Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 102: Funke zu Flamme (Weißer Schatten) ---------------------------------------------- Ich sammele Louis in der Lounge auf, wo er noch immer seelenruhig schläft und mache mich gemeinsam mit ihm auf den Rückweg zum Pokécenter. Draußen halte ich nach dem weißen Etwas Ausschau, das ich durch das Fenster gesehen habe, aber als ich nichts Verdächtiges entdecke, gehe ich davon aus, dass es irgendein Pokémon gewesen sein muss, dass ich sich zu weit aus dem Wald gewagt hat. Nachdem Schwester Joy etwas später unsere Pokémon durchgecheckt hat, frage ich sie nach Ronya und Gerard, bei deren Namen sie sofort das Gesicht verzieht, aber sie schüttelt nur den Kopf. „Die beiden sind schon vor über einer Stunde gegangen“, erklärt sie und reicht uns die Pokébälle. „Wo sie sind, weiß ich nicht, tut mir leid.“ Schulterzuckend machen Louis und ich uns auf unserem geteilten Zimmer frisch, wo ich meine Verkleidung aus Saffronia City anziehe und mich kritisch im kleinen Badezimmerspiegel begutachte. Es wird reichen müssen. Als wir wieder draußen stehen, schauen wir uns ratlos an. „Und jetzt?“, frage ich. Ronya ist unauffindbar und außer sie und Gerard zu überzeugen, Team Shadow beizutreten, habe ich vorerst keine Verpflichtungen. Es fühlt sich… ungewohnt an. „Wir sollten unseren Pokémon etwas Freilauf geben“, sagt Louis grinsend, während er schon dabei ist, sein Fahrrad zu entketten. Er zieht den Helm auf und schaut mich auffordernd an. Ich zögere, aber eigentlich spricht nichts dagegen. „Aber nicht zurück zu Route 18“, drohe ich und schwinge mich auf mein eigenes Fahrrad. Gesagt, getan. Mit dem Fahrrad fällt der Trip durch Fuchsania City wesentlich leichter als zu Fuß und so erreichen wir schon bald das Durchgangshäuschen, das Route 15 mit der Stadt verbindet. Die beiden von Bäumen abgeschirmten Wege, die östlich nach Orania City und Lavandia führen, verlaufen den ersten Teil der Strecke in einem Wirrwarr aus seichten Tälern, Hügelkuppen und einigen Erdhängen, die steil gen Himmel ragen und die Route grob auf zwei Höhen-Niveaus heben. Mit den Fahrrädern kommen wir gut voran, auch wenn die kleinen Abhänge einige Abschnitte schwer passierbar machen. Zu unserer Linken verläuft stets der höher gelegene Teil der Route, aber auch von unten kann ich einige Trainer erkennen, die aus der anderen Richtung kommen und sich dort oben umsehen oder picknicken. Gegen Mittag werden unsere Beine und meine Arme müde und ich will gerade vorschlagen, eine Pause einzulegen, als Louis, der etwas voran gefahren ist, auf ein kleines Grüppchen deutet. „Sind sie das nicht?“, ruft er mir zu und wird langsamer, damit ich zu ihm aufschließen kann. Nur wenige Sekunden später weiß ich, was er meint. Gerards Haar leuchtet in der Frühlingssonne wie glühende Kohlen und auch so wären wir kaum an ihm vorbei gefahren, schließlich ist er selbst im Sitzen fast so groß wie ich. Ronya liegt neben ihm auf dem Rücken, ein Bein überschlagen, so dass der Schlitz ihrer Jeans das gesamte Knie freigibt und summt eine mir unbekannte Melodie. Als wir näher kommen, entdecke ich auch Max, der halb eingerollt in ihrem freien Arm liegt und leise schnarcht. Neben Gerard sitzt ein Azumarill und stemmt… Gewichte? „Hey!“, rufe ich den beiden zu und ernte von Gerard einen wutentbrannten Blick. „Seid ihr uns gefolgt?