Pokémon sind unkomplizierte Fälle, aber Gott hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, reagiert sensibel auf Stimmungen und versucht, durch seine Aggression Gefahr von dir fern zu halten. Verstehst du jetzt, wo das Problem liegt?“ Ich nicke, immer noch taub von der Enthüllung. Ronya kam mir all diese Zeit ein bisschen punkig vor. Rebellisch, schmerzhaft ehrlich. Aber jetzt sehe ich zum ersten Mal, wie viel geballtes Wissen sich hinter ihren zerrissenen Jeans und dem Mohawk verbirgt. Kein Wunder, dass sie es geschafft hat, Maxwell trotz seiner Lähmung zu dem starken und lebensfrohen Pokémon zu machen, das er jetzt ist. „Was muss ich tun?“, frage ich. Mein Entschluss ist gefasst. Ich werde Ronyas Ratschläge befolgen und Gott helfen, sich besser in mein Team einzufinden. „Das wichtigste ist, dass du Gotts Standpunkt verstehst“, sagt sie sofort und schaut mich ernst an. „Du musst ihn in all seinen Facetten begreifen und akzeptieren. Danach kommt der schwierige Teil. Er hat fast sein gesamtes Leben in deinem Umkreis verbracht. Du musst ihm die Verhaltensweisen abgewöhnen, die er sich angeeignet hat, und das bedeutet, dass du zuerst dein eigenes Verhalten ändern musst. Konsistenz in deiner Reaktion ist hier das wichtigste. Gott muss verstehen, dass nicht er der Anführer ist, sondern du. Dein Wort ist Gesetz, auch wenn es ihm nicht gefällt. Wie genau du seine Aggressivität lenken willst, ist deine Entscheidung, aber mach dir bewusst, dass sie immer da sein wird. Das ist der dritte Punkt: Disziplin. Die wird er schon sehr bald brauchen, wenn du sein Training fortführen willst, ohne dass er sich entwickelt.“ „Woher weißt du, dass das mein Plan war?“, frage ich überrascht. „Weil du Angst davor hast, ihn als Tornupto nicht im Griff zu haben. Und zu Recht.“ Ronya leert ihr Glas in einem Zug und steht auf. „Als Tornupto wird es schwieriger sein, ihm sein jetziges Verhalten abzutrainieren. Wie du vermutest, wird er häufiger zu seinen Feuerattacken greifen und du wirst keine Möglichkeit haben, ihn rechtzeitig zu stoppen. Gleichzeitig bist du in keiner Position, in der du sein Kampftraining völlig außer Acht lassen kannst. Er wird zwangläufig kämpfen und stärker werden, und wenn er Level 36 erreicht, ist seine bis dahin erworbene Disziplin das einzige, was ihn davon abhält, deinen Befehl zu ignorieren und sich sofort zu entwickeln, um dich besser beschützen zu können.“ Sie gähnt. „Und jetzt geh raus, unterhalte dich mit Gott und leg dir einen Trainingsplan zurecht. Ich gehe schlafen.“ Sie winkt und verschwindet die Treppen hinauf. Mich lässt sie mit rauchendem Kopf zurück.   Louis finde ich nach ein bisschen Suchen in der Safari-Zone, wo er auf Ronyas Vorschlag hin einen Aushilfsjob bei Liz ergattert hat. „Ich habe ihr erzählt, dass ich bald in Anemonia City meine Ausbildung machen werde“, erklärt er mit vollem Mund, als wir etwas später in einem Eiscafé in der Stadt sitzen und uns einen großen Beerenbecher mit Sahne teilen. „Sie meinte, es wäre gut für Winry, mit der Umgebung konfrontiert zu werden, in der sie verletzt wurde, ohne dass sie sich bedroht fühlen oder kämpfen muss. Rose hat mir geholfen, Liz zu überreden.“ „Sie hat ja auch was davon, wenn du Erfahrung sammelst“, stimme ich zu. „Ronya ist wirklich eine Lebensretterin.“ „Ist sie“, sagt Louis nickend. Dann grinst er. „Also, was habt ihr besprochen, dass sie mich vorher rausschmeißen musste?“ Ich seufze und bringe ihn auf den neusten Stand. Louis verzieht das Gesicht, nickt aber langsam. „Sie könnte Recht haben.