“, beschuldigt er uns, kaum, dass wir bei den beiden angekommen sind und ächzend von unseren Fahrrädern klettern. „Dann seid ihr nämlich sowas von-“ „Nicht schreien, Gerard“, murmelt Ronya träge und blinzelt uns gegen die Sonne an. „Du weckst Max auf.“ Wie auf Kommando hebt das Folipurba seinen Kopf, gähnt ausgiebig und leckt sich über die Schnauze. Ronya beginnt automatisch, es am Kopf zu kraulen. „Habt ihr was dagegen, wenn wir uns hierhin pflanzen?“, fragt Louis, während er schon sein Fahrrad an den Wegesrand manövriert und es sich neben Ronya gemütlich macht. Gerard funkelt uns weiter an, aber dieses Mal lasse ich mich nicht einschüchtern und folge Louis´ Beispiel. Es scheint zu funktionieren, denn Gerard wendet sich nach kurzer Zeit wieder seinem Pokémon zu und fördert neue Hanteln aus seinem Rucksack zu Tage, die er dem Azumarill reicht. Louis und ich teilen unsere Sandwiches, die wir auf dem Weg durch die Stadt gekauft haben, rufen unsere Pokémon und genießen die Sonne, die inzwischen nicht mehr von grauen Wolken verdeckt ist. Jayjay gibt ein enttäuschtes Wiehern von sich, als er Hunter nirgendwo sieht. „Tut mir leid“, sage ich und tätschele seine Schnauze. „Hunter muss sich von seinem Kampf erholen. Er wird ein paar Wochen nicht bei uns sein.“ Er schnaubt, verständnislos, und stupst mich mit seiner Nase an, Verwirrung in seinen schwarzen Augen. „Er hat sich schwer verletzt“, erkläre ich leise und muss mit einem Mal die Tränen hinunterschlucken. Jayjays Reaktion geht mir näher als alles zuvor. „Ich vermisse ihn auch“, murmele ich und umarme Jayjays Hals aus meiner sitzenden Position, dann tätschele ich seine Flanke. „Na komm, die anderen sind dort drüben.“ Jayjay wiehert, aber es klingt müde und als er zu einem Stück Wiese trabt, fehlt seinem Gang der übliche Schwung. „Schau nicht so“, kommentiert Ronya meinen Blick und schreckt mich aus meinen düsteren Gedanken auf. „Dein Ibitak hat für dich gekämpft und wird sich wieder erholen. Kein Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“ „Ich weiß, ich weiß…“ Ich schaue zu Folipurba, das schnurrend die Ohren gekrault bekommt und mich aus nussbraunen Augen beobachtet. Plötzlich landet etwas Schweres auf meiner Schulter und klettert von dort auf meinen Kopf. Ein Blick nach oben zeigt, dass Priss sich von Gott und Sku entfernt hat, die beide im Gras liegen, wo Jayjay grast. Gotts Blick huscht in alle Richtungen, stets wachsam und bereit, Sku und die anderen vor jeglicher Gefahr zu beschützen. Stolz schwillt in meiner Brust auf, aber Priss´ Krallen auf meiner Kopfhaut bringen mich schnell in die Gegenwart zurück. Sie maunzt laut. Maxwell hebt den Kopf und schaut sie an. Da fällt es mir wieder ein. „Ronya“, sage ich und hebe Evoli von meinem Kopf in meinen Schoß. „Du hast Max doch als Evoli von deiner Tante bekommen, oder?“ Sie nickt. „Manchmal bist du unheimlich, Abby“, sagt sie. „Woher weißt du das nun wieder?“ „Ich habe Priss von derselben Person bekommen“, erkläre ich. „Von Karin. Sie hat deiner Tante Max mitgegeben. Und das bedeutet, dass-“ Ronya reißt die Augen auf. „Sie sind Geschwister?