“ „Sie hat Recht“, sage ich und stecke mir einen weiteren Löffel Eis in den Mund. „Kaum dass sie es gesagt hat, ist es mir selbst klar geworden. Ich wünschte nur, mich hätte vorher jemand gewarnt, wie stark mein Verhalten ihn beeinflussen würde.“ „Du solltest dir keine Vorwürfe machen“, sagt Louis leichthin. „Du wusstest es nicht. Jetzt bist du schlauer und wirst etwas dagegen tun, richtig?“ „Natürlich“, stimme ich zu. „Ich lasse nicht zu, dass irgendetwas zwischen Gott und mich kommt. Und wenn es Wochen oder Monate dauert, ich bringe das wieder in Ordnung.“ Louis grinst und schmiert mir etwas Sahne auf die Nase. „Das will ich hören.“   Den Nachmittag verbringe ich damit, Nathan und Melissa zu kontaktieren, was sich als schwieriger herausstellt, als gedacht. Keiner der beiden nimmt bei meinen ersten Anrufen ab und als ich schließlich durchkomme und mich vorstelle, legt Melissa sofort wieder auf, ohne mich auch nur ausreden zu lassen. Ich gebe sie auf und malträtiere stattdessen die Wahlwiederholung für Nathans Nummer, bis ich endlich zu ihm durchdringe. Was folgt, ist ein sehr langes Gespräch. Ich schaffe es, Nathan dazu zu bringen, mir zumindest zuzuhören, indem ich Ronyas Namen fallen lasse. Danach heißt es Überzeugen, Überzeugen, Überzeugen. Zunächst ist er skeptisch, doch je länger ich rede, je öfter ich die Zusammenarbeit mit Giganten wie Gold und das Potential, selbst zu einer Legende in Kanto und Johto zu werden, erwähne, desto aufgeregter wird Nathan. Schließlich habe ich ihn soweit und er sagt zu, gleich am nächsten Morgen die Reise nach Prismania City anzutreten und Melissa zu überzeugen, sich ihm anzuschließen. Wir verabschieden uns und ich lasse mich erleichtert gegen die Parkbanklehne fallen. Zwei Trainer abgehakt. Fehlt nur noch Amy. Ein kurzer Blick auf meinen S-Com bestätigt, dass es noch zu früh ist, die nachtaktive Trainerin zu kontaktieren, daher schließe ich die Augen, lausche dem Zwitschern der Vogelpokémon, dem Rauschen des Windes, als er durch die Grashalme streicht und genieße das warme Sonnenlicht auf meinem Gesicht. Zeit, mir einen Trainingsplan zu überlegen.   ooo   Tag um Tag verstreicht in Fuchsania City. Mit dem voranschreitenden März wird es schleichend wärmer und von Mik, Alina und den anderen Bikern fehlt jede Spur, bis ich zu dem Schluss komme, dass sie geflüchtet sein müssen, um nicht wieder ins Visier der Polizei zu geraten. Entkommen mögen sie sein, doch es war knapp. Sicher wollen sie das Risiko so gering wie möglich halten. Auf der einen Seite macht es mich wütend, dass wir es fast geschafft hätten, die Anführer der Biker festzunehmen, andererseits bin ich… erleichtert. Das Gefühl kommt nicht ganz ohne Schuldgefühle, aber auch wenn ich oft sage, dass alles gut ist, haben die letzten sieben Monate ihre Spuren hinterlassen. Meine eigene Paranoia, die sich bereits meldet, wenn ich in Gedanken an Team Rocket oder die Biker von einem lauten Geräusch überrascht werde, oder wenn Louis mich überraschend anspricht, frustriert mich. Der Griff zu meinem Pokégürtel ist zu einem Reflex geworden, der in gefährlichen Situationen sicher hilfreich ist, mich im Alltag aber nur behindert. Dazu kommen die Berichte von Schwester Joy über Hunters Gesundheitszustand, der zwar stetig besser wird, mich aber jedes Mal daran erinnert, dass ich nicht die einzige bin, die in diesem Kampf viel riskiert. Meine Pokémon leiden regelmäßig unter meiner Entscheidung, Team Shadow und die Polizei zu unterstützen und ich ertappe mich immer öfter dabei, zu wünschen, ich könnte einfach… aussteigen. Pause