“ Maxwell spitzt überrascht die Ohren, dann stützt er sich auf seine Vorderbeine und brummt Priss wohlig an. Sie faucht leise, tippelt aber langsam in seine Richtung und die beiden beginnen, einander zu beschnuppern. Ronya setzt Max kurzerhand vor Priss ins Gras, die ihn umrundet und verwirrt seine Hinterbeine anstupst. „Wir sollten den beiden ein bisschen Zeit geben, sich kennen zu lernen“, meint sie an mich gewandt und schaut dann zu Louis, der sich das letzte Sandwich in den Mund stopft. Als er ihren Blick bemerkt, verschluckt er sich und erleidet einen heftigen Hustenanfall. Gerard schaut ihn angewidert an. „Wa-was?“, fragt er, als seine Atmung wieder in Ordnung ist. Ronya erhebt sich. „Hast du Winry dabei?“ Er nickt, verunsichert. „Gut, dann machen wir zwei jetzt einen Spaziergang und ich erkläre dir, wie ich Max wieder ans Kämpfen gewöhnt habe. Abby, du hältst hier mit Gerard die Stellung.“ Sie zwinkert mir zu, zieht den sichtlich überforderten Louis auf die Beine und verschwindet mit ihm in Richtung Waldesrand. Ich räuspere mich und Gerard dreht ruckartig den Kopf in meine Richtung. „Hast du ein Problem?“, fragt er gereizt. „Habe ich tatsächlich“, sage ich und erlaube ein wenig meiner angestauten Frustration in meine Stimme. „Würde es dir etwas ausmachen, dich normal mit mir zu unterhalten, statt alles sofort als Angriff gegen dich aufzufassen?“ „Ich hasse Leute wie dich!“, faucht Gerard mich hitzig an und ich merke an dem Ton in seiner Stimme, dass er dieses Mal wirklich wütend ist. Meine Worte müssen bei ihm eine Kurzschlussreaktion ausgelöst haben, warum auch immer. „Wenn du mein Temperament nicht ertragen kannst, dann rede nicht mit mir und versuch nicht, mich zu ändern, nur damit du dich besser fühlen kannst! Es gibt Menschen, die-“ „Geraaaard!“, ertönt Ronyas Ruf von weiter südlich. „Atmung!“ Der Rothaarige schließt die Augen, atmet mehrere Male tief ein und aus und schaut mich dann an. Als er spricht, klingt seine Stimme ruhig, aber in seinem Blick lodert weiterhin das Feuer seines vorigen Wutausbruchs. „Es gibt Menschen, die sich nicht ändern wollen, nur um in die allgemein akzeptierte Norm zu passen. Was wolltest du mit mir besprechen?“ Ich räuspere mich verlegen. „Ronya hat mein Angebot angenommen, Team Shadow beizutreten, wenn unser Anführer Dark sie in einem Duell besiegt. Wir sind eine Gruppe Trainer, die sich nur auf ihr Training konzentrieren und keine Orden sammeln und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Polizei im Kampf gegen Team Rocket zu unterstützen. Möchtest du uns helfen?“ „Warum sollte ich?“, erwidert Gerard. „Wenn dort alle so sind wie du, habe ich absolut kein Interesse daran, mit ihnen zusammen zu arbeiten.“ „Niemand dort ist wie ich“, kontere ich sofort. „Alles an meiner Mitgliedschaft ist Ausnahme. Ehrlich gesagt würdest du dort gut reinpassen. Ihr seid alle etwas exzentrisch, wenn man mich fragt.“ „Willst du damit sagen, ich bin exzentrisch?“, fragt er wütend. Ich nicke. Er springt auf, Fäuste geballt und ich rutsche instinktiv ein Stück zurück. Keine Sekunde später kommt Gott an mir vorbeigeschossen, reißt das Maul auf und schleudert ein Flammenrad in Gerards Richtung, der überrascht in die glühend heißen Flammen starrt, die wie ein entfesselter Wirbelsturm aus Feuer auf ihn zu rasen. Eine Wasserdüse durchschlägt die Feuerattacke, einen Sekundenbruchteil, bevor sie Gerard erreicht. Azumarill hat seine Gewichte fallen gelassen und die Wasserattacke abgefeuert, um ihren Trainer vor dem Flammenmeer zu beschützen. Jetzt baut es sich warnend vor seinem Trainer auf. Gott faucht mit grimmiger Entschlossenheit und macht einen Schritt auf die beiden zu. „Was zur Hölle machst du da?“, schreie ich und komme zitternd auf die Füße. Der Schock seines Angriffs und das Adrenalin, das heiß und kalt durch meinen Körper pulsiert, lassen meine Stimme hysterisch klingen. „Du kannst nicht einfach so einen Trainer angreifen! Was, wenn Azumarill nicht da gewesen wäre? Was ist los mit dir, Gott?!“ Gott presst sich während meines Gefühlsausbruchs flach auf den Boden, aber seine feindseligen Blicke werden nicht weniger. Gerard tritt einige Glutfunken aus, die im Gras gelandet sind und schweigt. Azumarill verschränkt erwartungsvoll die kräftigen Arme. „Ich fasse es nicht…“, murmele ich und starre mein Pokémon an. Ich fühle mich… verraten. Mehr als je zuvor. Nach unserem Kampf gegen Venuflibis hatte ich das Gefühl, dass Gott Fortschritte macht. Dass er mir vertraut, dass er versteht, wann er Menschen angreifen darf und wann nicht. Und jetzt greift er Gerard nicht nur ohne triftigen Grund an, sondern benutzt sogar eine richtige Feuerattacke. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich bin so enttäuscht von dir“, flüstere ich. Gott reißt den Kopf herum und bleckt die Zähne. Ich habe die Geste oft genug gesehen, um sie blind übersetzen zu können. „Wenn du jedes Mal so reagierst, wenn du mich beschützen willst, verzichte ich lieber ganz darauf“, sage ich kalt. Gott legt verletzt die Ohren an. Wir liefern uns ein erbittertes Blickduell, bis er resigniert den Kopf abwendet. Meine Augen brennen, aber ich lasse die Tränen nicht kommen. Vorerst überwiegt noch die Wut. In dem Moment kommen Ronya und Louis, angelockt von dem Aufruhr, von ihrem Gespräch am Wegesrand zurück. „Was ist passiert?“, fragt Louis und schaut unsicher zwischen mir und Gott hin und her. „Ihr seid hoffnungslos, alle beide“, stellt Ronya fest und geht neben Gott in die Hocke. „Wie lange trainiert ihr schon zusammen?“ „Ein halbes Jahr“, erwidere ich mit trockener Stimme. „Er hat schon öfter jemanden gebissen, aber er hat noch nie mit einer Feuerattacke angegriffen.“ „Gerard ist ein großer Typ, da ist es nicht verwunderlich, dass er zu einer Attacke greifen würde“, überlegt Ronya laut. „Das ist nicht der Punkt“, fluche ich. „Immer wieder habe ich ihm gesagt, er soll Menschen nicht einfach angreifen. Er tut es immer wieder, es wird schlimmer, je stärker er wird und jetzt das? Ich verliere die Kontrolle über ihn und ich weiß nicht, was ich sonst noch machen soll!“ „Abby, beruhige dich erstmal“, sagt Louis leise und umarmt mich von hinten. Ein Schluchzen schüttelt meinen Körper und ich wische mir hastig über die Augen. „Ich will doch nur, dass wir zusammen arbeiten. Aber er entgleitet mir und mit dir kommt er auch viel besser klar und ich-“ „Shh…“ Er reibt mir über den Rücken und legt sein Kinn auf meine Schulter. „Ganz ruhig.“ Gott schaut schuldbewusst zu mir auf, lässt jedoch sofort den Kopf hängen, als er mein Gesicht sieht. Das macht es nicht einfacher. Ich weiß ja, dass er nur mein Bestes will, aber er ist eine Gefahr für andere, wenn er so weiter macht, und dass kann ich nicht mehr länger verantworten. Nicht, wenn er die Bisse durch ausgewachsene Feuerattacken ersetzt. Er ist inzwischen Level 34. Es geht längst nicht mehr um eine kleine Glutattacke, mit der man höchstens ein Lagerfeuer anfachen könnte. Ich habe Gotts Feuer in