machen. Seufzend öffne ich die Augen und schaue hinauf in den hellblauen Frühlingshimmel. Louis und ich haben ein Picknick auf Route 15 gemacht, um uns von dem täglichen Therapietraining, wie Ronya es nennt, zu erholen. Jetzt liegen wir faul im weichen Gras und hängen unseren eigenen Gedanken nach. Gott, den ich als Teil des Trainings öfter als gewöhnlich aus seinem Pokéball lasse, liegt eingerollt einige Meter neben mir, Rücken an Rücken mit Sku, die sich vollständig von ihren angebrochenen Rippen erholt hat und laut schnarcht. Priss hat sich in meiner Armkuhle zurechtgestrampelt und unsere restlichen Pokémon sind auf dem gesamten Seitenstrafen verteilt, wo sie dösen, grasen oder in der Sonne spielen. Es fühlt sich gut an. Wie Urlaub. Wenn ich daran denke, dass schon der 12. März ist und wir Anfang nächster Woche nach Prismania zurückkehren werden, wird mir mulmig zu Mute. Apropos Rückkehr. „Raphael reist heute ab“, sage ich und drehe den Kopf, um Louis zu erkennen, der neben mir liegt. Ich dachte, er schläft vielleicht, aber er scheint genau wie ich die ganze Zeit über wach gewesen zu sein. „Ich weiß, Abby“, seufzt er und verschränkt die Arme unter seinem Kopf. „Liz liegt mir schon seit einer Woche damit in den Ohren. Sie wird ihn wahrscheinlich nicht wiedersehen, bis die Championship losgeht.“ Ich nicke nachdenklich. Seit Louis den Nebenjob in der Safari-Zone angenommen hat, haben er und Liz viel Zeit miteinander verbracht, weil sie ihn auf ein paar ihrer Ranger-Einsätze mitgenommen hat. Ganz legal war das glaube ich nicht, aber als Enkelin des Inhabers war Liz das relativ egal. Rose ist bereits am Wochenende nach Orania City aufgebrochen, um von dort mit der Fähre nach Oliviana City zurückzukehren. Sie hat geweint, als sie sich von ihrer besten Freundin verabschieden musste. „Wir sollten uns auf den Weg machen“, sage ich gähnend, strecke mich und stehe auf. „Ich will Raphael nicht verpassen. Gott, wir gehen.“ Gott erhebt sich langsam, stupst Sku wach und trottet in meine Richtung. Ich pfeife leise und er verdreht die Augen, setzt sich aber gehorsam auf seine Hinterläufe und wartet, bis Louis und ich unsere Pokémon zurückgerufen haben und auf unsere Räder gestiegen sind. Ronya hat mir geraten, Gott daran zu gewöhnen, auch außerhalb von Kämpfen meine Befehle zu befolgen, auch wenn mir der Gedanke missfällt, ihn ständig herumzukommandieren. Um das System zu verfeinern, habe ich begonnen, drei verschiedene Signale zu verwenden, die sich in ihrer Stärke unterscheiden. Das leise Pfeifen ist mehr ein freundlicher Vorschlag als ein echter Befehl und gibt Gott Freiraum, zu protestieren, wenn er nicht folgen will oder glaubt, es gäbe eine bessere Möglichkeit, die Situation zu handhaben. Dadurch wollen Ronya und ich verhindern, dass meine Befehle durch zu häufigen Gebrauch ihre Wirkung verlieren. Wenn der Moment kommt, an dem Gott wirklich gehorchen muss, will ich sichergehen, dass es nicht zu Protesten kommt. Die Fahrt bergauf Richtung Stadt ist anstrengend, aber seit Schwester Joy mir vor zwei Tagen endlich meinen Gips abgenommen hat, genieße ich es, meinen Arm langsam wieder an seine Freiheit zu gewöhnen. Die großflächigen Blutergüsse sind noch nicht ganz verblasst und meine Haut ist voller gelbvioletter Flecken, aber die frische Luft auf meinem Arm fühlt sich unglaublich gut an. Wir kommen nur langsam voran, was auch der Grund ist, warum Gott ohne Probleme mit unserem Tempo mithält. Wie schon in Saffronia City bemühe ich mich, ihn auszulasten, damit er nicht vor Energie