Anemonia City am eigenen Körper zu spüren bekommen. Die Brandnarbe an meiner Hand ist Beweis genug, dass seine Feuerattacken nicht mehr nur harmlose Spielereien sind. Wäre die Attacke zu Gerard durchgedrungen, hätte er schlimme Verbrennungen davontragen können. Hätte er vielleicht sogar sterben können? Bei dem Gedanken wird mir schlecht. Ronya kratzt sich am Kopf. „Ihr habt ein ganzes Stück Arbeit vor euch“, sagt sie schließlich und lässt sich vor mir auf den Boden sinken. „Ich kenne euch beide nicht besonders gut, aber von dem, was ich mitbekommen habe, vertraust du Gott nicht, sich zu benehmen und er vertraut dir nicht, Gefahren richtig einzuschätzen. Soweit korrekt?“ „Klingt ziemlich auf den Punkt“, meint Louis. Ronya schaut von ihm zu mir und kratzt sich am Kopf. "Hoffnungslos. Ihre alle. In Ordnung. Ich kann nicht länger mit anschauen, wie ihr blind durch euer Trainerdasein torkelt. Ab morgen bekommt ihr beide Nachhilfe in Sachen Pokémonaufzucht." Gerard gluckst. Ich schaue Ronya nur sprachlos an. "Was? Warum?" "Weil ihr beide keine Ahnung habt, was ihr eigentlich tut", erwidert sie und richtet sich auf. "Ich treffe euch morgen um zehn Uhr im Pokécenter. Gerard, wir gehen." Sie winkt ihn mit sich, klaubt Maxwell vom Boden auf, wo er neben Priss eingedöst ist und radelt mit ihrem besten Freund zurück Richtung Stadt. Mich lässt sie verwirrt und ein bisschen hoffnungsvoll zurück. Louis geht es nicht besser. Ich rufe Gott und die anderen zurück, aber bevor wir die Route weiterfahren, mache ich es mir neben Sku gemütlich, überprüfe den Zustand ihrer Rippe und bringe sie auf den neusten Stand. Es scheint ihr besser zu gehen und laut Joy sollte sie in ein paar Tagen wieder voll kampffähig sein. Ihr tiefes Schnurren bringt mich wieder auf den Boden zurück und während ich mein Gesicht in ihrem aufgeheizten, staubigen Fell vergrabe, bin ich insgeheim dankbar darüber, dass Ronya so geradeheraus ist und uns nun zu diesem Treffen gezwungen hat. Ich weiß nicht, ob ich Gott alleine unter Kontrolle bringen könnte.   "Ich kann das Meer sehen!", rufe ich begeistert, als wir eine Stunde später das Ende von Route 15 erreichen. Der Weg, dem wir seit heute Morgen folgen, führt nördlich auf eine Hügelkuppe, deren Windräder sich in der kraftvollen Brise langsam drehen. Große Buchen säumen den Asphaltweg und trennen die Straße von dem daneben liegenden Pfad, der zwischen Wald und Hügel eingeklemmt ist. Begeistert von dem Anblick des blauen Ozeans, der sich bis ans Ende des Horizonts erstreckt,  fahren Louis und ich in Rekordtempo an beiden Weggabelungen vorbei und geradewegs auf den Zaun zu, der uns vor einem Sturz ins Meer bewahrt. Lachend und aufgeregt, so als wäre es das erste Mal, dass wir das Meer zu Gesicht bekommen, springen wir von unseren Rädern, lehnen uns über das weiße Holz und blicken hinunter in die seichten Wellen. Da höre ich es. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus, als das Heulen hinter uns ertönt. Unheil. Verderben. Opfer. Schmerz. Schicksal. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um und entdecke Absol, das wie ein weißer Schatten zwischen den Baumstämmen auf Route 15 zu uns herabschaut. Das nachtblaue Horn, das sichelförmig aus dem weißen Fell seines Kopfes herausragt, glänzt bedrohlich in der Nachmittagssonne und die gewaltigen, schmutzverkrusteten Pfoten kneten die Erde zwischen seinen Krallen zu feinem Staub. Es muss uns von Saffronia City bis hierher gefolgt sein. Das Wehklagen wiederholt sich und dieses Mal fällt mir die Bedeutung wie Schuppen von den Augen, so als wäre ich schon immer sein Trainer gewesen. Es warnt mich vor nahendem Unheil, vor Entscheidungen, die falsch getroffen werden können und vor einem notwendigen Opfer, das ich erst bringen werde, wenn es zu spät ist. Wäre Zach hier, würde es sie bestimmt besser verstehen, denke ich noch, da macht Absol schon kehrt und verschwindet zwischen den Baumstämmen in der Dunkelheit des Waldes. Ich bezweifle nicht, dass sie mir folgen wird, bis mein Versprechen erfüllt ist. Nicht nur Richard hat ein Interesse daran, dass ich mich für Zachs Befreiung einsetze. "Das… war ein Absol, oder?", fragt Louis perplex und stellt sich neben mir auf. "Gibt´s die hier überhaupt?" Ich schüttele den Kopf. "Es gehört Zach", erkläre ich leise, meine Gedanken noch immer mit der Prophezeiung beschäftigt, wenn es denn eine ist. Ein Opfer, das ich nicht bringen werde? Nahendes Unheil? Wie nah denn bitte? "Es läuft frei, deswegen hat Rocky es nicht eingesackt." "Tja, ich hab jetzt jedenfalls eine gewaltige Gänsehaut", stellt Louis fröstelnd fest und rubbelt sich über die Arme. "Zurück? Wir haben noch ein paar Stunden bergauf vor uns." Wir steigen wieder auf unsere Räder und fahren zurück Richtung Route 15, nicht, ohne einen Blick in den eingeklemmten Weg zu werfen, der uns eben nur flüchtig im Gedächtnis geblieben ist. Im Nachhinein hätten wir es besser gelassen. Der Korridor ist bevölkert mit Bikern, die auf Kisten sitzen, Bier trinken und sich angeregt unterhalten. Das Meeresrauschen und Absols Ruf hat sie bisher übertönt, aber als wir jetzt näher kommen, kann ich die leicht betrunkenen Stimmen, die Pfiffe und das heisere Lachen sehr gut ausmachen. Einer der Biker hebt den Kopf und schaut in unsere Richtung. Mein Herz setzt einen Schlag aus, dann trete ich auch schon wie vom Bibor gestochen in die Pedalen und rase davon, bis meine Beine streiken und die Bikergruppe so weit wie nur möglich von mir entfernt ist. So schnell, wie ich unterwegs bin, machen aber weder meine Beine, noch meine geschwächten Arme lange mit und bei der ersten kleinen Erhebung im Boden rutsche ich mit dem Reifen ab, schlittere samt Fahrrad über der Boden und komme polternd in einem kleinen Flecken Gras zum Stillstand. "Gottverdammte...", flucht Louis, der mir in halsbrecherischem Tempo gefolgt ist und jetzt von seinem Fahrrad springt, um neben mir auf die Knie zu fallen. "Hast du dich verletzt? Geht´s dir gut?" Vorsichtig bewege ich meine Gliedmaßen, aber außer einem aufgeschrammten Ellenbogen und einer schmerzenden Hüfte scheine ich unversehrt. "Alles gut." "Abby, ey, ohne Mist", flüstert Louis und atmet zittrig aus, bevor er mich wütend ansieht. "Manchmal glaube ich, du legst es echt darauf an, dich umzubringen. Was war das gerade eben?" "Sorry", flüstere ich und schiebe mein Fahrrad zur Seite. Louis hilft mir auf die Füße und stützt mich, als mir für einen Moment unwohl wird, aber der Schwindel legt sich fast sofort wieder. "Also, was war los?" "Mik", murmele ich mit einem Schaudern und werfe einen letzten Blick über meine Schulter. "Das war Mik. Und ich weiß nicht, ob er mich erkannt hat." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)