platzt. Bisher kommen wir mit unserem Therapietraining gut voran, aber natürlich sind wir noch in keine Situation gekommen, in der Gott wirklich auf die Probe gestellt wurde. Meine Versuche, ihn auf darauf vorzubereiten, sind kläglich gescheitert. Gott merkt, wann er wirklich keine Wahl hat, und wann es nur Teil eines Experiments ist. Wir treffen Raphael und die anderen am Durchgangshäuschen vor der Stadt, wo er Mandy bereits auf den Flug vorbereitet. Kleine Seitentaschen hängen zu beiden Seiten ihres Körpers herab, in denen er Essen und Trinken für die Reise aufbewahrt. „Raph!“, rufe ich gegen den rauschenden Wind und komme vor ihm zum Stillstand. Gott legt die Ohren an, aber er kennt Liz und Raphael inzwischen gut genug, um sie nicht als Gefahr wahrzunehmen. Ich springe vom Rad und falle Raphael um den Hals. „Nicht so stürmisch“, lacht er und wuschelt mir durch die kurzen Haare. „Wir werden uns wiedersehen, keine Sorge.“ „Aber wann?“, fragt Liz trocken, schüttelt aber im nächsten Moment den Kopf. „Abby, du wirst ihn auch vermissen, richtig? Unterstütz mich hier ein bisschen.“ „Klar werde ich das“, sage ich und lasse ihn los. Seine runde Brille, die roten Locken, das verschmitzte Grinsen… „Er fehlt mir immer. Aber er hat schließlich Verpflichtungen“, sage ich zwinkernd. Er lacht. „Ich bin Favorit, Lizzy. Ich muss meine Erschafferin stolz machen.“ „Das tust du schon“, versichere ich und klopfe ihm ein letztes Mal auf die Schulter. „Jetzt ab mit dir zum Glutberg und trainier fleißig.“ „Ja, Chefin“, erwidert er, schüttelt Louis´ Hand zum Abschied und wendet sich dann Liz zu, die ihn mit zusammengepressten Lippen begutachtet. „Ich rufe dich an“, verspricht er geduldig. „Es sind nur ein paar Monate.“ Sie seufzt, küsst ihn und macht einen Schritt zurück. „Abby hat ja Recht. Du musst trainieren, wenn du die Championship gewinnen willst.“ Raphael nickt, wickelt seinen rostbraunen Lieblingsschal enger um seinen Hals und steigt auf Mandys Rücken, die bereits ungeduldig das Brustgefieder aufplustert und kehlig krächzt. Bevor er abhebt, winkt er mich noch einmal zu sich und lehnt sich zu mir herunter. „Du weißt, dass du mich immer anrufen kannst“, sagt er leise und schaut mich ernst an. „Ich trainiere zwar, aber wenn ich irgendwie im Kampf gegen Team Rocket helfen kann, will ich, dass du mir Bescheid sagst. Es gibt wichtigeres als den Championtitel. Okay?“ „Okay“, flüstere ich. „Danke, Raphael. Das bedeutet mir echt viel.“ „Dann halt die Ohren steif und mach dir ein paar schöne letzte Tage in Fuchsania City“, sagt er grinsend, pfeift und schießt auf Mandys Rücken in die Lüfte. Nur wenige Sekunden später ist er schon so weit entfernt, dass ich ihn nur noch als rotbraunen Punkt gegen den blauen Himmel wahrnehmen kann. Liz wendet sich schwungvoll ab und geht zurück Richtung Stadt. Ich will gerade auf mein Rad steigen, da hält Louis mich am Ärmel fest und schaut mich mit leuchtenden Augen an. „Was?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Er grinst mich mit seinem breitesten Zahnlückenlächeln an. „Ich hatte gerade eine tolle Idee…“   Am nächsten Abend treffe ich Louis wie verabredet um halb sieben vor dem kleinen Restaurant, das er für unser Date in Fuchsania City ausfindig gemacht hat. Es liegt etwas abseits der Hauptstraßen in ruhiger Lage und ist nicht so teuer wie manch andere, trotzdem hat es Charme. Blumenkästen füllen die abendliche Luft mit dem charakteristischen Frühlingsduft, bei dem ich instinktiv die Augen schließen und tief einatmen will und die fuchsiaroten Fensterläden klappern leise im Wind. Ausnahmsweise habe ich mich mal nicht hinter Cappie und Sonnenbrille versteckt und sogar mein Haar sieht heute weniger struppig aus, auch wenn der Wind meine Bemühungen vor dem Pokécenterspiegel zunichtemachen will. Meine Pokébälle hängen wie immer sicher an meinem Gürtel, gleich neben dem S-Com, den ich nicht im Zimmer lassen wollte. Louis erscheint nur wenige Minuten nach mir, gibt mir einen schnellen Kuss und zieht mich dann durch den Eingang ins Innere. Behagliche Sitzecken füllen das kleine Lokal, dessen blassblaue Wände mich an den Himmel draußen erinnern. Wir setzen uns an einen der Tische und bestellen unsere Getränke. Einige Momente warte ich gespannt, aber als Louis nur immer breiter grinst, halte ich es nicht mehr aus. „Du hattest eine Überraschung erwähnt“, erinnere ich ihn. „Stimmt, da war ja was“, sagt er und kramt in seiner Hosentasche nach einer kleinen Box. „Hätte ich fast vergessen.“ „Sicher…“, murmele ich, als ich das Kästchen von ihm entgegennehme. „Gibt es hierfür einen Anlass?“ „Du hast über eine Woche überstanden, ohne in Lebensgefahr zu geraten“, sagt Louis und lehnt sich selbstgefällig auf seiner Bank zurück. „Das verdient eine Belohnung, würde ich sagen.“ Ich strecke ihm die Zunge heraus und warte, bis die Bedienung unsere Getränke abgestellt und unsere Bestellung aufgenommen hat, dann öffne ich vorsichtig den Deckel und entferne die schwarze Abdeckung. Andächtig nehme ich das Armband heraus, das aus zahllosen silbernen Kettengliedern besteht. Ein roter Anhänger sticht mir ins Auge und ich hebe das Armband hoch, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. „Eine Tamotbeere“, sage ich leise und kann plötzlich mein eigenes Grinsen nicht mehr zurückhalten. Ich schaue zu ihm auf. „Es ist wunderschön.“ Er kratzt sich an der Nase, Wangen so rot wie der kleine Anhänger. „Es gab so viel Auswahl, Herzen, Initialen und all das, aber ich wollte dir nichts Kitschiges schenken. Dann habe ich den Anhänger gesehen. Ich dachte, es passt ganz gut zu uns. Irgendwie hat es ja mit dem Versprechen angefangen, dir Tamottee zu besorgen.“  „Danke, Louis“, sage ich und ziehe das Armband an. Der Verschluss ist ein bisschen schwierig zu handhaben, aber er hilft mir und schon bald klimpert der Anhänger sachte gegen die Kettenglieder. „Es ist perfekt.“ „Gut“, sagt er grinsend. „Ah, da kommt das Essen. Mann, hab ich einen Hunger!“ Wie erwartet sind die Nudelgerichte erstklassig und die Zeit im Lokal verstreicht in Rekordtempo. Wir bringen einander auf den neusten Stand, fachsimpeln über Therapiestrategien und malen uns die Zukunft aus, wenn Team Rocket endlich ausgelöscht ist. Gegen zehn Uhr bezahlen wir und verabschieden uns von der Kellnerin. Louis entschuldigt sich kurz zur Toilette und ich mache mich auf den Weg nach draußen, um an der frischen Luft auf ihn zu warten. Inzwischen ist es kälter geworden und ziemlich dunkel; nur die sparsam verteilten Straßenlaternen werfen gelbe Lichtkreise auf die rote Straße. Gähnend bleibe ich etwas neben dem Eingang stehen. Da höre ich ein leises Kratzen. Ich drehe den Kopf, kann aber nichts erkennen. Das Kratzen wiederholt sich, lauter dieses Mal. Unsicher, wo es herkommt, umrunde ich das Lokal und spähe an der Steinfassade vorbei in die Dunkelheit dahinter. Ich kneife die Augen zusammen, bevor ich erschrocken Luft hole und zurückstolpere – geradewegs in die Arme einer Person. Wulstige Hände pressen sich über meine Augen und meinen Mund und ersticken meinen Schrei. 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